Anhang
Glossar
Asperger Syndrom: Diese Störung gehört zu den → Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen.
Ätiologie: Die Ätiologie beschäftigt sich mit den Ursachen von Krankheiten und psychischen Störungen.
Disposition: Eine Disposition beschreibt eine individuelle Bereitschaft / Neigung. Als Beispiel kann man Aggression als Disposition sehen, also als die individuelle Bereitschaft / Neigung, aggressiv zu reagieren.
Distress: Negativer Stress.
DSM-V: Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders bzw. Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) liegt in verschiedenen Sprachen vor. Die in Deutschland aktuell gültige Version ist das DSM-V (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen; Falkai et al. 2018).
Dyade: Zweierbeziehung.
Empathie: Es gibt verschiedene Sichtweisen, was unter Empathie zu verstehen ist. Häufig ist damit die Fähigkeit gemeint, zum einen die Gefühle / Emotionen anderer zu erkennen und zum anderen diese auch zu verstehen.
empirische Bestätigung: durch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt.
Evaluation: Analyse, Beurteilung und Bewertung – in diesem Falle von → Präventions-/ → Interventionsprogrammen in Bezug auf deren Wirksamkeit / Effektivität.
Gütekriterien: Die Gütekriterien eines Verfahrens geben Auskunft darüber, ob ein Verfahren wirklich misst, was es zu messen vorgibt (→ Validität), ob es dieses zuverlässig misst (→ Reliabilität) und ob das Verfahren objektiv durchzuführen und auszuwerten ist.
Hyperkinetische Störungen: Folgende Kriterien sind für Hyperkinetische Störungen typisch: früher Beginn; Mangel an Ausdauer bei kognitiven Beschäftigungen; Tendenz, Dinge nicht zu Ende zu bringen; desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität. Genauere Informationen sind der → ICD-10 zu entnehmen.
ICD-10: Die International Classification of Diseases bzw. Internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist ein weltweit anerkanntes Klassifikationssystem von medizinischen Diagnosen. In Deutschland ist aktuell die Revision ICD-10-GM (german modification; DIMDI – Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information 2018) gültig.
Intervention: Eine Intervention wird ausgeführt, damit a) ein unerwünschtes Verhalten o.Ä. beseitigt wird oder b) dieses gar nicht erst entsteht (→ Prävention).
Kindeswohlgefährdung: Unter Kindeswohlgefährdung versteht man „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ (BGH FamRZ, 1956, S.350).
Komorbidität: Unter Komorbidität werden Begleiterkrankungen verstanden, die zusätzlich zur Grundkrankheit auftreten.
Korrelation: statistische Berechnung zum Zusammenhang zwischen zwei Variablen.
Misshandlung: Die psychische Misshandlung ist definiert als „wiederholte Verhaltensmuster der Betreuungsperson oder Muster extremer Vorfälle, die Kindern zu verstehen geben, sie seien wertlos, voller Fehler, ungeliebt, ungewollt, sehr in Gefahr oder nur dazu nütze, die Bedürfnisse eines anderen Menschen zu erfüllen“ (Kindler 2006b). Im Unterschied hierzu können unter den Kriterien für physische Misshandlung „alle Handlungen von Eltern oder anderen Bezugspersonen verstanden werden, die durch Anwendung von körperlichem Zwang bzw. Gewalt für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen des Kindes und seiner Entwicklung führen oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen bergen“ (Kindler 2006c).
nicht organisch bedingte Gedeihstörung: auch → psychosozialer Minderwuchs.
pathogen: krankheitsauslösend / -verursachend / -erregend.
pathologisch: krank, krankhaft verändert, krankheitsbezogen.
Persönlichkeitsstörung: (Spezifische) Persönlichkeitsstörungen können nicht direkt auf 1. eine Hirnschädigung oder -krankheit oder 2. auf eine andere psychische Störung zurückgeführt werden. Bei einer Persönlichkeitsstörung sind das Verhalten und die Persönlichkeit einer Person schwer gestört. Genauere Informationen sind der → ICD-10 zu entnehmen.
Posttraumatische Belastungsstörung: Die Störung wird als Reaktion auf ein belastendes Ereignis angesehen. Das Ereignis ist 1. von kürzerer oder längerer Dauer, ist 2. durch außergewöhnliche Bedrohungen oder ein Ausmaß, das katastrophenartig ist, gekennzeichnet und würde 3. bei fast jedem Menschen Verzweiflung hervorrufen. Genauere Informationen sind der → ICD-10 zu entnehmen.
Prävalenz: Prävalenz bezeichnet die prozentuale Häufigkeit, mit der eine Krankheit oder eine psychische Störung in der Bevölkerung auftritt.
Prävention: Bei der Prävention werden Maßnahmen durchgeführt, damit ein unerwünschtes Verhalten o.Ä. sich gar nicht erst entwickelt.
projektive Verfahren: In projektiven Verfahren wird den Probanden meistens Bildmaterial vorgelegt. Hierdurch sollen Projektionen bei diesen ausgelöst werden, von denen auf die Persönlichkeit (in unserem Fall auf die Bindungsqualität) rückgeschlossen wird.
Psychoedukation: Durch Psychoedukation sollen Menschen in Bezug auf psychologische Sachverhalte geschult werden.
psychopathologisch: „psychisch krank“.
Psychopathologie: Lehre von psychischen Abweichungen bzw. Erkrankungen. Wird auch als Synonym für psychische Erkrankungen bzw. Abweichungen benutzt.
psychosozialer Minderwuchs / psychosozialer Kleinwuchs: Hierbei handelt es sich um eine Wachstumsstörung, die durch Deprivation (z.B. Vernachlässigung) bedingt ist.
Reliabilität: Die Reliabilität eines Verfahrens gibt an, wie zuverlässig ein bestimmtes Merkmal durch ein Verfahren gemessen wird. Sie gibt z.B.Auskunft darüber, wie zuverlässig ein Verfahren zur Erfassung der Bindungsqualität diese misst.
Resilienz: In der Psychologie wird unter Resilienz die Fähigkeit verstanden u.a. kritische Lebensereignisse durch persönliche Ressourcen „gut“ zu überstehen.
reziprok: aufeinander bezogen.
semiprojektive Verfahren: Semiprojektive Verfahren sind vergleichbar mit → projektiven Verfahren. Während Probanden bei projektiven Verfahren meist frei antworten können, sind bei semiprojektiven Verfahren häufig Antwortalternativen vorgegeben, aus denen die Probanden auswählen können.
sexueller Missbrauch: Sexueller Missbrauch „ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen“ (Bange / Deegener 1996, S.105).
somatische Erkrankungen: körperliche Erkrankungen.
Supervision: Eine Supervision dient z.B. dazu, Gruppen oder auch Einzelpersonen zu beraten. Sie zielt darauf ab, das berufliche Handeln zu verbessern.
Synchronität: In diesem Buch geht es bei der Synchronität um die Übereinstimmung bzw. Passung zwischen einem Kind und seiner Bezugsperson innerhalb einer Interaktion bzw. auch um die Wechselseitigkeit.
Tiefgreifende Entwicklungsstörung: Hierunter versteht man eine Gruppe von Störungen, die durch qualitative Abweichungen in den wechselseitigen Interaktionen und Kommunikationsmustern gekennzeichnet sind. Darüber hinaus liegt ein eingeschränktes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen vor. Genauere Informationen sind der → ICD-10 zu entnehmen.
Triangulierung: Bei der Triangulierung geht es meist um die Erweiterung der → Dyade um eine zusätzliche Person. In diesem Buch bezieht sich Triangulierung auf die Beziehung zwischen den folgenden drei Personen: Mutter, Vater und Kind.
Validität: Die Validität eines Verfahrens gibt Auskunft darüber, ob ein Verfahren wirklich das misst, was es vorgibt zu messen. Sie gibt also Antwort z.B. auf die Frage: Wird mit dem Verfahren zur Erfassung der Bindungsqualität wirklich Bindung gemessen?
Vernachlässigung: Vernachlässigung wird definiert als „andauerndes oder wiederholtes Unterlassen fürsorglichen Handelns bzw. Unterlassen der Beauftragung geeigneter Dritter mit einem solchen Handeln durch Eltern oder andere Sorgeberechtigte, das für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen Beeinträchtigungen der physischen und / oder psychischen Entwicklung des Kindes führt oder vorhersehbar ein hohes Risiko solcher Folgen beinhaltet“ (Kindler 2006a).
Hauptteil
1
Was ist die Bindungstheorie?
Die Bindungstheorie beschreibt und klärt wissenschaftlich, warum Menschen dazu tendieren, sich auf enge emotionale Beziehungen einzulassen und inwieweit die psychische Gesundheit einer Person beeinflusst wird, wenn diese Beziehungen beeinträchtigt, unterbrochen bzw. beendet werden. Im Folgenden werden grundlegende Aspekte der Bindungstheorie dargestellt und zentrale Begriffe erläutert. Den Abschluss des Kapitels bildet auf Grundlage dessen ein praktischer Bezug zur Tages- / Fremdbetreuung.
Anfänge der Bindungstheorie
Die Grundzüge der Bindungstheorie stammen von John Bowlby, der 1907 geboren wurde.
1924 begann er an der Universität von Cambridge sein naturwissenschaftliches Studium und bekam Einblick in die Entwicklungspsychologie. Im Rahmen seiner Arbeit in zwei psychoanalytisch orientierten Kinderheimen, für die er sein Studium unterbrach, beobachtete er zwei Kinder, die äußerst unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag legten: Ein sehr distanziertes Kind und ein sehr anhängliches Kind. Das Verhalten dieser beiden Kinder sah er in der Trennung von ihren Eltern begründet. Angeregt durch diese Erfahrungen setzte er sein Studium fort mit dem Ziel, Psychoanalytiker und Kinderpsychiater zu werden. Im Jahr 1933 beendete er dieses Studium und trat eine Stelle an der London Child Guidance Clinic an. Durch seine Arbeit dort wurde für John Bowlby immer deutlicher, dass nicht – wie es bis dahin für die meisten Psychoanalytiker üblich war – die kindlichen Phantasien die stärkste Beachtung finden sollten, sondern Familienereignisse, die real stattgefunden hatten. In diesem Sinne betonte er die andauernden Folgen, die sich für Kinder aus der Trennung von ihren Eltern ergeben können. Später wurde er Leiter der Kinderabteilung der Tavistock Clinic, welche er „Abteilung für Eltern und Kind“ taufte und so die Wichtigkeit der Eltern-Kind-Beziehung hervorhob. Die Untersuchung von verschiedenen Familienbeziehungen, die unter Umständen eine gesunde bzw. gestörte kindliche Entwicklung beeinflussen können, fand sein besonderes Interesse. Aus diesem Grund bildete er eine Forschungsgruppe, in der auch Mary Ainsworth mitarbeitete (vgl. Bretherton 2015).
Abbildung 1: John Bowlby (1907–1990)
Mary Ainsworth ist die erste → empirische Bestätigung der Bindungstheorie zu verdanken. Darüber hinaus erweiterte sie die Bindungstheorie durch die Betrachtung individueller Unterschiede (vgl. Bretherton 2015) und betonte das Gleichgewicht von Bindung auf der einen Seite und Erkundung / Exploration auf der anderen Seite (Waters 1982; siehe auch weiter unten). Durch sie wurden zudem die Grundgedanken der Sicherheitstheorie von William Blatz (1940) in die Bindungstheorie integriert. Laut der Sicherheitstheorie ist es Voraussetzung, dass der Säugling bzw. das Kleinkind zunächst Vertrauen in seine Eltern entwickelt, bevor es ihm möglich ist, unbekannte Situationen aufzusuchen, in denen er / es nicht mit der Unterstützung eines Erwachsenen rechnen kann. Folglich ermöglicht die durch die Eltern erlangte Sicherheit, dass ein Kind Neues erkunden kann, was der Aufnahme von Wissen förderlich ist (vgl. Bretherton 2015).
Grundlagen der Bindungstheorie
Bindung bezieht sich in der Kindheit in den meisten Fällen auf die Eltern oder auf andere primäre Bezugspersonen (Bowlby 2015). Damit sich eine Bindung entwickelt, ist es notwendig, dass die Bindungsperson häufig mit dem Kind interagiert.
Definition
Bindung bezeichnet eine enge emotionale, länger andauernde Beziehung zu bestimmten Menschen, die nach Möglichkeit sowohl Schutz bieten als auch unterstützend wirken, z. B. wenn ein Kind verunsichert oder traurig ist und sie dem Kind helfen, seine Emotionen zu regulieren.
Hauptbindungsperson wird die Person sein, die sich am meisten um das Kind kümmert (Bowlby 2015). Wenn das Kind Trost oder Schutz benötigt, wendet es sich an diese Person (Bowlby 2015). Ist die Hauptbindungsperson nicht anwesend, kann sich das Kind bei Stress auch an andere ihm vertraute Menschen wenden. Somit entwickelt es eine Hierarchie von Bindungspersonen (Bowlby 1988; siehe hierzu in diesem Kapitel den Abschnitt „Bindung an unterschiedliche Personen“). Die Bindungserfahrungen mit verschiedenen Bindungspersonen werden vom Kind in sogenannten internalen Arbeitsmodellen abgespeichert (siehe in diesem Kapitel den Abschnitt „Internale Arbeitsmodelle“).
Von anderen Beziehungen sind Bindungsbeziehungen darin zu unterscheiden, dass das Kind bemüht ist, in der schützenden Reichweite seiner Bindungsperson zu bleiben. Wie groß die Entfernung zu der Bindungsperson dabei sein kann, ist abhängig von der jeweiligen Situation. Ist ein Kind geängstigt bzw. fühlt es sich durch eine Situation bedroht, werden bei ihm negative Gefühle ausgelöst und es zeigt Bindungsverhalten (Weiss 1991).
Definition
Zum Bindungsverhalten werden die Verhaltensweisen gezählt, die darauf abzielen, die physische oder psychische Nähe zu Bindungspersonen herzustellen bzw. aufrecht zu erhalten.
Beispiele für Bindungsverhaltensweisen:
■ Rufen
■ Anklammern
■ Weinen
■ Hinkrabbeln
■ Hinlaufen
■ Protest, wenn die Bezugsperson das Kind absetzt oder verlässt
Beispiele für Auslöser von Bindungsverhalten:
■ Krankheit
■ Stress
■ Trauer
■ Neue Reize z. B. Auftreten unbekannter Personen
■ Müdigkeit
■ Schmerzen
Zu beachten ist, dass Bindung eine Fähigkeit darstellt und nicht etwa eine Schwäche (Bowlby 2015). Erlangen Kinder Sicherheit durch die Anwesenheit der Bezugsperson und die Gewissheit, mit ihr in Kontakt zu stehen (Sroufe / Waters 1977), so ist es ihnen möglich zu spielen, aber auch zu explorieren / erkunden.
Merksatz
Bindungs- und Explorationsverhalten stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Fühlt sich ein Kind sicher und wohl, kann es seine Umwelt frei explorieren. Erfährt es jedoch Unsicherheit, wird das Explorationsverhalten eingestellt und das Kind zeigt vermehrtes Bindungsverhalten.
Bei einer Trennung von der Bezugsperson oder auch nur bei drohender Trennung wird das Kind protestieren und darum bemüht sein, die Nähe der Bezugsperson zu erhalten oder wieder zu erlangen (Weiss 1991). Die Bezugsperson kann so als sichere Basis genutzt werden, von der aus das Kind die Umgebung erkunden kann.
Merksatz
Die (primäre) Bezugsperson dient dem Kind als sichere Basis (secure base), von der aus es seine Umwelt spielerisch erkunden und bei Bedarf, d. h. etwa bei Unsicherheit oder Gefahr, zu ihr zurückkehren kann.
Es wird also eine deutliche Beziehung zwischen Bindung und Exploration angenommen, wenn davon ausgegangen wird, dass das kindliche Explorationsverhalten eingeschränkt wird, sofern der Bedarf des Kindes nach Sicherheit hoch ist, bzw. dass dem Kind eine freie Exploration möglich ist, sofern das kindliche Sicherheitsbedürfnis niedrig ist. Ebenso wird ein Zusammenhang zwischen Bindung und Exploration postuliert, wenn die Mutter als sichere Basis zur Exploration angesehen wird (vgl. z. B. Schölmerich / Lengning 2014). Kulturvergleichende Studien legen allerdings nahe, dass eine solche Verallgemeinerung nicht möglich ist, da der postulierte Zusammenhang zwischen Bindung und Exploration lediglich in westlichen Gesellschaften zu gelten scheint (Rothbaum et al. 2000). So konnte in Studien gezeigt werden, dass amerikanische im Vergleich zu japanischen Babys sowohl in Spielsituationen (Bornstein et al. 1990) als auch in der Fremden Situation (Takahashi 1990) mehr explorieren (zur „Fremden Situation“ siehe in diesem Kapitel den Abschnitt „Verschiedene Bindungsmuster“ sowie Kapitel 2). Außerdem orientierten sich die amerikanischen Babys vermehrt an der Umwelt, während die japanischen Babys sich stärker an ihren Müttern ausrichteten – sowohl bei positiver als auch bei negativer Stimmung (Bornstein et al. 1990; Miyake et al. 1985). Für eine ausführliche Diskussion neuerer und auch weiterer Modelle über den Zusammenhang zwischen Bindung und Exploration (Neugier) sei auf Schölmerich und Lengning (2014) verwiesen.
Sind Kinder noch nicht selbst in der Lage, die Nähe der Bezugsperson bei Unsicherheit aufzusuchen, bemüht sich diese in der Regel von sich aus, die kindliche Unsicherheit zu reduzieren. Bindung bzw. das Bindungssystem stellt demnach ein Verhaltenssystem dar und kann als Steuerungssystem angesehen werden, da es Sorge dafür trägt, dass die Distanz zwischen Kind und Bezugsperson nicht zu groß wird.
Als komplementäres Verhaltenssystem zum Bindungssystem, welches sich u. a. im schutzsuchenden Verhalten des Kindes äußert, ist die elterliche Fürsorge zu betrachten (Bowlby 2015). Damit die Eltern als Bezugspersonen die Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen können, sind sie auf die Gefühlsäußerungen der Kinder angewiesen. Die kindlichen Signale sowie die darauf folgenden elterlichen Reaktionen beeinflussen die frühkindliche Bindungsentwicklung. Wenn die Eltern sich responsiv / sensitiv (siehe in diesem Kapitel den Abschnitt „Einflussfaktoren auf die Bindungsqualität – Feinfühligkeit“) verhalten, werden offene Gefühlsäußerungen des Kindes ermöglicht. So können Kinder ihren Eltern offen zeigen, wenn sie z. B. traurig, ängstlich, ärgerlich oder auch glücklich sind.
Definition
Responsivität bezeichnet das Ausmaß, in dem Bezugspersonen in der Lage sind, die Signale des Kindes wahrzunehmen, und inwieweit sie bereit sind, darauf einzugehen.
Zu einer Unterdrückung der Gefühle vonseiten des Kindes wird es kommen, wenn die Eltern sich ablehnend verhalten. Dies wiederum hat Auswirkungen auf das Bewältigungsverhalten in schwierigen (zwischenmenschlichen) Situationen (Grossmann et al. 1989).
Bindungsphasen
In der Bindungsentwicklung können nach Ainsworth und Kollegen (1978) vier Phasen unterschieden werden, wobei verschiedene Autoren unterschiedliche Zeitangaben und teilweise auch unterschiedliche Entwicklungsschritte zu den verschiedenen Phasen angeben. Richtwerte sind in den folgenden Ausführungen aufgenommen:
1. Die Vor-Bindungsphase: In den ersten sechs Lebenswochen eines Babys wird von der Vor-Bindungsphase gesprochen. Da sich in dieser Zeit noch keine Bindung entwickelt hat, bereitet es dem Baby in der Regel kein Unwohlsein, auch bei anderen, unbekannten Erwachsenen zu bleiben. Mithilfe angeborener Signale wie z. B. Weinen, Lächeln oder Augenkontakt vermag das Baby in Interaktion mit anderen Menschen zu treten.
2. Die beginnende Bindung: Die Phase der beginnenden Bindung erstreckt sich über das Alter von sechs Wochen bis zu sechs bis acht Monaten. Das Baby ist nun in der Lage, zwischen Familienmitgliedern und anderen Personen zu unterscheiden, wobei dem Baby aber auch bereits eine Differenzierung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern möglich ist. Da in dieser Zeit ein starker Anstieg im aktiven Bindungsverhalten zu verzeichnen ist, besteht die Möglichkeit, das Baby bereits in dieser frühen Phase als gebunden zu betrachten, sofern als Kriterium für die Bindung an eine Person deren schlichte Bevorzugung gegenüber anderen Menschen angesehen wird. Wird jedoch die Fähigkeit zum aktiven Suchen von Nähe zur Bindungsperson als Kriterium betrachtet, wäre das Kind erst in der dritten, also der eigentlichen Bindungsphase bindungsfähig.
3. Die eigentliche Bindungsphase: Im Alter von sechs bis acht Monaten bis zum zweiten oder dritten Lebensjahr entwickelt das Baby bzw. Kleinkind die Fähigkeit, sich eigenständig fortzubewegen. Der Erwerb der Lokomotion (Fortbewegung) ist dem Bindungssystem insofern nützlich, dass sie es dem Baby bzw. Kleinkind ermöglicht, der bevorzugten Person zu folgen bzw. aktiv deren Nähe zu suchen. Aber auch die beginnende Sprachentwicklung und die Möglichkeit zu zielgerichtetem Verhalten erlauben dem Kind, die Planung des eigenen Verhaltens auf das Verhalten, welches das Kind von seiner Bindungsperson erwartet, auszurichten. Das Kind ist dabei nicht mehr nur auf die Bindungsperson fixiert, sondern kann diese nunmehr als sichere Basis nutzen, von der aus es möglich ist, die Umwelt zu explorieren.
4. Die zielkorrigierte Partnerschaft: Ab dem Alter von zwei Jahren entwickelt sich eine → reziproke Beziehung zwischen dem Kind und seiner Bindungsperson. Durch die abnehmende egozentrische Sichtweise wird es den Kindern möglich, auch den Blickwinkel ihrer Bindungsperson einzunehmen, und sie gewinnen die Erkenntnis, dass dem Verhalten der Bindungsperson bestimmte Gefühle oder Motive zugrunde liegen können. Bowlby bezeichnet dies als zielkorrigierte Partnerschaft, bei der das kindliche Bindungsverhalten sich nun flexibel gestaltet und das reziproke Verhalten der Bindungsperson in konzeptuellen Plänen gespeichert ist (z.B. Ainsworth et al. 1978).
Verschiedene Bindungsmuster
Kinder können sich in ihrer Bindungssicherheit voneinander unterscheiden. Dieses wird zum einen auf das Verhalten der Bezugsperson, zum anderen aber auch auf individuelle → Dispositionen der Kinder zurückgeführt (siehe in diesem Kapitel den Abschnitt „Einflussfaktoren auf die Bindungsqualität – Temperament“). Die Unterschiede in der Bindungssicherheit zeigen sich in unterschiedlichen Bindungsmustern. Zunächst wurden im Rahmen der Bindungstheorie drei Bindungsmuster unterschieden, deren Identifizierung zuerst mit der Fremden Situation von Ainsworth und Wittig (1969) gelang. Die hierbei vorgenommene Unterscheidung wurde in weiteren Untersuchungen bestätigt.
An dieser Stelle soll die Fremde Situation dargestellt werden, um die Einteilung der Bindungsmuster zu verdeutlichen. Der Darstellung der Auswertung der Fremden Situation sowie weiterer Verfahren zur Erfassung der Bindungsmuster / Bindungsqualität und der Feinfühligkeit ist Kapitel 2 gewidmet.
Merksatz
Ainsworth und Wittig (1969) entwickelten mit der „Fremden Situation“ die klassische Laborbeobachtungsmethode zur Erfassung der Bindungsmuster von Kindern im Alter von elf bis zwanzig Monaten.
Die Fremde Situation wird im Labor als Beobachtungsmethode durchgeführt, um zu untersuchen, welche Beziehung zwischen dem Verhaltenssystem Bindung und dem Verhaltenssystem der Exploration besteht (Bretherton 2015). Sie ist für Kinder im Alter zwischen elf und zwanzig Monaten validiert (→ Validität) (Grossmann et al. 1989). Insgesamt besteht die Fremde Situation aus acht Episoden, in denen das Ausmaß an ausgelöstem Stress beim Kind variiert wird. Die verschiedenen Episoden nach Ainsworth et al. (1978) sind Tabelle 1 zu entnehmen.
Tabelle 1: Episoden der Fremden Situation (nach Lengning 2004)