1edition suhrkamp 2720

3Uffa Jensen

Zornpolitik

Suhrkamp

71. Einleitung

Sieh berühmtester Städte Grundmauern, die kaum noch erkennbar: sie hat der Zorn gestürzt; sieh die Einöden, über viele Meilen ohne Einwohner, verlassen; sie hat der Zorn entvölkert; sieh so viele Feldherren, der Nachwelt überliefert als unheilvollen Geschickes Beispiele: den einen hat der Zorn auf dem Bett erdolcht, einen anderen bei der Rechtsprechung und angesichts des belebten Forum zerfleischt, einen anderen durch seines Sohnes Mordtat sein Blut hingeben lassen, einem anderen mit Sklavenhand die herrscherliche Kehle zerschneiden, einem anderen am Kreuz die Glieder zerteilen lassen.

Seneca, De ira – Über den Zorn (ca. 41 n. Chr.)1

Wer Antisemit ist, ist es aus der Begierde nach dem Taumel und dem Rausche einer Leidenschaft. Er nimmt die Argumente, die ihm gerade die nächsten sind. Wenn man sie ihm widerlegt, wird er sich andere suchen. Wenn er keine findet, wird es ihn auch nicht bekehren. Er mag den Rausch nicht entbehren.

Hermann Bahr, Der Antisemitismus (1894)2

Am 17. Januar 2017 hielt der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, Björn Höcke (geb. 1972), im Dresdner Ballhaus Watzke eine inzwischen berüchtigte Rede, die ihm ein Parteiausschlussverfahren durch den AfD-Bundesvorstand einbringen sollte. Bekannt wurden 8seine Worte, weil der beurlaubte Gymnasiallehrer die negativen Auswirkungen der deutschen Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen beklagte und das Berliner Holocaustmahnmal als »Denkmal der Schande« schmähte.3 Doch die Rede ist mehr: Sie ist ein aufschlussreiches Dokument einer bestimmten Gefühlslage. Und zwar nicht allein aufgrund der Fülle von Emotionsausdrücken, mit denen sie gespickt war: Höcke gestand, »überglücklich« zu sein, in Dresden reden zu können; sein Auftritt war ihm eine »Herzensangelegenheit«; er lobte den Mut der Veranstalter, ihn einzuladen; mit seiner Rede wollte er würdigen, appellieren und ermahnen. Dazu kamen die häufigen Unterbrechungen, weil das Publikum in Jubel, Beifallsbekundungen oder Buhrufe ausbrach, wobei das nicht so ungewöhnlich war, da die Veranstaltung sicherlich einen Spektakelcharakter besaß. Am bemerkenswertesten ist vielmehr die Gefühlshaltung, die Höcke in seiner Rede einnahm. Da war er, der allzu bekannte Sound jenes politischen Phänomens, für das sich in den letzten Monaten der Begriff Rechtspopulismus stärker verbreitet hat.

Bei Höcke speiste sich dieser Sound aus einer Kombination von vier entscheidenden Gefühlen. Grundlegend war ein Ressentiment, das sich durch die ganze Rede zog. Man müsse sich der »Deutschland-abschaffende[n] Politik der Altparteien« erwehren. Die herrschende Erinnerungskultur mache die deutsche Geschichte »mies und lächerlich«. »So kann es und darf es nicht weitergehen!«, rief er voller Groll in den Saal, der sich mit frenetischem Jubel füllte.

Diesen Groll akzentuierte Höcke gelegentlich mit schrilleren Tönen der Angst. Der einst intakte deutsche Staat befinde sich in Auflösung, seine Außengrenzen seien unge9schützt, das Gewaltmonopol erodiere. Der »Import fremder Völkerschaften und die zwangsläufigen Konflikte« würden den sozialen Frieden existenziell gefährden. Die hoch geschätzte deutsche Kultur drohe, in einer »multikulturellen Beliebigkeit« unterzugehen: »[U]nser liebes Volk ist im Inneren tief gespalten und durch den Geburtenrückgang sowie die Masseneinwanderung erstmals in seiner Existenz tatsächlich elementar bedroht.«

Bisweilen steigerte sich das Ressentiment zu einem veritablen Crescendo des Zorns. Die Politiker der »Altparteien« seien zu »erbärmlichen Apparatschiks« geworden, »die nur noch ihre Pfründe verteilen« wollten: »Weder ihr erstarrter Habitus noch ihre floskelhafte Phraseologie unterscheidet Angela Merkel von Erich Honecker.« An dieser Stelle brandete im Saal besonders lauter Jubel auf, das Publikum unterbrach die Rede zum ersten Mal mit »Merkel muss weg!«-Rufen. Die Angriffe der politischen Gegner seien perfide: »Sie sind manchmal gewalttätig, sie sind hinterhältig, sie sind skrupellos.« Die AfD und ihre Anhänger führten gegen diese Leute einen »gerechten Kampf«.

Manchmal mischte sich allerdings auch eine freundlichere Melodie in diesen Sound. Dresden sei, schmeichelte Höcke seinem Publikum aus der Pegida-Stadt, die heimliche Kapitale Deutschlands, die »Hauptstadt der Mutbürger«. Er spüre – diese Worte betonte er besonders – »eine reine, ehrliche, bescheidene und tief gegründete Vaterlandsliebe« im Saal. Es gebe ihn noch, den »Geist eines neuen, ehrlichen, vitalen, tief begründeten und selbstbewussten Patriotismus«. Auf dieser Basis könne eine innere Erneuerung gelingen: »Wir können Geschichte schreiben. Tun wir es!«

Ressentiment, Angst, Zorn, Liebe – die rechtspopulis10tische Musik nutzt eine ganz bestimmte emotionale Klaviatur. Höcke ist wahrlich kein Meister der Worte, aber er versteht sich auf ein anderes Metier: das der Zornpolitik.

Warum trägt dieser Essay den Titel Zornpolitik? Rationalität und Emotionen sind, wie die gegenwärtige Psychologie und Neurowissenschaft betonen, im menschlichen Gehirn nicht voneinander zu trennen.4 Schon mit dem Titel wende ich mich daher gegen eine verbreitete Definition von Politik als einer möglichst rationalen und emotionslosen Angelegenheit. Denn mit bestimmten Gefühlen wurde und wird Politik betrieben. Zorn etwa prägt einen erheblichen Teil unserer Gegenwartspolitik, das macht die Rede Höckes deutlich. So beschreibt dieser Essay das moderne Vorhaben, negative Gefühle über – ausgrenzend definierte – Andere (Juden, Muslime, Flüchtlinge, Ausländer, Fremde etc.) politisch zu instrumentalisieren. Damit ist zugleich eine Kernfrage des Politischen überhaupt berührt: Für wen macht man sie? Wer ist das »Volk«, das die Politiker repräsentieren sollen?

Zornpolitik erschöpft sich jedoch keineswegs im strategischen Einsatz von Gefühlen gegen Andere. Die grundlegendere Schwierigkeit betrifft die Bedeutung von Gefühlen in der Politik insgesamt: Mit welchen Gefühlen betreiben wir Politik? Wie reagieren wir wann emotional auf Politik? Damit verweise ich auf die Gefühle im Politischen insgesamt, Emotionen, die Politiker wie Höcke und ihr Publikum – und sogar wir alle – teilen.

Doch warum Zorn? Es ist mir besonders wichtig, die an einem Phänomen beteiligten Gefühle möglichst exakt zu beschreiben.5 Zweifellos unterscheiden wir in unserer 11Alltagssprache Gefühlsbegriffe nicht immer genau. Mal sprechen wir von Furcht, mal von Angst – und wer könnte schon die genauen Unterschiede zwischen Zorn, Wut, Verachtung und Empörung aus dem Stegreif angeben? Manche Emotionspsychologen hegen sogar einleuchtende Zweifel, ob wir überhaupt klar voneinander abgrenzbare Gefühlszustände empfinden. Dennoch beschreiben gerade im politischen Bereich die unterschiedlichen Bezeichnungen, die wir für Gefühle besitzen, verschiedene Zustände und beziehen sich damit auf wichtige Kontexte. Geht es um die Verbindungen zwischen Vorurteilen und Gefühlen, gilt es, genauer hinzusehen, welche Gefühle gegen welche Anderen mobilisiert werden. Dieses Buch widmet sich der politischen Gegenwart. Würde es vom 19. und frühen 20. Jahrhundert handeln, wäre der Titel Hasspolitik treffender. Im damaligen Antisemitismus ragte unter den Gefühlen gegenüber Juden der Hass hervor.

Zornpolitik versteht sich als eine Einmischung in gegenwärtige Debatten, in denen – neben dem weiterhin existierenden Antisemitismus – vor allem Islamfeindlichkeit das Spektrum der Vorurteile beherrscht.6 Dabei dominiert das Gefühl des Zorns. Wichtig ist mir die Innensicht dieses Zustandes, ohne dass ich ihn deshalb entschuldigen oder rechtfertigen möchte. In unserem Zornbegriff schwingen noch Anklänge eines älteren Verständnisses von Leidenschaften mit, das sich in der Antike entwickelte und bis in die Frühe Neuzeit eine Rolle spielte. Im Zorn fühlen wir uns missachtet und verlangen nach Genugtuung, sogar nach Rache.7 Wir erfahren Geringschätzung und verstehen Zorn daher als ein gerechtfertigtes, ja gerechtes Gefühl. In unserer Empfindung spüren wir noch die alttestamentarische 12Wucht, mit der Gott zu Moses sprach: »Und nun lass mich, daß mein Zorn über sie ergrimme und ich sie vertilge« (Exodus 32:10 LB). Im Gefühlserleben der Zornigen scheint mir damit zugleich ein Moment der Selbstermächtigung zu stecken. Zorn verweist auf ein Gegenüber (»zornig auf …«), während Wut häufiger als ein individueller Zustand der Besessenheit (wie er zum Beispiel in der Formel von der »rasenden Wut« zum Ausdruck kommt) verstanden wird. In diesem Buch werden Menschen auftauchen, die sich missachtet fühlen, die ihren Zorn auf bestimmte Andere richten und denen dieses Gefühl als gerecht erscheint. Deshalb heißt dieser Essay Zornpolitik.

Damit ist aber noch nicht geklärt, wieso ich die Rolle von Gefühlen in der Politik thematisieren möchte. Gefühle sind schließlich an vielem, wenn nicht gar an allem beteiligt, was wir Menschen tun. Wieso sollte man sich gerade mit ihrer Funktion in der Politik beschäftigen? Eine Antwort drängt sich auf: Offenkundig gibt es ein Interesse, Gefühle für Politik zu nutzen.

Dazu ein Beispiel: Im Berliner Wahlkampf 2016 wurde der AfD-Spitzenkandidat, der pensionierte Bundeswehroffizier Georg Pazderski (geb. 1951), in einer Fernsehsendung des RBB gefragt, warum er ständig von einer steigenden Kriminalitätsrate unter Ausländern rede, obwohl es dafür in den amtlichen Statistiken keine Anhaltspunkte gebe. Gegen den lauten Protest der versammelten Spitzenkandidaten der anderen Parteien verteidigte sich Pazderski mit den Worten: »Das, was man fühlt, ist auch Realität.«8 Ähnlich rechtfertigte sich der amerikanische Spitzenpolitiker und Trump-Unterstützer Newt Gingrich (geb. 1943), 13als er nach der Kriminalitätsstatistik gefragt wurde.9 Wenn es um so komplexe Themen wie die Kriminalitätsrate unter Ausländern geht, dominieren die Empfindungen der Bevölkerung häufig die öffentlichen Debatten. Aber lassen sich Gefühle und Fakten wirklich gegeneinander ausspielen? Oder sind Gefühle doch Argumente?

Die beteiligten Journalisten reagierten auf Pazderski (und Gingrich), indem sie auf den Fakten – den amtlichen Statistiken und den offiziellen Verlautbarungen – beharrten: Gefühle seien keine Fakten! Damit meinten sie auch: Fakten helfen gegen Gefühle. Eine aufgeklärte Öffentlichkeit müsse sich an rationale Argumente halten, um den irrationalen Impulsen Einzelner Einhalt zu gebieten.

Populisten wie Pazderski (und Gingrich) reagieren auf solche Vorhaltungen, indem sie das offizielle Wissen als gesteuerte Manipulation der Öffentlichkeit, mithin als Regierungspropaganda hinstellen. Sie öffnen damit das Tor zu einer Welt voller Verschwörungen, in denen Mutmaßungen, Vorwürfe und Gerüchte gleichberechtigt neben Informationen stehen. Zugleich beharren sie auf der Legitimität von Emotionen, die eben auch real seien. Die Motivationen derjenigen, die in die Verschwörungswelt abtauchen wollen, sollen somit gegen Zweifel immunisiert werden.

Damit wird nicht nur der Aufklärungsversuch der Journalisten unterlaufen: Das gesicherte Wissen, auf das diese sich berufen, droht im Meinungskampf zu zerrinnen. Außerdem erscheint der aufklärende Gestus selbst als problematisch: Man nehme – so der Vorwurf der Rechtspopulisten – die Gefühle der Leute nicht ernst, sondern versuche, sie mit fadenscheinigen und interessengeleiteten Argumenten vom Tisch zu wischen. Die Journalisten, die Aufklärer 14werden als Mitglieder einer politischen Kaste hingestellt, die den Kontakt zur Realität verloren habe. Der Kern des Vorwurfes lautet: Ihr verhöhnt uns und unsere Gefühle mit euren Fakten!

Dieser Essay versteht sich unbedingt als Aufklärung, aber in einem besonderen Sinne: Es geht mir darum, Gefühle ernst zu nehmen. Dabei hilft es wenig, Gefühlen vermeintliche oder echte Fakten entgegenzustellen. Statt Rationalität und Emotionalität in dieser Weise gegeneinander auszuspielen, soll hier Wissen über Emotionen präsentiert werden.10 Besonders informativ ist hierbei der historische Blick. Dieser erlaubt es, sowohl aktuelle mit vergangenen Gefühlskonstellationen zu vergleichen, als auch Entwicklungslinien in die Gegenwart zu erkennen.

Doch wie erforscht ein Historiker Gefühle und deren Geschichte? Allgemeiner: Was sind eigentlich Gefühle?11 In der psychologischen Emotionsforschung gibt es einen erhellenden Ansatz, der von der grundlegenden Einsicht ausgeht, Gefühlszustände als solche seien zunächst nicht eindeutig in Ekel, Hass, Zorn etc. zu unterscheiden – und Menschen könnten dies oft gar nicht oder zumindest nicht sofort.12 Was wir empfinden, wird in dieser Herangehensweise als Grundaffekt (»core affect«) beschrieben, wobei man grob zwischen stark/schwach und positiv/negativ unterscheiden kann. Dieser Grundaffekt existiert unabhängig von unserem Willen und lässt sich mit neurologischen Methoden messen. Gelegentlich bemerken wir diesen Affekt als Gestimmtsein, etwa als Übellaunigkeit, doch oft verbleibt er unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Aus einem bestimmten Grund, etwa weil eine geliebte Person auf15taucht, kann sich unsere Stimmung plötzlich ändern. Wir bemerken diesen Umschwung und müssen ihn interpretieren. Dafür verwenden wir erlerntes Wissen über Gefühle. So entsteht ein konkret benennbares Gefühl, etwa eines der Zuneigung oder Liebe.

Dieses Emotionsmodell hilft einen wichtigen Aspekt der »Zornpolitik« zu erklären, nämlich das Ressentiment. Ressentiment baut auf einer Art grollenden Grundstimmung auf, die unsere Weltsicht verdüstert, ohne dass uns das in jedem Moment klar wäre. Dieses Grollen kann uns als ausgebildetes Ressentiment bewusstwerden, etwa wenn wir uns benachteiligt fühlen. Außerdem kann es sich in bestimmten Situationen zu abgrenzbaren negativen Gefühlen wie Zorn, Ekel, Angst oder Hass auswachsen. Diese »Befreiung« aus dem Grollen wird von uns oft als lustvoll empfunden.

Gefühle basieren auf Übersetzungsleistungen, mit denen wir Stimmungsänderungen, ausgelöst durch bestimmte Gegenstände, Geschehnisse oder Personen, interpretieren. Dabei wenden wir das Wissen über Gefühle an, welches uns zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft zur Verfügung steht.13 Dieses Wissen ist zum Teil in unsere Körper eingeschrieben. Wir können nicht willkürlich darüber verfügen, und wir sind de facto oft nicht frei, in einer bestimmten Situation einfach anders zu fühlen.14

Für die Geschichtswissenschaft hat dieses Modell den Vorteil, keine universell gültige Definition davon vertreten zu müssen, wie Gefühle empfunden werden.15 Es bleibt möglich, dass Menschen zu anderen Zeiten und in anderen Gesellschaften bestimmte Gefühle anders erlebt haben. Oder sie möglicherweise gar nicht gefühlt haben. So jedenfalls kann man eine berühmte Studie der Ethnologin Jean L. 16Briggs (1929-2016) verstehen, der beim Leben und Überleben in einer nordamerikanischen Eskimofamilie aufgefallen war, dass die Inuit anscheinend keinen Zorn empfinden.16 Kritiker haben eingewandt, dass Gemeinschaften wie die Utku sehr wohl Zorn kennen, dessen Ausdruck aber erfolgreich zu unterdrücken gelernt haben.17 Nur: Wenn ein Gefühl beständig unterdrückt wird, kann man dann wirklich annehmen, dass es existiert?18 Denkbar ist durchaus, dass in einer konkreten Gesellschaft kein Wissen über Zorn – oder ein Wissen darüber, wie man lernt, Zorn nicht mehr zu empfinden – verfügbar ist, so dass ein bestimmter Wechsel der Grundstimmung auch nicht als Zorn interpretiert werden kann. In diesen Gesellschaften gibt es dann in einem gewissen Sinne keinen Zorn.

Eine solche »Zornpolitik« betont das Zusammenspiel von Rationalität und Emotionen – und nicht deren Gegensatz. Gefühle gegen Andere zu thematisieren bedeutet, aufzuzeigen, wie Vorurteile und Emotionen zusammenwirken. Kognitive Anteile – etwa Aussagen wie »Juden sind Fremde in unserer Kultur« – verschränken sich mit Verneinungsgefühlen: »Ich hasse Juden!« Vorurteile richten Gefühle auf bestimmte negativ besetzte Objekte aus.

In diesem Essay geht es daher um negative oder Verneinungsgefühle. Doch in welchem Sinne kann man überhaupt von einer Einheit dieser Gruppe von Gefühlen sprechen? Das ist in der Literatur durchaus umstritten. Die Differenz von Verneinungs- und Bejahungsgefühlen kann mit dem beschriebenen Ansatz des core affects beschrieben werden, da diese Grundstimmung qualitativ unter anderem durch die Dimension positiv/negativ charakterisiert ist. Hier tauchen allerdings bei genauerer Hinsicht Schwierigkeiten auf: 17Viele Verneinungsgefühle wie Zorn, Wut, wohl auch Hass werden von uns oft nicht negativ empfunden, jedenfalls nicht in der gleichen Weise wie Angst oder Ekel. Es gibt sogar gute Gründe, das Lusterleben am Zorn oder Hass zu betonen. Müsste man diese Gefühle also den positiven, liebenden Gefühlen zuschlagen? Das erscheint widersinnig, wenn man nicht psychoanalytischen Ambivalenzvorstellungen folgen möchte, wonach Hass und Liebe eng aufeinander bezogen sind und sich abwechseln.19

Die relative Einheit der Verneinungsgefühle kann also nicht auf der Erlebnisebene zu finden sein. Und dennoch bestätigen meine Untersuchungen diese Einheit: Was sie verbindet, ist das Ressentiment, eine Art negatives Grundgrollen. Der Phänomenologe Max Scheler (1874-1928) beschrieb dieses Ressentiment als »dauernde psychische Einstellung«, die entstehe, wenn das Ausleben von Gefühlen wie Hass oder Zorn systematisch verhindert werde.20 So verstanden, basiert das Ressentiment also auf einer Ohnmacht, Gefühle ganz zu fühlen.

Wie entstehen dann jedoch aus dem Grollen die einzelnen abgrenzbaren Verneinungsgefühle? Hierbei können Vorurteile, also besagte kognitive Aussagen über Objekte, eine wichtige Rolle spielen. Die Ausrichtung des Ressentiments auf nichterwünschte Objekte lässt echte Verneinungsgefühle wie Hass, Angst, Zorn etc. entstehen. Der Lustfaktor dieser Gefühle liegt dann darin, die Ohnmacht des Ressentiments überwunden zu haben und endlich »richtig« fühlen zu können.

Ich verstehe diesen Essay als politische Intervention eines Zeitgenossen und eines Fachhistorikers. Daher spreche ich 18häufiger als in wissenschaftlichen Abhandlungen üblich aus meiner eigenen Perspektive. Zudem verwende ich oft Sätze mit dem Personalpronomen wir. Dieses Wir soll auch jene Menschen umfassen, über die ich schreibe und die ich zu verstehen versuche. Ich möchte damit betonen, dass ich mich als Teil der Gesellschaft sehe, in der die Probleme auftreten, die ich im Folgenden behandeln werde. Es sind unsere Probleme, und wir sollten gemeinsam über sie nachdenken. Ich greife aber noch aus einem weiteren Grund auf dieses Personalpronomen zurück: An vielen Stellen versuche ich, das Alltagsverständnis von Gefühlen zu beschreiben, welches wir in unserer Gesellschaft teilen. Bei allen politischen Differenzen und Zerwürfnissen ist uns eine ganze Reihe kultureller und politischer Annahmen gemeinsam, unter anderem darüber, wie unsere Gefühle funktionieren. Den Zorn, den einige von uns auf Andere empfinden, lehnen andere als unberechtigt und schädlich ab; doch wissen wir alle, was dieses Gefühl meint. Um sich streiten zu können, muss man eine ganze Menge an Gemeinsamkeiten aufweisen. Daher ist das Wir in diesem Essay integrativ gemeint. In diesem Sinne möchte ich dieses Personalpronomen als Aufruf verstanden wissen, sich über die elementaren Fragen unserer gesellschaftlichen Gefühle zu streiten.

Es ist gar nicht so selten, dass historische Bücher von Problemen ausgehen, die uns in der Gegenwart besonders interessieren, und dann die entsprechende historische Entwicklung erläutern, um ein besseres und kritisches Verständnis unserer Lage zu ermöglichen. Ungewöhnlich an diesem Essay ist eher die besondere Zeitstruktur: Während ich auf den folgenden Seiten regelmäßiger und ausführlicher als oft üblich auf gegenwärtige Entwicklungen und Beispie19le zu sprechen komme, erzähle ich keine kontinuierliche Entwicklung der deutschen Diskriminierungsgeschichte von der Gegenwart aus zurück in die Vergangenheit. Mit Bedacht springe ich weiter zurück. Beharrlich kombiniere ich Gegenwartsbeispiele mit solchen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dabei ignoriere ich die Zeit des Nationalsozialismus, auch wenn das viele Leser und Leserinnen bei einem Buch über Emotionen und Vorurteile vielleicht überraschen wird.

Dafür gibt es drei Gründe: Erstens bin ich überzeugt, dass viele der gegenwärtigen Vorurteils- und Diskriminierungsphänomene interessante und wichtige Parallelen zu Entwicklungen im 19. Jahrhundert besitzen. Das liegt nicht zuletzt an einigen strukturellen Gemeinsamkeiten in der Diskriminierungsgeschichte, die unsere Gesellschaft mit der des späten 19. Jahrhunderts teilt. Die Jahre nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 waren von einem Prozess der inneren Staatsgründung geprägt, der viele Gemeinsamkeiten mit der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 aufweist. Die Jahrzehnte vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert sahen zudem die erste Globalisierung der deutschen und europäischen Wirtschaft. Wie die Staatsgründungsprozesse Fragen nach der Identität der Deutschen aufwarfen und -werfen, zeitigten die Globalisierungsschübe vergleichbare soziale, wirtschaftliche und politische Verwerfungen. In beiden Gesellschaften fand zudem ein einschneidender medialer Wandel statt: Während in der Gegenwart der Siegeszug der sozialen Medien die gesellschaftliche Kommunikation verändert, geschah dies im späten 19. Jahrhundert mit der Durchsetzung der Tageszeitungen. Und schließlich wurde bereits im Kaiser20reich über Minderheitenpolitik, also über die Integration von religiösen, ethnischen oder politischen Anderen massiv gestritten. Dass Deutschland eine multikulturelle, -religiöse und -ethnische Gesellschaft ist, war damals so umstritten wie heute – und genau wie heute änderte der Streit nichts an diesem Faktum.

Zweitens würde eine Erörterung der NS-Zeit unseren Blick auf diese Parallelen vernebeln, weil wir uns dann mit einer extremen Form der Diskriminierungs- und Vernichtungspolitik beschäftigen müssten, so dass sowohl die Beispiele aus dem 19. Jahrhundert als auch die aus der Gegenwart als vergleichsweise harmlos verblassen würden. Dabei bietet gerade die Diskriminierungsgeschichte des 19. Jahrhunderts hilfreiche Analogien zur Gegenwart.

Ich gestehe zu, dass durch dieses Vorgehen einer längst überwundenen Interpretation der NS-Geschichte als historischer Betriebsunfall Vorschub geleistet werden könnte. Es ist jedoch nicht meine Absicht, die vielen Entwicklungslinien in der deutschen Geschichte abzustreiten, die das NS-Regime ermöglicht haben. Auch kann jener pädagogische Impetus verloren gehen, der mit dem Hinweis auf den nationalsozialistischen Massenmord die gewaltsamen Konsequenzen von Vorurteilen und Diskriminierungen betont. Doch genau diese Pädagogik ist, drittens, in den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart überaus problematisch. Wie das Beispiel Höckes lehrt, unterlaufen die neuen Rechtspopulisten und -intellektuellen bewusst alle Versuche, sie mit Verweis auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu kritisieren. Solche Parallelen gelten ihnen als übertrieben und unangemessen, so dass sie sich ihren Anhängern zugleich als Opfer einer angeblich kontrollierten 21Medienlandschaft, einer agonalen Öffentlichkeit und einer interessengeleiteten Wissenschaft präsentieren können. Ihr Spiel der Viktimisierung will ich nicht mitspielen.

Die Analogien zur Zeit vor dem Nationalsozialismus hingegen können die Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Phänomenen befruchten. Sie bieten weniger radikale, aber dennoch bedenkenswerte Beispiele für das Zusammenspiel von Vorurteilen und Emotionen. Sie ermöglichen es, andere Entwicklungslinien aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu ziehen, mit denen sich die Tendenzen im rechten und rechtsradikalen Milieu überdies historisch tiefgründiger kritisieren lassen. Es ist keineswegs so, dass die Neue Rechte bei der Diskriminierung von Flüchtlingen und Muslimen traditionslos agieren würde. Gerade in ihrem beständigen Verweis auf die islamische Religion knüpft sie an ein Kulturverständnis an, mit dem im 19. Jahrhundert der Einfluss der jüdischen Religion beschrieben wurde. Der Ethnopluralismus der heutigen Neuen Rechten hat einen Vorläufer in Volksgeistkonzepten, die ab dem frühen 19. Jahrhundert vertreten wurden. Eine solche Tiefenbohrung kann ich jedoch nicht vornehmen, wenn ich ritualisiert auf den Nationalsozialismus verweise, um die Neuen Rechten historisch zu kritisieren. Denn wir dürfen nicht übersehen: Sie wollen sich von der Tradition des radikalen Rassismus distanzieren, um einen kaum weniger aggressiven Kulturalismus zu begründen.

Diese besondere Zeitstruktur des Textes birgt ein inhaltliches Problem: Ich vergleiche den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts mit gegenwärtigen Formen von Vorurteilen, insbesondere mit Ausländer- und Islamfeindlichkeit. Ein solches 22Vorgehen ruft in Wissenschaft und Öffentlichkeit schnell eine Reihe kritischer Stimmen auf den Plan.21 Einer der Hauptvorwürfe lautet, Antisemitismus basiere auf »hysterischen Ängsten, Erfindungen, Projektionen und Neidgefühlen«, während es bei der Islamfeindlichkeit eine reale Grundlage gebe: Genannt werden in der Regel der globale islamistische Terrorismus sowie diverse Praktiken (wie Kinderehen, Ehrenmorde etc.), die im Namen des Islams in manchen islamischen und – gelegentlich – auch in europäischen Ländern vorkommen.22

Nun ist Vergleichen als solches ein wissenschaftliches und sinnvolles Verfahren, auf dem das Erkennen solcher Unterschiede letztlich basiert. Es geht mir keineswegs darum zu behaupten, dass die Muslime die neuen Juden sind, als ob es heute keinen Antisemitismus – auch unter Muslimen – mehr gäbe, die Islamfeindlichkeit das einzige Problem der Gegenwart wäre und die beiden Phänomene insgesamt gleichzusetzen seien. Mir ist vielmehr daran gelegen, Unterschiede – auf einer emotionalen Ebene – herauszuarbeiten und zugleich einige Gemeinsamkeiten zu benennen.

Weichen wir solchen Fragen aus, weil die Unterschiede zwischen gegenwärtigen und vergangenen Vorurteilsstrukturen zu groß zu sein scheinen, droht uns eine Blindheit für Traditionslinien in der deutschen Diskriminierungsgeschichte. Schließlich ist es denkbar, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass aufseiten der Vorurteilssubjekte seit Langem bestimmte Strukturen vorhanden sind, welche die jeweiligen Abgrenzungen gegenüber Anderen befeuert haben – und dies noch immer tun. Aus diesem Grund werde ich in diesem Buch vor allem auf die Bedeutung von Ressentiments hinweisen, welche sowohl den Antisemitismus der Vergangenheit (und der Gegenwart) wie auch die heutige Islamfeindlichkeit stützen. Gleichzeitig ist es mir ein wichtiges Anliegen, emotionale Unterschiede zwischen den beiden Diskriminierungsformen zu betonen: Während Ekel und Hass im Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts zentrale Bestandteile bildeten, sind die beherrschenden Gefühle in der Islamfeindschaft Angst und Zorn.

Selbst wenn viele der angeführten Gegenwartsbeispiele aus diesem politischen Umfeld stammen, beschäftigt sich Zornpolitik nicht mit dem Rechtspopulismus, wie er gegenwärtig oft verstanden wird. Die populäre Sichtweise auf den Populismus – gerade auf den Rechts-, aber auch auf den Linkspopulismus – ist in vielerlei Hinsicht merkwürdig. Sie fußt auf einer fundamentalen Unterscheidung von Populisten und Volk: Gemäß dieser Lesart stehen sich die Populisten – eine oder mehrere Führungsfiguren, manchmal eine Partei oder Sammelbewegung – und Teile des Volkes gegenüber, welche die Populisten zu repräsentieren behaupten.

Häufig tauchen in den gängigen Beschreibungen der Po24pulisten dämonisierende Floskeln auf. Die Populisten erscheinen dann als meisterhafte Verführer, denen das einfache Volk – wie Lemminge vor dem Abgrund – folgt. Damit gesteht man den Populisten die strategische Fähigkeit zu, die Öffentlichkeit zu durchschauen und für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Gleichzeitig macht man sich über sie lustig, wie man insbesondere an der Berichterstattung über den US-Präsidenten Donald Trump (geb. 1946) sehen kann. Das Bild von Rechtspopulisten, das sich herausgebildet hat, schwankt merkwürdig zwischen Verteufelung und Lächerlichkeit: Sie erscheinen zugleich überaus mächtig und unendlich grotesk.

Angesichts dieser Debatten über Populismus sind viele Menschen zunehmend verunsichert, was demokratische Politik eigentlich meint. Manchmal neigt man sogar dazu, jede politische Forderung, welche auf die Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen versucht, als populistisch hinzustellen – als sei Popularität eine undemokratische Qualität. In solchen Argumentationen lauern elitäre Strategien, mit denen die politischen Ansprüche der Bevölkerung entwertet werden. Gerade dies ärgert nicht wenige Menschen derart, dass sie noch mehr Grund sehen, den Populisten zuzuhören. Teile der gegenwärtigen Debatte über Populismus drohen insofern, bestimmte Wählergruppen noch weiter von den etablierten Parteien zu entfremden und in die Arme der Populisten zu treiben.

In Anbetracht dieser Strategien der Dämonisierung, Verhöhnung und Entwertung liegt es eigentlich näher zu fragen, was die entsprechenden Teile der Bevölkerung überhaupt für die Lockrufe der Populisten empfänglich macht. Wenn man den Fokus von den Populisten und ihrer Rhe25torik ab- und den Bedürfnissen der Bevölkerung zuwendet, erschließen sich auch neue Blicke auf das Phänomen populistischer Politik. Plötzlich taucht die Frage auf, was Populisten und Teile des sogenannten Volkes eigentlich eint. Die Populisten erscheinen weniger als Meister der Verführung denn als Teilnehmer an einer gemeinsamen Politisierung, deren Kern, wie ich meine, vor allem ein emotionaler ist. Die Populisten verstehen es, auf diese Emotionalisierung der Politik zu reagieren, ihr Stichworte zu liefern, sie zu nutzen und zu verstärken. Aber auch sie selbst sind nur ein Teil einer Legitimationskrise der Politik, die sich als eine Krise der politischen Gefühle entpuppt.

Dass »Anführer« und »Volk« im Rahmen dieser emotionalen Politisierung viel weniger klar zu trennen sind, ergibt sich nicht zuletzt aus den Einsichten der Emotionsforschung. Das Bild eines strategisch vorgehenden Populisten, der die Emotionen im »Volk« anheizt, basiert letztlich auf der bereits erwähnten problematischen Unterscheidung von Rationalität und Emotion. Schließlich geht man dabei davon aus, dass der Populist Emotionen strategisch, das heißt rational kontrolliert einsetzen kann, während das »Volk« zum bloßen Fühlen verdammt ist. Wenn ein Populist wie Höcke in dem eingangs zitierten Beispiel eine emotionalisierende Rede hält, dann ist es wenig einleuchtend, ihn selbst von dieser Emotionsproduktion auszunehmen. Im Gegenteil: Auch auf ihn wirken seine Sätze emotionalisierend.23

Genau deshalb geht es in diesem Essay konsequent um beide Seiten. Gelegentlich beschreibe ich Personen, die wir als Stichwortgeber einer populistischen Bewegung und damit als Populisten bezeichnen könnten; gelegentlich be26handele ich Personen aus dem »Volk«. Wenn beide Seiten gemeinsam an einer spezifischen emotionalen Politisierung Anteil haben, ist es nur sinnvoll, auch beide zu Wort kommen zu lassen.