Unser Spielplatz in Koszalin. Er bestand komplett aus Beton.
Neue Heimat: Mama und ich am Hafen in Kiel.
Endlich nicht mehr obdachlos. Unser erster Tag im Asylantenheim.
In unserer ersten eigenen Wohnung hatten wir sogar einen Fernseher.
In der Grundschule führen wir ein Theaterstück auf. Neben Vogel, Löwe und Schnecke spiele ich (ganz rechts) einen Pfau. Erkennt man aber nicht.
Mein schon angetrunkener Stiefvater Günther Müller und ich.
In der vierten Klasse war ich auch im Schulchor aktiv.
Trotz Klamotten aus der Altkleidersammlung die Prinzessin von Kiel.
Einen Tag nach diesem Foto warf uns Günther nachts aus der Wohnung raus. Wir durften nicht einmal unsere Schuhe anzuziehen.
Wilde Jugend: Meine Clique und ich mit wasserstoffblonden Haaren.
Mit 17 Jahren, kurz bevor ich mich entschlossen habe, anschaffen zu gehen.
Mit 18 Jahren, kurz nachdem ich mich entschlossen hatte, anschaffen zu gehen.
Ein historisches Dokument: Die allererste Nuttenvisitenkarte von Malina, Amira und mir.
20 Jahre jung und wasserstoffblond.
Stolz, aber noch nicht nüchtern: In Polen lasse ich mir besoffen von einem Junkie mein Ganzkörpertattoo stechen.
Mit meinem damaligen Freund Savas im Thailand-Urlaub. Mit im Bild: Eine Schlange.
Im selben Urlaub: Bowlen. Ich habe gewonnen. Savas war beleidigt.
Das Foto entstand kurz nach meinem Schwesta Ewa-Debüt: Im Adidas-Trainingsjogger fühle ich mich am wohlsten.
Einen meiner ersten Live-Auftritte hatte ich während der SSIO-BB.U.M.SS.N-Tour.
Flugangst sein Vater. Gemeinsam mit SSIO im Flieger.
Medienliebling: Seit Tag 1 interessierte sich die Presse für meinen Nutten-Lifestyle. Hier ein Bericht von SPIEGEL TV.
Die AON-Crew: Samy, Xatar, SSIO, Kalim und ich (von links nach rechts).
Auf diesem Bild bin ich unschwer zu erkennen hochschwanger.
Meine Kleine und ich im Bällebad.
Ich bin euch zu asozial?
Eure Ewa in voller Pracht: Was sagt ihr dazu?
TEIL 1
DER BEGINN
Man muss drei Stufen hinaufsteigen, um ganz unten anzukommen. Um einen Blick in den Abgrund zu werfen. Es waren drei Stufen, die zum Roten Herz führten, der schäbigsten Kneipe im schäbigsten Viertel von ganz Koszalin. Mitten im Hafen. Am Rand der Stadt. Hier kamen die Menschen hin, die sonst nirgendwo mehr hingehören. Das Rote Herz war lieblos eingerichtet. Es standen ein paar Holztische und einige Barhocker herum, an den Wänden hing Schiffsdekoration: vier Paddel, zwei Kapitänsmützen und ein Rettungsreifen. Die Einrichtung war vollgekritzelt, der Boden klebte vom Bier und Dreck und in der Luft lag der Gestank von Schweiß, Alkohol und Zigarettenqualm. Aber jeden Abend war das Rote Herz bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Rote Herz war so etwas wie das Wohnzimmer der Vergessenen. Der vom Leben Vergessenen. Und davon gab es in Koszalin, davon gab es in Polen viele.
Die meisten Menschen, die in diesem Viertel lebten, hatten nichts. Sie besaßen nur das Nötigste und hangelten sich von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde oder von Krise zu Krise. Sie machten sich keine großen Gedanken über ihre Existenz. Lebten einfach vor sich hin und versuchten, irgendwie durchzukommen. Zu überleben. Es waren einfache Menschen. Die wenigsten hatten eine Schulbildung. Noch weniger hatten einen Job. Sie hatten Gelegenheitsjobs. Halfen mal hier, mal dort aus. Und wenn die Sorgen zu groß wurden, gingen diese Menschen in eine Kneipe und soffen sie einfach weg. Die Kneipe war der Mittelpunkt ihres Soziallebens. Der Ort, an dem alles aufeinandertraf, ein Marktplatz der gescheiterten Existenzen. Und das Rote Herz war der Ort, an den die Menschen gingen, die nicht bloß unten, sondern ganz weit unten waren. Das Rote Herz war ein Phänomen.
Genau wie meine Mutter. Sie war Bardame in dem Laden. Nacht für Nacht stand sie hinter dem Tresen und versorgte die Gäste mit Bier, Schnaps und harten Sprüchen. Jeder hier kannte sie. Meine Mutter war so eine Art Star der Halbwelt. Und so benahm sie sich auch. Sie war prollig, laut und schmiss mit Geld rum. Ihre Hände waren völlig überladen mit Schmuck. Billiger Fake-Goldschmuck, der sie aber nicht davon abhielt, einem besoffenen Gast ordentlich eine mitzugeben. Die nächtliche Kneipenschlägerei gehörte zum Roten Herz wie der Korn zum Bier. Und meine Mutter mischte immer mit. Sie teilte aus, sie steckte ein, sie schrie herum, sie langte zu. In Koszalin gab man ihr recht schnell den Spitznamen »das Wildschwein«. Und meine Mutter tat alles dafür, ihrem Ruf gerecht zu werden. Sie pflegte ihr Image wie andere Frauen ihre Fingernägel. Als Bardame stand sie im Zentrum des sozialen Lebens der Unterschicht. Sie hatte mit allen möglichen Menschen zu tun. Mit den Aufsteigern, den Absteigern, mit den Dealern, den Zuhältern, den Nutten, dem Abschaum und dem Gesocks. Meine Mutter behandelte sie alle gleich. Sie sagte, ein Mensch sei ein Mensch und einen Menschen bewerte sie nach seinem Verhalten, nicht nach seinem Status. Wenn er sie mit Respekt behandelte, dann behandelte sie ihn auch mit Respekt. Wenn er frech wurde, dann schallerte sie ihm eine. So war meine Mutter. Meine Großeltern hatten ein Problem mit meiner Mutter. Oma war Lehrerin und Opa war Förster und die beiden wollten unbedingt, dass Mama ein Studium absolviert. Tatsächlich begann sie ein Kunststudium. Machte sogar ihr Diplom. Aber nebenbei arbeitete sie viel lieber in der Kneipe. Das war ihre Berufung. Oma und Opa fanden es furchtbar. Erst als sie begriffen, dass Mama mehr Geld verdiente als die beiden zusammen, schlossen sie Frieden mit ihrer Tochter. Den Kneipenjob fanden sie zwar noch immer nicht so toll, aber sie akzeptierten es. Das Geld sprach nun einmal für sich.
Im Roten Herz verkehrten auch die Karsanow-Brüder. Jeder in der Stadt kannte die Karsanows. Sieben Brüder, die so ziemlich alles machten, was man machen konnte, um an Geld zu kommen. Diebstahl, Raub, Drogenhandel, Erpressung. Um die Großfamilie rankte sich ein Mythos. Es gab jede Menge Gerüchte. Eigentlich wusste niemand so genau, wer diese Kerle waren. Sie sprachen nicht viel und blieben unter sich. Notgedrungen. Denn es wollte ja auch niemand etwas mit ihnen zu tun haben. Jeder wusste, dass die Karsanows für Ärger standen. Dass sie in Geschäfte verwickelt waren, mit denen man besser nichts zu tun haben wollte, nicht mal hier, nicht mal im Roten Herzen. Dem Abgrund von Koszalin. Nur meiner Mutter war das egal. Sie scherte sich nicht um Konventionen und kannte keine Angst. Mit wem sie etwas zu tun hatte und mit wem nicht, das entschied sie selbst. Das Gerede der Leute kümmerte sie wenig, denn über sie wurde ja sowieso gesprochen, und vielleicht genoss meine Mutter es auch ein wenig, im Gespräch zu bleiben. Sie hing viel mit den Karsanows ab. Und irgendwann verliebte sie sich in den ältesten der Bande. Es war ein eher kurzes Abenteuer. Drei Monate, nachdem sie mit ihrem neuen Freund angebandelt hatte, wurde sie schwanger. Und drei Monate, nachdem sie schwanger geworden war, stürmte die Polizei die Wohnung von meinem Vater und verhaftete ihn. Warum sie das taten, ist vielleicht das größte ungelüftete Geheimnis meines Lebens. Ich habe so oft versucht, es herauszufinden, habe mit so vielen Verwandten gesprochen. Aber das Einzige, was ich herausfinden konnte, war, dass mein Vater etwas sehr, sehr Schlimmes getan hätte. Etwas, das so schlimm war, dass meine Mutter sich vor Rache fürchtete. Da mein Vater im Gefängnis war, wäre sie das Opfer geworden. Also tauchte sie unter. Am 16. Juli 1984 kam ich auf die Welt. Kurz darauf verließen wir die Stadt. Und verschwanden von der Bildfläche.
Bis heute hat meine Mutter mit mir niemals über diese Zeit gesprochen. Ich weiß nur, dass wir wie die Zigeuner von Stadt zu Stadt gereist sind. Drei Jahre lang. Die ersten Erinnerungen, die ich an mein Leben habe, sind Erinnerungen an die Angst. Es sind unkonkrete Erinnerungen. Mehr Gefühle als Bilder. Ich weiß, dass wir keinen festen Wohnsitz hatten. Dass wir mal bei Freunden, mal bei Verwandten untergekommen sind. Ich weiß nicht, ob ich diese Gefühle aus den Erzählungen konstruiere oder ob ich sie wirklich so hatte. Aber ich bilde mir noch heute ein zu wissen, wie ich mich damals gefühlt habe. Drei Jahre ging das so. Drei Jahre reisten wir kreuz und quer durch das Land. Ohne Geld. Ohne Schutz. Ohne Perspektive. Und irgendwann hatte meine Mutter genug von dem ewigen Versteckspiel. Sie wollte weg aus Polen. Endgültig. Sie wollte ein normales Leben führen. Ein Leben, in dem sie mit ihrer kleinen Tochter nicht ständig auf der Flucht war. Mit meinem Vater hatte sie sowieso überhaupt keinen Kontakt mehr. Aber er hatte noch drei Jungs aus einer vorherigen Beziehung, mit denen Mama eine lose Verbindung hielt. Ich selbst habe sie erst viel später kennengelernt – alle drei sitzen im Knast und unser Kontakt besteht darin, dass ich ihnen immer mal wieder Playstationspiele, Musik und Geld schicke.
Um einen Ausweg zu finden, ging Mama erst mal zurück nach Koszalin, zurück in das Rote Herz, und ließ dort alle ihre Kontakte spielen. Da wir in einer Hafenstadt lebten, hatte meine Mutter jede Menge Kontakte zu Matrosen, und niemand auf dieser Welt wusste besser, wie man aus Polen wegkommt, als ein Matrose. Einer von ihnen war Mama wohl noch einen großen Gefallen schuldig. Er hatte gute Connections und schaffte es, uns eine Greencard für die Vereinigten Staaten zu besorgen. Wir würden also in die USA gehen. Ich war noch zu klein, um zu begreifen, was das bedeutete. Aber meine Mutter freute sich wahnsinnig. Sie sprach von einem Neuanfang. Von einer neuen Chance. Meine Mutter packte alles zusammen. Alles was wir hatten. Es war nicht viel. Sie stopfte sämtliche Klamotten in unsere zwei Taschen: Jacken, Hosen, T-Shirts, Pullover. Dazu noch ein paar Thunfisch-Dosen und die zwei Flugtickets nach New York. Dann stiegen wir in einen Zug und fuhren nach Berlin.
Als wir am Bahnhof Zoo ausstiegen, betraten wir nicht nur ein anderes Land, wir betraten eine ganz neue Welt. Ich hatte schon viel gesehen. Viel Dreck, viel Leid, viel Elend. Aber das hier, das war größer und dreckiger und elendiger als alles, was es in Polen gab. Im Bahnhof saßen überall Menschen auf dem Boden. Menschen, die gar nicht mehr aussahen wie Menschen. Menschen, die wirkten, als wären sie Zombies. Sie lagen einfach da und starrten in die Luft. Ich konnte das nicht begreifen. Verstand nicht, was mit ihnen los war. Waren sie krank? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass sie mir fürchterliche Angst machten. Als wir den Bahnhof verließen wurde es auch nicht besser. Draußen standen leichtbekleidete Frauen und Mädchen mit Minirock, Netzstrumpfhose und BH. Es regnete. Aber sie standen trotzdem dort und das miese Wetter schien sie überhaupt nicht zu stören. Vielleicht konnten sie sich einfach keine Jacken leisten, dachte ich mir. Manchmal hielt ein Wagen an und die Mädchen stiegen ein und verschwanden dann. Es schien fast so, als würden sie auf die Autos warten, die sie mitnahmen. Ich begriff es nicht. Mir war alles so fremd. Und alle hier sprachen eine Sprache, die ich nicht verstand. Ich fühlte mich völlig überfordert und klammerte mich an den Händen meiner Mutter fest.
Mama nahm das gar nicht wahr. Sie war in Gedanken ganz woanders. Wir liefen ein wenig durch die Stadt. Berlin war größer und furchteinflößender als alle anderen Städte, die ich bisher gesehen hatte. Es waren so viele Menschen, so viele Eindrücke, die ich kaum verarbeiten konnte.
»Wir gehen uns jetzt etwas zu essen besorgen«, sagte meine Mutter irgendwann und zeigte auf einen Laden. »Edeka« stand da in leuchtenden Buchstaben. Das Geschäft war sehr groß. Sehr sauber. Sehr aufgeräumt. Das kannte ich nicht aus Polen. Dort waren Lebensmittelläden immer klein und vollgestopft und meistens auch ziemlich dreckig. Wir streiften durch die Gänge, gingen zu den Kühlregalen und Mama nahm sich einige Packungen Wurst und Käse und steckte sie in eine ihrer beiden großen Taschen. Sie tat das ganz selbstverständlich. Für mich war das nichts Außergewöhnliches. Meine Mutter hatte auch in Polen geklaut. Das war in meinen Augen ganz normal. Ich wusste zwar, dass andere Menschen normalerweise mit den Waren zur Kasse gingen und sie dort bezahlten, aber für Mama galten nun einmal andere Regeln. Das war schon immer so und ich habe das nie wirklich hinterfragt. In einem der Gänge stand ein Aufsteller, der aussah wie eine Mickey Maus und in dem kleinen vergitterten Kasten vor dem Aufsteller lagen ganze viele bunte Kinder-Walkmans, die auch aussahen wie Mickey Maus. Die Ohren waren die Lautsprecher und die Nase der Play-Button.
»Den will ich haben«, sagte ich und blieb stehen. Mama seufzte und steckte den Walkman in die Tasche. Dann verließen wir den Supermarkt.
»Moment«, rief uns jemand hinterher, als wir gerade durch die Schiebetür gingen.
Ich begriff nicht, was er sagte, weil ich noch kein Wort Deutsch konnte, aber ich ahnte, dass er wollte, das wir stehen bleiben. »Geh weiter«, flüsterte mir meine Mutter auf Polnisch zu.
»Halt!«, rief der Mann jetzt etwas bestimmter und griff meine Mutter an der Schulter.
Mama versuchte ihn sofort mit einem polnischen Redeschwall mundtot zu machen. Sie plapperte irgendetwas vor sich hin. Sehr laut, sehr aggressiv. Aber es funktionierte nicht. Der Typ ließ sich nicht beeindrucken und riss ihr eine der beiden Taschen aus der Hand.
»Pomoc, Pomoc!«, schrie meine Mutter laut auf Polnisch und machte ein fürchterliches Drama. »Hilfe, Hilfe, Hilfe!«
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Am liebsten wäre ich den Kerl angesprungen und hätte ihm die Augen ausgekratzt. Aber ich wartete auf ein Zeichen von Mama.
»Nix Hilfe«, entgegnete der Mann. »Ladendetektiv. Und Sie: Diebin!« Er zog den Walkman und den Käse und die Wurst aus der Tasche. »Mitkommen.« Mama wehrte sich noch ein wenig, merkte dann aber wohl, dass es sinnlos war. Der Typ hatte seinen Punkt und das nahmen auch die anderen Menschen wahr. Mama gab Ruhe und folgte dem Mann.
Er führte uns in einen kleinen Hinterraum, wo er uns Fragen stellte. Wir verstanden gar nichts. Er versuchte es in verschiedenen Sprachen, versuchte zu gestikulieren. Nichts. Es hatte keinen Sinn. Aber selbst wenn meine Mutter ihn verstanden hätte, sie wäre wahrscheinlich trotzdem nicht bereit gewesen zu kooperieren. Nach einer guten Stunde ließ uns der Ladendetektiv alleine. »Ihr bleibt hier«, sagte er. Mama lächelte. »Nie mit diesen Leuten reden«, gab sie mir als Lektion mit. »Manchmal regelt sich auch alles von ganz alleine. Wenn man einfach nur die Klappe hält.«
Ich nickte und schaute mich in dem kleinen Zimmer um. Ein paar Stühle, ein Metalltisch und an der Wand stand ein vollgestopftes Regal mit Ordnern und Akten. Es war alles andere als gemütlich.
»Wann können wir hier weg?«, fragte ich.
»Bald bestimmt«, antwortete Mama. Ich schaute auf die Uhr, die an der Wand hing. Sie war kaputt. Der Sekundenzeiger tickte bloß auf der Stelle. Mama und ich schwiegen uns an. Dann kamen drei Männer in den Raum.
»Kurwa!«, fluchte Mama. Es war die Polizei. Sie hatte wohl gehofft, dass der Detektiv uns einfach so laufen ließ. Stattdessen rief er die Polizei und die nahmen uns mit und setzten uns auf die Rückbank ihres Polizeiwagens. Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie wir langsam durch die regennassen Straßen fuhren. In den Pfützen spiegelten sich die Lichter der Stadt. Die Sonne ging langsam unter, als wir auf dem Revier ankamen. Es war ein großer, sehr hektischer Raum. Überall standen Schreibtische und an diesen Schreibtischen saßen Polizisten, die hektisch telefonierten. Die Polizisten brachten meine Mutter in einen kleinen Raum, wo man sie erneut verhörte. Um mich kümmerte sich derweil eine Frau in Uniform. Sie brachte mir Stifte und Papier und wollte mit mir etwas malen. Aber ich hatte keine Lust zu malen. Ich wollte zu meiner Mutter. Ich hatte keine Ahnung, was sie mit ihr machen würden. Die Polizistin sprach auf mich ein, aber ich verstand kein Wort. Es war eine ewig lange Tortur. Zwar ließ man uns am Ende des Tages gehen, aber wir hatten nicht bloß unseren Flug verpasst – auch die Greencard wurde uns gestrichen. »Nix mehr können reisen USA«, machte uns der Bulle in Idiotendeutsch klar. Und konnte sich dabei ein blödes Lächeln nicht verkneifen.
»Was machen wir jetzt, Mama?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Der Polizist hatte ihr noch eine Karte mit einer Adresse in die Hand gedrückt. Das war ein Asylantenheim. Dort durften wir für zwei Nächte erst einmal bleiben. Am nächsten Morgen liefen wir durch die halbe Stadt auf der Suche nach einer Telefonzelle.
»Ruf mich, wenn jemand kommt«, sagte Mama, ging in den gelben Kasten rein. Ich fragte mich, wo Mama das alles gelernt hatte. Sie telefonierte eine gute Stunde herum. Als sie wieder aus dem gelben Kasten kam, sagte sie mir, dass wir morgen nach Kiel fahren würden. Dort wohnte die Freundin einer Freundin, die uns eine Unterkunft besorgen könnte. Ich nickte. Dann gingen wir zurück in das Asylantenheim und ich legte mich auf die dreckige Matratze und dachte nach.
Wir würden also nach Kiel ziehen. Ich versuchte mir den Namen der Stadt zu merken. Kiel. Eine Hafenstadt. Im Norden. Direkt am Meer. Das war alles, was meine Mutter mir erzählte. Aber diese paar Sätze reichten schon aus, um meine Fantasie anzuregen. Kiel war vielleicht nicht Amerika, aber Kiel, egal wie Kiel war, Kiel war auf jeden Fall besser als Berlin. Alles war besser als Berlin. Ich hatte das Bild von einer felsigen Küste vor Augen, dachte an riesige Schiffe, die im Hafen anlegten, dachte an Kapitäne und Matrosen, die in Kneipen saßen und von ihren Abenteuern erzählten. Das war für mich Kiel. Ich war wahnsinnig gespannt und konnte es kaum noch erwarten.
Ich half meiner Mutter, unsere Klamotten wieder in die beiden verschlissenen Taschen zu stopfen, die wir dabeihatten. Da wir unseren Besitz in den letzten Tagen noch um ein wenig zusätzliches Diebesgut angereichert hatten, kamen wir jetzt auf zwei große Taschen und vier vollgestopfte Aldi-Tüten. Als wir fertig waren, legte ich mich in das kleine Bett im Asylheim, schloss meine Augen und dachte an Kiel. Dachte an unsere Zukunft, die hoffentlich besser werden würde als unsere Vergangenheit, die uns in die ziemlich unerträgliche Gegenwart führte, in der wir uns gerade befanden. Ich schlief ein und träumte von dem Meer.
Am nächsten Morgen weckte Mama mich.
»Steh auf«, sagte sie grob. »Wir müssen los.«
Ich schnappte mir die ganzen Aldi-Tüten und folgte meiner Mutter, die mit den schweren Taschen voranging. Wir liefen quer durch Berlin, liefen an einer langen Hauptstraße entlang, liefen durch riesige Häuserschluchten, vorbei an den vielen Menschen, die mich unfreundlich anstarrten, und kamen endlich an einem großen Busbahnhof an. Mama gab mir ein Zeichen, dass ich die Tüten ablegen konnte. Wir setzten uns neben unser Gepäck auf den Boden und warteten. Die Zeit verging. Menschen gingen an uns vorbei, ohne uns zu beachten. Irgendwann nahm ich sie gar nicht mehr wahr. Sah nur noch ihre Schuhe. Mama wirkte die ganze Zeit sehr nachdenklich. Ich wusste nicht, was sie bedrückte. Warum freute sie sich nicht? Es war doch ein Abenteuer, das auf uns wartete. Eine große, aufregende Hafenstadt, die wir noch erkunden könnten. Aber Mama hatte schlechte Laune. Die ganze Fahrt über sprach sie kein Wort, schaute nur aus dem Fenster und starrte auf die Autobahn. Irgendetwas machte ihr Sorgen. Ich merkte, dass es in ihrem Kopf arbeitete.
Nach ein paar Stunden erreichten wir endlich Kiel. Unser neues Zuhause. Es war kalt und regnerisch. Der Wind wehte noch ein bisschen schärfer als in Berlin.
»Wo gehen wir jetzt hin, Mama?«
Meine Mutter antwortete mir nicht. Sie stand einfach nur am Bahnhof und schaute sich um. Die Zeit verging. Eine Stunde. Zwei Stunden. Drei Stunden. Sie legte ihr Gesicht in die Hände und schüttelte nur den Kopf. Dann raffte sie sich auf und suchte nach einer Telefonzelle. Ich musste draußen warten. Mama telefonierte nicht sehr lange, aber dafür umso lauter. Ich verstand nicht genau, was sie sagte. Aber sie sagte es sehr, sehr wütend. Sie kam mit einem hochroten Kopf aus der kleinen gelben Box.
Die Abmachung mit der Freundin von Mamas Freundin war wohl doch noch nicht so konkret gewesen, wie es zunächst klang. Sie wollte uns eigentlich abholen. Aber daraus wurde offenbar nichts.
»Planänderung«, sagte Mama, nahm mich an die Hand und zog mich hinter sich her. Wir folgten einfach den anderen Menschen, die mit aufgezogenen Kapuzen und großen Regenschirmen über dem Kopf alle in dieselbe Richtung liefen. Irgendwann erreichten wir die Innenstadt.
»Mama, wo gehen wir denn jetzt hin?«, fragte ich sie noch mal. Ich ging davon aus, dass sie einen Plan hätte. Auch wenn es ein geänderter Plan war, aber meine Mama hatte immer irgendeinen Plan.
»Da«, sagte sie und zeigte auf ein großes Gebäude mit leuchtenden, grünen Buchstaben an der Fassade.
»Was ist das?«
»Ein Kaufhaus.«
Es sah sehr edel aus. Der Boden war mit hellen Fliesen ausgelegt, überall standen symmetrisch angeordnet kleine Regale mit Parfums und Kosmetika. Es roch ganz toll. Die Menschen hier trugen Klamotten, die sehr teuer aussahen. »Gaff nicht so«, motzte Mama und fuhr mit mir die Rolltreppen hoch und runter, bis wir die Abteilung gefunden hatten, die sie offenbar suchte. Die Camping-Abteilung.
»Such dir einen aus«, sagte sie.
Ich schaute sie fragend an.
»Na los.«
Sie zeigte auf den Tisch mit den vielen bunten Schlafsäcken. Ich wühlte ein wenig herum, bis ich einen mit einem Mumien-Aufdruck in den Händen hielt. In so einem comicartigen Ägypten-Style. Das fand ich schick.
»Den da«, sagte ich.
Meine Mutter nickte, griff nach dem Mumienschlafsack und stopfte ihn umständlich in eine der Aldi-Tüten. Dann verließen wir den Laden, als wäre gar nichts passiert. Draußen gab sie mir unsere Beute.
»Hier, Ewa, pass gut darauf auf. Das ist jetzt erstmal dein neues Bett.«
Ich verstand nicht so wirklich, was sie mir damit sagen wollte, aber ich traute mich auch nicht zu fragen. Mama würde schon einen Plan haben. Ich war mir ganz sicher.
Dann marschierten wir weiter. Raus aus der Innenstadt. Die Straßen und die Häuser waren sehr viel kleiner als Berlin. Das hatte ich erwartet. Aber wo waren die Schiffe? Die Seemänner? Ich fing an, Kiel ziemlich enttäuschend zu finden. Wir liefen durch die Stadt. Irrten im Regen umher, bis wir irgendwann einen größeren Park fanden.
»Hier«, sagte meine Mutter. »Hier wohnen wir jetzt.«
Ich schaute mich um. Der Park war leer. Das lag wahrscheinlich an dem miesen Wetter, bei dem kaum jemand unterwegs war. Nur ein paar vereinzelte Gestalten führten ihre Hunde aus. Der Park bestand aus vielen großen Wiesen, die durch Gehwege und kleine Seen voneinander getrennt waren. Der Boden war von dem Regen schon ziemlich aufgeweicht. Und überall standen Bäume, die nach und nach ihre Blätter verloren. Aber Häuser sah ich hier keine. Wo bitte würden wir denn hier wohnen, fragte ich mich. Und was war bloß aus der Freundin von Mamas Freundin geworden?
Wir gingen zu einer Parkbank, wo Mama alle Tüten und Taschen abstellte.
»Setz dich. Warte hier. Und pass bloß auf unsere Sachen auf, hörst du?«
»Ja, Mama.«
Ich zog die Taschen und die Aldi-Tüten und den Mumienschlafsack ganz nah an mich heran und ließ unseren Besitz nicht aus den Augen.
Ich sah, wie sie zwischen den Bäumen verschwand. »Wo gehst du hin?«, rief ich Mama noch hinterher. Aber sie antwortete nicht mehr. Zum Glück hatte der Regen mittlerweile aufgehört. Eigentlich war die Ecke ja ganz schön, dachte ich. Wenn wir hier ein kleines Haus hätten, dann ließe es sich doch gut leben. Und wenn das Wetter gut wäre, würden bestimmt auch viele andere Kinder kommen, mit denen ich spielen könnte. Ich stellte mir vor, wie das wohl wäre: ein normales Leben zu führen. Freunde zu haben. Das kannte ich alles nicht. Ich kannte nur das Leben auf der Flucht. Während ich mir vorstellte, wie meine Zukunft in Kiel wohl aussehen könnte, kam ein Mann auf mich zu. Er war groß, ziemlich dünn und ungepflegt. Er hatte komische Beulen im Gesicht. Er bewegt sich langsam, aber er kam näher. Ich fixierte ihn und griff instinktiv nach unseren Tüten und den Taschen. Ich war bereit, sie zur Not mit meinem Leben zu verteidigen. Ich hatte ja auch keine Wahl. Wenn er sie klauen würde, würde Mama mich sowieso umbringen. Der Kerl wirkte nicht ganz zurechnungsfähig. Er torkelte und hatte seinen Blick nur auf die Tüten gerichtet.
»Na«, schrie er und murmelte etwas vor sich hin.
Ich verstand nicht, was der Mann sagte, aber je näher er kam, desto unruhiger wurde ich. Langsam schleppte er sich in Richtung Parkbank. Ich schaute mich um, schaute ob hier irgendjemand war, der mir helfen konnte, schaute, ob hier irgendetwas rumlag, mit dem ich mich wehren könnte. Der Mann kam näher. Ich griff nach einem kleinen Ast auf dem Boden. Wieder rief mir der Mann etwas zu. Ich verstand es nicht. Niemand war hier. Ich wickelte mir die Schlaufen unserer Taschen um die Hände und zog alle Sachen ganz nah an mich heran. Ich zitterte. Mein Herz schlug wie verrückt. Jetzt stand der Kerl direkt vor mir. Er beugte sich zu mir runter. Ich kauerte mich komplett zusammen. Roch seinen Atem. Er stank nach Alkohol. Ich schloss die Augen und spürte wie die Schlaufen der Taschen in meine Haut schnitten, spürte, wie Panik in mir aufstieg. Was hatte er vor? Würde er …
»Ey!«, hörte ich die dumpfe Stimme meiner Mutter und schreckte genauso zusammen wie der Typ mit den Beulen im Gesicht.
»Verpiss dich, du elendiger Junkie!«, fluchte Mama auf Polnisch und der Kerl zog ab. Sie kam aus dem kleinen Wäldchen und hatte eine paar Pappkartons in der Hand. Gut, dass sie wieder da war.
»Was ist ein Junkie, Mama?«
»Ach, das wirst du noch früh genug erfahren«, sagte sie und schmiss mir die Pappe vor die Füße.
»Was ist das?«
»Unsere Wohnung.«
Ich schaute Mama fragend an.
»Na los, hilf schon mit.«
Und dann bauten wir die Kartons auf. So wie ein kleines Häuschen. Wir benutzten sie wie ein Dach und legten uns darunter. Ich hüllte mich in meinen Mumienschlafsack und Mama deckte sich mit drei Pullovern zu.
»Wohnen wir jetzt für immer hier?«, fragte ich sie nur.
»Vorübergehend.«
Ich fing an, Kiel ziemlich schrecklich zu finden. Das hatte ich mir alles doch ganz anders vorgestellt.
Die Nacht war furchtbar. Es war kalt und unbequem und ich traute mich nicht, die Augen zu schließen. Außerhalb unseres Pappkartonhauses gab es eintausend Geräusche, die ich nicht zuordnen konnte. Ich hatte schreckliche Angst, von einem Wolf oder einem Fuchs oder irgendeinem anderen Tier einfach aufgefressen zu werden. Mama hätte es nicht einmal bemerkt. Sie schlief tief und fest. Sie bekam einfach gar nichts mit. Erst als die Sonne langsam aufging, wurde sie wach. Sie stupste mich an und gab mir zu verstehen, dass ich aufstehen soll. Dann falteten wir unser Haus wieder auf Pappkartongröße zusammen und liefen durch die Stadt, um uns ein Frühstück zusammenzuklauen. Aufschnitt, Brot und Milch. Wir setzten uns auf eine Bank und aßen. Wir sprachen kein Wort. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich wollte Mama auch nicht fragen. Sie wirkte sowieso schon so genervt. Sie würde schon einen Plan haben. Mama hatte doch immer einen Plan. Als wir fertig waren, zogen wir weiter und suchten uns ein Schwimmbad, in dem wir uns frisch machen konnten. So haben wir das auch schon in Polen gemacht. Entweder bezahlten wir den Eintritt, oder wir kletterten einfach irgendwo über einen Zaun. Dieses Mal bezahlten wir. Mama hatte sich die Dollar für Amerika, die sie aus Polen mitgebracht hatte, in Berlin schon in Deutsche Mark umtauschen lassen. Im Schwimmbad duschten wir, zogen uns saubere Klamotten an und nutzten das Münztelefon, um noch einmal bei Mamas Freundin anzurufen, die versprach, uns eine richtige Unterkunft zu besorgen. Den Nachmittag klauten wir noch ein paar Vorräte zusammen. Am Abend gingen wir wieder in den Park zurück, bauten unser Pappkartonhaus auf und schliefen im Freien. Einige Wochen lang lebten wir so. Dann hatte uns die Freundin von meiner Mutter endlich eine richtige Unterkunft besorgt.
Wir durften in ein Frauenhaus ziehen.
Das Haus lag etwas außerhalb der Stadt in einem kleinen Waldgebiet versteckt. Frauenhäuser sind Anlaufstellen für Frauen und Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Die Schutz suchen vor Männern, die sie verprügeln. Ich weiß nicht, was Mamas Freundin den Betreibern da erzählt hatte, aber man gab uns ein Zimmer, auch wenn wir eigentlich gar nicht verfolgt wurden. Das Haus hatte zwei Stockwerke. Unten gab es eine große Küche und einen Gemeinschaftsraum. Oben war ein langer Flur mit vielen einzelnen Zimmern und in jedem Zimmer wohnten ein, zwei oder drei Frauen gemeinsam. Ich wusste nicht wieso, aber Mama und ich waren von Anfang an die Außenseiter im Frauenhaus. Die anderen Frauen mieden uns. Wenn wir uns im Gemeinschaftsraum an den Tisch setzten, setzten sie sich demonstrativ weg. Man gab uns zu verstehen, dass wir nicht so wirklich willkommen waren. Ich verstand nicht, woran das lag. Die Frauen hier kannten uns doch gar nicht. Und wir hatten ihn nichts getan. Im Gegenteil: Mama war wahnsinnig freundlich. Sogar für ihre Verhältnisse. Sie gab sich wirklich Mühe. Ich war zwar froh, dass wir nicht mehr auf der Straße leben mussten, aber so wirklich wohl fühlte ich mich im Frauenhaus auch nicht. Es war ein Klima der Feindseligkeit, was uns entgegengebracht wurde.
Nach einigen Wochen im Frauenhaus wurde ich krank. Vielleicht waren das noch die Spätfolgen von unserer Zeit im Park. Ich bekam jedenfalls hohes Fieber und hatte furchtbare Bauchschmerzen. Es wurde so schlimm, dass sogar Mama sich um mich sorgte. Und eigentlich sorgte sich Mama nie um mich. Ich lag im Bett und hatte unfassbare Schmerzen. Ich schwitzte. Ich konnte nicht mehr klar denken. Alles vor meinen Augen verschwamm. Ich war mir gar nicht mehr sicher ob ich wach war, oder ob ich träumte. Ich dachte wirklich, ich müsste sterben.
Meine Mutter machte einen Waschlappen nass und legte ihn mir auf die Stirn. Sie saß die ganze Zeit an meinem Bett und hielt meine Hand. Es half nichts. Mein Zustand wurde immer schlimmer und Mama immer verzweifelter. Als ich wieder einen Fieberschub bekam, lief sie aus dem Zimmer und rief eine der älteren Frau zu uns. Es hieß, dass sie eine pensionierte Ärztin sei. Das hatte meine Mutter irgendwo aufgeschnappt. Sie gab der älteren Frau mit Händen und Füßen zu verstehen, dass sie mir doch bitte irgendwie helfen sollte. Meine Mutter konnte ja noch kein richtiges Deutsch sprechen.
Die Frau schaute meine Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Was wollen Sie denn von mir?«, fragte sie und betonte in dem Satz jedes Wort übertrieben lang. »Was. Wollen. Sie?«
Mama zeigte auf mich und versuchte es mit den paar Sprachfetzen, die sie zusammenbekam. »Bitte. Helfen. Meine Tochter nicht gut«, sagte sie.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Sagen Sie, glauben Sie, ich spreche Spanisch oder was? Wir sind hier in Deutschland! Da müssen Sie auch Deutsch mit mir sprechen, wenn Sie etwas wollen!«
Meine Mutter flehte sie an, sie kniete sich auf den Boden und bettelte, dass die Frau doch endlich etwas tun sollte. Die Alte schaute mich an und sah, wie ich vor mich hin litt. Sie seufzte. Anscheinend war sie wirklich Ärztin. Und irgendwie kämpfte der Berufsethos mit dem Fremdenhass in ihr.
»Warte«, sagte sie zu mir, als würde ich in meinem Zustand irgendwo hingehen können. Naja, vielleicht meinte sie damit auch »Stirb nicht, bis ich wieder da bin.« Die Frau ging in ihr Zimmer und kam mit einer großen Tasche zurück. Dann untersuchte sie mich und legte mir zwei Tabletten in den Mund, die ich mit einem Glas Wasser runterspülte. »Zwei Stück davon am Tag«, sagte sie zu meiner Mutter und gab ihr die Packung in die Hand. »Z-w-e-i S-t-ü-c-k«, wiederholte sie dann langsam mit aufgerissenen Augen und zwei vorgestreckten Fingern, als wären wir geistig zurückgeblieben. »Ver-ste-hen Sie das?«
Meine Mutter nickte.
»Gut!«, sagte die Frau. »Wenigstens etwas.« Dann verließ sie das Zimmer.
Mama beschimpfte sie den restlichen Tag auf Polnisch, gab mir die Tabletten, und es ging mir langsam besser. An diesem Abend verstand ich, was das Problem war. Warum wir so gemieden wurden. Mama und ich waren die einzigen Ausländer hier. Alle anderen Frauen waren Deutsche. Und das war für sie offenbar ein Problem. Sie gaben uns zu verstehen, dass wir anders waren.
Die Vorbehalte der Frauen waren schlimm. Aber sie waren nichts gegen das Mobbing der Kinder. Es war nicht so, dass die Kinder mich nicht mochten. Es war so, dass die Kinder mich hassten. Und dieser Hass wurde von Tag zu Tag schlimmer. Am Anfang ließen sie mich einfach nicht mitspielen. Ich musste am Rand sitzen und zuschauen. Aber irgendwann hatten die Kinder den Dreh raus, dass es noch viel lustiger wäre mich zu quälen, als mich bloß zu ignorieren.
»Ewa, komm mal her«, riefen sie, als sie gerade auf der Wiese fangen spielten. Sie hatten vorher irgendwas abgesprochen, das hatte ich genau gesehen. Vielleicht hatten sie sich gemeinsam entschlossen, mich doch mitspielen zu lassen? Darauf hoffte ich ja seit Tagen.
»Komm her!«, winkten sie mich heran. Ich war ein bisschen nervös, ging dann aber doch mit einem guten Gefühl auf die Mädchen zu.
»Stell dich an den Baum«, sagten sie. Ich verstand nicht, was sie wollten. Ich hatte bisher nur ein paar wenige Worte Deutsch aufgeschnappt. »An den Baum. B-a-u-m«, wiederholten sie und zeigten auf die große Eiche, die mitten im Garten stand. Ich ging unsicher zu dem Baum.
»Und jetzt mach die Augen zu.«
Ich starrte die Mädchen an.
»Mann, ist die doof. Augen zu. A-u-g-e-n z-u!« Sie hielten sich demonstrativ die Hände vors Gesicht und ich verstand jetzt, was sie wollten und machte es nach. Die Mädchen holten ein Seil und banden mich fest. Dann liefen sie um den Baum herum, beschmierten mich mit Ketchup und sangen. So lernte ich auch die ersten deutschen Wörter: »Scheiß Polacken«. Ich wusste damals noch nicht genau, was es bedeutete, aber ich ahnte, dass es nichts Gutes war, denn die Kinder sangen es, während sie um mich herumtanzten und mich auslachten. Ich versuchte, mir einen Rest Optimismus zu bewahren. Vielleicht war das ja Teil des Spiels, sprach ich mir selbst Mut zu. Aber ich verlor die Hoffnung, als die Kinder »Scheiß Polacken« singend weggingen und die nächsten paar Stunden nicht mehr zurückkamen. Meine Mutter entdeckte mich irgendwann zufällig am Baum und band mich dann wieder los.