Über die Herausgeberin
Ellen Nieswiodek-Martin ist seit 2014 Chefredakteurin der Zeitschrift LYDIA. Sie ist verheiratet, hat sechs größtenteils erwachsene Kinder und zwei Enkelkinder. Außerdem ist sie Herausgeberin mehrerer Bücher.
Es muss sich etwas ändern …
Ellen Nieswiodek-Martin
Tatsache ist, dass …
Teil 1: Symptome und Auswirkungen von Stress
Stresssymptome medizinisch erkennen und behandeln
Christine Sifft
Kaffee, Alkohol und andere vermeintliche Helferlein
Ellen Nieswiodek-Martin
Teil 2:
Meine Geschichte und meine Gefühle
Die persönlichen Stressverstärker entlarven
Angelika Heinen
Die eigenen Ansprüche zurückstellen
Sigrid Pohl
In meiner Schwachheit geliebt
Margret Jakobs
Ohne Halt bis …?
Helena Gysin
Verdrängter Frust – befreiende Wahrheit
Christa Keip
Teil 3: Perfektionismus
Abschied vom Perfektionismus
Ellen Nieswiodek-Martin
Regenglück
Saskia Barthelmeß
Wer bin ich?
Anita Bosch
Anti-Stress-Tipps für Mütter mit jüngeren Kindern
Ellen Nieswiodek-Martin
Teil 4: Erste Hilfe
Erste Hilfe
Ellen Nieswiodek-Martin
Kleine Pausen gegen den Stress
Gudrun Ude
Wie gehe ich als Allgemeinärztin vor?
Christine Sifft
Kleine Auszeiten im Alltag
Saskia Barthelmeß
Abenteuer Ruheinsel
Katja Ebinger
Auszeit fürs Gehirn
Annemarie Pfeifer
„Einen Kuchen wirst du doch noch backen können …“
Interview mit Margarete Kappler
Teil 5: Was langfristig hilft
Die kleine Grenze Gisela
Nicole Sturm
Umgang mit Grenzen
Kerstin Wendel
Mein Leben ist zu voll!
Nelli Bangert
Zeit für den inneren Ausstieg
Carolin Schmitt
Lernen vom Alltag im Kloster
Paula Friedrich
Guter Rhythmus, guter Schlaf
Beate Nordstrand
Musik – Heilmittel für Körper und Seele
Beate Ling
Glückshormone gegen Stress
Heike Malisic
Teil 6: Zur Ruhe kommen bei Gott
Biblisches Stressmanagement
Angelika Heinen
Zwölf Tipps für den Sonntag
Volker Kessler
Elia: ausgepowert
Noor van Haaften
Angenommen
Kathrin Zorn
Verlieren, um zu gewinnen
Claudia Ott
Erkenntnisse in der Sabbatzeit
Dorothee Fünfsinn
Abschied vom Perfektionismus
Petra Fromme
An Gottes Herzen
Dorothee Kowalke
Ich habe in meinem Leben mehrmals vor Ärzten gesessen, die mir rieten, einen Gang zurückzuschalten und mir eine Auszeit zu nehmen. Die meine Symptome als Auswirkungen von Stress identifizierten und mir eindringlich rieten, besser auf meine Bedürfnisse zu achten.
Ich habe Mutter-Kind-Kuren gemacht, unterschiedliche Entspannungsmethoden gelernt und einen Achtsamkeitskurs besucht. Ich habe herausgefunden, was meine Schlafstörungen verstärkt und was mir hilft. Ich habe in meiner Zeit der Doppel- und Dreifachbelastung durch Kinder, Beruf und ehrenamtliches Engagement viele Erkenntnisse gesammelt und Strategien entwickelt. Die Balance zu finden bleibt eine Herausforderung.
Auch in meinem persönlichen Umfeld sehe ich viele Frauen, die unter Dauerstress stehen. Man erkennt sie daran, dass sie ständig in Eile sind – getrieben von dem Wunsch, irgendwann einmal ihre To-do-Liste abgearbeitet zu haben. Sie leben ständig an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Dabei entsteht der Druck, unter dem sie sind, nicht unbedingt von außen. Innere Antreiber verstärken die äußere Überlastung. Der Wunsch, alles sehr gut zu machen, das Bedürfnis, geliebt zu werden, niemanden zu verletzen, die Sehnsucht nach Anerkennung und Bestätigung – es sind oft unbewusste Bedürfnisse, die uns dazu treiben, ohne Pause durch den Tag zu hetzen und mehr zu arbeiten, als unser Körper auf Dauer verkraftet.
Weil Stress nicht nur durch äußere Faktoren entsteht, sondern auch seelische Ursachen hat, geht es in diesem Buch nicht darum, Zeitpläne zu erstellen und den eigenen Alltag zu optimieren. Vielmehr geht es um Denkmuster, die wir verinnerlicht haben, und – teilweise unbewusste – Strategien, die wir entwickelt haben. Es geht aber auch darum, wie sich unsere innere Einstellung auf unseren Alltag, unsere Arbeitshaltung und unsere Selbstfürsorge auswirkt.
In diesem Buch berichten Autorinnen und Autoren, welche Erkenntnisse und Strategien ihnen geholfen haben, ihr Leben zu verändern. Experten geben Tipps und Hilfestellung zur Auswahl einer Therapie. Und last, but not least haben wir auch in der Bibel hilfreiche Strategien gefunden, um ein ausgewogenes Leben zu führen.
Sie haben dieses Buch aus bestimmten Gründen in die Hand genommen, und ich hoffe, Sie finden darin das, was Sie in Ihrer Situation brauchen.
Ihre Ellen Nieswiodek-Martin
… fast 60 Prozent der Erwachsenen in Deutschland der Meinung sind, dass ihr Leben in den vergangenen Jahren stressiger geworden ist. Als Stressauslöser nennen 54 Prozent der Männer den Beruf, dagegen sagt jede zweite Frau, dass gerade die Ansprüche an sich selbst sie unter Druck setzen. Der Anspruch, sowohl im Job als auch zu Hause perfekte Arbeit zu leisten, scheint fast der Hälfte zu schaffen zu machen. Jede dritte Frau nennt Konflikte in ihrem sozialen Umfeld als Ursache für Stress, bei Männern sind dies nur 17 Prozent.
Diejenigen, die angeben, dass ihr Stresspegel besonders hoch ist, nennen überdurchschnittlich häufig (zwei von drei Befragten) den Beruf als Stressfaktor, sechs von zehn bestätigen hohe Ansprüche an sich selbst, 41 Prozent klagen über Freizeitstress und fast ebenso viele darüber, ständig erreichbar sein zu müssen.
Ein Drittel der Betroffenen kann im Urlaub nicht mehr abschalten. Knapp die Hälfte gibt an, innerlich auch am Wochenende und nach Feierabend nicht „herunterfahren“ zu können. 43 Prozent der Befragten sagen, sie fühlen sich müde und erschöpft. Das ist fast jeder Zweite! 63 Prozent der Gestressten meinen, sie möchten ihr Leben gern ändern.1
Möglicherweise finden Sie sich in einer oder mehreren dieser Aussagen wieder?
1 Quelle: TK Stressstudie 2016
Christine Sifft
Oft brauchen Arzt und Patient eine gewisse Zeit, bis sie dem Zusammenhang von körperlichen Symptomen und psychischer Belastung auf die Spur kommen. Ein Arzt hat in der Regel zunächst den Körper im Blick. Doch mit der Zeit habe ich gelernt zu fragen, was gerade im Leben meiner Patienten passiert und ob das mit ihren Symptomen zusammenhängen könnte.
Sandra klagt über starke Nackenschmerzen. Ich stelle mich hinter sie und lasse mir zeigen, wo genau es wehtut. Dann taste ich ihre Muskulatur und die Hautbeschaffenheit ab. Ich frage sie, wohin die Schmerzen ausstrahlen, und führe weitere körperliche Untersuchungen durch, um herauszufinden, was die Ursache sein könnte. Sandra hat ihre sechs Monate alte Tochter dabei, die sie noch stillt. Eine Ursache könnte also die seit Monaten angespannte Haltung beim Stillen sein. Außerdem erfahre ich, dass Sandra noch zwei weitere Kinder aus einer früheren Beziehung hat. Vor Kurzem ist sie zu ihrem Freund, dem Vater des jüngsten Kindes, gezogen. Seine Mutter betritt nun ständig ungefragt die Wohnung und will Sandra „beim Aufräumen helfen“. Sie beklagt sich darüber, wie es dort aussieht, und packt „tatkräftig“ mit an. Das belastet Sandra sehr. Sie ist lange allein mit den beiden ersten Kindern zurechtgekommen und empfindet dies als Eingriff in ihre Privatsphäre. Sie hat festgestellt, dass sie, sobald die Schwiegermutter in der Tür steht, ihre Schultern unbewusst hochzieht, als wolle sie sich schützen. Das Gleiche passiert auch jetzt, wenn sie mit mir darüber redet. Das wird ihr aber erst bei unserem Gespräch bewusst.
Symptome, in diesem Fall die Nackenschmerzen, sind die kleinste Untereinheit auf dem Weg zur Diagnose. Doch nicht jeder Körper reagiert gleich auf Stressoren, also Ereignisse, die sich in unseren Gedanken abspielen oder von außen kommen. Das gilt es zu berücksichtigen, wenn man nicht nur die Symptome behandeln will. Ich möchte den Menschen als Ganzes sehen, mit Körper, Seele und Geist, und dabei auch sein Umfeld wie zum Beispiel Familie, Wohnsituation und Arbeit im Blick haben.
Dazu hat die Psychologie ein Stressmodell entwickelt, das diese komplexen Zusammenhänge verdeutlicht. Im Zentrum des Stressmodells steht die Person mit ihrer aktuellen körperlichen und mentalen Gesundheit, ihrem Temperament, ihrer Art zu denken, ihrem Selbstwertgefühl und ihrer Kultur. Wenn die Person ein belastendes Ereignis erlebt, bewertet sie es in ihren Gedanken und nimmt dabei ihre bisherigen Erfahrungen zu Hilfe. Bei Sandra sehen wir eine alleinerziehende Mutter, die nun mit einer Schwiegermutter konfrontiert ist, die sich einmischt. So bewertet zumindest Sandra es. Würde man die Schwiegermutter fragen, würde sie vermutlich sagen: „Ich will doch nur helfen.“ Die Reaktion darauf kann je nach Person unterschiedlich ausfallen. Eine temperamentvolle Persönlichkeit würde vielleicht wütend werden und die Frau kurzerhand vor die Tür setzen. Eine eher zurückhaltende Persönlichkeit wie Sandra reagiert passiv, zieht die Schultern hoch, verhält sich still, verspannt sich und bekommt Schmerzen. In einem therapeutischen Gespräch könnten die verschiedenen Sichtweisen herausgearbeitet werden und wie die optimale Reaktion für Sandra darauf wäre, damit sie nicht ihre „Schultern hochziehen“ muss, um am Ende chronische Schmerzen zu bekommen.
In der Medizin unterscheidet man zwischen körperlichen und psychischen Symptomen. Körperliche Stresssymptome sind beispielsweise schneller Herzschlag, hoher Blutdruck, Gesichtsrötung, Schwitzen, Magenschmerzen, Blähungen, Verstopfung, Durchfall sowie Schmerzen an der Wirbelsäule, im Bauch, im Kopf, im Schulter- oder Herzbereich.
Zu den psychischen Stresssymptomen gehören Unruhe, Angst, inneres Angetriebensein, Konzentrationsstörungen, Gedankenkreisen, Anspannung, Verzagtheit, Depression, Vergesslichkeit, chronische Übermüdung, Schlafstörungen, wenig Freude, wenige soziale Kontakte.
Die Übergänge zwischen körperlichen und psychischen Symptomen sind fließend. Psychische Stresssymptome lösen oft körperliche Beschwerden aus. Wenn man kontinuierlich unter Anspannung ist, reagiert das endokrine System genauso wie in einer akuten Schrecksituation. Es produziert Adrenalin und löst einen schnellen Herzschlag oder erhöhten Blutdruck aus. Umgekehrt kann ein Patient vor lauter Anspannung ein Gefühl des Herzrasens haben, obwohl der Puls normal ist. Nicht alles, was als rein körperliches Symptom daherkommt, ist es auch und basiert auf einem körperlichen Befund.
Franziska hat starke Schmerzen im unteren Rückenbereich, die in die Leiste ausstrahlen. Auf den CT-Bildern finden sich zwar gewisse Verschleißerscheinungen, aber keine eindeutige Ursache dafür. Damit sie einigermaßen schmerzfrei ist, muss sie starke Medikamente nehmen. Als ich sie treffe, hat sie so starke Schmerzen, dass es ihr sehr schlecht geht. Als sie nach und nach lernt, sich selbst zu beobachten, wird ihr klar, dass die Schmerzen immer dann auftreten, wenn sie unter Termindruck steht. Wenn der kommende Tag dicht geplant ist, denkt sie mit Schrecken darüber nach, was sie sich da aufgeladen hat. Das verursacht ihr Stress. Dann „gehen die Muskeln zu“, beschreibt sie treffend. Sie merkt, dass sie die Ansprüche, die sie an sich stellt, herunterschrauben muss. Außerdem braucht sie Pausen, um sich zu erholen und sich vorzubereiten. Sie hat gelernt, die Gedanken, die den Schmerz auslösen, in eine andere Richtung zu lenken: Ich mache einfach eins nach dem andern. Und wenn etwas nicht klappt, ist es nicht so schlimm. Es muss nicht alles perfekt sein. Und wenn körperliche Schmerzen auftreten, weiß sie nun, was ihr guttut: Wärme, eine Tasse Tee, ein warmes Bad, Sauna. Sandra ist Christin, wodurch ihr Glaube sich auch hier als starkes Hilfsmittel erweist. Sie lernt immer mehr, ihre Sorgen an Gott abzugeben und ihm immer wieder neu zu vertrauen. Natürlich vollzieht sich dies nicht über Nacht. All das ist ein Prozess. Als ich sie ein halbes Jahr später wiedertreffe, bin ich erstaunt, wie sehr sich ihr Zustand verbessert hat.
Ein deutsches Sprichwort besagt: „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.“ Das kann man unterschiedlich interpretieren. Auf chronische Überlastung bezogen bedeutet dies, dass man durchaus jahrelang ein hohes Lebenstempo beibehalten kann – bis etwas geschieht, das uns ausbremst. Das kann ein plötzlicher Verlust sein. Das können z. B. körperliche Symptome sein, die man immer wieder zurückdrängt, bis es schließlich nicht mehr geht. Es können aber auch psychische Symptome sein, die verhindern, dass man weiter zur Arbeit gehen kann. Dann folgen Arztbesuche und Krankmeldungen. Wer in dieser Zeit innehält, über sich und sein Leben nachdenkt, Tagebuch führt, den Lebensstil verändert, gewinnt. Oft gelingt das aber nur mithilfe anderer Menschen – das kann eine gute Freundin sein, der Hausarzt, ein Schmerztherapeut, eine Psychotherapeutin.
Mit Schmerzen signalisiert uns unser Körper immer, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es kann eine tatsächliche körperliche Erkrankung dahinterstecken, die abgeklärt werden muss. Oder die Schmerzen rühren von muskulären Verspannungen her, die manchmal ein Spiegel für sorgenvolle Gedanken und Gefühle sind. Sobald wir uns Letztere bewusst machen, können wir sie umlenken und beeinflussen. Das ist leichter gesagt als getan und braucht Zeit und den Willen dazu.
Ein weiterer Faktor, der zur Verarbeitung von Stressoren wichtig ist, sind die Ressourcen, die ein Mensch hat. Damit sind die Dinge gemeint, die ihm neue Kraft schenken, die Hobbys, bei denen er entspannt, welche Freunde er hat oder mit welchen Mitteln er seinen Stress bewältigen kann.
Ines leidet unter Migräne. Sie kommt, um sich erneut ihr Migränemedikament verschreiben zu lassen. Bei genauerem Nachfragen finde ich heraus, dass sie es in letzter Zeit sehr häufig genommen hat. Ich erkundige mich, was gerade in ihrem Umfeld los ist. Sie erzählt, dass sie im Schichtdienst arbeitet und nicht ausfallen möchte. Nach einiger Zeit gesteht sie, dass ihr Freund sehr pingelig ist. Nach der Arbeit gönnt sie sich daher keine Ruhe, sondern räumt auf, damit es nicht zu einem Streit kommt. Als sie Urlaub hat, einen regelmäßigen Tagesrhythmus einhält, sich Pausen und Ruhe gönnt und nicht von den herumliegenden Sachen stressen lässt, treten die Kopfschmerzen seltener auf.
Migräne ist jedoch nur eine Form des Kopfschmerzes. Es gibt verschiedene Arten von Kopfschmerz, und nicht alle haben mit Stress zu tun, deshalb gilt es, genau zu differenzieren.
Kai ist immer gern zur Arbeit gegangen. Er hat sich dort sehr engagiert und seine Ideen wurden wohlwollend aufgenommen. Im Team war eine gute Stimmung.
Dann kommt es zu einem Chefwechsel. Er merkt sofort, dass hier die Chemie nicht stimmt. Er fühlt sich von dem neuen Chef nicht ernst genommen und bei den Sitzungen ist eine schlechte Stimmung. Morgens geht er mit Magenschmerzen zur Arbeit. Er traut sich aber nicht, jemandem davon zu erzählen. Er schluckt seinen Ärger buchstäblich hinunter. Aber Ärger ist schwer verdaulich, es braucht viel Magensäure dazu. Schließlich geht er zum Arzt.
Angespannte Beziehungen könnten ebenfalls eine Form von Stress sein. Auch wenn alles andere im Leben rundläuft: Sobald man mit dieser einen Person konfrontiert ist, reagiert der Körper mit Magenschmerzen, hohem Puls oder schneller Atmung. Auch hier gilt es, sich Hilfe zu holen, zu lernen, wie man kommunizieren und den Ärger thematisieren kann.
Immer wieder beobachte ich, dass Patienten eine Erkältung bekommen, wenn eine besonders stressige Zeit hinter ihnen liegt. Tatsächlich ist es der Forschung gelungen, dies wissenschaftlich nachzuweisen. Die Teilnehmer wurden im Rahmen einer Studie Erkältungsviren ausgesetzt. Die Studie ergab, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer Erkältung zu erkranken, bei Probanden, die im Vorfeld angegeben hatten, dass ihr Leben gerade stressiger verlief, etwa zehn Prozent höher war als bei den Teilnehmern, bei denen aktuell alles in geregelten Bahnen lief. Tatsächlich konnte man nachweisen, dass chronischer Stress dem Immunsystem schadet und zu neuen Erkrankungen und Allergien führen kann. Hier können jedoch körperliche Bewegung und die Kräftigung der Muskulatur helfen. Die Muskelzellen sorgen nämlich für einen schnellen Abbau von Stresshormonen und schalten damit ihre hemmende Funktion auf das Immunsystem aus. Außerdem fand man heraus, dass auch psychische Faktoren das Immunsystem positiv beeinflussen können. Dazu gehören unter anderem eine optimistische Lebenseinstellung, ein höheres Selbstwertgefühl und gute soziale Bindungen. Auch der gelebte Glaube, der sich in tiefem Vertrauen in Gott ausdrückt, trägt positiv dazu bei.
Wahrscheinlich wissen wir alle aus eigener Erfahrung, dass wir in Stresssituationen eine eingeschränkte Wahrnehmung haben, den sogenannten Tunnelblick. Wir nehmen die Menschen in unserem Umfeld nicht mehr wirklich wahr. Wir verlegen häufiger als sonst unser Handy oder unsere Schlüssel, weil wir gedanklich woanders sind. Wir kaufen beim Bäcker ein und lassen das Brot oder das Wechselgeld auf der Theke liegen. Es fällt uns schwer, uns auf etwas zu konzentrieren.
Die Familie bekommt am ehesten etwas von den Konzentrationsstörungen eines Familienmitglieds mit. Wenn der Partner oder die Kinder etwas erzählen und man gerade mit den Gedanken woanders ist, beschweren sie sich: „Du hörst gar nicht richtig zu!“
Eine alleinerziehende Mutter erzählte mir, dass sie ihren anstrengenden 40-Stunden-Job aufgegeben und sich eine andere Arbeitsstelle gesucht hatte. Eines Tages meinte ihre Tochter ganz überrascht: „Mama, du hast mir zum ersten Mal seit langer Zeit wirklich zugehört!“, nachdem die Mutter wohlüberlegte Antworten gegeben hatte.
Ein weiteres psychisches Stresssymptom ist erhöhte Reizbarkeit. Das Nervenkostüm steht unter Strom. Die Reizbarkeit entsteht durch die permanente Ausschüttung von Adrenalin und Cortisol, die in den Nebennieren gebildet werden. Eigentlich werden diese beiden Hormone ausgeschüttet, um den Körper bei Gefahren mit der nötigen Energie zu versorgen. Er wird in Alarmbereitschaft versetzt und für eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion bereit gemacht, zum Beispiel, wenn ein Fußgänger plötzlich vor uns die Straße überquert und wir als Autofahrer reagieren müssen. Eine solche Situation stellt akuten Stress dar, der aber gleich wieder abklingt, wenn die Gefahr vorüber ist. Hält jedoch aufgrund unserer Lebensumstände die Belastung an, spricht man von chronischem Stress.
Die Stoffwechselprozesse im Gehirn sorgen für einen hohen Wachheitsgrad bei Stress, wodurch es zu Einschlaf- oder Durchschlafstörungen kommt. Viele Frauen trinken dann tagsüber viel Kaffee. Doch Koffein kurbelt die sowieso schon erhöhte Adrenalinproduktion noch weiter an. Der Körper verlangt nach Zucker, um Energiereserven bereitzustellen. Und da man sich ja sonst nichts gönnt, greift man zu Süßigkeiten. Die werden dann in den Fettzellen des Körpers gespeichert – und die Spirale setzt sich fort.
Ronja hat einen Fünfpersonenhaushalt gemanagt; nun sind die Kinder zum Teil schon erwachsen. Jetzt studiert sie noch Heilpädagogik und muss eine Masterarbeit schreiben. Es fällt ihr jedoch schwer, im Haus Ruhe zum Schreiben zu finden. Nachts wird sie oft wach und merkt, dass jeder Muskel so angespannt ist, dass sie nicht wieder einschlafen kann. Die Schlafstörungen führen dazu, dass sie tagsüber müde und unkonzentriert ist und häufig Kaffee „braucht“. Nach unserem Gespräch reduziert sie den Kaffeekonsum auf zwei Tassen am Morgen, legt sich mittags zwanzig Minuten hin und will sich einen Kurs für progressive Muskelentspannung anschauen.
Die progressive Muskelentspannung ist ein Verfahren, das der Arzt Edmund Jacobson erfolgreich bei seinen Patienten eingesetzt hat, die unter Stress standen. Dabei konzentriert man sich nacheinander auf verschiedene Muskelgruppen, die man zunächst leicht anspannt und dann bewusst entspannt. Jacobson ist es gelungen, einen Zusammenhang zwischen muskulärer Anspannung und seelischen und körperlichen Erkrankungen nachzuweisen. Er fand zudem heraus, dass die bewusst erlernte Reduktion des Muskeltonus Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem hat und einen Zustand der Entspannung herbeiführen kann. Damit reduzieren sich auch die Stresssymptome. Entspannungsverfahren haben sich in vielen Bereichen als wichtiges „Stressreduktionsmittel“ erwiesen.
Eine erhöhte Empfindlichkeit für Geräusche kann ein weiteres psychisches Stresssymptom sein. Eltern, die acht Stunden Arbeit hinter sich haben, reagieren vielleicht schon beim geringsten Schrei ihres Kindes gereizt.
Manche Menschen reagieren wütend oder barsch, wenn man sie in einer angespannten Situation anspricht. Hinter der Wut steckt oft der Gedanke: „Ich schaff das nicht!“, verbunden mit dem Gefühl der Einsamkeit: „Niemand hilft mir! Ich steh mit dieser Aufgabe ganz allein da!“, oder der Angst: „Was ist, wenn ich versage?“
Achtung: Wer hier, also bei chronischen Stresssymptomen, nicht die Notbremse zieht und sich Hilfe holt, rutscht leicht in ein Burn-out-Syndrom. Die Grenzen zur Depression sind fließend. Im Leitfaden „Psychosomatische Medizin“ wird Burn-out folgendermaßen definiert: „Das Burn-out-Syndrom als chronisches Überlastungssyndrom beschreibt einen Zustand von Gespanntheit, Reizbarkeit und Übermüdung, der schließlich in Apathie, innere Distanzierung, Zynismus oder Rigidität übergeht.“
Dieser Zustand beginnt schleichend, oft über Jahre hinweg. Er geht beispielsweise damit einher, dass man sich zu hohe Ziele steckt, die einfach nicht zu erreichen sind. Dagegen hilft, Pläne zu überdenken und sich realistische Ziele zu setzen, auch im Gespräch mit dem Partner oder Freunden ihre Rückmeldung zu beachten, Pausen einzuplanen und Tagebuch zu führen. Regelmäßige sportliche Betätigung lenkt die Konzentration in andere Bahnen und baut vor allem die vorhandenen Stresshormone auf eine gute Art und Weise ab. Wenn man etwas erreicht hat, und seien es auch nur Kleinigkeiten, hilft es, sich selbst zu loben: „Das hast du gut gemacht!“
Wenn wir die unterschiedlichen Symptome betrachten, merken wir, dass die Reaktionen auf die Stress verursachenden Ereignisse von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sind. Manche weisen schneller Stresssymptome auf als andere. Woran liegt das?
Das „Deutsche Resilienz Zentrum“ in Mainz hat es sich zur Aufgabe gemacht, herauszufinden, warum einige Menschen resistenter, also widerstandsfähiger gegen Stress, sind als andere. Eine Gruppe von Resilienz-Forschern untersucht zurzeit die Schutzmechanismen, die bei manchen Menschen dazu führen, dass sie psychisch und körperlich gesund bleiben, während andere in ähnlichen Lebensumständen vermehrt Stresssymptome entwickeln. Ziel soll sein, stärker präventiv zu arbeiten, um Menschen vorbeugend besser helfen zu können, wenn sie mit einer Belastungssituation konfrontiert sind.
Mit Resilienz ist dabei die Kraft gemeint, in stressigen Phasen gesund zu bleiben. Die Untersuchung ergab, dass Resilienz kein feststehender Istzustand ist, sondern ein dynamischer Prozess: Der Betreffende entwickelt in einer Belastungssituation vielleicht eine neue Stärke und Kompetenz und gewinnt eine neue Lebensperspektive. Oder er setzt sich mit professioneller Hilfe mit dem Schmerz, sei er seelisch oder körperlich, auseinander und gewinnt eine neue Sicht der Dinge.
Dr. med. Christine Sifft ist Fachärztin für Allgemeinmedizin mit der Zusatzweiterbildung Psychotherapie.
Ellen Nieswiodek-Martin
Viele Frauen halten sich tagsüber mit Kaffee über Wasser und versuchen abends, zur Ruhe zu kommen, indem sie ein Gläschen Wein oder andere alkoholische Getränke zu sich nehmen. Kaffee macht uns wach und Alkohol entspannt, so die gängige Meinung. Bei Menschen, deren Alltag ausgeglichen ist und deren Körper sich in einer gesunden Balance befindet, mag das funktionieren. Bei manchen Menschen ist die Wirkung allerdings genau entgegengesetzt. Bei dauergestressten Menschen haben beide Substanzen unerwünschte Nebeneffekte, die die bestehenden Symptome noch verstärken können.
Kaffee
Kaffee ist für viele Frauen aus ihrem Alltag nicht wegzudenken: Eine Tasse Kaffee steht für eine Pause. Wir meinen, uns etwas Gutes zu tun, wenn wir einen Kaffee trinken. Außerdem hoffen wir, dass er die Müdigkeit vertreibt und dabei hilft, dass sich unser müder Kopf besser auf die Arbeit konzentrieren kann.
Das ist auch nicht falsch – allerdings hat Kaffee bei stressgeplagten Frauen vor allem eine Funktion: Er regt das sympathische Nervensystem an. Das führt wiederum zur vermehrten Ausschüttung von Adrenalin – dem Hormon, das die Stresssymptome auslöst. Es kommt also zu einem ungesunden Kreislauf.
Die Biochemikerin Dr. Libby Weaver schlägt daher dauergestressten Frauen in ihrem Buch Das Rushing Woman Syndrom vor, für eine gewisse Zeit sowohl auf Kaffee als auch auf Alkohol zu verzichten. Versuchen Sie doch einmal, eine vierzehntägige Kaffeepause einzulegen, und beobachten Sie, wie sich dies auf Ihren Körper auswirkt. Stattdessen könnten Sie zwei Wochen lang nur grünen Tee, Kräuter- oder Früchtetee oder heißes Wasser mit Zitrone oder Ingwer trinken.
Schlaftabletten
Wenn eine ausgeprägte chronische Schlafstörung vorliegt, kann die Einnahme von Medikamenten manchmal hilfreich sein und echte Entlastung bringen. Da es jedoch unterschiedlich wirksame Medikamente gibt, die zum Teil abhängig machen können, sollte die Behandlung hier unbedingt von einem Facharzt, beispielsweise einem Psychiater, durchgeführt werden. Er kann auch Medikamente auswählen, die kein Suchtpotenzial bergen.
Schlaftabletten können dennoch nur eine kurzfristige Lösung sein. Die meisten führen nicht dazu, dass man sich morgens wirklich erholt fühlt. Besser ist es, durch Bewegung, Atemübungen und anderes dafür zu sorgen, dass der Körper wieder von allein zur Ruhe kommt (siehe Seite 85).