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Für Tina und San

Barbara Fischer: „Frigg“ Baumweltensaga III

1. Auflage, März 2021
Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege

© 2021 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Silvia Klein
Cover: Holger Much (holgermuch.de)
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-151-6
epub ISBN: 978-3-95996-152-3

Barbara Fischer


Frigg



BaumweltenSaga III

periplaneta

MUTABOR I

Was geschah, bevor alles begann.

Der große Schöpfergeist Uradat Besar saß beim Mittagessen im Urozean und dachte nach: über neue Gestalten, Welten und die Wandlung an sich.

Uradat Besar selbst konnte sich als gestaltenwandelnder Maulbrüter in jede erdenkliche Form und jeden erdenklichen Zustand verwandeln und von Zeit zu Zeit reflektierte er diese Fähigkeit. Er wog Für und Wider des Gestaltenwandelns ab und sinnierte darüber, welchem Zweck der Formenwechsel eigentlich diente, welchen Sinn eine solche Gabe hatte sowie welche Verpflichtungen sie mit sich brachte. Außerdem fragte er sich, wie weit der Wechsel griff. Änderte sich mit der äußeren Form auch das Innere? Was war das Innere überhaupt? Gab es vielleicht Gesetzmäßigkeiten irgendwelcher Art, die es zu entdecken lohnte? War Gestaltenwechsel Entwicklung? Diese Frage verneinte er sogleich und korrigierte: Entwicklung hatte auch, aber nicht zwingend mit der äußeren Erscheinung zu tun, die lief vielmehr innerlich ab. Ging mit der Ausbildung neuer Eigenschaften eine neue Form einher und umgekehrt? Ein steter Entwicklungsfluss im Sinne von permanenter Wandlung wäre an sich wünschenswert, wenn das höchste und letzte Ziel die allumfassende Liebe bliebe, mit der er, der allumfassende Schöpfergeist Uradat Besar sein Dasein immer wieder neu erschuf.

Doch Uradat Besar hatte vor langer Zeit von einem Konzept gehört, das sich „Gut und Böse“ nannte. Soweit er sich erinnerte, beinhaltete diese Form der Entwicklung, dass es zu allem Guten, das sein Leben im Hinblick auf die Ausbildung der allumfassenden Liebe richtete, auch immer ein Böses gab, das das eben nicht tat. Das Böse war zerstörerisch, wollte sich selbst behaupten, indem es alles, was anders war als es selbst, verdrängte oder schlimmstenfalls ganz vernichtete. Uradat Besar vermutete einen Defekt als Ursache dafür, denn wie konnte ein Baum besser sein, als ein anderer, ein Planet wertvoller als der nächste und ein Stern nützlicher als der Nachbarstern? Anders war immer gut. Wenn aber anders bedeutete, etwas sollte besser oder schlechter sein, dann lief etwas aus dem Lot. Im Lot sein bedeutete Gleichgewicht, alles war gleich wichtig.

So ging der Mittag dahin. Uradat Besar war satt und dümpelte gerade in Form eines Walfisches durch die Urflut. Er träumte von großen Dingen, fragte sich, ob es vielleicht Alternativen zur Wandlung und Veränderung gab. Nein, denn ohne Wandlung und Veränderung gäbe es keine Entwicklung und Entwicklung bedeutete Leben. Uradat Besar liebte Leben.

Dem Zustand der allumfassenden Liebe konnte man sich nur nähern, indem man sich entwickelte. Und Entwicklung bedeutete Veränderung, war also keine Entscheidung sondern ein Zustand. Uradat Besar dachte sich, es müsste Zeichen geben für Entwicklung, heilige Wörter, die den Urgrund allen Seins als ewige Verwandlungbeschrieben. Dieser Gedanke gefiel ihm außerordentlich gut. „Ich werde verwandelt werden“ ist doch ein schöner Grundsatz für alles Lebendige, dachte Uradat Besar und überlegte sich, wie er diese Regel in eine genauso vielfältige äußere Form bringen konnte, wie es ihr Inhalt vorgab. Uradat Besar dachte an Wörter wie „Mutabor“ oder Sätze wie „Ambo akan diruba bantuaknyo oder auch „Ich werde verwandelt werden. Immer mehr Formen und Varianten fielen ihm ein, während er dem Fünf-Uhr-Tee entgegen dümpelte. Es war Zeit für eine Veränderung, eine Entwicklung.

Mutabor, dachte er und spürte das Ausmaß des Wandlungskonzeptes in dem Klang dieses einzelnen Wortes. Er führte seine Teetasse zum Mund und trank.

In dem Moment kam ein Nanopartikel aus dem Nichts angeschossen. Es war der Nanopartikel, der die Sturzgeburt mit den allseits bekannten Folgen nach sich zog, die Entstehung von Galaxien, Planeten und Sternenwirbeln, Haufen, Superhaufen, kurzum: Von allem, was jemals existiert hatte und je existieren wird, mitsamt verschiedene Zeitstrahlen in mehreren Paralleluniversen und einer einzigen unvollkommenen Zelle. Uradat Besars Gedankensplitter hafteten seither an allem was existierte, und ließen sich in einem Wort zusammenfassen: Mutabor.

1. Ein kleines Feuer

Jede Geschichte hat irgendwo und irgendwann einen Anfang. Diese Geschichte beginnt im Meer, nahe der Südspitze von Suwarnadwipa, der Insel des Goldes. Regen fand es eine gute Idee, einen Sturm über die Gegend herfallen zu lassen. Endlich mal anders sein als die hundsgemeinen Unwetter, die die Landschaft immer wieder mit ihren Sturzbächen ertränkten. In einem sehr physikalischen Punkt hatte Regen recht: Er ließ kein hundsgemeines Unwetter einfach so alleine vor sich hintoben. Die Ursache der Mega-Blitze und des Donners war ein formidabler Vulkanausbruch. Dieser Vulkan lag mitten im Ozean. Und da gab es, nächstes physikalisches Argument, genug Wasser.

Gerade sprengten viele aufeinanderfolgende Eruptionen die Kuppe des Berges weg. Explosionen von diesem Ausmaß ereigneten sich selbst auf den „Feuerring“ genannten Inseln nur selten.

Mit der Explosion stieg eine gewaltige Aschewolke auf. Sie verdunkelte die Sonne und fegte mit eben jenem Unwetter gen Norden. Ihren Weg über das Festland markierten unzählige Mega-Blitze und dröhnender Donner. Dem Regen war‘s recht, im Regenwald war doch alles sowieso schon nass, da würde es nicht weiter auffallen, wenn er mal faul in den Wolken abhing, ein Nickerchen hielt und eben nicht hinabregnete. War ja sonst immer genug zu tun zu dieser Zeit. Irren ist nicht allein menschlich, es ist weder Orts- noch Materiegebunden, auch Regen ist davon nicht befreit.

So schlummerte unser Regen in seinem Wolkenbett, während das Unwetter mit den Vulkan-Ausdünstungen dahinzog und sich austobte.

Außer der Aschewolke und dem regenlosen Unwetter zog noch ein kleiner Feuergeist samt seinen Eltern übers Land. Eltern bedeuteten im Fall des Feuergeistchens ausgewachsene Mega-Blitze. Der Kleine, von liebevollen Eltern Api kecil gerufen, verwirklichte sich nach jedem Donnerschlag selbst. Er raste unablässig und mit einem lauten Jauchzen auf einem der elterlichen Blitze herab, die den Regenwald samt Nachthimmel mit gespenstischen feuerroten oder grellweißen Zuckungen überzogen. Api kecil traf Baumkronen, Sträucher und eine wackelige Hängebrücke aus mit Seilen zusammengehaltenen Brettern. Die Brücke ragte aus einem finsteren Gewirr von Palmen und Farnen heraus und führte nur die Wagemutigsten über eine breite Schlucht, in deren Tiefen ein Fluss gurgelte. Das Glimmen des morschen Holzes in der Mitte der Brücke konnte man anfangs noch leicht übersehen. Doch als Api kecil auf dem nächsten Strahl zur gleichen Stelle herabfuhr, leckte aus dem Glimmen schon eine Flamme heraus, die sich von einem Brett zum nächsten fraß, die nicht minder brüchigen Seile erfasste, höher und höher schlug, qualmte und so rasch um sich griff, dass die ganze Brücke bald lichterloh brannte. Als ob das nicht schon reichte, stürzte Api kecil - ein lautes „Juchhu!“ schmetternd - mit dem nächsten Blitz mitten hinein in eine Gruppe von Farnen, die am Rande der Schlucht wuchsen. Genau da, wo die Seile der Brücke endeten und sich um dicke Palmenstämme wickelten. Die Brücke wankte über dem Abgrund. Der schnell auflodernde Farn fraß im Handumdrehen die Seile und ließ die rechte Brückenseite ins Bodenlose stürzen. Ein Seil hielt noch gerade so. Es war herrlich. Api kecil genoss den aufkommenden Sturm, der die Urwaldriesen peitschte und die Flammen anfeuerte. Kein Regen, der dem Treiben Einhalt gebot. Der Vulkan war weit weg. Die Blitze feuerten sich gegenseitig an.

„Juchhuu“, schreiend, stürzte sich Api kecil mit einem Blitz in eine Baumkrone, die sofort Feuer fing. Mit einem „Heisssa“ landete unser Feuergeist auf einer Lichtung im hohen Gras. „Ich komme!“, donnernd kullerte er durch das Unterholz aus Farnen und Büschen. Es knisterte und prasselte rundherum, dass es eine Freude war. Die Blitze fielen nach einer Weile im urwaldeigenen Feuerschein gar nicht mehr auf. Doch Api kecil spielte weiter und weiter. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Er sprang mit seinen kurzen Beinen nach oben, griff nach der Spitze eines neuen Blitzes, um sich mit ihm gen Himmel schwingen zu können und dann zurück zur Erde zu fahren. Ein wunderbarer Zeitvertreib.

Doch dann änderte sich etwas. Er kam nicht mehr hoch genug. Die Blitze zogen sich ohne ihn zur Aschewolke zurück. Er sprang und sprang, vergeblich. Blitze waren auf Wolken angewiesen, Feuergeistchen nicht. Als sie weiterziehen mussten, blitzten sie besonders hell, als wollten sie ihrem Kleinen den Weg weisen.

Doch Api kecil war völlig erschöpft. Sein Magen knurrte und überhaupt waren plötzlich alle Glieder so schwer, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Aus dem schönsten Tumult heraus plumpste er schwerfällig an den Stamm eines Urwaldriesen, dessen Laub oben schon lichterloh brannte und durch dessen Stamm sich nun auch von unten binnen Minuten Flammen fraßen. Api kecils Miene verdüsterte sich. So etwas erlebte er wieder und wieder, irgendetwas brannte, wo immer er sich auch befand - eine grandiose Untertreibung und erstklassige Fehleinschätzung. Denn um ihn herum stand nicht nur irgendetwas, sondern alles in Flammen. Er sah die Blitze weiter vom Himmel herab in seine Richtung stoßen. Doch er konnte sie nicht mehr erreichen. Für die Urwaldriesen um ihn herum machte das keinen Unterschied mehr. Für sie käme jeder Regen zu spät. Die Aschewolke zog weiter und mit ihnen die Blitze.

Api kecil stand mitten im tosenden Flammenmeer ganz still. Eine Träne trat ihm ins Auge. Er winkte den Blitzen traurig nach, kauerte sich auf der Erde an den brennenden Baumstamm und schlief bald ein, so müde, hungrig und traurig, wie er war.

Api kecil schlief tief und fest und hörte die Gruppe Waldmenschen nicht, die laut kreischend aus dem Inneren des Dschungels gerannt kamen. Große und kleine Waldmenschen hasteten, sprangen und krochen auf zwei oder vier Beinen voran. Es gab einen schmalen, baumlosen Streifen, durch den sie vor dem Feuer fliehen konnten. Sie hofften auf die Hängebrücke, über die sie die gegenüberliegende Seite der Schlucht erreichen wollten. Dort wären sie gerettet.

In dem Moment, in dem sie an der Böschung ankamen, rissen die Seile. Die Hängebrücke krachte lodernd und mit lautem Getöse in den Abgrund. Der Fluss riss das morsche Holz und die fadenscheinigen Seile mit sich und löschte wie nebenbei das Feuer. Das half den Waldmenschen und all den anderen Tieren, die mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen in den Abgrund starrten, keinen Deut weiter. Die Hängebrücke war nicht länger der Weg aus dem Inferno, das hinter ihnen lag. Es gab sie nicht mehr.

Als alle die Ausweglosigkeit ihrer Situation erkannten, flackerte Panik in ihren Pupillen. Ein großer Vogelschwarm überflog die Schlucht. Begleitet wurde er von den sehnsuchtsvollen Blicken derer, die in der Feuerhölle gefangen und von einem Lärm umgeben waren, der das Unwetter, das das Inferno ausgelöst hatte, weit übertraf. Das Feuer hatte schon viele rote Haare und Gliedmaßen versengt, aber auch Schuppen oder kurzes Stoppelfell aller Arten von Affen, Schlangen und Echsen. Die Aussicht auf die Hängebrücke und die rettende Seite der Schlucht hatte sie jeden Schmerz vergessen lassen. Bis zu diesem Augenblick. Jetzt befeuerte die Hoffnungslosigkeit ihre Todesangst. Verzweiflung und Sorge um ihre Liebsten steigerten sich ins Unerträgliche. Alles zusammen mündete in ein so lautes Kreischen, dass Uradat Besar höchstpersönlich eingriff, der gerade im fernen Urozean in Gestalt eines Walfisches vor sich hin dümpelte, als er das Drama mitbekam. Er sammelte hektisch Wasser in seinen Lungen, stieß es aus dem Luftloch heraus und ließ Regen an der Schlucht niederprasseln, genau an die Stelle, an der die Waldmenschen um ihr Überleben kämpften. Eine Erste-Hilfe-Maßnahme.

Uradat Besar rüttelte panisch an der dicken schwarzen Wolke, die der Aschewolke gefolgt war und noch immer über dem Regenwald thronte. Er riss einen schlaftrunkenen Regen aus seinen Träumen. Regen rieb sich die Augen, blickte um sich und erkannte im nächsten Moment beim Anblick des Dschungelfeuers seinen schicksalsschweren Fehler.

Es war der Moment, in dem die Clanälteste der Waldmenschen, Riri, mit Entsetzen im Blick dem Vater ihrer Kinder hinterher sah. Rafin stürzte, einem lodernden Feuerball gleich, in die Tiefen der Schlucht. War er getrieben von der Hoffnung, das Wasser des Flusses könnte ihn retten, so unterschätzte nicht nur er die Fallhöhe, die dieses unfreiwillige Experiment mit sich brachte. Oder war es das Grausen vor einem qualvollen Tod in den Flammen? Wie auch immer, er war nicht alleine. Rechts und links begleiteten ihn größere und kleinere Fackeln und Feuerbälle. Ein Großteil von Riris Clan fiel brennend in die Schlucht. Auch Schlangen, Affen und Echsen sprangen hinab und wurden von der Tiefe verschluckt.

In dem Moment prasselten große schwere Tropfen vom Himmel. Die Waldmenschenmutter spürte nicht, wie sich ihr Jüngstes unter ihrem festen Griff wandte. Sie spürte nicht, wie der Regen die verbrannten Stellen auf ihrem Körper kühlte. Sie sah die Augen ihres geliebten Rafin, der für immer in der Tiefe verschwunden war, genauso wie all die anderen Geliebten, Schwestern, Brüder, Mütter und Väter der großen und kleinen Tiere mit Fell oder Schuppen. Die großen und kleinen Vögel waren zum größten Teil der Hölle entkommen. Alle anderen versanken in tiefer Trauer, nachdem der Regen die Flammen gelöscht hatte.

Als Api kecil aufwachte, hatte er nichts mehr, an das er sich anlehnen konnte. Mühsam richtete er sich auf einem vom Regen verklumpten Aschehaufen auf. Der Morgen dämmerte gerade und er war pitschnass. Seine Hand lag auf seinem Bauch, der Magen knurrte wie ein hungriger Tiger im Unterholz. Doch aus dieser Richtung drohte keine Gefahr, es gab kein Unterholz mehr. Außer hier und da ein paar vor sich hin qualmende Baumreste war von dem stolzen Urwald nicht viel übrig. Api kecil kratzte sich am runden Kopf. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal gegessen? Die Frage, wo die nächste süße Kokosmilch herkommen sollte, schob sich als mächtiges Bild vor eine Kulisse aus verkohlten Baumstämmen, den rauchenden Überresten eines stolzen Waldes.

Der kleine hungrige Feuergeist stand auf und sah umher. Hier würde er keine Lichtung mit Palmen finden, deren Früchte reif, süß und verlockend in der Morgensonne prangten. Api kecil stampfte mit seinen kurzen Beinen durch die Asche.

2. Vulkanausbruch mit Folgen

Ein orangeroter Sonnenaufgang tauchte das Tal und den Wald in warme Farben. Die Sonne selbst war nicht zu sehen. Aber immerhin wurde es hell, keine Selbstverständlichkeit, wenn eine Aschewolke die Gegend überquert hatte. Die Vögel schüttelten sich lautstark den Schlaf aus den Gefiedern und Affen tobten unsichtbar durch die Baumkronen. So etwas wie Morgenstille war an diesem Ort nicht mehr als ein Gerücht.

„Welcher Vulkan war es?“, fragte Lady Hari Minggu den neben ihr stehenden Pak Siapa, „weißt du schon etwas darüber?“ Der schüttelte den Kopf: „Nein, ich habe nur in aller Eile die notwendigen Kräuter und Utensilien zusammengesucht, die ich brauchen werde. Der Brand hat das Tal des Röchelnden Flusses schwer getroffen.“

Der Ausblick zum Horizont war so weit, dass sie in der Ferne Rauchsäulen zum Himmel aufsteigen sahen. Das Feuer hatte in einer der schönsten Gegenden, in denen ihr Volk lebte, gewütet und die halbe Nacht lang den Himmel erhellt.

Lady Hari Minggu, die Clanälteste und Dorfvorsteherin von Hügeldorf, hatte einen Kurzstock aus Bambus in der Hand. Sie war von ihrem Morgentraining verschwitzt und stand mit Pak Siapa inmitten des Morgenkonzertes vor den mächtigen Palisadenzäunen ihres Anwesens auf einem Hügel.

Ihr Clanhaus war ein imposanter Bau auf Stelzen und bestand aus eng geflochtenen Wänden und feingeschnitzter, farbiger Holzkunst. Das Dach, das an einen Schiffsrumpf erinnerte, ragte mit insgesamt sieben Giebeln in den orange-roten Himmel. Der Reisspeicher daneben sah wie die Minivariante des Hauses mit zwei Spitzen am Rumpf des Schiffes aus. Auf der rückwärtigen Seite des Hauses leuchteten zwei Vulkane ruhig und friedlich in warmes Licht getaucht.

„Schrecklich, was passiert ist, aber weißt du was, ich verbinde auch gute Erinnerungen mit Aschewolken. Das ist aber lange her“, Pak Siapa schaute zum Himmel hinauf wie zu einem fernen Sehnsuchtsort.

„Zum Glück gab es nicht auch noch ein Erdbeben. Es dürfte im Tal nicht zu Erdrutschen gekommen sein“, sagte Lady Hari Minggu. Pak Siapa nickte: „Ja, zum Glück wurde uns das wenigstens erspart. Aber dafür war das Unwetter heftig. Die Blitze hatten eine ungewöhnliche Wucht. Wir müssen in Erfahrung bringen, ob es Riesenwellen gegeben hat, und welcher Teil der Küste betroffen ist.“

„Unsere Elefantenführer sind gerade mit Waren unterwegs. Sie müssten in ein paar Tagen zurück sei. Hoffentlich“, Lady Hari Minggu seufzte tief. „Wir wissen beide jetzt schon, was da auf uns zukommt, stimmts?“, fragte sie verzweifelnd.

„Wir werden es lindern können“, versuchte Pak Siapa sie zu beruhigen.

Da hörten die beiden ein Schnaufen und nur einen Moment später löste sich Singgalang aus dem Schatten des Urwaldes zu ihren Füßen. Ihr blasser Teint und die Augenringe sprachen von einer durchwachten Nacht. Wie alle hatte auch die mittlere Schwester von Lady Hari Minggu, Singgalang, kein Auge zugetan. Erst wegen des Unwetters und dann wegen des Brandes, der sogar noch auf diese Entfernung alles erleuchtet hatte.

„Es hat die Gegend rund um den Zwillingswasserfall getroffen. Warum hat es erst so spät geregnet? Es gab so viele Blitze, die sahen ungeheuerlich in ihrer Kraft aus“, Singgalang verstummte keuchend. Sie hatte sich mit den ersten Sonnenstrahlen auf den Weg zu ihrer ältesten Schwester gemacht und war praktisch den ganzen Weg von ihrem Clanhaus am Hang des gleichnamigen Vulkans hierher gerannt. „Wenn es am Zwillingswasserfall gebrannt hat, weiß vielleicht Ibu Rubiah etwas“, sagte Lady Hari Minggu.

„War sie es, die den Regen gerufen hat?“, fragte Singgalang. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass mit diesem ganz speziellen Unwetter etwas nicht stimmte. Lady Hari Minggu sah zu Pak Siapa. Der zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß es nicht“, sagte er dann sehr bedächtig. „Es muss nicht unbedingt immer regnen. Aber die Blitze hatten es wahrlich in sich.“

Der Kräuterheiler war auf dem Weg ins Tal, wo nach der heutigen Nacht mutmaßlich kein einziges grünes Blatt mehr zu finden sein würde.

Singgalang sah ihrer älteren Schwester prüfend ins Gesicht: „Weißt du, wie es Ibu Rubiahs Clan geht?“

Lady Hari Minggu schüttelte den Kopf. Singgalang fragte weiter, als wolle sie die letzten Zusammenhänge verstehen: „Und du hast von gar nichts gewusst?“

Das war das, was Lady Hari Minggu, die auch die oberste Schamanin der Gegend war, selbst am meisten beunruhigte. Und wieso um alles in der Welt hatte es nicht geregnet?

„Das alarmiert mich besonders“, fasste Pak Siapa sein Gefühl in Worte, ohne den Blick vom Horizont zu wenden. Es war nicht das erste Mal, dass Lady Hari Minggus und Pak Siapas Gefühle sich spiegelten. Auch wenn Pak Siapa noch nicht so lange hier wohnte wie die älteste Schwester, sie trugen beide die Gegend in ihrem Innersten.

„Es ist noch immer nicht zu Ende, willst du das damit sagen?“, fragte Singgalang. Pak Siapa sah Lady Hari Minggu an. Die wiegte den Kopf hin und her: „Ja und nein. Es gibt Gerüchte über feindliche Truppen ganz in der Nähe des Zwillingswasserfalls“, erklärte sie ihre Sorge, die nicht den Vulkanausbruch betraf. Dieser Krieg dauerte schon viel zu lange und jetzt kam noch eine Naturkatastrophe dazu. Sie wussten alle, was das schlimmstenfalls bedeutete. Wenn die Sonne nicht schien, wie häufig nach solchen Ausbrüchen, dann konnte auf der ganzen Insel der Reis auf den Feldern nicht wachsen. Die Menschen bekämen Hunger und erkrankten. Dann konnten sie oft das Wenige, das ihnen blieb, nicht ernten. Oder der Reis wurde von Pilzen befallen, weil es zu feucht war.

Pak Siapa sog tief die Luft ein: „Du wirst sehen, wir werden alles lindern.“ Genau das zeichnete ihn aus, ein Optimismus, den er nicht nur herbeiredete. Er schaffte es immer, dass die Dinge besser liefen als befürchtet. Sie lächelte ihm dankbar zu.

Pak Siapa zog die locker über seiner linken Schulter hängende Basttasche hoch und wandte sich zum Gehen: „Ich werde sehen, wie ich helfen kann. Die Calendulablüten waren in diesem Jahr zum Glück besonders ergiebig und groß. Ich habe einen großen Vorrat Brandsalben und entzündungshemmender Tinkturen.“ Er klopfte auf die Tasche. Zum Abschied winkend, ging er mit strammem Schritt den Berg runter und wurde schon bald von der grünen Blätterwand verschluckt.

„Richte Ibu Rubiah und ihrem Clan unsere besten Grüße aus. Wir bereiten die Notfallpakete vor“, rief Lady Hari Minggu ihrem Freund hinterher.

Der Kräuterkundige mit den goldenen Augen, Haaren und der Ausstrahlung eines Sterns, der dunkle Nächte erhellte, war eines Tages zu ihnen geflogen wie ein Geschenk des Himmels. Er hatte ihre Gemeinschaft schon auf unzählige Arten und Weisen bereichert. Sein Wissen über die Schätze des Urwaldes war in der verhältnismäßig kurzen Zeit, die er bei ihnen war, gemessen an der Zeitspanne, in der der Hochland-Clan hier lebte, immens gewachsen.

„Es gibt noch gute Nachrichten“, sagte Singgalang jetzt, „in den letzten Tagen ist eine Tigerfamilie mit vier Jungen durch die Gegend an den Wasserfällen gestreift. Es soll ein weißes Tigerbaby dabei sein. Ein weißes! Das sollte uns Glück bringen.“

Sie sah ihre Schwester mit traurigen Augen an: „Wir werden ihnen allen helfen, das Unglück zu überstehen. Ich mache mich an die Arbeit.“ Mit diesen Worten verschwand sie in einem unscheinbaren Haus rechts hinter dem Palisadenzaun, in dem sie ihrer Arbeit als Verwalterin der Gegend nachging, die Dinge zählte, sortierte und zuordnete. Für Singgalang ließ sich alles berechnen. Sie war die Schwester, die nichts mehr liebte, als wenn man die Dinge mit Formeln und Zahlen erfassen konnte.

Lady Hari Minggu kam zu sich. „Ja, du hast recht, mittlere Schwester“, sagte sie, „lass uns an die Arbeit gehen.“

3. Auf Reisen

Frigg liebte die Geschäftigkeit des Midgarder Hafens am Großen Meer. Sie stand mit geschlossenen Augen an der Reling und saugte den Geruch von Tang, Salzwasser und Fisch tief in sich hinein. Sie stemmte beide Füße fest gegen die Schiffsplanken, um das Schaukeln auszutarieren.

Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie auf hoher See den Naturgewalten ausgesetzt sein würde. Etwas bange war ihr schon davor, aber sie freute sich auf die Reise, die sie zuerst zu ihrer Großmutter Inanna nach Uruk und dann weiter zur Insel des Goldes führen würde, wo ihr Vater auf sie wartete. Noch liefen die Männer mit schweren Säcken und Kisten die Bretter auf und ab, die das Schiff mit dem Festland verbanden. Die Stauer räumten unter Deck alles an seinen Platz.

Kapitän Hallgrimson, der das Kommando auf der Salisborn hatte, stand am Mast und überwachte alles. Doch er hatte nicht viel zu tun, seine Leute hatten alles im Griff.

Sie würden den großen heißen Kontinent umsegeln, Waren tauschen, Menschen treffen, fremde Gegenden sehen. Sie würden einige Monde auf See verbringen. Ihr Zwischenziel war Uruk.

In Frigg kribbelte das Reisefieber. Sie freute sich auf ihre Großmutter, die sie erst einmal in ihrem Leben gesehen hatte, als Inanna sie vor ein paar Jahren in den Yggdrasil Baumwelten besucht hatte. Mit einem zufriedenen Seufzer löste Frigg sich von dem Szenario und stieg die Treppe hinab. Sie bemerkte gerade noch, dass sie nicht auf dem Weg zu ihrer Kajüte war, sondern den Gang zu früh genommen hatte und nun in der Küche stand. Sie kam in dem Moment, als der Koch dem Küchenjungen so kräftig in den Bauch trat, dass der mitsamt dem Messer, das er in die Hand hielt, in die hinterste Ecke der Kombüse flog. Die Brutalität der Szene nahm Frigg den Atem. Allein die Körpermasse des Koches gegen so einen Hänfling einzusetzen, hätte jeden mit einem Normalmaß an Gerechtigkeitssinn binnen Sekunden in ungeahnte Rage versetzt.

Der Koch bemerkte Frigg nicht, trat noch gegen den Eimer und verstreute die frisch geputzten und geschnittenen Möhren auf dem Fußboden.

„Jetzt sammelst du alles wieder zusammen und zwar flott!“, brüllte er. Als er sich umdrehte, stand er an der untersten Treppenstufe und sah zu Frigg hinauf. „Das brauchen die von Zeit zu Zeit“, sagte er, ohne dass ihn jemand aufgefordert hätte, sich zu rechtfertigen, und wollte die Treppe hinauf und sich an Frigg vorbei drängeln.

Sie sah mit immer noch aufgerissenen Augen auf den etwa dreizehnjährigen Jungen, der sich im Halbdunkel die laufende Nase mit dem Ärmel abwischte und sich bemühte, nicht laut loszuheulen. Er bückte sich und sammelte die Möhren zusammen.

Friggs Blick wanderte zu dem Koch, der vor ihr stand wie die personifizierte Aufforderung, zur Seite zu treten und ihn durchzulassen.

Wurde Frigg nur Momente vorher an der Reling von seligem Reisefieber durchströmt, so kippte ihr Gefühl auf der Stelle. Es lief heiß durch sie hindurch. Wobei Frigg nicht hätte beschreiben können, ob die Hitze unten an den Füßen anfing, oder oben am Scheitel ihres Kopfes. Es schien ein Funke aus Friggs Augen auf das Tuch überzuspringen, das der Smut sich um seine Haare gebunden hatte, die ihm im Nacken als Pferdeschwanz über den Rücken fielen. Er starrte Frigg noch finster an, als er das Desaster auf seinem Kopf bemerkte. Panisch und mit schmerzverzerrtem Gesicht riss er sich das Tuch herunter, warf es auf die Treppe und stampfte mit den Füßen so lange darauf herum, bis das Feuer gelöscht war. Dann hob er das Tuch auf, besah das Loch, um das ein schwarz verbrannter Rand noch leicht qualmte. Er sah mit zusammengekniffenen Augen zu Frigg. Seine Kiefergelenke schienen Nüsse zu zermalmen.

Frigg hatte sich augenblicklich wieder unter Kontrolle. Sie schob den Koch leicht zur Seite, lief die Treppe herunter und unterstützte den Schiffsjungen dabei, die Möhren aufzusammeln.

„Ich liebe Möhrensuppe“, sagte sie und erntete ein dankbares Jungenlächeln.

Allerdings war auch klar, wer sich auf dieser langen Schiffsreise, die vor ihnen lag, nicht mögen würden.

„Du wirst mir in meiner Küche nicht rein quatschen“, fauchte der Koch, drehte sich um und stampfte wütend die Treppe hinauf.

4. Im Tal des Röchelnden Flusses

Ibu Rubiahs Clan wohnte schon immer im Tal des Röchelnden Flusses. Der Zwillingswasserfall stürzte in kurzer Distanz hinter dem Dorf in die Tiefe.

Sie hatten schon etliche Unwetter und auch Waldbrände überstanden, so auch den der vergangenen Nacht. Es war ihnen gelungen, sich vor dem Feuer zu schützen, das von unglaublich starken Blitzen entfacht worden war. Mit Aschewolken hatten sie sowieso Erfahrung und immer einen Vorrat an Tüchern bereitliegen, mit denen sie Mund und Nase schützen konnten.

Der wirkliche Coup aber war, dass sie den Bach, der dem Zwillingswasserfall zuströmte, in einen tiefen Graben umgeleitet hatten, der das Clananwesen von dem Wald trennte. Diese natürliche Barriere war auch als Schutz vor Tigerangriffen gedacht und deshalb mit spitzen Pflöcken versehen, die nur knapp aus dem Wasser herausragten. Das sollte den schwimmfreudigen Raubkatzen die Begeisterung am Bad nehmen. Heute Nacht aber hatte der Graben das Anwesen vor dem sicheren Verderben gerettet.

Die Clan-Mitglieder priesen Ibu Rubiahs Weitsicht, auf deren Vorschlag hin alles derart gesichert worden war. Kein Reisspeicher und keine einzige Ziege waren Opfer der Flammen geworden. Kein Dorfbewohner hatte auch nur leichte Brandwunden erlitten. Nur zwei Babys husteten noch etwas wegen der Rauchbelastung in der Brandnacht und der heißen Wolke, die über sie hinweg gezogen war. Und auch kein unbedeutendes Detail: Die Weberei war verschont geblieben. Die Stoffe, die Ibu Rubiahs Clan in der Gegend berühmt machten, rochen zwar nach Rauch, wie alle und alles hier, aber das war auch schon alles.

Als Pak Siapa am Mittag nach dem Brand das Tal des Röchelnden Flusses erreicht hatte, waren alle schon am Aufräumen. Die Brandsalben und Tinkturen des Kräuterkundigen brauchten sie dennoch. Verletzte Waldmenschen hatten im Dorf Zuflucht gefunden. Aus ihren etwas wirr klingenden Erzählungen konnte er schließen, dass etliche aus dem Clan nicht überlebt hatten. Sie waren vor den Feuern zur Brücke geflohen, die das Tal weiter hinten überspannte und waren dort in den Tod gestürzt. Eine Abordnung war auf Geheiß Ibu Rubiahs bereits unterwegs, um die Toten zu finden und zu begraben.

Doch vielen von ihnen war es gelungen, sich durch das Inferno bis zum Anwesen von Ibu Rubiahs Clan durchzuschlagen. Dort konnten sie ihr rotes Fell im Wassergraben kühlen und waren dann vom Clan aufgenommen worden. Glücklicherweise hatte sich kein Waldmensch an den Pflöcken verletzt.

Die Bäume rauchten noch, als Pak Siapa ankam und die Waldmenschen von Riris Clan untersuchte. Sie saßen alle schweigend mit traurigem Blick in der Mitte des Platzes. Alle fühlten mit ihrer Clanältesten, die ihren Partner Rafin im Feuer verloren hatte, so wie viele andere Angehörige auch. Doch niemand von ihnen war so lange und so innig miteinander verbunden gewesen wie Riri und ihr Rafin.

Riri hatte trotz ihres Alters noch wunderschönes langes rotes Fell, eine halbrunde Schnauze, einen Kranz aus blassrosa Haut um die obere Gesichtshälfte und darunter sehr wache, dunkle Augen, die etwas tief lagen, aber normalerweise aufmerksam über ihre Nase und den Mund schauten. Mit ihren beweglichen Fingern und Füßen konnte sie alles greifen, was in der Nähe war. Ihre breiten Schultern luden nicht dazu ein, sich auf einen schwerwiegenderen Konflikt mit ihr einzulassen. Da würden in ihrem Clan alle den Kürzeren ziehen.

Als Pak Siapa jetzt die Salben auf ihren verbrannten Rücken strich, war von Riris Stärke nicht mehr viel übrig. Ihr Jüngster, Madi, klammerte sich an die Unterseite ihres Fells und leckte sich ein ums andere Mal seine rechte Greifhand.

„Komm, Madi, lass mal sehen, wie ich dir helfen kann“, Pak Siapa setzte das freundlichstes Gesicht auf, das er hatte und das im Normalfall schon strahlte. Er streckte seine Hand zum kleinen Madi aus. Riris jüngster Sohn erwiderte den Blick mit glänzenden Augen. Er ließ sich gerne von Pak Siapa umsorgen, merkte er doch, welche Schmerzen seine Mutter Riri litt, die ihn durch die Feuerhölle getragen hatte. Ihr gesamter Rücken, der Kopf und ein Teil ihrer Schnauze waren verbrannt. Ihm dagegen hatte das Feuer nur die rechte Greifhand versengt. Pak Siapa versorgte ihn liebevoll mit einer Brandsalbe und Madi bemerkte seufzend, wie der Schmerz nachließ. Im gleichen Maße wurde er immer müder. Nach einer durchwachten Nacht und einem langen Tag schlummerte er leicht schnarchend in Pak Siapas Armen, während Riri teilnahmslos vor sich hinstarrte. Pak Siapa rückte Madi auf seiner Brust so zurecht, dass der Kleine nicht gestört wurde, während er die Waldmenschen weiter versorgte. Dann schlang er ein Tuch um ihn, das die älteste Tochter Ibu Rubiahs, Diamant, hinter seinem Rücken zusammen knotete. Schon fühlte sich Madi wie im Fell seiner Mutter.

Der Nachmittag verging schnell und als die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Urwald versunken waren, saßen Ibu Rubiah und ihre vielen Töchter und Enkelinnen mit den Waldmenschen und Pak Siapa zusammen. Sie scheuten sich, ein Feuer zu entzünden, wie sie es normalerweise taten, damit die Waldmenschen nicht an ihre schrecklichen Erlebnisse in den Flammen erinnert wurden. Niemand hatte in der Nacht geschlafen und so war es schon sehr viel früher als üblich still im Dorf. Die Waldmenschen bekamen den ganzen Raum an der Rückseite des Langhauses von Ibu Rubiahs Clan für sich. Neun Spitzen zeigten auf dem Dach des Hauses gen Himmel. Je eine für Ibu Rubiahs Töchter und deren Familien. Madi und Pak Siapa schliefen in der ersten Koje gleich rechts neben dem bullaugenähnlichen Eingang. Von jener Nacht an blieben sie unzertrennlich.

Regen hatte seine Lektion gelernt. Faul in den Wolken abzuhängen galt nicht während dieser, seiner Jahreszeit. So bemühte er sich in den folgenden Nächten besonders eifrig, seinen Fehler wieder gut zu machen.

Während es gerade heftig goss, versammelten sich drei zerlumpte Gestalten um ein Feuer. Flussabwärts, in einer der Singenden Höhlen, die zahlreich in den Sandsteinfelsen im Tal des Röchelnden Flusses waren, hatten sie Zuflucht gefunden. Hier hatten sie schon die Brandnacht überstanden. Eine vierte Person lag reglos im Schatten außerhalb des Feuerkreises.

Die drei waren ganz in ihre Tätigkeit versunken. Ein einohriger Vagabund mit einer tiefen Narbe über der linken Wange hielt einen abgerundeten Stein in der rechten Hand. Damit zerrieb er Betelnuss Samen in einem anderen Stein, der eine Vertiefung wie eine Schale aufwies und auf dem Boden stand. Rechts neben ihm saß der zahnlose Vagabund, der aus einem kleinen Leinensäckchen hin und wieder ein weißes Pulver in die Vertiefung zu der Masse gab. Löschkalk und Betelsamen waren das wichtigste Gepäck für diese Männer, noch wichtiger als Wasser und Decken. Der dritte im Bunde, mit nur einem Auge, nestelte suchend in einem großen Haufen Lappen.

„Du machst mich ganz irre! Was suchst du denn?“, fragte der Zahnlose brummelnd, dem ein dickes Furunkel am Kinn prangte.

„Pfeffer!“, grantelte der Einäugige zurück.

„Das macht nur noch mehr Hunger“, fauchte der Einohrige.

„Daran sieht man, dass du nicht das Geringste von Geschmack verstehst“, er hatte gefunden, was er suchte, und humpelte zum Feuer zurück. Ausgefranste Mantelfetzen schleiften über den sandigen Fußboden. Er ließ sich neben dem Stein nieder, griff sich eins der bereitliegenden Betelblätter, streute das frisch zubereitete Pulver aus dem Stein auf das Blatt, drüber etwas Pfeffer, rollte es zwischen seinen vor Schmutz starrenden Fingern zusammen und stopfte es geschickt in seinen Mund. Zwischen Wange und Zunge hatte alles seinen Platz gefunden. Zufrieden vor sich hin murmelnd stierte der einäugige Vagabund ins Feuer. Wieder und wieder strich er sich über seinen Zottelbart, der vom Kinn bis zur Brust reichte. Der Zahnlose knüpfte den vor Dreck unbeugsamen Leinenbeutel zusammen: „Hast recht, es reicht für heute.“ Er griff mit genau denselben schmutzigen Fingern nach dem Pulver, streute es auf das bereit liegende Blatt und schob sich alles in den Mund. „Kein Pfeffer?“, der Einäugige glotzte ihn von der Seite an. Der Zahnlose schüttelte mit dem Kopf.

Einohr tat es den anderen beiden nach. Nur Momente später saßen alle drei betelkauend und strichen sich mit einer schmutzstarrenden Hand wieder und wieder über ihre Zottelbärte, die ihnen den Anschein von Drillingen verliehen.

„Was machen wir mit dem Lahmen? Er kann doch nicht ewig hier liegen bleiben“, fragte Einauge und wies mit dem Kinn auf die reglose Gestalt im Schatten an der Höhlenwand.

„Sobald Tag ist, bringen wir ihn zum Fluss“, antwortete Einohr.

„Wir können nicht das Wasser mit dem Leichnam vergiften“, mümmelte Zahnlos.

„Was schert‘s uns, wenn die verrecken? Meinst du, die interessieren sich für uns? Meinst du, von denen würde sich je einer um uns kümmern?“, Einohr wurde richtig aggressiv.

Sie hatten in ihr Dorf zurückgewollt. Der Krieg hatte sie zermürbt. Doch sie waren verstoßen worden und irrten seitdem ziellos umher.

Einauge versuchte es mit Verständnis: „Du hast ja Recht. Es ist wirklich ungerecht, dass die uns in der alten Heimat nicht wieder aufgenommen haben. Ich habe auch genug von diesem leidigen Krieg. Sieh uns nur an, was uns das alles gebracht hat.“

„Ja, alles umsonst, alles Mist“, fauchte Zahnlos.

„Vielleicht geh‘n wir zurück und kämpf‘n wieder“, schlug Einohr vor.

„Eh, nee Mann, das ist genauso blöd wie klauen und rumziehen“, Zahnlos zeigte sich wenig begeistert.

„Na, toll. ‚Das ist genauso blöd wie klauen und rumziehen‘“, äffte Einohr seinen Bruder nach und sabberte durch dunkel verfärbte Zahnstummel. „Dann mach du’n Vorschlag.“

„Lassen wir den Lahmen einfach hier liegen und zieh‘n morgen weiter“, schlug Einauge vor, um das Thema zu wechseln. „Hab ihm ja gesagt, er soll nich‘ vorgeh‘n zum Höhlenausgang, aber der wollt‘ nich‘ hör‘n. Einfach erstickt isser im Qualm.“

„Eben“, stimmte Einohr das erste Mal einem seiner Kameraden zu, selber dran schuld, dass er tot is.“

„Ich finde den Platz hier gut, in den Singenden Höhlen sind wir sicher. Die ander‘n hab’n doch Schiss vor den Geistern hier.“ Alle mussten Einauge zustimmen.

„Vielleicht ham `se Recht, Angst vor den Geistern hier zu haben“, Zahnlos sah sich furchtsam um.

„Memme, stell dich nich‘ so an, welchem Dämon sollten wir hier begegnen, den wir nicht schon längst duzen?“, fragte Einohr boshaft.

Sie verbrachten noch eine Weile Betel kauend am Feuer, bevor sie sich in ihre Lumpen wickelten, um auf dem Höhlenboden zu schlafen. Einauge, der einzige der überlebenden drei Brüder, der zwei zusammenhängende Gedanken hintereinander fassen und in eine Reihenfolge bringen konnte, zog sich seine Lumpen über die Schulter und fand keinen Schlaf. Ihr Clan hatte sie verstoßen, als sie aus dem Krieg heimgekehrt waren, den der Norden gegen ihre alte Heimat angefangen hatte. Waren sie wirklich die Einzigen, die sich auf die falsche Seite gestellt hatten, fragte sich Einauge. Das hatte im Dorf irgendjemand gesagt. Die in den wenigen Plünderungen erbeuteten Sachen hatten sie schnell gegen Alkohol getauscht und versoffen. Der Lahme war erstickt. Aber irgendwie waren sie alle schon lange tot, vor ihrer Zeit gestorben. Einauge schlief endlich ein.

5. Ein Jahr später

Madi, nein, das ist doch… Ja, schön, dass du keine Scheu mehr vor Wasser hast, ich weiß, das ist nicht selbstverständlich“, Madi platschte ganz in sich versunken vor sich hin und hieb wieder und wieder mit seiner rechten Hand auf die Oberfläche der Flüssigkeit ein, in der er schwamm. Dabei kreischte er ohrenbetäubend, während Pak Siapa Nudeln, Möhrenstückchen und Zwiebeln mit Currygeschmack um die Nase flogen. „Ja, du kannst auch ganz toll schwimmen! Aber das ist nun mal kein Wasser, das ist die Suppe für uns alle heute Abend“, Pak Siapa seufzte zwar, doch er schaffte es, Madis seligen Blick zu erwidern, der sich in seinen goldenen Augen festhakte, während er sich dabei eine Nudel aus den Haaren fischte.

Pak Siapa saß neben dem Kessel, in dem Madi planschte, und streichelte ihm über den Kopf. So war das nicht geplant gewesen, die Suppe hatte ihr Abendessen sein sollen, aber er war glücklich, wenn Madi glücklich war. Dem Kleinen ging es wieder gut und Suppe konnte man nachkochen.

Irgendwie hätte er dafür sorgen müssen, dass die Suppe heiß blieb. Doch ihm war das Feuer unter dem Kessel ausgegangen, während alle auf dem Hof, wie er auch, ihren Aufgaben nachgegangen waren.

Madi hatte sich nach getaner Arbeit im Kräuterschuppen direkt auf das Gestänge des Kessels geschwungen, den er offensichtlich für eine Badewanne gehalten hatte, und sich mit einem frohen Kreischen in die Flüssigkeit fallen lassen.

Pak Siapas Leben hatte sich nach der Brandkatastrophe vor einem Jahr grundlegend geändert, auf alle Fälle zum Besseren. Seine bescheidene Hütte hatte sich zu einem würdigen Clanhaus herausgeputzt, mit liebevoll hergestellter Holzkunst versehen, die farbig bemalt war. Vor den Fenstern hingen bunt bemalte Fensterläden und vom Dach reckten sich jetzt sieben Giebel stolz gen Himmel, das Zeichen, dass er mit seiner Familie hier wohnte. Alle im Dorf hatten geholfen und ihre fähigsten Frauen und Männer geschickt.

Eine Treppe führte zum Eingang hinauf und an der Unterseite des Hauses scharrten Hühner zwischen den Stelzen, während die Ziegen dort im Schatten blökten. Der Garten war mit Stinkbohnenbeeten und Mangobäumen bewachsen. Ihr Reis reifte gleich hinter einem Stück Urwald auf den Feldern. Man sah einen kleinen Streifen vom Clanhaus. Wasserbüffel kauten das nasse Gras und ihre Kokospalmen standen zwischen Urwaldriesen und wurden von fleißigen Makaken gewartet und geerntet. Kurzum: Pak Siapa war selig mit seiner neuen Familie. Und zu all seinem Glück erwartete er seine Tochter in den nächsten Tagen. Er hatte sie lange nicht gesehen und die Vorfreude kribbelte in ihm. Vor einem Jahr hatte sie sich zu ihrer Weltreise aufgemacht. Ihr Weg hatte um den heißen Kontinent herum und zu ihrer Großmutter geführt. Bei ihm wollte sie bleiben, zumindest bis auf Weiteres. Es würde davon abhängen, wie sie miteinander klarkämen. Es wurde auch Zeit, dass die Dinge wieder gut liefen. Denn nach dem Vulkanausbruch und dem verheerenden Brand waren wie erwartet langandauernde Regengüsse gekommen, die es ihnen schwer gemacht hatten, gesund zu bleiben und ausreichend zu ernten. Sie hatten mit Krankheiten und Hunger zu kämpfen gehabt. Sein Kräuterwissen war gefragt gewesen wie nie. Er hatte helfen können und im letzten Jahr viel Erfolg mit seiner Medizin gehabt. Als Ergebnis waren alle Hochland-Clans auf dem Weg in ein neues und gutes Leben. Seine Tochter konnte kommen.

Auch wenn Pak Siapas Familie jetzt Riri und der Rest ihres Clans waren, der Kontakt zur Liebe seines Lebens war nie abgerissen, deren schönste Frucht eine wunderbare Tochter gewesen war. Ihn selbst hatte das Fernweh von dort weggetrieben, aber über Bäume ließ sich trefflich kommunizieren. Er strahlte wie der Stern, der er einst gewesen war, während er sich selbst und Madi, der seinen Suppenbadekessel endlich verlassen hatte, Nudeln, Möhren und Zwiebeln aus den Haaren und aus dem Fell wusch.

Nie im Leben hatte er eine bessere Entscheidung getroffen, als in dem Moment, als er sich am Firmament abgestoßen hatte und als Sternschnuppe über den Himmel geglitten war, bis auf den Planeten Erde, dem Ort seiner Sehnsucht.

Er lachte innerlich, als er daran dachte, während er Madi den Currygeruch wegzuwaschen versuchte. Der Geruch war hartnäckiger als die Seife, die er benutzte. Liebevoll strich er dem Waldmenschenjungen über die strubbeligen roten Haare und roch daran. „Das wird noch ein paar Tage dauern, bis der Geruch ganz weg ist“, sagte er und beschnupperte seinen Handrücken, der genauso nach Essen roch. „So und jetzt komm: Abtrocknen!“ Madi folgte ungewöhnlich brav. Seine Aktion im Suppenkessel schien ihn ermüdet zu haben.

Vom ersten Abend nach der Brandkatastrophe an stand außer Frage, dass Pak Siapa jetzt die Vaterstelle für Madi einnahm. Das bedeutete für den bislang einsiedlerisch lebenden Kräuterkundler eine Menge Verantwortung und für Madi eine Menge zu lernen über Kräuter, ihre Wirkungen und Vorkommen sowie das Wissen darüber, sie auf angemessene Art und Weise zu ehren und zur richtigen Zeit zu ernten. Madi schien für diese Art der Arbeit geboren zu sein.

Seine Mutter, die Clanälteste Riri, hatte auch ein Jahr später nicht zu ihrer alten Form zurückgefunden. Sie wurde liebevoll von allen umsorgt, saß aber am liebsten in ihrem Baum. Der Wächterbaum am Palisadenzaun von Pak Siapas Anwesen hatte sie adoptiert und ihr seinen schönsten und breitesten Ast zur Verfügung gestellt. Dort hockte Riri tagelang, fraß die saftigen grünen Blätter, schwang sich mal nach oben und wieder runter und wusste ihre Lieben gut versorgt.

Gerade beobachtete sie aus der Ferne durch das dichte Blätterwerk, wie ihre älteste Tochter Vollmond gemeinsam mit Diamant, der ältesten Tochter von Ibu Rubiah, sich auf dem Anwesen an dem Feuer zu schaffen machten, über dem sich ein dreistöckiges Gestänge befand. In der Mitte lag ein Holzrost, auf dem in Pandang-Blätter gewickelter Klebreis mit süßer Kokosnussmilch backte. Darüber und darunter hingen aromatische Zimtstangen, die dem Kuchen seine besondere Würze geben würden.

Da rannte der gesäuberte Madi außer Rand und Band auf sie zu. Müde war keine Größe für den jungen Waldmenschen. Vollmond gelang es, im letzten Moment mit vollem Körpereinsatz ihren jüngsten Bruder auszubremsen, damit der nicht das Ergebnis von mehreren Stunden Arbeit vernichtete. Sie alle bereiteten schließlich den großen Augenblick vor, in dem Pak Siapas Tochter ihr Clanhaus betreten würde. Bauarbeiter aus dem Dorf standen bereit, das Langhaus um einen weiteren Anbau samt Giebel zu erweitern. Sie war allen hier genauso willkommen, wie ihr Vater es war.

Riri sah ihren Sohn von oben herumtoben. Sie gab einen einzigen tadelnden Laut von sich. Madi blickte betroffen zum Wächterbaum hin, zeigte grinsend seine Zähne, kehrte um und griff nach Pak Siapas Hand, als sei er der bravste Waldmenschjunge aller Zeiten.

Pak Siapa musste sich etwas einfallen lassen. Er war heute mit dem Abendessen an der Reihe. Die Suppe war verdorben. Sie würden sich heute mit Nudeln zu begnügen müssen. Normalerweise war die Essenszubereitung die Aufgabe von Mangoblüte und Apfeljunge, Madis nächstälteren Zwillingsgeschwistern. Die wollten heute aber unbedingt mit den Makaken zur Kokosnussernte. Apfeljunge liebte es, wenn die Makaken in den Palmkronen herumturnten, die guten von den schlechten Kokosnüssen unterschieden, indem sie daran rochen und sie dann mit einem kurzen Warnschrei nach unten feuerten. Apfeljunge fing sie mit Wonne auf. Manchmal sprang er dabei hoch, warf sich zur Seite oder drehte sich im Kreis. Dann legte er sie in den Korb. Mangoblüte begleitete den Zwillingsbruder, wann immer es ging. Sie pflückte frische Jasminblüten für neues Öl, das Pak Siapa für sie daraus herstellte.

Während Pak Siapa also Nudeln in den Kessel warf, passierte Lady Hari Minggu höchstpersönlich den Palisadenzaun, gemeinsam mit ihrem jüngsten Bruder Marapi und einem Teil ihres Clans sowie einigen Mitgliedern von Ibu Rubiahs Familie und betrat das Anwesen.