Inhalt

  1. Cover
  2. FOLGE 06: Sieben Gesichter des Todes
  3. Die Serie: Oscar Wilde & Mycroft Holmes – Sonderermittler der Krone
  4. Über den Autor
  5. Titel
  6. Impressum
  7. Kapitel 1
  8. Kapitel 2
  9. Kapitel 3
  10. Kapitel 4
  11. Kapitel 5
  12. Kapitel 6
  13. Kapitel 7
  14. Kapitel 8
  15. Kapitel 9
  16. Kapitel 10
  17. Kapitel 11

FOLGE 06: Sieben Gesichter des Todes

Eine Reihe von mysteriösen Gefängnisausbrüchen ruft Mycroft Holmes und Oscar Wilde auf den Plan. Sie befürchten, dass der Zirkel der Sieben für diese Aktionen verantwortlich ist, und schleusen die Hausangestellte Lindsay Coolidge in die Verbrecherorganisation ein. Alles scheint nach Plan zu laufen, aber dann bricht die Verbindung zur Agentin ab. Sie schwebt in höchster Lebensgefahr. Oscar Wilde muss sie retten und die Machenschaften des Zirkels ein für alle Mal stoppen …

Die Serie: Oscar Wilde & Mycroft Holmes – Sonderermittler der Krone

London, 1895: Ein mysteriöser Geheimbund bedroht die Sicherheit des britischen Königreichs. Mycroft Holmes, der Bruder des berühmten Meisterdetektivs, sieht dafür nur eine Lösung: Oscar Wilde! Der Schriftsteller, der bisher eher für sein ausschweifendes Leben und seine verbale Schlagkräftigkeit bekannt war, wird zum Sonderermittler der Krone.

Als eBook bei beTHRILLED verfügbar:

01. Zeitenwechsel

02. Der Nebel des Unheils

03. Der Todesrichter

04. Der Fall Homunculus

05. Hetzjagd in London

06. Sieben Gesichter des Todes

Über den Autor

Marc Freund wurde 1972 in Flensburg geboren und wuchs in Osterholz an der Ostsee auf. Neben dem Schreiben von Kriminalromanen arbeitet er hauptsächlich als Hörspielautor.

MARC FREUND

Sieben Gesichter des Todes

OSCAR WILDE & MYCROFT HOLMES

Sonderermittler der Krone

Folge 06

beTHRILLED

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Kapitel 1

Das fahle Licht fiel durch die schmale Öffnung in der Wand direkt auf das dünne Kissen, auf dem sein Kopf ruhte.

Richard Thorn hatte noch nicht geschlafen, obwohl es bereits auf zwei Uhr zuging. Er starrte von seiner Pritsche aus zu dem vergitterten Fenster hinauf, sah von Zeit zu Zeit dunkle Wolken vorbeiziehen und wünschte sich, er könnte mit ihnen reisen.

Ohnehin sehnte er sich manches herbei in seiner kleinen Zelle, die ihn einengte, ihm die Luft zum Atmen raubte. Er hatte Zeit, um nachzudenken. Darüber, wie sein Leben, das immerhin bereits sechsunddreißig Jahre andauerte, verlaufen war und an welchen Gabelungen er besser einen anderen Weg eingeschlagen hätte.

Aber er wollte sich nicht beschweren. Erst gestern hatte man ihm seinen Zellengenossen, einen Mann namens Lewis Illbridge, vom Hals und in eine andere Zelle geschafft. Der leberkranke Säufer war ihm unsagbar auf die Nerven gegangen, mit seinen kruden Ansichten über Politik und dem von ihm vorhergesagten Ausgang des nächsten Boat Race Oxford gegen Cambridge.

Seitdem war es still geworden. Hin und wieder waren Schritte auf den langen Korridoren zu hören, ein Wachmann rief etwas durch die eine oder andere Zellentür. Alles in allem Geräusche, die seit Thorns fast dreijährigem Aufenthalt im Gefängnis von Dartmoor zur vertrauten Gewohnheit geworden waren. Der Mann mit dem glatt rasierten Kinn, das ein markantes Grübchen in der Mitte aufwies, nahm all das kaum noch wahr.

Manches Mal ging ihm Annie durch den Sinn. Aber ihr Gesicht verblasste nach und nach. Thorn hatte ihretwegen kein schlechtes Gewissen, denn er war sich ziemlich sicher, dass die schmächtige junge Frau mit den unzähligen Komplexen ihn schon nach wenigen Wochen komplett vergessen hatte.

Thorn atmete tief durch und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Eine dunkle Wolke schob sich vor den hellen Vollmond und tauchte die Zelle für einen Augenblick in tiefe Dunkelheit.

In dem Gefangenen machte sich ein seltsames Gefühl breit. Etwas war anders als sonst. Er konnte es nicht näher beschreiben, dennoch war ihm, als stünde ein Ereignis bevor, als würde sein Leben eine unerwartete Wendung erfahren. Es war ein wundersamer Gedanke, wenn man berücksichtigte, dass Thorn noch nicht einmal die Hälfte seiner Strafe abgesessen hatte.

Während er auf seiner Pritsche lag und nachdachte, vernahm er ein leises Quietschen auf dem Korridor. So als würde sich jemand auf Gummisohlen leise in Richtung seiner Zelle bewegen.

Thorn schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich auf seine übrigen Sinne zu konzentrieren. Auf sein Gehör hatte er sich während seiner Laufbahn als Bankräuber und Tresorknacker stets verlassen können.

Jetzt schien alles ruhig. Und doch ahnte Thorn, dass jemand direkt vor seiner Zellentür geräuschvoll atmete. War derjenige etwa gerannt oder einfach nur aufgeregt?

Thorn war sich mittlerweile sicher, dass er Besuch erhielt.

Tatsächlich ertönte von der Tür her ein weiteres Geräusch. Ein Schlüssel wurde langsam, unendlich langsam, von draußen ins Schloss geschoben. Zwei Sekunden absolute Stille, dann wurde er herumgedreht und die Tür öffnete sich.

Thorn veränderte seine Position auf der Pritsche. Er spürte, dass etwas nicht stimmte, stemmte sich in die Höhe und blieb auf der Kante sitzen.

Seine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen. Ein hastiger Blick jagte zu dem Fenster hinauf. Noch immer wurde der helle Mond von einer Wolke verdeckt.

Jemand war bei ihm in der Zelle. Der Besucher drückte die Tür sanft ins Schloss, blieb stehen, orientierte sich und kam dann langsam näher.

Thorn hörte das Quietschen der Gummisohlen, die sich Schritt für Schritt auf ihn zubewegten.

Endlich riss die Wolkendecke auf. Das bleiche Licht ließ eine Silhouette erkennen. Eine hochgewachsene Gestalt stand wie ein Totenengel inmitten des kleinen Raums.

Thorn kniff die Augen zusammen. Er spürte beim Anblick der Gestalt, wie sein Herzschlag schneller wurde: Dies war keiner der üblichen Kontrollgänge. Wer auch immer zu ihm gekommen war, wollte nicht, dass andere von seinem Besuch erführen.

»Bist du bereit?«, fragte eine Stimme. Sie klang dumpf, als ob sie durch einen Schal gedämmt wurde.

Thorn hob den Kopf. »Bereit wofür?«

Für einen Augenblick herrschte absolute Stille im Raum.

»Man hat dir nichts gesagt?«

Thorn schüttelte den Kopf.

Die Gestalt trat einen Schritt näher. Thorn erkannte, dass sie in ein schwarzes Gewand gehüllt war. Der Rock eines Gefängnisgeistlichen. Nur, dass diese Priester für gewöhnlich keine schwarze Maske vor dem Gesicht trugen.

Thorn fröstelte es bei dem Anblick.

»Das hätte nicht passieren dürfen«, fuhr die Stimme fort. »Ich bin gekommen, um dir ein Geschäft vorzuschlagen.«

»Ein Geschäft?«, wiederholte Thorn leise. »Was soll das sein? Ich meine, sehen Sie sich doch mal hier drinnen um. Ich werde mit Ihnen kaum Geschäfte tätigen können.«

»Genau darum geht es«, sagte der Unheimliche. »Von dir wird erwartet, dass du dich in den Dienst einer Organisation stellst. Diese Organisation wird dir eine bestimmte Aufgabe zukommen lassen, die deinen Fähigkeiten und Fertigkeiten entspricht. Erfüllst du diese Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit, erhältst du als Gegenleistung die Freiheit.«

»Was ist das für eine Aufgabe?« Thorn spürte plötzlich ein Kribbeln in seinen Händen, wie immer, wenn sich in seinem Leben etwas Entscheidendes tat.

»Du wirst es früh genug erfahren«, sagte der Schwarzgekleidete. »Du sollst das tun, was du früher schon erfolgreich getan hast.«

»Einbruch und Diebstahl also«, vermutete Thorn und wiegte den Kopf hin und her. »Aber wie genau soll das funktionieren? Ich meine, ich sitze hier drinnen fest, und Sie werden mich kaum hier herauslotsen können.«

»Genau aus diesem Grund bin ich hier«, antwortete der falsche Priester. »Aber ich muss dir zuvor das Versprechen abnehmen, dass du unserer Organisation dienen wirst. Und zwar bedingungslos.«

Thorns Blick wanderte zwischen seinem Besucher und dem vergitterten Fenster hin und her.

»Ich mache alles, wenn ich dafür aus diesem Dreckloch herauskomme.«

»Sehr gut«, drang es hinter der Maske hervor. »Dann haben wir also eine Vereinbarung miteinander.«

Thorn zog die Stirn in Falten. »Einen Moment noch. Sie schaffen mich hier raus, ja? Und nachdem ich getan habe, was Sie von mir verlangen, bin ich wieder auf freiem Fuß. Aber … man wird mich suchen. Ganz Scotland Yard wird hinter mir her sein, wenn man feststellt, dass meine Zelle leer ist.«

»Die Organisation, von der ich sprach, ist mächtig. Und sie wird mit jeder Woche stärker. Mit jedem neuen Rekruten, der sich in unseren Dienst stellt. Niemand wird dich finden, und niemand wird dich behelligen. Du wirst ein freier Mann sein. Und wer weiß, vielleicht wirst du sogar über deine Aufgabe hinaus …«

Der Schwarzgekleidete brach ab, als aus einer der Zellen nebenan ein langes Wehklagen ertönte.

»Das ist der alte George Malloway«, erklärte Thorn gleichgültig. »Er ruft jede Nacht nach seiner Mutter.«

Der falsche Priester antwortete nicht. Stattdessen trat er zur Tür hinüber und vollführte eine einladende Geste. »Folge mir, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Vorsichtig erhob sich Richard Thorn von seiner Pritsche. Langsam näherte er sich dem Fremden, während seine Handflächen weiter kribbelten, sodass er versucht war, sie am derben Stoff seiner Häftlingskleidung zu reiben.

»Was muss ich tun?«, fragte er, als er den Unheimlichen erreicht hatte.

»Folge mir einfach«, gab der Maskierte zurück und öffnete die Tür beinahe geräuschlos.

Nacheinander schlüpften sie auf den menschenleeren Korridor hinaus, in dem nur eine Notbeleuchtung für die Nacht brannte.

Wie ein Schatten huschte der Mann im schwarzen Gewand über den Flur.

Thorn folgte ihm, bis sie zu einer vergitterten Zwischentür kamen. Die Augen des Häftlings wurden groß, als er den Schlüsselbund erkannte, den der andere aus seinem Gewand zog. Der Fremde trug schwarze Handschuhe, die das Klirren der Schlüssel dämpften.

Eine kurze Bewegung folgte, und im nächsten Augenblick schwang die Tür wie von Zauberhand auf.

Nacheinander traten die beiden Männer hindurch und folgten dem Verlauf des Korridors für einige weitere Meter, bis sie eine Treppe erreichten.

Thorn wollte vorangehen, doch der Schwarzgekleidete packte ihn am Arm. »Noch nicht.«

Der falsche Priester beugte sich nach vorne und spähte durch die beiden Sichtschlitze seiner Maske nach unten. Dann gab er seinem Begleiter ein Zeichen.

So lautlos wie möglich hasteten sie die Stufen hinunter, bis sie den tiefer gelegenen Korridor erreichten. Von dort ging es durch eine weitere Tür, die Thorns Befreier genauso spielerisch öffnete wie die erste, hinüber in den angrenzenden Gebäudekomplex. Dieser beinhaltete, das wusste der Sträfling, den breit angelegten Küchentrakt.

Wieder hielt der Unheimliche Thorn am Arm fest. Mit der rechten Hand deutete er auf eine breite Flügeltür auf der rechten Seite.

»Du musst nichts weiter tun, als durch diese Tür zu gehen. Dort wird man sich um dich kümmern.«

Thorn nickte. »Ich habe verstanden. Und was ist mit Ihnen?«

Die emotionslosen Augen hinter der Maske musterten ihn. »Es wäre nicht von Vorteil, wenn ich diesen Weg nehmen würde.« Der Fremde ließ ein heiseres Lachen folgen, das Thorn einen Schauer über den Rücken jagte.

»Viel Glück«, fuhr der Mann im schwarzen Gewand fort. »Und denk immer daran, dass die Organisation für dich da ist, wenn du dich ihrem Willen unterordnest.«

»In Ordnung«, gab Thorn entschlossen zurück. Unsicher bewegte er sich den Gang entlang, der ihn zu der breiten Tür führen würde. Als er sich noch einmal umdrehte, war der Unheimliche verschwunden.

Thorn atmete tief durch, als er auf die Tür zutrat und den Griff herunterdrückte, um sie zu öffnen. Leise quietschend schwang sie ihm entgegen. Thorn öffnete nur so weit, wie er benötigte, um durch den Spalt schlüpfen zu können. Auf der anderen Seite empfing ihn eine angenehme Kühle, die den dünnen Schweißfilm auf seiner Haut zu trocknen begann.

Vor ihm lag der Küchentrakt. Der einfache Betonfußboden war stellenweise noch feucht von der letzten Reinigung mit dem Wasserschlauch. Der riesige Raum war menschenleer. Eine einzelne Öllampe verbreitete ein dämmriges Licht.

»Ist hier jemand?«, fragte Thorn leise, doch er erhielt keine Antwort.

Mit langsamen Schritten ging er weiter, passierte die große Kochstelle in der Mitte des Raums und bewegte sich auf einen Durchgang zu, der komplett im Dunkeln lag.

Verdammt, was sollte er tun? Hätte sich dieser Kerl in Schwarz nicht etwas präziser ausdrücken können?

Thorn fegte die Gedanken beiseite. Er musste jetzt einen klaren Kopf behalten, wenn er dieses verfluchte Dartmoor hinter sich lassen wollte. Eine Chance wie diese würde sich mit Sicherheit kein zweites Mal eröffnen, also musste er sich jetzt zusammenreißen.

Er beschleunigte seine Schritte und trat auf den Durchgang zu, der in einen weiteren Bereich der Küche führte.

Thorn glaubte, sich daran zu erinnern, dass hier das schmutzige Geschirr gespült wurde. Hier wurden auch die Abfälle der Küche entsorgt. Und genauso roch es hier drinnen auch.

Mit einem Mal entzündete direkt neben ihm jemand ein Streichholz.

»Ist er es?«, fragte eine dünne Stimme.

»Er ist es«, antwortete eine andere.

Thorn fuhr auf der Stelle herum und erkannte schemenhaft zwei Gestalten im Dunkeln. Eine davon presste ihm einen stinkenden Lappen vor Mund und Nase, der ihm innerhalb von Sekunden die Sinne raubte.

Thorn erwachte, als ihm jemand einen Schwall eiskalten Wassers ins Gesicht und über den Oberkörper schüttete. Er schrie auf und war mit einem Satz auf den Beinen. Er wankte, fasste sich an den Kopf.

Für einen Moment wusste er nicht, wo er war. Er wähnte sich in seiner Zelle, hinter ihm die harte Pritsche und die raue Gefängniswand. Doch das stimmte nicht. Die Umgebung hatte sich verändert. Er lag zwar wiederum auf einem harten Lager, doch die Wände, die ihn umgaben, waren aus Holz. Auch roch es anders. So nach …

Thorn schnupperte instinktiv. Der Geruch nach Wasser und Algen drang in seine Nase. Auch glaubte er, unter seinen Füßen ein leichtes Schwanken wahrzunehmen. Er befand sich auf einem Schiff.

Und plötzlich waren die Erinnerungen an den ganz in Schwarz gekleideten Mann wieder da. Der Kerl hatte ihn aus seiner Zelle in Dartmoor befreit. Er war durch die Korridore gelaufen, bis … bis er gar nichts mehr wusste.

Fest stand nur, dass er sich nicht mehr im Gefängnis befand. Insofern hatte der geheimnisvolle Fremde Wort gehalten.

Thorn öffnete die Augen und blinzelte das Wasser weg. Das unscharfe Bild, das sein Blick zu erfassen versuchte, gewann schnell Konturen. Er war wieder der Alte, zwar mit einem gewissen Brummen im Schädel, aber zumindest wieder bei klarem Verstand. Und er ahnte, dass der ihm hier von großem Nutzen sein konnte.

Unmittelbar vor ihm stand ein dürrer Kerl, ausgemergelt, nur mit einer Hose und einem schmutzigen Unterhemd bekleidet, das an mehreren Stellen gerissen war. Der Mann stand leicht vornübergebeugt, den Zinkeimer noch immer in der Hand. Lauernd, wartend auf eine Reaktion des neuen Gastes.

»Wo bin ich hier?«, fragte Thorn mit krächzender Stimme.

»Du wirst bereits erwartet«, sagte der Dürre, ohne auf die Frage einzugehen. »Sie wollen dich sehen. Besser, du beeilst dich.«

Thorn blinzelte. Insgeheim stellte er sich die Frage, wer ihn außerhalb des Gefängnisses erwarten mochte. Für einen Augenblick dachte er daran, die Frage laut zu stellen, doch er ahnte, dass er aus dem Knochigen keine Information herausbekommen würde.

Thorn strich sich das etwas zu lang geratene Haar zurück und nickte. »Also schön, ich bin so weit.«

Der Dürre stellte den Zinkeimer ab und wirkte zufrieden. Er trat zur Tür hinüber und winkte seinem Gast, ihm zu folgen.

Thorn streckte sich und fasste neuen Mut. Ja, er spürte sogar ein Gefühl der Neugier. Wer unternahm solche Anstrengungen und ging ein solches Risiko ein, nur um ihn aus Dartmoor zu holen?

Und vor allem: wozu?

Thorn duckte sich, als er den engen Durchgang passierte und sein Zimmer verließ. Er folgte dem Hageren in einen Gang, von dem einige Türen abzweigten. Möglich, dass es sich hier um die Mannschaftsunterkünfte handelte.

Thorn ertappte sich bei dem Gedanken, dass er gerne gewusst hätte, wo sie sich befanden. Möglicherweise überquerten sie gerade einen der großen Ozeane. Ein Gefühl des Aufbruchs kam ihn ihm auf, eine pure Lebensfreude. Er widerstand dem Impuls, nach oben an Deck zu laufen, sich an die Reling zu stellen und seine Lungen mit frischer Luft aufzufüllen, die er in Dartmoor so schmerzlich vermisst hatte.

Stattdessen fügte er sich und trottete dem anderen hinterher, bis dieser an eine wuchtige Eisentür gelangte, die mit einem Rad versehen war.

Der Matrose klopfte dreimal laut und vernehmlich an, wartete zwei Sekunden und machte sich dann an dem Öffnungsmechanismus zu schaffen. Die Tür sprang ein Stück weit auf.

Thorn reckte den Hals, um einen Blick dahinterzuwerfen, doch war nicht das Geringste zu erkennen.

Der Dürre drehte sich zu ihm um und lächelte ihn mit seinen schiefen Zähnen an. »Bitte einzutreten. Und ich rate Ihnen gut, keine Dummheiten zu machen. Sie wären ein toter Mann, noch ehe Sie bis drei zählen könnten.«

Thorn trat an den Mann heran und blickte ihm fest in die Augen. »Ich will noch ’ne Weile leben.«

»Gute Entscheidung«, sagte der andere und deutete auf die Schwelle, vor der der Bankräuber stehen geblieben war. »Sehen Sie das da? Diese Stelle wird für Sie alles verändern. Treten Sie hinüber und Ihr Leben wird nie wieder das alte sein. Sind Sie dazu bereit?«

Thorn hielt den Blickkontakt stumm aufrecht. Dann wandte er sich zur Tür und setzte seinen Fuß über die Schwelle.

Die Tür schloss sich hinter ihm. Ein schweres Krachen.

Thorn hörte, wie das Rad von außen wieder herumgedreht wurde. Der Rückweg wurde ihm versperrt. Aber vielleicht brauchte er ihn nicht mehr.

Im Innern des überraschend großen Raums herrschte dämmriges Licht, das Thorn blinzeln ließ. Auch wenn er kaum etwas erkennen konnte, spürte er, dass er nicht allein war.

Dann flammte von irgendwo aus dem hinteren Teil des Raums ein Licht auf. Eine Kerze wurde entzündet. Sie ließ ihren flackernden Schein geisterhaft über die Wände tanzen.

Thorn zuckte heftig zusammen, als er die sieben Gestalten erkannte, die auf hohen Stühlen hinter Tischen saßen, die zu einem Halbkreis formiert worden waren.

Sieben Augenpaare starrten ihn an. Die Blicke lasteten schwer auf ihm.

Thorn konnte nicht erkennen, um wen es sich bei den Gestalten handelte. Sie alle trugen lange Kapuzenmäntel, den Kutten von Mönchen nicht unähnlich.

Die Kopfbedeckungen reichten ihnen bis weit in ihre Gesichter. Hier und da war die Spitze eines Kinns zu erkennen, nicht mehr.

Es herrschte Stille. Richard Thorn traute sich nicht, etwas zu sagen. Er fühlte sich, als sei er einem hohen Gericht vorgeführt worden.

Unwillkürlich trat er einen Schritt vor, auf die Gestalten zu. Er breitete die Arme in einer ratlosen Geste aus, öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

»Halt«, durchbrach eine schneidende Stimme die Ruhe. Eine der Gestalten hob die rechte Hand und bedeutete dem Besucher, stehen zu bleiben und zu schweigen.

Thorn gehorchte. Ein schwerer Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet. Er spürte den Drang, sich zu räuspern, aber nicht einmal das wagte er im Augenblick.

»Richard Thorn«, fuhr die Stimme in dieser Sekunde fort. »Sechsunddreißig Jahre alt, ledig, geboren in Greenwich, London, England.«