Cover

Titel

Dr. Moritz Cantor

 

Wie der Zufall zu Entdeckungen führt

 

Das Gesetz im Zufall

 

Neu bearbeitet und herausgegeben von
Klaus-Dieter Sedlacek

Toppbook Wissen gemeinverständlich Bd. 11

 

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://​dnb.​ddb.​de abrufbar.

 

 

 

Der Autor

 

MORITZ CANTOR ist vor allem durch sein Werk VORLESUNGEN ÜBER DIE GESCHICHTE DER MATHEMATIK bekannt. Er war der erste Professor in Deutschland, der dieses Thema behandelte. Sein grundlegendes Werk gilt als eines der umfangreichsten Projekte zur Mathematikgeschichte. Die hochangesehene „Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften“ nahm ihn als Mitglied auf. Diese Akademie ist die älteste naturwissenschaftlich-medizinische Gelehrtengesellschaft und naturforschende Akademie der Welt.

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Autor

Wie der Zufall zu Entdeckungen führt

Das Gesetz im Zufall

Was ist Zufall?

Was ist Wahrscheinlichkeit?

Beispiele zur mathematischen Wahrscheinlichkeit

Der Einfluss der Wahrscheinlichkeit auf den Zufall

Das Gesetz der großen Zahlen

Die Manifestation verborgener Gesetzlichkeit

Wie Regelwidrigkeiten zu Entdeckungen führen

Die Gesetzmäßigkeit scheinbar willkürlicher menschlicher Handlungen

Anmerkungen

Buchtipps

Impressum

Wie der Zufall zu Entdeckungen führt

Das Gesetz im Zufall

 

Was ist Zufall?

Der philosophischste Dichter unseres, wie man wenigstens früher annahm, vorzugsweise philosophischen Volkes, Schiller hat seinem Wallenstein die Worte in den Mund gelegt:

Es gibt keinen Zufall. Und was uns blindes Ungefähr nur scheint, gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.

Ein wahres Wort, wenn auch nicht in dem Sinn wahr, welchen der von der zwingenden Allgewalt des Sterneneinflusses, von der weissagenden Kraft der Träume erfüllte Redner selbst ihm beilegt. Ein wahres Wort, sofern Zufall nichts anderes bedeutet als das Eintreffen eines Tatbestandes, ohne dass vorher Vorhandenes ihn notwendig machte.

Nein, so gibt es keinen Zufall. Der Hagelschlag, welcher ein Saatfeld trifft und die Hoffnungen des Landmannes zerstört, der plötzliche Tod eines Fürsten, eines Staatsmannes, der politische Verstrickungen unerwartet knüpft und löst, die Karte selbst in der Hand des Spielers, welche ihm gestattet, einen entscheidenden Stich an sich zu nehmen: Sie alle beruhen selbst wieder auf Voraussetzungen, auf Gründen, die der Eine unpersönlich eine Verkettung von Naturgesetzen, der Andere persönlichen unmittelbaren Eingriff eines außerweltlichen und überweltlichen Lenkers der Dinge nennen wird, aber der Eine würde die Stetigkeit der von ihm soeben anerkannten unverbrüchlichen Gesetze vernichten, der Andere an der Allmacht und Allweisheit jenes höchsten Wesens sündigen, wenn sie behaupteten, ganz beliebig habe statt des Eingetretenen auch das Entgegengesetzte desselben sich ereignen können. Beide sind sie nicht befugt, von regelloser Willkür zu reden. Es gibt kein blindes Ungefähr, keinen blinden Zufall.

Und doch kennen wir keine einem gebildeten Volk alter wie neuer Zeit angehörende Sprache, welche des Wortes entbehrte für das, was soeben als nicht vorhanden bezeichnet wurde. Dieser Widerspruch erläutert sich aus der Neigung des Menschen, alles auf sich zu beziehen und rückwärts von sich aus die Welt der Erscheinungen zu modeln. Die Empfindungen, welche in uns vorgehen, werden nach außen verlegt. Wir nennen den Zufall blind, wenn unser geistiges Auge nicht bis dahin reicht, wo seine Wurzeln liegen. Setzen wir aber diese Schlussfolgerung fort, so führt sie uns dahin in der oben erklärten Worterklärung nur wenige Silben zu ändern, um völlig Erlaubtes auszusprechen, um das zu gewinnen, was Zufall genannt zu werden verdient. Statt Vorhandenes sagen wir Bekanntes.

Zufall ist das Eintreffen eines Tatbestandes, ohne dass vorher Bekanntes ihn notwendig machte.

Damit gewinnen wir zugleich sofort den Einblick in eine wichtige Veränderung, welche nicht selten eintritt. Was in einem weltgeschichtlichen Zeitraum Zufall, oder wenn es allzu sehr gegen die alltägliche Gewohnheit verstieß, Wunder genannt wurde, verwandelt sich bei fortschreitender Erkenntnis in vollständig genau begründete, oftmals im Voraus zu bestimmende Ereignisse, und umgekehrt wird durch den gewonnenen wirklichen Zusammenhang manches vermeintliche Abhängigkeitsverhältnis zunichtegemacht.

Zufall wurde es Jahrhunderte lang genannt, wenn der Wind von Süd nach Südwest, von Nord nach Nordost umzuschlagen pflegte und nicht etwa die entgegengesetzte Veränderung eintrat. Da veröffentlichte Dove das nach ihm benannte Winddrehungsgesetz, und von Zufall redet niemand mehr, der von Witterungskunde auch nur den entferntesten Begriff hat.

Ein die Menschheit erschreckendes Wunder bildeten die zu verschiedenen Zeiten beobachteten Blutregen. Ehrenberg hat nachgewiesen, dass von Blut und Wunder dabei keine Rede sein kann, dass es mit einfachen, wenn auch nicht stets denselben Dingen dabei zugeht.

Konstantinopel wurde am 19. Mai 1453 von den Türken erobert. Am 12. Mai des folgenden Jahres fand eine vollkommene Mondfinsternis statt. Wieder zwei Jahre später 1456 erschien ein Komet weit sichtbar am Himmel. Niemand zweifelte an dem ursächlichen Zusammenhang dieser Ereignisse. Öffentliche Gebete wurden veranstaltet, Gott möge den Kometen und die Türken fernhalten. Der Komet war kein anderer als der gegenwärtig sogenannte Halleysche Komet mit fast genau 76-jähriger Umlaufszeit, dessen Erscheinen 1835 von dem berühmten Königsberger Astronomen Bessel beschrieben worden ist. Es ist eine Himmelserscheinung, die sich 2061 mit gewohnter Pünktlichkeit wieder einstellen wird, voraus erwartet, niemand Furcht einjagend; und auch die Angst vor den Türken ist seitdem gewichen, außer etwa bei solchen, die unvorsichtig genug waren, dem durchlöcherten Staatssäckel derselben einen Teil ihres Vermögens anzuvertrauen. Dass aber zwischen dem Erscheinen eines Kometen und einem politischen Ereignis ein Zusammenhang überhaupt nicht stattfindet, diese Überzeugung hat sich nachgerade so sehr Bahn gebrochen, dass die entgegengesetzte Annahme Aberglaube gescholten wird.

Freilich werden nicht alle Meinungen mit diesem Namen belegt, die ihn verdienen. Kometenjahr und Weinjahr gilt noch an vielen Orten als gleichbedeutend, und ganz besonders fest auch in sonst gebildeten Kreisen haftet der Aberglaube von einem Zusammenhang zwischen Witterung und Mondwechsel. Das rührt daher, dass man es hier mit zwei Naturerscheinungen zu tun hat, dass eine einheitliche Auffassung des Weltganzen es uns näher legt, zwischen solchen eine gegenseitige Beziehung als beziehungslose Selbstständigkeit zu vermuten, und dass man mit so zum Voraus beeinflusster Beobachtung die seltenen Fälle des Zusammentreffens einer Witterungsveränderung mit einer neuen Mondphase wohl bemerkte, die unvergleichbar häufigeren Fälle des Nichtzusammentreffens außer Acht ließ und ihnen entgegen das vereinzelt auftretende Nachher zu einem allgemeinen Weil umfolgerte. Der vorher genannte Bessel hat in 50-jähriger Beobachtungsreihe dieses einen vermeinten Zusammenhang leugnende Ergebnis der Witterungskunde über allen Zweifel erhoben1). Das zuletzt erwähnte Beispiel führt mich näher zu dem eigentlichen Gegenstand dieses Büchleins heran. Durch Jahre hindurch fortgesetzte Beobachtungen, sagte ich, sei ein naturwissenschaftlicher Satz außer Zweifel gebracht. Gewiss ist dieser Ausspruch für keinen Leser etwas Fremdartiges. Fremdartig klingt es uns auch nicht, wenn von statistischen Erhebungen die Rede ist. Jeder ist geneigt, selbst den Ausdruck zu gebrauchen, die Gesetze der Wahrscheinlichkeit lassen dieses oder jenes vermuten. Und wenn man nun unbescheiden genug wäre zu fragen: Was ist denn eigentlich Wahrscheinlichkeit?

Was ist Wahrscheinlichkeit?

Ich glaube nicht ganz Überflüssiges mir als Aufgabe gestellt zu haben, wenn ich die Beantwortung dieser Frage übernehme, wenn ich versuche, so weit es ohne mathematische Vorkenntnisse vorauszusetzen möglich ist, in die Anfangsgründe der sogenannten Wahrscheinlichkeitsrechnung und in die Deutung ihrer Ergebnisse einzuführen.

Wahrscheinlich nennt Aristoteles eine Behauptung, wenn dieselbe Allen, oder der Mehrzahl, oder den Vernünftigen, und zwar diesen wieder entweder Allen, oder der Mehrzahl von ihnen, oder doch den Weisesten derselben wahr zu sein scheint.

Diese Wahrscheinlichkeit ist nun noch gewaltig verschieden von der mathematischen Wahrscheinlichkeit, mit der wir es zu tun haben, bei der es nicht einzig auf die höheren der Gewissheit nahen Grade der Möglichkeit ankommt, sondern auf irgendwelche Grade der Möglichkeit bis an jene untere Grenze, wo sie zur Unmöglichkeit wird. Ihre Spur lässt sich in Europa nicht über das XV. Jahrhundert hinaus aufwärts verfolgen.

In einem Kommentar zu Dantes Göttlicher Komödie, der 1477 zu Venedig im Druck erschien, findet sich die Bemerkung, der Wurf 4 lasse sich mit drei Würfeln nur so erzielen, dass zwei Würfel 1 Auge, der dritte Würfel 2 Augen nach oben zeigen; der Wurf 3 fordere gar, dass alle drei Würfel 1 Auge oben haben; in ähnlich seltener Weise seien 17 und 18 mit drei Würfeln zu werfen, und deshalb nenne man diese Würfe azari. Der Sinn dieses Wortes bedeutet nämlich „schwierige Würfe“, abgeleitet von dem arabischen asar schwierig, und azari selbst hat sich dann umgewandelt in Hasard, das französische Wort für Zufall überhaupt 2).

Im XVI. Jahrhundert begegnen wir Jean Borrel, der in seiner unter dem Schriftstellernamen Buttes veröffentlichten logistica die Aufgabe löste, alle mit vier Würfeln möglichen Würfe zu finden.

Aber noch ist der Begriff von der mathematischen Wahrscheinlichkeit nicht mit Bewusstsein aufgestellt; noch fehlt vor allen Dingen der Name. Dieser Fortschritt erfolgte 1654 und ist das Verdienst von Blaise Pascal 3)ë