cover image

Virginia Woolf

Die Fahrt zum Leuchtturm

Roman

Virginia Woolf

Die Fahrt zum Leuchtturm

Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Karl Lerbs
EV: Insel-Verlag Leipzig, 1931
1. Auflage, ISBN 978-3-962816-91-9

null-papier.de/673

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Das Fens­ter

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

Die Zeit ver­geht

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Der Leucht­turm

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Das Fenster

1

»Mor­gen, ja, na­tür­lich nur, wenn schö­nes Wet­ter ist«, sag­te Mrs. Ramsay. »Aber dann musst du schon mit der Ler­che aus dem Nest«, füg­te sie hin­zu.

Für ih­ren Sohn wa­ren die­se Wor­te eine au­ßer­or­dent­li­che Freu­de; als stün­de da­mit un­um­stöß­lich fest, dass die Un­ter­neh­mung statt­fin­den wür­de und das Wun­der, nach dem er sich, seit Jah­ren und Jah­ren, so schi­en es ihm, ge­sehnt hat­te, nach der Dun­kel­heit ei­ner Nacht und der Se­gel­fahrt ei­nes Ta­ges nahe wäre. Und da er schon jetzt, mit sei­nen sechs Jah­ren, zur großen Sip­pe de­rer ge­hör­te, die ein Ge­fühl nicht vom an­de­ren schei­den kann, son­dern die nächs­ten Din­ge des täg­li­chen Le­bens von den Freu­den und Küm­mer­nis­sen künf­ti­ger Aus­sich­ten über­schat­ten las­sen muss, da für sol­che Leu­te schon in frühs­ten Kin­der­jah­ren jede Dre­hung im Rä­der­werk der Wahr­neh­mung die Kraft be­sitzt, den Au­gen­blick, den sie ver­düs­ternd oder licht­strah­lend trifft, ganz und gar zu durch­drin­gen und zur fes­ten Form wer­den zu las­sen, so füll­te auch Ja­mes Ramsay, der auf dem Fuß­bo­den saß und die Bil­der aus der Preis­lis­te der Army and Navy Sto­res aus­schnitt, das Bild ei­nes Kühl­schran­kes bei den Wor­ten sei­ner Mut­ter mit himm­li­scher Se­lig­keit. Es war von ei­nem Strah­len­kranz aus Freu­de um­ge­ben. Der Schub­kar­ren, die Ra­sen­mäh­ma­schi­ne, das Rau­schen der Pap­peln, gil­ben­de Blät­ter vorm Re­gen, Krä­hen­ge­krächz, das Krat­zen von Be­sen, Klei­der­ge­ra­schel – all das war so far­big und deut­lich in sei­nen Ge­dan­ken, dass er schon sein ei­ge­nes Wör­ter­buch, sei­ne Ge­heim­spra­che hat­te, ob­wohl er äu­ßer­lich ein Bild star­rer und un­nach­gie­bi­ger Stren­ge war mit sei­ner ho­hen Stirn und sei­nen lei­den­schaft­li­chen blau­en Au­gen, ma­kel­los ehr­lich und rein, leicht die Stirn run­zelnd beim An­blick mensch­li­cher Un­zu­läng­lich­keit, so­dass sei­ne Mut­ter, als sie ihn säu­ber­lich die Sche­re rings um den Kühl­schrank füh­ren sah, ihn sich vor­stell­te, wie er ganz in Rot und Her­me­lin zu Ge­richt saß oder in ei­nem ent­schei­dungs­schwe­ren Au­gen­blick der va­ter­län­di­schen Ge­schi­cke eine erns­te und be­deut­sa­me Un­ter­neh­mung lei­te­te.

»Es wird aber«, sag­te sein Va­ter und blieb am Wohn­zim­mer­fens­ter ste­hen, »mor­gen kein schö­nes Wet­ter sein.«

Wäre eine Axt zur Hand ge­we­sen, ein Feu­er­ha­ken oder sonst ir­gend­ei­ne Waf­fe, die ein Loch in sei­nes Va­ters Brust hät­te rei­ßen und ihn tö­ten kön­nen, jetzt auf der Stel­le, Ja­mes hät­te da­nach ge­grif­fen. So groß war das Über­maß der Er­re­gung, die Mr. Ramsay durch sei­ne blo­ße Ge­gen­wart in sei­nen Kin­dern wachrief, wenn er so wie jetzt, schmal wie ein Mes­ser und scharf wie ei­nes Mes­sers Klin­ge, da­stand und spöt­tisch grins­te, nicht nur weil es ihm Spaß mach­te, in sei­nem Sohn alle Träu­me zu zer­stö­ren und sei­ne Frau lä­cher­lich zu ma­chen, die zehn­tau­send­mal bes­ser war als er (dach­te Ja­mes), son­dern auch aus ge­hei­mer Ei­tel­keit auf die Treff­si­cher­heit sei­nes Ur­teils. Was er sag­te, war rich­tig. Es war im­mer rich­tig. Er war kei­ner Un­wahr­heit fä­hig, deu­tel­te nie­mals an Tat­sa­chen her­um, än­der­te nie­mals ein un­an­ge­neh­mes Wort zur Freu­de oder Be­quem­lich­keit ir­gend­ei­nes sterb­li­chen We­sens, am we­nigs­ten sei­ner ei­ge­nen Kin­der, die, da sie sei­nen Len­den ent­sprun­gen wa­ren, von Kind­heit auf be­grei­fen soll­ten, dass das Le­ben schwie­rig ist, Tat­sa­chen nicht mit sich han­deln las­sen und die Fahrt zu je­nem sa­gen­haf­ten Land, wo un­se­re hells­ten Hoff­nun­gen er­lö­schen und un­se­re ge­brech­li­chen Schif­fe im Fins­tern schei­tern (hier reck­te sich Mr. Ramsay wohl in den Schul­tern auf und sah aus sei­nen zu­sam­men­ge­knif­fe­nen klei­nen blau­en Au­gen auf den Ho­ri­zont), so be­schaf­fen ist, dass man vor al­lem an­de­ren Mut, Wahr­haf­tig­keit und die Kraft zum Be­har­ren braucht.

»Vi­el­leicht wird es aber doch schön – ich möch­te glau­ben, dass es schön wird«, sag­te Mrs. Ramsay und dreh­te un­ge­dul­dig den röt­lich brau­nen Strumpf, an dem sie strick­te. Wenn sie ihn heu­te Abend noch fer­tig be­kam und sie mor­gen schließ­lich doch zum Leucht­turm fuh­ren, so soll­te ihn der Leucht­turm­wär­ter für sei­nen klei­nen Jun­gen ha­ben, der, wie zu be­fürch­ten war, an Hüft­tu­ber­ku­lo­se litt; dazu einen Stoß al­ter Zeit­schrif­ten, et­was Ta­bak und was sie sonst noch fin­den konn­te an Din­gen, die nie­mand brauch­te, son­dern die bloß im Zim­mer her­um­la­gen, um sie den ar­men Ker­len zu schen­ken, die sich doch zu Tode lang­wei­len müss­ten, wenn sie den gan­zen Tag so da­sit­zen und nichts zu tun ha­ben, als die Lam­pe blank­zu­rei­ben, den Docht zu put­zen und ihr win­zi­ges Gar­ten­stück­chen zu har­ken; et­was also, um sie auf­zu­mun­tern. Denn wie muss ei­nem zu­mu­te sein, wenn man einen gan­zen Mo­nat hin­ter­ein­an­der und viel­leicht noch län­ger bei stür­mi­schem Wet­ter auf ei­nem Fel­sen ein­ge­sperrt sitzt, der nicht grö­ßer ist als ein Ten­nis­platz? so frag­te Mrs. Ramsay wohl; wenn man we­der Brie­fe noch Zei­tun­gen hat und kei­ne Men­schen­see­le er­blickt; so­fern man ver­hei­ra­tet ist, sei­ne Frau nicht zu se­hen be­kommt und nicht weiß, wie es den Kin­dern geht – ob sie wo­mög­lich krank sind, ob sie ge­fal­len sind und sich Arme oder Bei­ne ge­bro­chen ha­ben; im­mer nur zu se­hen, wie sich die glei­chen trau­ri­gen Wel­len bre­chen, Wo­che auf Wo­che, und dann, wie ein furcht­ba­rer Sturm auf­kommt und die Fens­ter mit Gischtsprit­zern be­deckt sind und Vö­gel ge­gen die Lam­pe ge­schleu­dert wer­den und der gan­ze Turm schwankt, so­dass man die Nase nicht vor die Tür ste­cken kann, aus Angst, ins Meer ge­fegt zu wer­den? Was wür­det ihr sa­gen, wenn es euch so gin­ge? frag­te sie und mein­te da­mit be­son­ders ihre Töch­ter. Und: Seht ihr, so füg­te sie ei­ni­ger­ma­ßen zu­sam­men­hang­los hin­zu, man muss sich Trost su­chen, wo man ihn eben fin­det.

»West­wind, haar­ge­nau«, sag­te der Athe­ist Tans­ley und hielt sei­ne ha­ge­ren Fin­ger ge­spreizt hoch, so­dass der Wind durch die Hand blies; denn er nahm an Mr. Ramsays Abend­spa­zier­gang teil, auf und ab, auf und ab über die Ter­ras­se. Das hieß nun, dass der Wind aus ei­ner Rich­tung kam, die für die Lan­dung am Leucht­turm denk­bar un­güns­tig war. Er sag­te, das gab Mrs. Ramsay zu, un­an­ge­neh­me Din­ge; es war ge­häs­sig von ihm, die Be­mer­kung ein­zu­streu­en und Ja­mes da­durch noch tiefer zu ent­täu­schen; den­noch litt sie nicht, dass man über ihn lach­te. Den ›Atheis­ten‹ nann­ten sie ihn; den ›klei­nen Atheis­ten‹. Rose mach­te sich über ihn lus­tig; Prue mach­te sich über ihn lus­tig; An­drew, Jas­per, Ro­ger mach­ten sich über ihn lus­tig; so­gar der alte Bad­ger, der vorn kei­nen Zahn mehr hat­te, schnapp­te nach ihm, weil er (wie Nan­cy es aus­drück­te) der hun­dert­und­zehn­te jun­ge Mann war, der sie alle hin­auf zu den He­bri­den scheuch­te; wo es doch so viel net­ter war, al­lein zu sein.

»Un­sinn«, sag­te Mrs. Ramsay mit großer Stren­ge. Ab­ge­se­hen von der Ge­wohn­heit zu über­trei­ben, die die Kin­der von ihr hat­ten, und dem still­schwei­gen­den (be­rech­tig­ten) Vor­wurf, dass sie zu vie­le Leu­te ein­lud und et­li­che da­von in der Stadt un­ter­brin­gen muss­te, konn­te sie Un­höf­lich­keit ge­gen ihre Gäs­te nicht ver­tra­gen, be­son­ders ge­gen jun­ge Leu­te nicht, die arm wie die Kir­chen­mäu­se wa­ren, ›un­ge­mein fä­hig‹, wie ihr Gat­te sag­te, ihn von Her­zen be­wun­der­ten und in den Fe­ri­en her­ka­men. Es war schon so, sie mach­te das ge­sam­te an­de­re Ge­schlecht zu ih­ren Schütz­lin­gen; aus Grün­den, die sie selbst nicht er­klä­ren konn­te, weil sie rit­ter­lich wa­ren und tap­fer, weil sie Ver­trä­ge aus­han­del­ten, In­di­en be­herrsch­ten, das Finanz­we­sen lenk­ten; schließ­lich auch, weil sie ihr ge­gen­über eine Hal­tung ein­nah­men, die jede Frau emp­fin­den und an­ge­nehm emp­fin­den muss­te, ir­gend­wie ver­trau­ens­voll, kind­lich, ehr­er­bie­tig, was eine alte Frau von ei­nem jun­gen Man­ne hin­neh­men darf, ohne ih­rer Wür­de et­was zu ver­ge­ben, und der Him­mel stra­fe das Mäd­chen – gebe Gott, dass es kei­ne von ih­ren Töch­tern war! –, das nicht den Wert die­ser Din­ge und al­les, was da­zu­ge­hör­te, bis ins in­ners­te Mark spür­te.

Sie wand­te sich mit Stren­ge ge­gen Nan­cy. Er habe sie nicht ge­scheucht, sag­te sie, er sei ein­ge­la­den wor­den.

Es muss­te ein Aus­weg aus al­le­dem ge­fun­den wer­den. Vi­el­leicht, so sag­te sie sich seuf­zend, gab es einen ein­fa­che­ren Weg, einen we­ni­ger be­schwer­li­chen Weg. Wenn sie in den Spie­gel blick­te und sah, wie grau ihr Haar, wie ein­ge­sun­ken ihre Wan­gen wa­ren, mit fünf­zig, so sag­te sie sich: Vi­el­leicht hät­te sie mit den Din­gen bes­ser fer­tig wer­den müs­sen – mit ih­rem Mann, mit dem Geld, mit sei­nen Bü­chern. Aber was sie selbst be­traf, so wür­de sie nie auch nur für eine ein­zi­ge Se­kun­de ihre Ent­schei­dung be­reu­en, Schwie­rig­kei­ten aus­wei­chen oder über Pf­lich­ten leicht­fer­tig hin­weg­ge­hen. Sie war nun furcht­ge­bie­tend an­zu­se­hen, und als sie so streng über Charles Tans­ley ge­spro­chen hat­te, wag­ten ihre Töch­ter – Prue, Nan­cy, Rose – nur stumm von ih­ren Tel­lern auf­zu­bli­cken und mit den ket­ze­ri­schen Vor­stel­lun­gen zu tän­deln, die sie sich zum Spiel er­dacht hat­ten: von ei­nem Le­ben, das an­ders war als ihr jet­zi­ges; in Pa­ris etwa; ein wil­de­res Le­ben; ohne dass man im­mer Rück­sicht zu neh­men brauch­te, bald auf den, bald auf je­nen; denn in ih­rer al­ler Ge­dan­ken war ein stum­mer Zwei­fel an Ehr­er­bie­tung und Rit­ter­lich­keit, an der Bank von Eng­land und dem in­di­schen Kai­ser­reich, an be­ring­ten Fin­gern und Spit­ze; wenn auch al­le­dem für sie et­was vom we­sen­haf­ten Duft der Schön­heit an­haf­te­te, wie er sich in ih­ren Mäd­chen­her­zen mit dem Ein­druck von Männ­lich­keit ver­band; so­dass sie, wenn sie un­ter den Au­gen ih­rer Mut­ter bei Ti­sche sa­ßen, voll Ehr­furcht auf die­se un­ge­mei­ne Stren­ge, die­se ganz be­son­de­re Höf­lich­keit blick­ten – so hebt eine Kö­ni­gin den schmut­zi­gen Fuß ei­nes Bett­lers aus dem Kot, um ihn zu wa­schen –, in­des­sen ihre Mut­ter sie nach­drück­lich schalt we­gen die­ses ver­wünsch­ten Atheis­ten, der sie hier­her ge­jagt hat­te – oder, um es ge­nau aus­zu­drücken: der zu ei­nem ge­mein­sa­men Auf­ent­halt mit ih­nen auf der In­sel Skye ein­ge­la­den wor­den war.

»Es ist mor­gen nicht mög­lich, am Leucht­turm an­zu­le­gen«, sag­te Charles Tans­ley, der mit Mr. Ramsay am Fens­ter stand, und schlug die Hän­de zu­sam­men. Jetzt hat­te er aber ge­nug da­von ge­re­det. Sie wünsch­te, die bei­den möch­ten sie und Ja­mes in Frie­den las­sen und sich ih­rem Ge­spräch wid­men. Sie sah ihn an. Er war ein wah­res Mus­ter an Kläg­lich­keit, fan­den die Kin­der, nur Bu­ckel und Lö­cher. Er konn­te nicht Kricket spie­len; er taps­te; er wat­schel­te. Er sei eine gal­li­ge Bes­tie, sag­te An­drew. Sie wuss­ten ge­nau, was er am liebs­ten tat – im­mer nur auf und ab, auf und ab ge­hen mit Mr. Ramsay und sa­gen, wer die­sen und wer je­nen Preis ge­won­nen hät­te, wer ein ›erst­ran­gi­ger Kön­ner‹ in la­tei­ni­schen Ver­sen wäre, wen er für ›ei­nen Blen­der, aber kern­faul‹ hiel­te, wer ›zwei­fel­los der fä­higs­te Kopf im Bal­li­ol Col­le­ge‹ wäre, wer sein Licht zeit­wei­lig in Bris­tol oder Bed­ford un­ter den Schef­fel stel­len müss­te – doch wür­de man be­stimmt spä­ter von ihm hö­ren, wenn sei­ne Pro­le­go­me­na zu ir­gend­ei­nem Son­der­ge­biet der Ma­the­ma­tik oder der Phi­lo­so­phie (Mr. Tans­ley hat­te die ers­ten Sei­ten bei sich und konn­te sie Mr. Ramsay zum Be­wei­se vor­le­gen, wenn er sie se­hen woll­te) das Licht des Ta­ges er­blick­ten. Dies wa­ren die Din­ge, über die sie re­de­ten.

Manch­mal muss­te auch sie wi­der Wil­len la­chen. Neu­lich hat­te sie ein­mal von ›ber­ge­ho­hen Wel­len‹ ge­spro­chen. Ja, sag­te Charles Tans­ley, die See sei ein biss­chen grob. »Sind Sie nicht auch bis auf die Haut durch­nässt?«, hat­te sie ge­fragt. »Feucht, aber nicht durch und durch nass«, sag­te Mr. Tans­ley, in­des­sen er sei­nen Är­mel prü­fend zwi­schen zwei Fin­ger nahm und sei­ne So­cken be­fühl­te.

Aber nicht das sei es, wor­über sie sich är­ger­ten, sag­ten die Kin­der. Es sei nicht sein Ge­sicht; es sei nicht sein Be­tra­gen. Er selbst sei es – sei­ne An­schau­ungs­wei­se. Wenn sie über ir­gen­det­was In­ter­essan­tes re­de­ten, über Leu­te, Mu­sik, Ge­schich­te, ganz gleich wor­über, selbst wenn sie nur sag­ten, dass es ein schö­ner Abend sei und wes­halb man ei­gent­lich nicht im Frei­en sit­zen woll­te, so er­gä­be sich als­bald An­lass, über Charles Tans­ley zu kla­gen: Er sei nicht eher zu­frie­den, als bis er das gan­ze Ding um und um ge­dreht hät­te, bis es ihn schmei­chel­haft spie­gel­te und sie jäm­mer­lich ent­stell­te; er bräch­te sie alle mit­ein­an­der auf durch die bei­ßen­de Art, mit der er Fleisch und Blut von al­lem Le­ben­di­gen we­gätz­te. Er sei im­stan­de, sag­ten sie, in eine Ge­mäl­de­ga­le­rie zu ge­hen und einen zu fra­gen, ob ihm sei­ne Kra­wat­te ge­fie­le – was, wie Rose sag­te, bei Gott nicht der Fall sei.

Sie ver­schwan­den, heim­lich wie die Hir­sche, vom Ess­tisch, so­bald die Mahl­zeit be­en­det war, die acht Söh­ne und Töch­ter von Mr. und Mrs. Ramsay, und such­ten ihre Schlaf­kam­mern auf, ihre fes­ten Stel­lun­gen in die­sem Hau­se, wo es kei­nen Win­kel gab, in dem man über ir­gen­det­was re­den konn­te – über al­les re­den konn­te: Tans­leys Kra­wat­te; die Durch­set­zung der Re­form Bill; See­vö­gel und Schmet­ter­lin­ge; Leu­te; all das in die­sen Dach­stu­ben, die nur durch eine Bret­ter­wand von­ein­an­der ge­trennt wa­ren, so­dass man je­den Schritt deut­lich hör­te und das Schluch­zen des Schwei­zer Mäd­chens, des­sen Va­ter in ei­nem Grau­bün­de­ner Tal an Krebs im Ster­ben lag, wäh­rend die Son­ne her­ein­ström­te und Schlag­höl­zer, fla­nel­le­ne Klei­dungs­stücke, Stroh­hü­te, Tin­ten­fäs­ser, Farb­töp­fe, Kä­fer und die Schä­del klei­ner Vö­gel be­glänz­te und den lan­gen krau­sen Sträh­nen See­tang, die an der Wand be­fes­tigt wa­ren, einen Ge­ruch nach Salz und Pflan­zen ent­lock­te, den auch die Hand­tü­cher hat­ten, in de­nen noch der Sand vom Ba­den haf­te­te.

Streit, Zwie­tracht, Mei­nungs­ver­schie­den­heit, Vor­ur­tei­le, die in die in­ners­ten Fa­sern des Seins ge­floch­ten wa­ren – ach, Mrs. Ramsay be­klag­te es, dass sie so früh schon be­gin­nen soll­ten. Sie wa­ren so schwie­rig, ihre Kin­der. Sie re­de­ten sol­chen Un­sinn. Mrs. Ramsay ver­ließ das Ess­zim­mer und hat­te Ja­mes an der Hand, denn er woll­te nicht mit den an­de­ren ge­hen. Es er­schi­en ihr so un­sin­nig – Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten aus­zu­klü­geln, wo die Men­schen doch weiß Gott schon ver­schie­den ge­nug wa­ren. Die wirk­li­chen Un­ter­schie­de, dach­te sie, als sie am Wohn­zim­mer­fens­ter stand, rei­chen aus, rei­chen ganz und gar aus. Was ihr da­bei im Au­gen­blick ein­fiel, war: reich und arm, hoch und nied­rig; wo­bei sie den Hoch­ge­bo­re­nen halb wi­der­wil­lig ei­ni­ge Ach­tung zoll­te, denn floss nicht in ih­ren ei­ge­nen Adern das Blut je­nes sehr er­lauch­ten, wenn auch ein we­nig sa­gen­haf­ten ita­lie­ni­schen Hau­ses, des­sen Töch­ter, im neun­zehn­ten Jahr­hun­dert über die eng­li­schen Wohn­zim­mer aus­ge­sät, so ent­zückend ge­lis­pelt und so stür­misch ge­wü­tet hat­ten; stamm­ten nicht all ihr Witz und ihre Hal­tung und ihre Sin­nes­art von ih­nen und nicht von den trä­gen Eng­län­dern oder den kal­ten Schot­ten? Gründ­li­cher aber schlug sie sich mit der an­de­ren Fra­ge her­um, mit der Fra­ge ›reich und arm‹, und mit den Din­gen, die sie mit ei­ge­nen Au­gen sah, all­wö­chent­lich, täg­lich, hier oder in Lon­don, wenn sie zu Wit­wen oder sonst wie vom Schick­sal ge­schla­ge­nen Frau­en ging, eine Ta­sche am Arm, No­tiz­buch und Blei­stift in der Hand, um in sorg­sam da­für ein­ge­rich­te­te Spal­ten Löh­ne und Aus­ga­ben, Ar­beit und Ar­beits­lo­sig­keit ein­zu­tra­gen, in der Hoff­nung, dass es ihr so ge­lin­gen wür­de, ei­nes Ta­ges nicht mehr eine Pri­vat­per­son na­mens Mrs. Ramsay zu sein, de­ren Wohl­tä­tig­keit halb eine Be­schwich­ti­gung für ihre ei­ge­ne Em­pö­rung, halb eine Be­frie­di­gung ih­rer ei­ge­nen Neu­gier war, son­dern das, was sie in ih­rer Uner­fah­ren­heit so sehr be­wun­der­te: eine For­sche­rin, die Klar­heit in die so­zia­le Fra­ge brach­te.

Un­lös­ba­re Fra­gen wa­ren das, so schi­en es ihr, als sie da am Fens­ter stand, Ja­mes an der Hand hal­tend. Auch er war ihr ins Wohn­zim­mer ge­folgt, der jun­ge Mann, über den sie lach­ten; er stand am Tisch, fin­ger­te an ir­gend­was her­um, zap­pe­lig, lin­kisch und fühl­te sich von al­lem aus­ge­schlos­sen; ohne sich nach ihm um­zu­wen­den, wuss­te sie das. Alle wa­ren sie ge­gan­gen – die Kin­der; Min­ta Doy­le und Paul Ray­ley; Au­gus­tus Car­mi­cha­el; ihr Mann – alle wa­ren sie ge­gan­gen. So wand­te sie sich denn mit ei­nem Seuf­zer um und sag­te: »Wol­len Sie mit mir kom­men, Mr. Tans­ley, oder ist Ih­nen das zu lang­wei­lig?«

Sie hät­te et­was in der Stadt zu be­sor­gen, ir­gen­det­was Gleich­gül­ti­ges; sie hät­te einen oder zwei Brie­fe zu schrei­ben; sie wür­de viel­leicht zehn Mi­nu­ten brau­chen; dann woll­te sie ih­ren Hut auf­set­zen. Und da war sie auch schon wie­der, nach zehn Mi­nu­ten, mit ih­rem Korb und ih­rem Son­nen­schirm, und sie mach­te den Ein­druck, als sei sie be­reit, zu ei­ner Un­ter­neh­mung ge­rüs­tet, die nun frei­lich für einen Au­gen­blick un­ter­bro­chen wer­den muss­te, als sie am Ten­nis­platz vor­über­ka­men, denn hier muss­te Mr. Car­mi­cha­el ge­fragt wer­den, ob er ir­gend­wel­che Wün­sche hät­te: Mr. Car­mi­cha­el, der sich da sonn­te, die gel­ben Kat­zen­au­gen halb zu­ge­knif­fen, so­dass sie wie Kat­zen­au­gen die schwan­ken­den Zwei­ge oder die zie­hen­den Wol­ken, nie­mals aber die ge­rings­te Spur in­ne­rer Ge­dan­ken oder Er­re­gun­gen zu spie­geln schie­nen.

Denn sie woll­ten nun die große Un­ter­neh­mung wa­gen, sag­te sie la­chend. Sie gin­gen zur Stadt. »Brief­mar­ken, Brief­pa­pier, Ta­bak?«, frag­te sie und blieb ne­ben ihm ste­hen. Aber er hat­te kei­ner­lei Wün­sche. Sei­ne Hän­de fal­te­ten sich fest über sei­nem vor­ge­wölb­ten Bauch, und sei­ne Au­gen zwin­ker­ten, als hät­te er auf ihre Freund­lich­keit (sie war ver­füh­re­risch, aber ein we­nig ner­vös) gern eben­so freund­lich geant­wor­tet, könn­te es aber nicht, da er in ei­ner grau­grü­nen Däm­mer­se­lig­keit ver­sun­ken war, in der er sie alle um­fasst hielt, ohne dass es ihn nach Wor­ten ge­lüs­te­te; ei­ner un­end­lich freund­li­chen und un­end­lich trä­gen Wohl­ge­sinnt­heit; die das gan­ze Haus ein­be­griff; die gan­ze Welt; alle Men­schen dar­auf; denn er hat­te beim Früh­stück ver­stoh­len ein paar Trop­fen von ir­gend­was in sein Glas ge­tan, und so er­klär­ten sich, mein­ten die Kin­der, die Strei­fen mun­te­ren Ka­na­ri­en­gelbs in sei­nem Schnurr- und Kinn­bart, die sonst milch­weiß glänz­ten. Nein, brumm­te er, er brau­che nichts.

Er hät­te ein großer Phi­lo­soph wer­den kön­nen, sag­te Mrs. Ramsay, als sie die Stra­ße hin­ab zum Fi­scher­dorf gin­gen, aber er hät­te eine vor­ei­li­ge Ehe ge­schlos­sen. Und sie er­zähl­te, in­des­sen sie ih­ren schwar­zen Son­nen­schirm sehr ge­ra­de hielt und mit ei­nem un­be­schreib­ba­ren Aus­druck der Er­war­tung da­hin­schritt, als soll­te sie um die Ecke her­um je­man­den tref­fen, die Ge­schich­te: Eine Sa­che mit ir­gend­ei­nem Mäd­chen in Ox­ford; frü­he Hei­rat; Ar­mut; Aus­wan­de­rung nach In­di­en; über­setz­te eine klei­ne Dich­tung, »sehr schön, glau­be ich«; woll­te die Jun­gen im Per­si­schen und Hin­dos­ta­ni­schen un­ter­rich­ten – doch was hät­te man da­von? – ja, und nun lag er da, wie sie sä­hen, im Gra­se.

Charles Tans­ley fühl­te sich ge­schmei­chelt; da er so ge­duckt wor­den war, tat es ihm wohl, dass Mrs. Ramsay ihm da­von er­zähl­te. Er leb­te wie­der auf. Auch brach­te sie, un­aus­ge­spro­chen, die Ach­tung vor der Grö­ße des männ­li­chen Geis­tes zum Aus­druck, selbst im Ver­fall noch – nicht dass sie dem Mäd­chen einen Vor­wurf ma­chen woll­te, die Ehe wäre, glaub­te sie, durch­aus glück­lich ge­we­sen –, und die Un­ter­wer­fung al­ler Frau­en vor der Ar­beit ih­rer Män­ner, so­dass er sich selbst bes­ser ge­fiel als zu­vor, und hät­ten sie jetzt, zum Bei­spiel, eine Drosch­ke ge­nom­men, so wäre er gern be­reit ge­we­sen, das Fahr­geld zu be­zah­len. Ja, und ihre klei­ne Ta­sche – ob er die nicht tra­gen dürf­te? – Nein, nein, sag­te sie, die tra­ge sie im­mer selbst. Und das tat sie auch. Ja­wohl, er emp­fand, dass das ih­rem We­sen ent­sprach. Er emp­fand über­haupt man­cher­lei, dar­un­ter et­was, was ihn be­son­ders er­reg­te und ver­stör­te, ohne dass er die Grün­de da­für hät­te an­ge­ben kön­nen. Er ver­spür­te den Wunsch, dass sie ihn se­hen möch­te, wie er in Robe und Ba­rett in ei­nem fei­er­li­chen Zuge ein­her­schritt. Eine Pri­vat­do­zen­tur, eine Pro­fes­sur – zu al­lem fühl­te er sich fä­hig und sah sich im Geis­te schon –, aber was be­trach­te­te sie denn da? Ei­nen Mann, der ein Pla­kat an­kleb­te. Das rie­si­ge flat­tern­de Blatt glät­te­te sich, und je­der Bürs­ten­strich ent­hüll­te wei­te­re Bei­ne, Rei­fen, Pfer­de, strah­len­des Rot und Blau, al­les hübsch blank und glatt, bis der Zir­kus die hal­be Mau­er mit sei­ner An­zei­ge be­deck­te; hun­dert Kun­strei­ter, zwan­zig dres­sier­te See­hun­de, Lö­wen, Ti­ger … Sie streck­te den Hals vor, denn sie war kurz­sich­tig und las ab, dass all dies ›ein Gast­spiel in un­se­rer Stadt‹ ge­ben wür­de. Es sei doch eine schreck­lich ge­fähr­li­che Ar­beit für einen ein­ar­mi­gen Mann, rief sie, da oben auf der Lei­ter zu ste­hen – der lin­ke Arm sei ihm näm­lich vor zwei Jah­ren von ei­ner Mäh­ma­schi­ne ab­ge­trennt wor­den.

»Da müs­sen wir alle hin!«, rief sie und schritt wei­ter, als wäre sie durch alle die­se Rei­ter und Pfer­de in kind­li­che Be­geis­te­rung ge­ra­ten und hät­te ihr Mit­leid dar­über ver­ges­sen.

»Da müs­sen wir hin«, sag­te er, ihre Wor­te wie­der­ho­lend, aber er stieß sie mit ei­ner Be­fan­gen­heit her­vor, dass sie zu­sam­men­zuck­te. »Den Zir­kus müs­sen wir uns an­se­hen.« Nein, er konn­te es nicht im rich­ti­gen Ton sa­gen. Er konn­te es nicht auf die rich­ti­ge Art füh­len. Aber warum nicht? grü­bel­te sie. Was stimm­te wohl mit ihm nicht? Sie spür­te in die­sem Au­gen­blick war­me Zu­nei­gung für ihn. Ob er denn, so frag­te sie, als Kind nie in einen Zir­kus ge­kom­men sei? Nie­mals, ant­wor­te­te er in ei­nem Tone, als hät­te sie ge­ra­de die Fra­ge ge­stellt, die er gern be­ant­wor­ten woll­te; als hät­te er sich all die Tage da­nach ge­sehnt, zu sa­gen, dass sie nie in einen Zir­kus ge­gan­gen wä­ren. Sie wä­ren eine große Fa­mi­lie, neun Brü­der und Schwes­tern, und sein Va­ter ein ge­plag­ter Mann. »Mein Va­ter ist Dro­gist, Mrs. Ramsay, er hat einen La­den.« Er selbst hät­te seit sei­nem drei­zehn­ten Jahr sein Brot ver­die­nen müs­sen. Oft wäre er im Win­ter ohne Über­zie­her ge­lau­fen. Er hät­te nie­mals im Col­le­ge ›Gast­lich­keit er­wi­dern‹ kön­nen (dies wa­ren sei­ne dür­ren, stei­fen Wor­te). Bei ihm hät­te al­les dop­pelt so lan­ge rei­chen müs­sen wie bei an­de­ren Leu­ten; er rauch­te den bil­ligs­ten Ta­bak, Shag; die­sel­be Mar­ke wie die al­ten Män­ner, die auf den Ha­fen­däm­men hock­ten. Er ar­bei­te­te an­ge­strengt – sie­ben Stun­den am Tag; sein The­ma wäre jetzt der Ein­fluss von ir­gend­was auf ir­gend­wen – er er­zähl­te das im Wei­ter­ge­hen, und Mrs. Ramsay fass­te den Sinn nicht ganz, nur ein­zel­ne Wor­te blie­ben zu­wei­len haf­ten: Dis­ser­ta­ti­on – Pri­vat­do­zen­tur – Do­zen­tur – Pro­fes­sur. Sie konn­te dem gräu­li­chen aka­de­mi­schen Rot­welsch nicht fol­gen, das so ge­läu­fig ne­ben ihr ab­schnurr­te; aber sie sag­te sich, dass sie nun ver­stand, warum er bei dem ge­plan­ten Zir­kus­be­such der­ma­ßen au­ßer sich ge­riet, der arme klei­ne Mann, und warum er gleich die gan­ze Ge­schich­te von sei­nem Va­ter, sei­ner Mut­ter, sei­nen Brü­dern und Schwes­tern vor­brach­te; und sie woll­te auf­pas­sen, dass nicht mehr über ihn ge­lacht wur­de; sie woll­te mit Prue dar­über spre­chen. Wenn er er­zäh­len könn­te, er hät­te mit uns ein Stück von Ib­sen ge­se­hen – ja, das wür­de ihm ge­fal­len, dach­te sie. Er ist doch ein gräss­li­cher selbst­ge­fäl­li­ger Pe­dant – o ja, eine un­er­träg­li­che Pla­ge. Denn ob­schon sie jetzt im Städt­chen wa­ren und durch die Haupt­stra­ße gin­gen, wo sich die schwe­ren Wa­gen über das Kopf­stein­pflas­ter quäl­ten, re­de­te er im­mer noch: über Be­stal­lun­gen, Lehräm­ter, ar­bei­ten­de Be­völ­ke­rung, und dass man sei­ner ei­ge­nen Klas­se hel­fen müs­se und Vor­le­sun­gen; bis sie aus al­le­dem ent­nahm, dass er sein Selbst­ver­trau­en völ­lig zu­rück­ge­won­nen und sich vom Zir­kus er­holt hat­te und dass er ihr nun (und jetzt emp­fand sie wie­der war­me Zu­nei­gung für ihn) er­zäh­len wür­de – aber da wi­chen zur Rech­ten wie zur Lin­ken die Häu­ser zu­rück, sie ka­men auf die Ufer­stra­ße, und die gan­ze Bucht brei­te­te sich vor ih­nen aus, und Mrs. Ramsay konn­te nicht den Aus­ruf zu­rück­hal­ten: »Oh, wie schön!« Denn vor ihr war die große Schüs­sel voll blau­en Was­sers; der eis­graue Leucht­turm, fern, streng, in ih­rer Mit­te; und zur Rech­ten, so­weit der Blick reich­te, ver­däm­mernd und ab­fal­lend in sanf­ten, nied­ri­gen Bo­den­fal­ten, die grü­nen Sand­dü­nen mit dem blü­hen­den Wild­gras dar­auf, die im­mer da­von­zu­lau­fen schie­nen, in ir­gend­ein Mond­land, wo es kei­ne Men­schen gab.

Das sei die Aus­sicht, sag­te sie, in­des­sen sie ste­hen blieb und das Grau ih­rer Au­gen sich ver­tief­te, die ihr Mann so lie­be.

Sie hielt einen Au­gen­blick inne. Aber jetzt sei­en, sag­te sie, Künst­ler hier auf­ge­taucht. Und rich­tig, da stand schon ei­ner, nur ein paar Schrit­te ent­fernt, mit Pa­na­ma­hut und gel­ben Schu­hen, der ernst­haft, schwär­me­risch, ent­rückt, ob­wohl zehn klei­ne Jun­gen ihm zu­sa­hen, mit ei­nem Aus­druck tiefer Be­frie­di­gung auf dem run­den ro­ten Ge­sicht aufs Meer starr­te und, wenn er ge­st­arrt hat­te, den Pin­sel senk­te und die Spit­ze in ein wei­ches Häuf­chen Grün oder Blass­rot stipp­te. Seit vor drei Jah­ren Mr. Paun­ce­for­te hier ge­we­sen sei, sähe ein Bild ge­nau wie das an­de­re aus, sag­te sie: grün und grau, mit zi­tro­nen­far­be­nen Se­gel­boo­ten und blass­ro­ten Frau­en am Stran­de.

Am meis­ten Mühe aber hät­ten sich, sag­te sie mit ei­nem un­auf­fäl­li­gen Sei­ten­blick im Vor­über­ge­hen, die Freun­de ih­rer Groß­mut­ter ge­ge­ben; erst hät­ten sie ihre Far­ben selbst ge­mischt, dann grun­diert und dann nas­se Tü­cher dar­über­ge­legt, um sie feucht zu hal­ten.

Hieraus ent­nahm Mr. Tans­ley, dass sie sa­gen woll­te, das Bild des Man­nes da wäre ge­pfuscht, sag­te man so? Die Far­ben wä­ren nicht dicht? Nann­te man das so? Merk­wür­dig war das mit die­ser au­ßer­ge­wöhn­li­chen Er­re­gung, die wäh­rend des gan­zen We­ges im­mer grö­ßer ge­wor­den war; be­gon­nen hat­te sie im Gar­ten, als er ihre Ta­sche tra­gen woll­te; zu­ge­nom­men hat­te sie in der Stadt, als er den Wunsch ver­spür­te, ihr al­les über sich zu sa­gen; und nun stand es so, dass ihm al­les, was er je ge­kannt hat­te, er selbst nicht aus­ge­nom­men, ein we­nig ver­zerrt vor­kam. Es war schreck­lich merk­wür­dig.

Da stand er nun im Wohn­zim­mer des muf­fi­gen klei­nen Hau­ses, in das sie ihn mit­ge­nom­men hat­te, und war­te­te auf sie, wäh­rend sie auf einen Au­gen­blick nach oben ging, um eine Frau zu be­su­chen. Er hör­te dro­ben ih­ren ra­schen Schritt, hör­te ihre Stim­me – erst fröh­lich, dann ge­dämpft; sah sich die Mat­ten an, die Tee­kis­ten, die Lam­pen­schir­me; war­te­te durch­aus un­ge­dul­dig; dach­te mit ver­lan­gen­der Freu­de an den Heim­weg und war ent­schlos­sen, ihre Ta­sche zu tra­gen; hör­te dann, wie sie dro­ben das Zim­mer ver­ließ; eine Tür zu­mach­te; sag­te, sie müss­ten die Fens­ter of­fen hal­ten und die Tü­ren ge­schlos­sen und sich im­mer bei ihr mel­den, wenn sie ir­gen­det­was brauch­ten (of­fen­bar sprach sie zu ei­nem Kind), wor­auf sie plötz­lich her­ein­kam, einen Au­gen­blick stumm ste­hen blieb (als hät­te sie da oben eine Rol­le spie­len müs­sen und könn­te sich nun einen Au­gen­blick ge­hen las­sen), ganz reg­los einen Au­gen­blick vor ei­nem Bild der Kö­ni­gin Vik­to­ria stand, die das blaue Band des Ho­sen­bandor­dens trug; und ganz plötz­lich wuss­te er, dies war es: dies war es – sie war der schöns­te Mensch, den er je ge­se­hen hat­te.

Mit Ster­nen in den Au­gen und Schlei­ern im Haar, mit Zy­kla­men und wil­den Veil­chen – was für einen Un­sinn dach­te er da? Sie war min­des­tens fünf­zig; sie hat­te acht Kin­der. Schrei­tend durch Blü­ten­fel­der und an ih­rer Brust Knos­pen ber­gend, die ge­knickt, Läm­mer, die ge­fal­len wa­ren; Ster­ne in ih­ren Au­gen und Wind in ih­rem Haar … Er nahm ihre Ta­sche.

»Auf Wie­der­se­hen, El­sie«, sag­te sie, und dann gin­gen sie die Stra­ße hin­auf, sie hielt ih­ren Son­nen­schirm ge­ra­de hoch und schritt mit ei­nem Aus­druck der Er­war­tung da­hin, als soll­te sie um die Ecke her­um je­man­den tref­fen, in­des­sen Charles Tans­ley sich zum ers­ten Mal in sei­nem Le­ben au­ßer­or­dent­lich stolz fühl­te; ein Mann, der in ei­nem Ab­zugs­gra­ben schau­fel­te, hör­te auf mit schau­feln und sah sie an; ließ die Arme sin­ken und sah sie an; Charles Tans­ley fühl­te sich au­ßer­or­dent­lich stolz; fühl­te den Wind und die Zy­kla­men und die Veil­chen, denn er ging zum ers­ten Mal in sei­nem Le­ben mit ei­ner schö­nen Frau. Und er hat­te sich ihre Ta­sche er­obert.

2

»Aus der Fahrt zum Leucht­turm wird nichts, Ja­mes«, sag­te er, am Fens­ter ste­hend; er sprach un­be­hol­fen, gab sich aber aus Rück­sicht auf Mrs. Ramsay Mühe, sei­ne Stim­me we­nigs­tens zu et­was Ähn­li­chem wie Freund­lich­keit zu sänf­ti­gen.

Ab­scheu­li­cher klei­ner Mann, dach­te Mrs. Ramsay, warum muss er das im­mer wie­der sa­gen?

3

»Vi­el­leicht scheint die Son­ne, wenn du mor­gen früh auf­wachst, und die Vö­gel sin­gen«, sag­te sie mit­lei­dig und strich ih­rem klei­nen Jun­gen glät­tend übers Haar, denn sie sah, dass ih­res Man­nes ät­zen­de Äu­ße­rung, es wür­de schlech­tes Wet­ter ge­ben, ihm alle Freu­de ge­nom­men hat­te. Die­se Fahrt zum Leucht­turm war ihm zur Lei­den­schaft ge­wor­den, das sah sie, und nun – als ob es nicht ge­nüg­te, dass ihr Mann mit sei­nen ät­zen­den Wor­ten die Hoff­nung auf gu­tes Wet­ter zer­stört hat­te – muss­te auch noch die­ser ab­scheu­li­che klei­ne Mann kom­men und al­les noch ein­mal recht schön breit­tre­ten.

»Vi­el­leicht wird’s mor­gen doch schön«, sag­te sie und strich ihm glät­tend übers Haar.

Sie konn­te nun nichts wei­ter tun, als den Kühl­schrank be­wun­dern und die Sei­ten der Preis­lis­te um­wen­den, in der Hoff­nung, dass sie viel­leicht so et­was wie einen Re­chen oder eine Mäh­ma­schi­ne fand, die mit ih­ren Zäh­nen und Stie­len die größ­te Sorg­falt und Ge­schick­lich­keit beim Aus­schnei­den ver­lang­ten. All die­se jun­gen Leu­te äff­ten doch, dach­te sie, ih­ren Mann nach; er sag­te, es wür­de reg­nen; sie sag­ten, es wür­de einen re­gel­rech­ten Wir­bel­sturm ge­ben.

Hier aber wur­de, als sie die Sei­ten um­dreh­te, ihr Su­chen nach dem Bild ei­nes Re­chens oder ei­ner Mäh­ma­schi­ne plötz­lich un­ter­bro­chen. Da war dies brum­men­de Ge­mur­mel zu ihr ge­drun­gen, in un­re­gel­mä­ßi­gen Zwi­schen­räu­men un­ter­bro­chen, wenn sie die Pfei­fe aus dem Mund nah­men oder in den Mund steck­ten, aus dem sie (in­des­sen sie am Fens­ter saß) zu ih­rer Be­ru­hi­gung ent­nom­men hat­te, dass die Män­ner noch im­mer be­hag­lich am Re­den wa­ren, wenn sie auch nicht ver­ste­hen konn­te, was sie sag­ten; die­ses Geräusch, das eine hal­be Stun­de ge­dau­ert und sich sänf­ti­gend in die Ska­la der an­drin­gen­den Geräusche ein­ge­fügt hat­te, wie etwa das Auf­pral­len der Bäl­le auf die Schlä­ger und das jähe, schar­fe, bel­len­de »Ha, da! Ha, da!« der Kin­der beim Kricket­spiel, war ver­stummt; so­dass der ein­tö­ni­ge Wel­len­schlag am Strand, der sonst meist einen ge­mes­se­nen, be­schwich­ti­gen­den Takt zu ih­ren Ge­dan­ken schlug und, wenn sie bei den Kin­dern saß, stän­dig die Wor­te ei­nes al­ten Wie­gen­lie­des zu wie­der­ho­len schi­en, das die Na­tur trös­tend mur­mel­te: »Ich be­schüt­ze dich – ich bin dei­ne Zuf­lucht«, manch­mal je­doch plötz­lich und un­er­war­tet, be­son­ders dann, wenn ihre Ge­dan­ken sich et­was von dem lös­ten, wo­mit sie ge­ra­de be­schäf­tigt war, nicht solch freund­li­che Be­deu­tung hat­te, son­dern gleich­sam als ge­spens­ti­sches Trom­mel­rol­len un­barm­her­zig den Takt des Le­bens schlug, einen über die Zer­stö­rung der In­sel und ihr Ver­sin­ken im Meer nach­den­ken ließ und sie, de­ren Tag in lau­ter has­ti­gen Ver­rich­tun­gen ver­ging, dar­an ge­mahn­te, dass al­les ver­gäng­lich sei wie ein Re­gen­bo­gen – so­dass die­ses Geräusch, das von an­de­ren Geräuschen ver­deckt und über­la­gert wor­den war, ihr plötz­lich don­nernd in den Ohren dröhn­te und sie jäh auf­fah­ren ließ.

Sie hat­ten drau­ßen auf­ge­hört zu re­den; das war die Er­klä­rung. In ei­ner Se­kun­de fiel sie aus der Span­nung, die sie ge­packt hat­te, in die ent­ge­gen­ge­setz­te Stim­mung, die, als soll­te sie für ih­ren un­nö­ti­gen Ge­fühl­s­auf­wand ent­schä­digt wer­den, kühl, be­lus­tigt, ja so­gar ein we­nig scha­den­froh war: der arme Charles Tans­ley muss­te ab­ge­sto­chen wor­den sein. Ihr galt das we­nig. Wenn ihr Mann Op­fer ver­lang­te (und das tat er), so warf sie ihm mit Freu­den Charles Tans­ley hin, der ih­ren klei­nen Jun­gen so schlecht be­han­delt hat­te.

Ei­nen Au­gen­blick noch lausch­te sie mit er­ho­be­nem Kopf, als war­te­te sie auf ein ver­trau­tes Geräusch, ein ge­wohn­tes und re­gel­mä­ßi­ges Geräusch; als sie dann hör­te, dass im Gar­ten, wo ihr Mann auf der Ter­ras­se auf und ab lief, so et­was wie rhyth­mi­scher Sprech­ge­sang be­gann, et­was, was die Mit­te hielt zwi­schen Kräch­zen und Sin­gen, war sie wie­der ein­mal be­ru­higt, denn nun wuss­te sie, dass al­les in Ord­nung war, blick­te auf das Buch in ih­rem Schoß und fand das Bild ei­nes Ta­schen­mes­sers mit sechs Klin­gen, das Ja­mes nur aus­schnei­den konn­te, wenn er sehr acht­gab.

Plötz­lich drang ein lau­ter Schrei, wie von ei­nem halb er­weck­ten Schlaf­wand­ler, et­was von


be­stürmt von der Ku­geln und Bom­ben Wut …

mit äu­ßers­ter Laut­stär­ke ge­sun­gen, ihr ins Ohr, so­dass sie sich be­sorgt um­sah, ob es je­mand hör­te. Nur Lily Bris­coe, stell­te sie zu ih­rer Freu­de fest; und das mach­te nichts. Aber beim An­blick des Mäd­chens, das ma­lend am Ran­de des Ra­sen­plat­zes stand, fiel ihr ein: sie soll­te den Kopf mög­lichst in der glei­chen Hal­tung las­sen für Li­lys Bild. Li­lys Bild! Mrs. Ramsay lä­chel­te. Lily Bris­coe mit ih­ren klei­nen Chi­ne­sen­au­gen und ih­rem fal­ti­gen Ge­sicht wür­de nie­mals hei­ra­ten; man konn­te ihre Ma­le­rei nicht sehr ernst neh­men; aber sie war ein selbst­stän­di­ges klei­nes Ge­schöpf, Mrs. Ramsay hat­te sie des­halb gern, und so beug­te sie, ih­res Ver­spre­chens ein­ge­denk, den Kopf.

4

Wirk­lich, er rann­te ihr fast die Staf­fe­lei über den Hau­fen, als er auf sie zu­stürm­te, mit ru­dern­den Hän­den und don­nernd: »Wir rit­ten kühn­lich und rit­ten gut.« Gott sei Dank mach­te er eine schar­fe Kur­ve und saus­te von dan­nen, wahr­schein­lich, so ver­mu­te­te sie, um auf den Hö­hen von Balacla­va einen ruhm­rei­chen Tod zu ster­ben. Noch nie hat­te sie einen Men­schen ge­se­hen, der gleich­zei­tig so lä­cher­lich und so be­ängs­ti­gend war. Aber so­lan­ge er es so trieb, die Arme schwang, Ver­se brüll­te, war sie si­cher; da stand er we­nigs­tens nicht still und sah ihr Bild an. Und eben das war es, was Lily Bris­coe nicht hät­te er­tra­gen kön­nen. Selbst wäh­rend sie auf die Flä­che, die Li­nie, die Far­be, auf Mrs. Ramsay acht­gab, die mit Ja­mes am Fens­ter saß, über­wach­te sie ihre Um­ge­bung, da­mit sich nicht je­mand her­an­schlei­chen konn­te und sie plötz­lich ent­de­cken muss­te, dass ihr Bild be­trach­tet wur­de. Nun aber, da all ihre Sin­ne ra­scher ar­bei­te­ten als sonst, im an­ge­spann­ten Schau­en, bis die Far­be der Mau­er und der Jac­man­na dar­über ihr in den Au­gen brann­ten, wur­de sie inne, dass je­mand aus dem Haus kam, auf sie zu; doch sag­te ihr ir­gen­det­was im Klang der Schrit­te, dass es Wil­liam Ban­kes war; so zit­ter­te ihr zwar die Pin­sel­hand, aber sie leg­te ihre Lein­wand nicht mit dem Bild nach un­ten ins Gras, wie sie es ge­tan hät­te, wenn es Mr. Tans­ley, Paul Ray­ley, Min­ta Doy­le oder je­der an­de­re ge­we­sen wäre, son­dern ließ sie ste­hen. Wil­liam Ban­kes stand ne­ben ihr.

Sie wohn­ten bei­de im Dorf, und so hat­ten sie, beim Aus- und Ein­ge­hen und wenn sie sich spät abends vor ih­ren Tü­ren gute Nacht wünsch­ten, ein paar Wor­te mit­ein­an­der ge­wech­selt über die Sup­pe, über die Kin­der, über dies und das, was sie zu Ver­bün­de­ten mach­te; so­dass sie, als er nun in sei­ner un­par­tei­ischen Art (er war alt ge­nug, um ihr Va­ter zu sein, Bo­ta­ni­ker, roch nach Sei­fe, war äu­ßerst rein­lich und sau­ber) ne­ben sie trat, ein­fach da­stand. Auch er stand ein­fach da. Ihre Schu­he wa­ren vor­züg­lich ge­ar­bei­tet, stell­te er fest. Sie lie­ßen den Ze­hen ih­ren na­tür­li­chen Spiel­raum. Da er im glei­chen Hau­se wohn­te wie sie, so war ihm auch nicht ent­gan­gen, wie re­gel­mä­ßig sie leb­te: vor dem Früh­stück auf und aus dem Hau­se zum Ma­len, und zwar, wie er glaub­te, al­lein; ver­mut­lich arm und zwei­fel­los nicht so hübsch und ver­lo­ckend wie Min­ta Doy­le, aber mit ge­sun­dem Men­schen­ver­stand, der ihr in sei­nen Au­gen vor je­ner jun­gen Dame den Vor­zug gab. So zum Bei­spiel jetzt: Als Ramsay brül­lend und fuch­telnd her­an­ge­braust kam, hat­te Miss Bris­coe, das fühl­te er, Ver­ständ­nis. Ei­ner hat­te einen Schnit­zer ge­macht.

Mr. Ramsay starr­te sie an. Er starr­te sie an, ohne sie zu se­hen. Das war nun ir­gend­wie un­be­hag­lich. Ge­mein­sam hat­ten sie et­was ge­se­hen, was sie nicht hat­ten se­hen sol­len. Sie wa­ren in das ver­bor­ge­ne Le­ben ei­nes an­de­ren ein­ge­drun­gen. So such­te Mr. Ban­kes wahr­schein­lich, dach­te Lily, nach ei­nem Vor­wand, um fort und au­ßer Hör­wei­te zu kom­men, als er fast un­mit­tel­bar dar­auf sag­te, es wür­de kühl und ob sie nicht einen klei­nen Spa­zier­gang ma­chen woll­ten. Ja, sie woll­te mit­kom­men. Aber sie lös­te doch nur schwer die Au­gen von ih­rem Bild.

Die Jac­man­na war leuch­tend veil­chen­far­ben, die Mau­er grell­weiß. Es wäre ihr nicht ehr­lich vor­ge­kom­men, der leuch­ten­den Veil­chen­far­be und dem Grell­weiß et­was ab­zu­han­deln, denn sie sah sie nun ein­mal so, wenn es auch seit Mr. Paun­ce­for­tes Be­such Mode war, al­les blass, ele­gant und halb durch­schei­nend zu se­hen. Und un­ter der Far­be war die Ge­stalt. Es war al­les so klar, so zwin­gend, wenn sie es an­sah: Aber in dem Au­gen­blick, wo sie den Pin­sel zur Hand nahm, wan­del­te sich al­les. Im Vor­über­flie­gen die­ses Au­gen­blicks zwi­schen wirk­li­chem Bild und Lein­wand be­gab es sich, dass die Höl­len­geis­ter sie an­fie­len, die sie oft fast bis zu Trä­nen der Verzweif­lung pei­nig­ten und die­sen Weg zwi­schen Emp­fäng­nis und Schaf­fen so furcht­bar mach­ten, wie es nur je ein Weg im Fins­tern für ein Kind war. Und so war ihr oft­mals zu­mu­te – als müss­te sie ge­gen Mäch­te von furcht­ba­rer Über­le­gen­heit kämp­fen, um ih­ren Mut nicht zu ver­lie­ren; um zu sa­gen: »Aber so sehe ich es doch; so sehe ich es doch«; als könn­te sie auf sol­che Art einen kläg­li­chen Rest ih­res Bil­des an die Brust pres­sen, den tau­send feind­li­che Kräf­te ihr mit al­ler Macht ent­rei­ßen woll­ten. Und so ge­sch­ah es auch, auf eine eben­so käl­ten­de und nich­ti­ge Wei­se, dass sich ihr, wenn sie zu ma­len be­gann, an­de­re Din­ge auf­dräng­ten: ihre ei­ge­ne Un­zu­läng­lich­keit; ihre Be­lang­lo­sig­keit; der Haus­halt, den sie da­heim, in ei­ner Ne­ben­stra­ße der Bromp­ton Road, ih­rem Va­ter führ­te, so­dass sie sich kaum da­von zu­rück­hal­ten konn­te (bis­her hat­te sie sich frei­lich, Gott sei Dank, noch zu­rück­ge­hal­ten), sich Mrs. Ramsay zu Fü­ßen zu stür­zen und zu sa­gen – aber was konn­te man zu Mrs. Ramsay sa­gen? »Ich bin in Sie ver­liebt«? Nein, das stimm­te nicht. »Ich bin ver­liebt in al­les hier«, mit ei­ner Hand­be­we­gung, die das Haus, die He­cke, die Kin­der um­fass­te? Es war al­bern; es war un­mög­lich. Man konn­te nicht sa­gen, was man mein­te. Und so leg­te sie ihre Pin­sel in den Kas­ten, säu­ber­lich ne­ben­ein­an­der, und sag­te zu Wil­liam Ban­kes:

»Es wird mit ei­nem Male kalt. Die Son­ne gibt, scheint’s, nicht mehr so viel Wär­me«, sag­te sie und blick­te um sich; denn es war noch hell ge­nug, das Gras war noch von sanf­tem, tie­fem Grün, das Haus in sei­nem Grün war mit pur­pur­nen Pas­si­ons­blu­men bes­ternt, und kal­ter Krä­hen­schrei fiel aus dem ho­hen Blau. Aber et­was be­weg­te sich in der Luft, blitz­te auf, tat einen sil­ber­nen Schwin­gen­schlag. Schließ­lich war es Sep­tem­ber, Sep­tem­ber­mit­te, und sechs Uhr abends vor­über. So schlen­der­ten sie denn in der ge­wohn­ten Rich­tung durch den Gar­ten, am Ten­nis­platz vor­bei, am Pam­pas­gras vor­bei, zu je­ner Lücke in der dich­ten He­cke, die von glü­hen­d­ro­ten Ei­sen­pfäh­len wie von hell­bren­nen­den Koh­len­be­cken be­wacht war und die im Durch­blick die blau­en Was­ser der Bucht blau­er leuch­ten ließ denn je.

Sie ka­men je­den Abend hier­her, re­gel­mä­ßig, von ei­nem un­be­stimm­ba­ren Ver­lan­gen ge­trie­ben. Es war, als ob das Was­ser Ge­dan­ken, die auf tro­ckenen Sand ge­ra­ten und sti­ckig ge­wor­den wa­ren, flott­mach­te und ih­nen Se­gel lieh, ja, als ge­währ­te es so­gar dem Kör­per eine ir­gend­wie lin­dern­de Ent­span­nung. Zu­erst ge­sch­ah es, dass der Puls­schlag der Far­be die Bucht mit Blau über­flu­te­te, das Herz wei­te­te sich, und der Kör­per schwamm im Blau; aber nur, um im nächs­ten Au­gen­blick jäh ge­hemmt und durch­käl­tet zu wer­den durch die schup­pi­ge Schwär­ze auf den er­reg­ten Wo­gen. Dann aber sprang hin­ter dem großen schwar­zen Fel­sen fast all­abend­lich eine sprü­hen­de Säu­le wei­ßen Was­sers auf, nie um die glei­che Stun­de, so­dass man dar­auf war­ten muss­te und Freu­de fühl­te, wenn sie kam; und wäh­rend man dar­auf war­te­te, sah man, wie Wel­le auf Wel­le wie­der und wie­der den blas­sen halb­kreis­för­mi­gen Strand mit ei­ner perl­mut­ter­nen Glanz­schicht über­zog.

Sie lä­chel­ten bei­de, als sie so da­stan­den. Sie emp­fan­den bei­de eine ge­mein­sa­me Fröh­lich­keit, die aus der Be­we­gung der Wel­len wuchs; auch aus der schnel­len wel­len­zer­schnei­den­den Renn­fahrt ei­nes Se­gel­boo­tes, das in der Bucht einen Bo­gen be­schrie­ben hat­te und nun reg­los, er­zit­ternd stil­lag; sei­ne Se­gel nie­der­glei­ten ließ; und dann blick­ten sie bei­de, in dem na­tür­li­chen Trieb, nach die­ser ra­schen Be­we­gung das Bild ab­zu­run­den, in die Wei­te der Dü­nen hin­aus, und sie fühl­ten, wie die Fröh­lich­keit schwand und Trau­er sie an­wan­del­te; zum Teil eben, weil das Bild sich run­de­te – dann aber auch, weil (so dach­te Lily) sol­che wei­ten Aus­bli­cke den Be­trach­ter um eine Jahr­mil­li­on zu über­dau­ern schei­nen und das Ge­fühl in ihm we­cken, als wä­ren sie schon dem Him­mel nahe, der in voll­kom­me­ner Ge­las­sen­heit auf die Erde her­abblickt.

Wil­liam Ban­kes dach­te, als er in die wei­ten Sand­hü­gel hin­aus­sah, an Ramsay: dach­te an eine Land­stra­ße in West­mor­land, dach­te an Ramsay, wie er für sich auf die­ser Land­stra­ße da­hin­schritt, in die Ein­sam­keit gehüllt, die sein na­tür­li­ches We­sen schi­en. Aber die­ser ein­sa­me Weg wur­de, so sah es Wil­liam Ban­kes in sei­ner Erin­ne­rung (und das muss­te wohl an eine tat­säch­li­che Be­ge­ben­heit an­knüp­fen), durch eine Hen­ne un­ter­bro­chen, die ihre Flü­gel schüt­zend über ihre Kü­ken­schar brei­te­te; Ramsay blieb ste­hen, deu­te­te mit dem Stock dar­auf und sag­te: »Hübsch – hübsch«; ein wun­der­lich er­leuch­ten­der Ein­blick in sein Herz, der, so dach­te Ban­kes da­mals, sei­ne Sch­licht­heit, sein Ge­fühl für die be­schei­de­nen Din­ge der Welt zeig­te; aber es kam ihm vor, als hät­te ihre Freund­schaft ge­ra­de dort, auf je­ner Land­stra­ße, ge­en­det. Da­nach hat­te Ramsay ge­hei­ra­tet. Da­nach war, durch man­cher­lei klei­ne An­läs­se, ih­rer Freund­schaft das Le­bens­mark ent­zo­gen wor­den. Wer dar­an schuld war, wuss­te Wil­liam Ban­kes nicht zu sa­gen; doch hat­te es nach ei­ner ge­wis­sen Zeit – nicht eine Er­neue­rung, aber eine Wie­der­ho­lung ge­ge­ben. Wie­der­ho­lung war der Grund, dass sie sich tra­fen. In sei­nem stum­men Zwie­ge­spräch mit den Sand­dü­nen blieb er aber da­bei, dass sei­ne Zu­nei­gung für Ramsay sich in kei­ner Wei­se ver­min­dert hat­te; und doch lag dort, wie der Kör­per ei­nes jun­gen Man­nes, der seit ei­nem Jahr­hun­dert im Moor ruht, in­des­sen auf sei­nen Lip­pen noch das fri­sche Rot blüht – lag sei­ne Freund­schaft in ih­rer Zart­heit und Wirk­lich­keit quer über der Bucht in den Sand­hü­geln.

Um sei­ner Freund­schaft wil­len und viel­leicht auch des­halb, weil er sich vor sei­nem ei­ge­nen Ur­teil von der An­kla­ge rei­ni­gen woll­te, ver­trock­net und ver­dorrt zu sein – denn Ramsay leb­te ja in­mit­ten ei­nes Ge­wim­mels von Kin­dern, wäh­rend Ban­kes kin­der­los war und Wit­wer –, aus die­sen bei­den Grün­den spür­te er den hef­ti­gen Wunsch, Lily Bris­coe möge über Ramsay (der doch auf sei­ne Wei­se ein be­deu­ten­der Mensch war) nicht weg­wer­fend ur­tei­len, son­dern ver­ste­hen, wie die Din­ge zwi­schen ih­nen stan­den. Ihre Freund­schaft, be­gon­nen vor lan­gen Jah­ren, war auf ei­ner Land­stra­ße in West­mor­land er­lo­schen, als eine Glu­cke die Flü­gel vor ih­ren Kü­ken brei­te­te; da­nach hat­te Ramsay ge­hei­ra­tet, und ihre Wege führ­ten sie aus­ein­an­der, aber als sie sich dann wie­der­tra­fen, zeig­te sich, dass sie ge­neigt wa­ren, al­les zu wie­der­ho­len, ohne dass, so viel war ge­wiss, ei­ner von ih­nen An­lass dazu ge­ge­ben hat­te.

Ja. So war es. Er setz­te den Strich dar­un­ter. Er wand­te sich von der Aus­sicht ab. Und als er nun um­kehr­te, um auf dem an­de­ren Weg, der Fahr­stra­ße, zu­rück­zu­keh­ren, war Mr. Ban­kes auf­ge­schlos­sen für Din­ge, die nicht mit sol­cher Macht auf ihn ein­ge­drun­gen wä­ren, wenn nicht der An­blick der Sand­dü­nen das Bild sei­ner Freund­schaft in ihm wach­ge­ru­fen hät­te, die, das fri­sche Rot auf den Lip­pen, im Moor ruh­te – zum Bei­spiel Cam, die klei­ne Cam, Ramsays Jüngs­te. Sie pflück­te am Ufer ›Schö­ne Ali­ce‹. Sie war wild und lei­den­schaft­lich. Es fiel ihr nicht ein, ›dem Herrn eine Blu­me zu ge­ben‹, wie es das Kin­der­mäd­chen von ihr ver­lang­te. Nein! nein! nein! sie woll­te nicht. Sie ball­te die Faust. Sie stampf­te mit dem Fuß. Und Mr. Ban­kes fühl­te sich alt und trau­rig und ir­gend­wie von ihr ins Un­recht ge­setzt, was sei­ne Freund­schaft an­ging. Er muss­te wohl ver­trock­net und ver­dorrt sein.

Die Ramsays wa­ren nicht reich, und es war ein Wun­der, dass sie es fer­tig­brach­ten, durch­zu­kom­men. Acht Kin­der! Acht Kin­der mit der Phi­lo­so­phie er­näh­ren. Da war wie­der eins von ih­nen, dies­mal Jas­per, der sich vor­über­troll­te, um, wie er bei­läu­fig sag­te, einen Vo­gel zu schie­ßen; er schwenk­te im Vor­bei­ge­hen Li­lys Hand wie einen Pum­pen­schwen­gel, was Mr. Ban­kes zu der bit­te­ren Be­mer­kung ver­an­lass­te, dass sie bei den Kin­dern be­liebt sei. Da war fer­ner die Fra­ge der Er­zie­hung zu be­den­ken (Mrs. Ramsay hat­te da frei­lich viel­leicht so ihre ei­ge­nen An­sich­ten) – ganz ab­ge­se­hen von den Schu­hen und St­rümp­fen, die sol­che ›großen Jun­gen‹, lau­ter kräf­tig ge­wach­se­ne, tap­si­ge, rück­sichts­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­