In starken Bildern und leisen Tönen erzählt der Roman die Geschichte Laras, die seit früher Kindheit zwischen ihren gehörlosen Eltern und der Umwelt dolmetschen musste. Als sie von ihrer Tante eine Klarinette geschenkt bekommt und so in die Wunderwelt der Musik eingeführt wird, nimmt ihr langsamer Abschied von den Eltern und der Kindheit seinen Anfang.
Es ist die Geschichte einer schwierigen Abnabelung von der Welt der Eltern und der Kindheit, in der die Autorin auch den tragischen und komischen Seiten des Lebens und den Gefühlsmomenten eines Wimpernschlags ihren Raum lässt.
Caroline Links außergewöhnliches Filmdebüt erhielt eine Oscar-Nominierung und den Bundesfilmpreis 1997.
Über Caroline Link
Caroline Link, 1964 in Bad Nauheim geboren, studierte an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film (HFF). Zuvor war sie langjährig als Skript- und Regieassistentin bei diversen Fernseh- und Filmprojekten tätig. Ihr HFF-Abschlußfilm Sommertage wurde 1990 bei den Hofer Filmtagen mit dem Kodak-Förderpreis ausgezeichnet. Neben der Betreuung von eigenen Produktionen schrieb Caroline Link auch Drehbücher zu Krimiserien. 1992 begann sie mit den Recherchen für den Kinoerfolg Jenseits der Stille.
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Caroline Links
Jenseits der Stille
Arno Meyer zu Küingdorf
nach dem Drehbuch
von Caroline Link
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Jenseits der Stille
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
Bildteil
Impressum
Ein Film von Caroline Link
Darsteller
Lara Sylvie Testud
Martin Howie Seago
Kai Emmanuelle Laborit
Clarissa Sibylle Canonica
Gregor Matthias Habich
Tom Hansa Czypionka
Lara als Kind Tatjana Trieb
Stab PRODUKTIONSLEITUNG Claudia Loewe • HERSTELLUNGS-
LEITUNG Uli Putz • KOSTÜMBILD Katharina von Martius•
MASKE Heidi Moser-Neumayr • TON Andreas Wölki •
MUSIK Niki Reiser • SCHNITT Patricia Rommel • SZENEN-
BILD Susann Bieling • KAMERA Gernot Roll •
DREHBUCH Caroline Link, Beth Serlin • PRODUZENTEN
Thomas Wöbke, Jakob Claussen, Luggi Waldleitner •
REGIE Caroline Link
Eine Poduktion von CLAUSSEN+WÖBKE FILMPRODUKTION und ROXY FILM –Luggi Waldleitner, co-produziert von
Bayerischer Rundfunk, Süddeutscher Rundfunk, ARTE,
Schweizer Fernsehen DRS. Gefördert von FilmFernsehFonds Bayern, Filmboard Berlin-Brandenburg und dem Bundesministerium des Innern
Die Original-Filmmusik ist im Handel erhältlich
Schon früh mußte ich ein großes Mädchen sein. Ich mußte über Dinge reden, die ich nicht verstand, und ich hatte mit Problemen zu kämpfen, die gleichaltrigen Mädchen fremd waren. Ich habe mich immer bemüht, meine Eltern zu verstehen, doch wenn ich nun zurückblicke, so muß ich zugeben, daß wir auch große Schwierigkeiten miteinander hatten.
Als ich älter wurde, fiel es mir oft nicht leicht, meinen Vater zu verstehen. Ich hätte mir in manchen Situationen mehr Mitgefühl von ihm gewünscht. Ich wußte, daß er es nicht einfach hatte, aber sollte ich seinetwegen immer mit einem schlechten Gewissen herumlaufen?
Es war nicht meine Schuld, daß die Dinge waren, wie sie waren. Es war natürlich auch nicht die Schuld meines Vaters oder meiner Mutter, es war Schicksal. Erst nach und nach begriff ich, mit welchen Schwierigkeiten meine Eltern kämpfen mußten. Von da an sah ich auch das Kind in ihnen und verstand ihre Probleme zusehends besser. Ich glaube, Tante Clarissa sagte einmal, das Leben sei ein langes Gespräch. Und ich glaube, sie hat recht. Es ist sehr wichtig, mit dem anderen zu reden, auch wenn es einem noch so schwerfällt und man sich noch so sehr gestritten hat.
Als heranwachsendes Mädchen konnte ich sehr wenig von meinen Erlebnissen und Gefühlen mit meinem Vater teilen. Er kam mir alt vor, wie versteinert. Jetzt aber, nur ein paar Jahre später, kann ich sagen, daß wir beide voneinander viel gelernt haben, und ich entdecke immer wieder neue, überraschende Seiten an ihm.
Ich bin nun Anfang zwanzig. Inzwischen versucht mein Vater, meine Wünsche und Ziele anzunehmen, und ich bin glücklich und froh darüber – denn in den Momenten, in denen es keine Verbindung zwischen unseren Welten gab und jeder meinte, seinen Kopf durchsetzen zu müssen, fühlten wir uns beide furchtbar allein.
Aber ich will nicht vorgreifen, sondern zunächst von meiner Kindheit erzählen. Ich heiße Lara Bischoff. Als ich acht Jahre alt war, hatte ich lange blonde Haare, die Haselnußaugen meiner Mutter und die stolze Nase meines Vaters. In meinem Kinderzimmer fühlte ich mich zu Hause. Ich hatte viele Puppen und ein weißes, leicht ramponiertes Lamm, das ich besonders liebte. Wir wohnten in einem gelben Haus, das gleich neben hohen Hopfenfeldern in der Nähe der Stadt Mainburg lag. Das Haus hatte uns Großvater zu meiner Geburt geschenkt, als vorgezogenes Erbe sozusagen – Großvater war reich. Ich schlief im Erdgeschoß, Papa und Mama oben. Angst hatte ich nicht, ich wußte sie in meiner Nähe.
Bevor ich einschlief, lag ich oft wach und lauschte den Geräuschen unseres Hauses. Ein Wasserhahn im Bad tropfte, die Waschmaschine rumpelte gehorsam vor sich hin, die Treppe knarrte leise, sobald jemand sie betrat, und wenn der Wind wehte, hörte ich draußen die Bäume miteinander sprechen. Selten war es vollkommen still. Das Leben um mich herum verhielt sich nie geräuschlos. Und wenn alles um mich schwieg, dann hörte ich meinen eigenen Atem, das Rascheln meines Pyjamas auf der Bettdecke, oder mein Herz klopfte in meinen Ohren. Ich registrierte alles sehr genau, was um mich herum passierte. Ich war kein kleines Kind mehr, sondern ein sehr selbständiges Mädchen, dessen Neugier unersättlich war.
Eines Nachts weckte mich ein dumpfes Grollen und ließ mich hochfahren. Ich sah aus dem Fenster. Schwarze, geballte Wolken hatten den Mond und die Sterne verschluckt. Ein schwacher Blitz durchzuckte die Nacht. Ich kroch zurück ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf in der Hoffnung, das Gewitter würde an unserem Haus vorbeiziehen. Doch ich hatte mich getäuscht. Es kam genau auf uns zu. Das Grollen des Donners wurde lauter, es hörte sich an, als ob ein großer Mann im Himmel wütend mit seiner Faust gegen eine alte Holztür geschlagen hätte. Ich bekam Angst. Ich lugte unter meiner Bettdecke hervor. Ein Blitz schoß durch die Nacht, tauchte sie in gleißendes Licht, das in mein Zimmer schwappte. Lange Schatten fielen über mich her. Sie krochen durch mein Zimmer, über mein Bett. Der Baum vor meinem Fenster streckte seine Äste nach mir aus. Wieder schlug der Mann im Himmel gegen die ächzende Pforte. Das Fenster in meinem Zimmer klirrte. Ich wollte tapfer sein, doch nach dem nächsten Blitz, dessen kaltes Licht mein Reich in ein Geisterhaus verwandelte, hielt ich es nicht mehr aus.
Ich sprang aus dem Bett und rannte mit meinem Lamm unter dem Arm durch unseren Flur, die Treppe hinauf und schlüpfte in das Schlafzimmer meiner Eltern. Sie schliefen tief, obwohl draußen die Erde unterzugehen schien. Mein Vater Martin lag auf der rechten Seite und meine Mutter Kai auf der linken. Ich rüttelte meinen Vater an der Schulter, bis er wach wurde. Er knipste seine Nachttischlampe an, und ich sah seinen verständnislosen Blick.
Dies war einer der Momente, in denen mir klar wurde, wie schwer es für uns war, einander zu verstehen. Ich befürchtete, daß unser aller Ende gekommen schien, und er lag ruhig in seinem Bett. Ich erklärte ihm in schnellen Gesten, was draußen los war. Ich beschrieb ihm mit meinen kleinen Händen das furchtbare Gewitter, den Mann, der mit seiner Faust an die Pforte schlägt, das unheimliche Licht der Blitze. Langsam verstand er, daß draußen der Teufel los war; er zog mich mit seinen wunderbaren großen Händen ins Bett.
Meine Eltern hatten von all dem Tosen vor unserer Tür nichts gehört. Nicht, weil sie nicht wollten, sondern weil sie nicht konnten.
Sie waren beide taub, gehörlos.
Ich lag zwischen meinen Eltern, meine Angst war fast verflogen. Ich fühlte mich sicher und geborgen. Wir redeten noch ein bißchen miteinander in dieser Sprache, die es Menschen wie meinen gehörlosen Eltern ermöglicht, mit den Händen alles, was sie denken und fühlen, auszudrücken. Vater sagte mir, wie wichtig ich für sie sei, denn durch mich würden sie hören – ich war stolz darauf, daß ich ihre Verbindung zur Welt der Hörenden war. Das Donnern hatte ein wenig nachgelassen.
Mein Vater war müde. Er hatte wieder einen anstrengenden Tag in seiner Druckerei gehabt. Ich verbannte das Gewitter aus meinen Gedanken und gab mich diesem liebevollen, brummenden Geräusch hin, das tief aus der Brust meines Vaters kam.
Es war mir so vertraut, daß mich der Schlaf übermannte.
Mit acht Jahren beginnt man seine Eigenständigkeit zu entdecken und zu erproben. Ich konnte schon ein paar Gerichte kochen, ich wußte, wie man das Telefon bedient, wie man die Waschmaschine anstellt, wo Mama die Schokolade versteckte, und die Kleider, die ich tragen wollte, suchte ich mir selbst aus.
In bestimmten Punkten wußte ich mehr über meine Eltern als andere Kinder. Ich war ihre Dolmetscherin, ihre Sprache und ihr Gehör. Es ist schwer oder sogar unmöglich, sich vorzustellen, was es bedeutet, nicht zu hören: kein Gefühl für die eigene Lautstärke entwickeln zu können, keinen Unterschied zwischen Stille und Ruhe zu empfinden, keine Kontrolle über die Stimme, die Sprache zu haben. Nicht hören zu können ist keine Behinderung auf den ersten Blick, und doch ist ein Gehörloser in vielen Situationen auf seine Mitmenschen angewiesen. Es ist eine Schranke, die zwischen zwei Menschen steht. Ebensosehr wie der Mensch Essen und Trinken braucht, braucht er auch die Kommunikation, den Austausch mit anderen.
Geräusche waren für mich nie einfach nur Geräusche. Ich übersetzte sie in Bilder. Wenn es stürmte, dann sprachen die Bäume miteinander, hantierte Mutter mit einem Küchenmixer, so gruben Männer einen Tunnel unter unserem Haus, holte Papa seinen Bohrer heraus, so glaubte ich Flugzeuge starten zu hören. Papa produzierte eine Menge Lärm, ohne es zu wissen.
Er hatte zum Beispiel die Angewohnheit, beim Essen zu schlürfen, besonders beim Frühstück, wenn er Cornflakes aß. Es war meine Aufgabe, ihm zu sagen, wenn er zuviel Lärm machte. Ich erklärte ihm dann immer, daß er wie ein Fisch klänge, der durchs Wasser schlabbert, während er mich verdutzt aus seinen kleinen Augen ansah und vorgab, mich nicht zu verstehen.
Mama und Papa waren sehr unterschiedlich. Solange ich denken kann, trug mein Vater einen rotblonden Vollbart, der ihm gut stand. Ich habe ihn mehrmals gebeten, ihn doch abzunehmen, aber er wollte sich nicht von ihm trennen. Mein Vater war eher streng, in sich gekehrt, verschlossen, obwohl auch er fröhlich sein konnte und einen besonderen Humor hatte, vor allem, wenn er mit mir spielte. Ein spezielles Vergnügen waren unsere Pantomimen, bei denen ich ihm das Geräusch fallender Blätter oder das Gurgeln des Wassers zu erklären versuchte.
Meine Mutter war lebhaft und temperamentvoll, sie lachte gerne, und man sah ihr immer sofort an, wie es ihr ging. Wenn sie einmal traurig war, hielt das nie lange an.
Obwohl meine Eltern nur über die Zeichensprache miteinander kommunizierten, verlief auch das nicht in aller Stille. Die Gebärdensprache ist sehr lebhaft, man klopft sich auf die Brust, schlägt die Hände zusammen oder streicht sich über den Ärmel. Selten stritten sie, und wenn, dann hörte ich, wie ihre Hände heftig aneinander klatschten.
Am Morgen nach dem schrecklichen Gewitter rief meine Großmutter an. Wir saßen in der Küche beim Frühstück. Meine Mutter hatte ihren Bademantel angezogen, sie war schwanger. Sobald mein Vater und ich das Haus zur Arbeit und zur Schule verließen, legte sie sich wieder hin. Ich hielt oft meinen Kopf an ihren prallen Bauch, und dann konnte ich das kleine Kind hören und fühlen, wie es mit den Füßen strampelte. Jetzt stand meine Mutter hinter mir, und ich genoß es, wie sie mir liebevoll die Haare bürstete.
Ich sprang auf, als die bunte Signallampe neben der Küchentür aufgeregt flackerte. Diese Lichter hatten wir überall in unserem Haus installiert, nur auf der Toilette nicht, denn dort sollte man, wie mein Vater meinte, seine Ruhe haben. Ich redete mit Oma über ihre Rosengestecke, die wieder vertrocknet waren, und ich mußte mich bemühen, ernst zu bleiben, denn Papa grinste, und Mama meinte, Oma solle Aspirin ins Blumenwasser tun.
Eltern können manchmal nützlich sein!
Großmutter lud uns zum Weihnachtsfest ein. Wie sollte ich darauf reagieren? Vater hatte keine Lust, mit seiner Mutter zu sprechen, und ich glaube, der Gedanke, Weihnachten bei ihr zu verbringen, stimmte ihn nicht gerade froh. Ich dagegen liebte die Feste bei meiner Großmutter. Also sagte ich einfach zu, ohne meine Eltern vorher zu fragen. Da ich in die Schule mußte, gab ich den Hörer meiner Mutter. Sie konnte natürlich nicht direkt mit meiner Oma sprechen, aber neben unserem Telefon stand ein Schreibtelefon mit einem Monitor, das wie eine Schreibmaschine aussah. Meine Mutter gab das, was sie sagen wollte, auf der Tastatur ein, und auf dem kleinen Bildschirm erschien nach kurzer Zeit die getippte Antwort meiner Großmutter. Früher gab es solche Geräte nicht. Sie waren eine große Erleichterung für meine Eltern. Meine Großmutter, die ja nach meiner Zusage von unserem Besuch ausging, besprach mit meiner davon überraschten Mutter die Weihnachtsvorbereitungen.
Mein Vater war ein ausgesprochen geschickter Mann. Wir hatten an unserem Haus eine kleine Werkstatt, einen flachen Anbau mit einem vielfach unterteilten Fenster, an dem sich im Winter kleine Eisblumen bildeten. Ich war gern in Vaters Werkstatt. Wenn es seine Arbeit nicht allzusehr störte, saß ich auf seiner Werkbank und schaute ihm zu, oder ich beschäftigte mich an einem großen Tisch mit meinen Schularbeiten.
Ging etwas im Haushalt kaputt, so nahm er es in seine großen Hände, besah es sich genau mit seinen braunen Augen, drehte und wendete es und machte sich dann langsam und geduldig ans Werk. Zum Beispiel produzierte unser Toaster schwarze Scheiben, und mein Vater gab keine Ruhe, bis er ihn repariert hatte. Er vertiefte sich ganz in seine Arbeit, und ich glaube, daß er dann glücklich war. Er ging den Dingen auf den Grund. Er war ein altmodischer Mensch, er warf ungern etwas in den Müll, das man noch reparieren konnte, und selbst an einem Radio, das er nie würde hören können, bastelte er so lange herum, bis es wieder seinen Dienst tat. Ich half ihm bei der genauen Einstellung, indem ich ihm sagte, wann es am besten klang, aber sicherlich hätte er es auch ohne meine Hilfe geschafft, denn er hatte ein außerordentliches Gespür für feinste Vibrationen jeder Art.
Er hatte keine einfache Kindheit. In seiner Familie war er der einzige, der nicht hören konnte. Seine Eltern haben die Gehörlosigkeit ihres Sohnes lange Zeit nicht wahrhaben wollen. Damals hielt man die Gebärdensprache für etwas, das eher zu einem Clown gehörte. Kinder, die nicht hören konnten, wurden gezwungen, sich der Welt der Hörenden anzupassen. Mein Vater sollte sprechen lernen, was ein äußerst mühseliges und kaum von Erfolg gekröntes Unterfangen war. Seine Eltern lehnten es ab, mit den Händen mit ihm zu reden, und so zog er sich immer mehr in seine eigene Welt zurück. Nachdem er die Gebärdensprache gelernt hatte, war niemand von der Familie in der Lage, mit ihm zu kommunizieren. Erst als seine Schwester auf die Welt kam, brachte er ihr heimlich ein paar Gesten bei. Seine Ohnmacht, sich mitteilen zu können, ließ ihn manchmal aufsässig werden, doch damit stieß er bei seinem Vater auf Unverständnis. Oft wurde er daraufhin in sein Zimmer verbannt, weil er sich angeblich nicht zu benehmen wußte. Dabei wollte er nur etwas Aufmerksamkeit und Zuneigung erfahren. Am schlimmsten war es für ihn, seinen Vater mit seiner Schwester Clarissa musizieren zu sehen. Er lebte in einer fremden Welt, und niemand nahm Kontakt zu ihm auf.
Meine Mutter hatte ihr Gehör mit einem Jahr verloren. Eine spinale Meningitis schien bereits überwunden, als es zu einem Rückfall kam. Nach einem hohen Fieberanfall konnte sie nicht mehr hören.
Sie war attraktiv mit ihren langen braunen Haaren, und sie verlor nie ihre mädchenhafte Figur. Meine Mutter war eine schlanke, zierliche Frau und zog sich oft wie ein junges Mädchen an. Wenn ich sie mit den Müttern meiner Mitschüler verglich, dann war ich stolz auf sie.
Ihre große Liebe galt den Pflanzen, die überall in unserem Haus standen. Kai verwendete viel Zeit darauf, sie zu pflegen und zu arrangieren. Sie konnte zwar nicht, wie andere, mit ihren Pflanzen sprechen, doch auf ihre Weise hatte sie einen sehr intensiven Umgang mit ihnen. Sie wußte immer genau, was einer Pflanze fehlte. Meine Mutter sammelte viele Dinge: nicht nur Pflanzen, auch alte Flaschen, Bilder und vieles mehr. Jeder Gegenstand hatte für sie eine Bedeutung und fand eines Tages Verwendung. Kai hatte große Hemmungen, mit hörenden Menschen zu kommunizieren. Nur in der Gebärdensprache fühlte sie sich zu Hause, in der Schriftsprache war sie unsicher. Mußte sie zum Beispiel einen Brief schreiben, dann bat sie mich, ihn aufzusetzen, während sie mir in Gebärdensprache erklärte, was ich notieren sollte. Mutter wirkte immer unschuldig. Erst später begriff ich, daß sie sich mit dieser Ausstrahlung vor ihrer Umwelt schützte. Sie sprach nie darüber, was sie erlitten hatte, sondern genoß ihr zurückgezogenes Leben in unserem Haus. Meine Mutter hatte ein ausgesprochen sonniges Gemüt und ein sehr großes Herz. Sie nahm die Dinge gern auf die leichte Schulter, lachte gern, und sie mochte es überhaupt nicht, wenn Vater brummig und kurz angebunden war. Sie schimpfte selten mit mir. Ich glaube, ich habe ihr dazu auch selten Anlaß gegeben. Zunehmend fühlte ich mich wie ihre Schwester.
Bei uns herrschte stets ein liebevolles Chaos. Die Fenster waren in der Weihnachtszeit mit selbstgebastelten Stroh- und Papiersternen dekoriert, und im Wohnzimmer stand eine große Krippe mit vielen Figuren, die mein Vater geschnitzt hatte. Meine Mutter hatte ihnen die passenden Kleider genäht und sie mit Haaren ausgestattet. Sogar einige mit echten Fellstückchen beklebte Tiere gab es. Auf den Fensterbänken tummelten sich leere Flaschen, kleine Figuren, Knetmännchen, Gläser mit Kräutern.
Meine Mutter lebte mit meinem Vater in einer stummen Welt. Vielleicht erklärt das ihre Art, Probleme an sich abgleiten zu lassen, was ich bewunderte. Es kam ihr auch nicht so sehr darauf an, was ein Mensch konnte, was er war oder lernte. Sie interessierte die Seele eines Menschen.
Für ihr Leben gern sah sie romantische Liebesfilme im Fernsehen. Das lief nach immer dem gleichen Ritual ab. Mama lag auf der Couch, eine Hand in der Chipstüte. Ich saß auf dem Boden vor dem Fernseher und übersetzte ihr, was ich hörte. Ihre Augen wanderten zwischen meinen Händen und dem Bild hin und her. Sie bekam einen sehnsüchtigen Blick und vergaß alles um sich herum. Auch mich – diese Filme kamen oft ziemlich spät, und mehr als einmal bin ich während meiner Übersetzerei eingeschlafen.
Ich hatte nie das Gefühl, wir seien arm. Wir wohnten in einem einfachen, schönen Haus, umgeben von einem Garten, fuhren ein altes Auto, und in meinem Kinderzimmer durfte ich regieren. Deshalb verstand ich nicht, warum mein Vater oft ungeduldig wurde, wenn ich träumend und staunend vor dem Schaufenster eines Spielzeugladens stand. Früher dachte ich, er wolle nur verheimlichen, daß wir nicht genug Geld hatten. Doch als ich größer wurde, begriff ich, daß es darum ging, seinen Willen gegen meinen starken Willen durchzusetzen. Dabei wollte ich einfach nur vor dem Laden stehen und schauen oder überlegen, was ich gerne hätte. Schließlich gibt es für ein achtjähriges Mädchen viele verlockende Dinge im Schaufenster zu betrachten. Aber vielleicht hat sich mein Vater doch geschämt, daß er seiner Tochter nicht das bieten konnte, was er ihr gern gegeben hätte.