Über das Buch

Mut kennt kein Kalkül: Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz.

Am 19. April 1943 stoppen drei junge Männer einen Zug, der 1.618 Juden vom belgischen Sammellager Mechelen nach Auschwitz transportiert. Ausgerüstet mit drei Zangen, einer mit rotem Papier beklebten Sturmleuchte sowie einer Pistole, führen Youra Livchitz, Jean Franklemon und Robert Maistriau einen Plan aus, den jüdische Widerständler erdacht, bewaffnete Partisanen aber als zu riskant verworfen hatten. Sie befreien 17 Männer und Frauen, dann eröffnen die deutschen Bewacher das Feuer. Bis der 20. Konvoi die deutsche Grenze erreicht, können weitere 225 Insassen fliehen.

Während der Besatzung haben viele Belgier aus allen sozialen Schichten Juden vor der SS geschützt, gefälschte Pässe besorgt, Unterkunft oder Arbeit gewährt, Kinder versteckt. Neben Menschlichkeit und Mut gedeiht Verrat: Mit Hilfe von Spitzeln kann die Gestapo Widerstandsgruppen und Juden festnehmen. Youra, der als Kind mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder Alexandre nach Brüssel immigriert war, vielseitig begabt, grüblerisch, lebenshungrig ist und die Frauen fasziniert, wird denunziert, gefoltert und im Februar 1944 erschossen. Auch Robert und Jean werden festgenommen, überleben aber die Haft im Konzentrationslager.

Das Buch beruht auf privaten Dokumenten, Archivakten und Polizeiberichten, Recherchen und Interviews, darunter Gesprächen mit sechs Zeitzeugen, die aus dem 20. Konvoi fliehen konnten. Sie verschweigen weder Verzweiflung noch Ohnmacht und Trauer, dennoch stärken ihre Erfahrungen Zuversicht und Lebensmut.

Paul Spiegel, ehemaliger Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, berichtet im Vorwort über das Schicksal seiner Familie, die in Belgien ein Versteck gefunden hatte, wo sie den Holocaust zu überleben versuchte.

Über Marion Schreiber

Marion Schreiber wurde 1942 in Drossen bei Frankfurt/Oder geboren. Aufgewachsen im niedersächsischen Bad Pyrmont und Wolfsburg. Studium der Germanistik, Romanistik und Publizistik in Freiburg, Göttingen und an der Freien Universität Berlin. Freie Journalistin in Berlin und Bonn. 1970-1986 Redakteurin beim »Spiegel« in Bonn, 1986-1998 »Spiegel«-Korrespondentin in Brüssel. Mutter von drei erwachsenen Söhnen. Lebt in Brüssel als freie Autorin.

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Marion Schreiber

Stille Rebellen

Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz

Mit einem Vorwort von Paul Spiegel

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Paul Spiegel: »Wer ein Menschenleben rettet, der rettet ein ganzes Volk«

Erstes Kapitel: Der 20. Januar 1943

Zweites Kapitel: Youra Livchitz

Drittes Kapitel: Die Freie Universität Brüssel

Viertes Kapitel: Die Deutschen kommen

Fünftes Kapitel: Die Juden in Belgien

Sechstes Kapitel: Eichmanns Handlanger

Siebtes Kapitel: Die Deportation beginnt

Achtes Kapitel: Die »Ahnungslosen«

Neuntes Kapitel: Der Widerstand

Zehntes Kapitel: Verstecke sich, wer kann

Elftes Kapitel: Asches Helfer: Verräter und Denunzianten

Zwölftes Kapitel: Der Wartesaal zum Holocaust

Dreizehntes Kapitel: Ein General steht unter Druck

Vierzehntes Kapitel: Der Bürger als Terrorist

Fünfzehntes Kapitel: Der Kampf wird härter

Sechzehntes Kapitel: Eine Idee kommt auf

Siebzehntes Kapitel: Die Profiteure der Deportation

Achtzehntes Kapitel: Die Nazis haben Probleme

Neunzehntes Kapitel: Der Plan nimmt Gestalt an

Zwanzigstes Kapitel: Kurt Asche organisiert

Einundzwanzigstes Kapitel: Die stillen Rebellen von Mechelen

Zweiundzwanzigstes Kapitel: Mutige gesucht

Dreiundzwanzigstes Kapitel: Einsprüchen wird nicht stattgegeben

Vierundzwanzigstes Kapitel: Am Vortag der Abfahrt

Fünfundzwanzigstes Kapitel: Der 19. April 1943

Sechsundzwanzigstes Kapitel: Der 20. Konvoi nach Auschwitz

Siebenundzwanzigstes Kapitel: Der Überfall

Achtundzwanzigstes Kapitel: Der Ausbruch der stillen Rebellen

Neunundzwanzigstes Kapitel: Wir sind gute Belgier

Dreißigstes Kapitel: Der Verrat

Einunddreißigstes Kapitel: Die Befreiung

Nachwort zur Taschenbuchausgabe

Bildteil

Anhang

Liste der Deportierten

Literatur

Danksagung

Impressum

Meinen Söhnen
Till, Benjamin und Jonas

Paul Spiegel

»Wer ein Menschenleben rettet, der rettet ein ganzes Volk«

Daß ich den Holocaust überlebt habe, verdanke ich belgischen Bürgern, die den Mut besaßen, einen kleinen jüdischen Jungen aufzunehmen und vor den Nazis zu verstecken. Auch meine Mutter entging der Deportation, weil sie während der deutschen Besatzung bei einer Brüsseler Familie wohnte, die sie nicht nur beherbergte, sondern ihr immer wieder half, der Verfolgung durch die SS zu entgehen.

Das Land Belgien ist Deutschlands unbekannter Nachbar. Und das gilt in besonderem Maße für das Kapitel des Widerstands und des zivilen Ungehorsams in Belgien gegen das Naziregime. So wie ich überlebten mehr als 4000 Kinder unter falscher Identität in Familien, Internaten, Klöstern und Heimen den Holocaust. Sechzig Prozent der damals 60000 in Belgien lebenden Juden wurden nicht deportiert, weil sie sich mit Hilfe von Nachbarn, Freunden und Unbekannten dem Zugriff durch die deutschen Rassefanatiker entziehen konnten. Diese Belgier riskierten eine Gefängnisstrafe oder gar den Abtransport in ein KZ. Denn sie verstießen gegen die von der deutschen Militärverwaltung erlassenen Gesetze, wonach jede Hilfe für die verfolgten Juden wie ein schweres Verbrechen zu ahnden war.

Ich war zwei Jahre alt, als sich mein Vater, Hugo Spiegel, nach Belgien aufmachte, um für seine Familie eine sichere Bleibe zu finden. Während der antijüdischen Pogrome im November 1938 war er, ein angesehener Viehhändler in Warendorf, von den Nazis verprügelt worden. Man entzog ihm den Gewerbeschein und damit unsere Existenzgrundlage. Für meine Eltern war dies das Signal, Deutschland zu verlassen, um dann, wenn dieser nationalsozialistische Spuk in einigen Monaten vorbei sein würde, wieder ins Münsterland zurückzukehren. 1939 fand mein Vater im Haus des Metzgers Blomme in St. Gilles ein Quartier für die vierköpfige Familie.

Kurz nach dem Einmarsch der Deutschen in Belgien wurde mein Vater auf der Straße verhaftet und in das französische Internierungslager Gurs gebracht, von wo aus er später nach Buchenwald, dann nach Auschwitz und schließlich nach Dachau deportiert wurde. Wie durch ein Wunder überlebte er die KZ. Für die belgischen Nachbarn war meine Mutter, die mit Vornamen Ruth hieß, »Madame Régine«. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt als Putzfrau bei jüdischen Familien, die wegen ihrer belgischen Staatsangehörigkeit zunächst noch von der Deportation verschont wurden.

Meine Schwester Rosa war neun Jahre älter als ich und schon recht selbständig. Die Mutter hatte ihr eingebläut, wenn sie von einem Uniformierten angesprochen werde, solle sie niemals sagen, daß sie Jüdin sei. Eines Tages ging sie mit einer Freundin meiner Mutter zu einer Stelle, wo Lebensmittelkarten ausgegeben wurden. Ein Mann in Zivil fragte die Dreizehnjährige, ob sie Jüdin sei. Arglos bejahte meine Schwester die Frage. Rosa wurde verhaftet, und wir haben nie wieder etwas von ihr gehört. Nach den Deportationslisten des Sammellagers Mechelen wurde sie gemeinsam mit 130 anderen Kindern am 24. Oktober 1942 mit dem 14. Transport nach Auschwitz deportiert.

Nun suchte meine Mutter für mich ein Versteck. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Haus in Uccle, wo etwa zehn Kinder unter sehr ärmlichen und unhygienischen Bedingungen untergebracht waren, erhielt meine Mutter von einer Organisation die Adresse eines Bauern in Chapelle-lez-Herlaimont, der bereit war, ein jüdisches Kind bei sich aufzunehmen. So kam ich als Fünfjähriger zu diesem älteren Ehepaar mit einem erwachsenen Sohn, das mich als ihren Neffen aus Deutschland ausgab. Nur der Pfarrer im Dorf, dessen Gottesdienste ich regelmäßig mit meiner katholischen Familie besuchte, wußte von meiner wahren Identität. Um mich besser vor den Nazis zu schützen, schlugen ihm meine Gasteltern vor, mich zu taufen. Doch der Pfarrer lehnte das ab. Er gehörte nicht zu jenen, die diese Gelegenheit nutzten, um jüdische Kinder zu missionieren. Dreieinhalb Jahre verbrachte ich bei diesen freundlichen Bauern. An den Einmarsch der amerikanischen Soldaten in unserem kleinen Nest kann ich mich noch sehr genau erinnern. Meine Mutter hatte mich auf diesen großen Augenblick vorbereitet, indem sie mir den Satz beigebracht hatte: »I am a German Jew«. Als ich nun am Straßenrand im Defilé der Fähnchen schwingenden und jubelnden Dorfbewohner stand, hielt plötzlich ein Riesenpanzer, und ein farbiger Soldat sah auf mich herunter. Ich schrie ihm meinen englischen Satz entgegen, er beugte sich zu mir herab und hob mich hoch, küßte mich und beschenkte mich mit Süßigkeiten. Ich weiß noch, daß ich fürchterliche Angst hatte und froh war, als er mich wieder auf der Straße absetzte.

»Wer ein Menschenleben rettet, der rettet ein ganzes Volk« – viele belgische Bürger haben während der deutschen Okkupation nach diesem Spruch aus dem Talmud gehandelt. Ich wünsche mir sehr, daß ihr Mut und ihre Hilfsbereitschaft durch das Buch von Marion Schreiber nun auch in Deutschland bekannt und gewürdigt werden.

Erstes Kapitel
Der 20. Januar 1943

Eine seltsam euphorische Stimmung lag über der Avenue Louise. In der breiten, von Kastanien gesäumten Allee strömten die Menschen wie auf ein geheimes Kommando zu dem Haus Nummer 453. Aus allen Stadtteilen Brüssels kamen sie an diesem kalten Wintertag, um die unverhoffte Demütigung der deutschen Besatzer zu besichtigen, die sich in der hellen Kalksandsteinfassade des Appartmentgebäudes in der Nähe des Stadtwaldes offenbarte. Mehr als ein Dutzend Einschußlöcher verunzierten das Haus.

Unglaubliches war geschehen. Ein Pilot der englischen Luftwaffe hatte sich an diesem Januarmorgen 1943 in den Luftraum über Belgien gewagt. Im Tiefflug donnerte er über die breiten Boulevards von Brüssel auf die belgische Außenstelle des Reichssicherheitshauptamtes zu, übersäte das Gebäude mit Granaten und Geschossen, drehte ab und verschwand.

Er hatte gut gezielt. Keines der benachbarten Bürgerhäuser war getroffen. Allein die cremefarbene Front des berüchtigten Hochhauses bot ein Bild der Verwüstung. Scheiben waren zersplittert, Metallrahmen verbogen und die Gitter der Balkons zerborsten. In den oberen Stockwerken klafften schwarze Fensteröffnungen.

Langsam schob sich die Menschenmenge an dem Haus vorbei. Niemand wagte, stehenzubleiben. Und niemand traute sich, seiner Freude laut Ausdruck zu geben. Nur jene, die in der überfüllten Straßenbahn vorbeifuhren, winkten triumphierend den Heerscharen der Spaziergänger zu. Sie wähnten sich vor dem Zugriff der grimmig blickenden deutschen Polizisten in den feldgrauen Uniformen sicher, die das Gebäude in einem Halbkreis abgeriegelt hatten. Allein ihre Trillerpfeifen und Kommandos, mit denen sie die Neugierigen immer wieder auseinanderzutreiben suchten, übertönten schrill die gelöste Stimmung.

Youra Livchitz konnte den Blick nicht von der zerstörten Fassade abwenden. Ein solches Gefühl des Triumphes hatte er seit langem nicht verspürt. Der junge jüdische Arzt kannte die fürchterlichen Geheimnisse dieses Gebäudes. Freunde von ihm, Widerständler, waren in diesem Gebäude verhört und gefoltert worden, ehe sie im Gefängnis oder im Arbeitslager verschwanden. Im Keller warteten jüdische Frauen, Männer und Kinder, die bei den Razzien von Hitlers SS-Schergen, den Mitgliedern der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, verhaftet worden waren, auf die Weiterfahrt in das Sammellager Mechelen. Je höher die Etagen, desto grausamer die Methoden dieser Polizeizentrale für Menschenfang und Menschenvernichtung. In den beiden obersten Stockwerken hatte die Geheime Staatspolizei, die Gestapo, ihre Büros.

Livchitz hatte an diesem Nachmittag früher als gewöhnlich seinen Arbeitsplatz verlassen. In den Büros und Labors der Firma Pharmacobel, wo er als Laborleiter arbeitete, seit die Besatzer ihm als Juden die Ausübung des Arztberufs verboten hatten, sprach man an diesem 20. Januar von nichts anderem. Kündigte sich vielleicht das baldige Ende der Naziherrschaft an? Erstmals zeigten sich die Deutschen verwundbar. Warum sollte den Alliierten nicht bald im Großen gelingen, was dieser wagemutige Pilot im Alleingang geschafft hatte? Sogar die von den Nazis gleichgeschaltete Abendzeitung »Le Soir« vermochte nichts mehr an der hoffnungslosen Situation der Deutschen in Schnee und Eiseskälte an der Ostfront zu beschönigen. Die Einheiten der Wehrmacht, hieß es, seien vor Stalingrad »isoliert« und Ziel »unerbittlicher Angriffe von russischer Seite«.

Doch Youra hörte auch pessimistische Stimmen. Sie fürchteten, die gedemütigten Nazis würden nun um so rabiater agieren und Hausdurchsuchungen und Razzien verstärken, um ihre Autorität des Schreckens zurückzugewinnen. Mit Sicherheit aber würden die Deutschen alles tun, damit in den belgischen Zeitungen nichts von der Fliegerattacke gegen ihr Hauptquartier zu lesen sein würde.

Der junge Arzt wollte die Niederlage der verhaßten Besatzer mit eigenen Augen sehen, wollte hören, was die Leute auf der Straße sagten. Auch wenn er damit ein Risiko einging. Denn sicherlich verschärften die Deutschen die Personenkontrollen. Sollte sich herausstellen, daß er keinen Judenstern trug, dann wäre sein weiterer Weg vorgezeichnet: Er würde selbst im Keller dieser Nazizentrale landen und ins Sammellager Mechelen transportiert werden, von wo aus die Züge nach Polen abgingen. Doch Youra vertraute wie immer darauf, daß er jener krummnasigen Nazikarikatur eines Juden so gar nicht ähnlich sah, die auf den Plakaten in der Stadt für die »Antibolschewistische Ausstellung – Das sind die Sowjets« im Cinquantenaire warb. Livchitz war groß, sportlich, und er hatte blaue Augen – ein Typ, den Frauen mochten.

Die Menschen hier in der Avenue Louise, so schien es dem jungen Arzt, gingen heute aufrechter als sonst, sie wirkten entspannter, hoffnungsvoller. Die Angststarre war von ihnen gewichen. Den aufgeregten Gesprächen um sich herum entnahm der junge Mediziner, daß ein belgischer Pilot, ein ortskundiger Patriot offensichtlich, den Angriff geflogen haben mußte. Präzise habe er das Hochhaus Nummer 453 angesteuert. Und auf dem Anflug über Brüssel habe er über dem Haus einer bekannten adligen Familie die von den Nazis verbotene belgische Nationalflagge abgeworfen. Bei der verhaßten deutschen Polizei habe es offensichtlich Blutopfer gegeben. Die Bewohner der Nachbarhäuser berichteten, den ganzen Vormittag über hätten sie Feuerwehr und Ambulanzen vorfahren sehen.

Erst später wurde in Belgien bekannt, daß der 32jährige Jean de Sélys Longchamp den Angriff geflogen hatte. Der belgische Pilot hatte sich mit seiner britischen Typhoon bei einem Erkundungsflug der Royal Air Force über Belgien von seinem Geschwader entfernt und das Gestapo-Gebäude beschossen. Ein Racheakt für seinen Vater, einen angesehenen Politiker, der an den Folgen der Folterungen der nationalsozialistischen Sicherheitspolizei gestorben war.

Plötzlich zuckte Youra zusammen. Jemand hatte ihm auf die Schulter geschlagen. Es war Robert Maistriau, sein alter Schulfreund. Die beiden jungen Männer hatten sich seit Wochen nicht gesehen. Auch Robert war hierher gepilgert, um die Blamage der deutschen Besatzer zu besichtigen. Der vier Jahre jüngere Robert mit seinem blonden gewellten Haar war für den Juden Youra ein unverdächtiger Begleiter in dem Gedränge. Beide waren begeistert: Dieser sichtbaren Niederlage der Deutschen, spekulierten sie, würden weitere folgen. Wurde nicht die Stimmung der von Hunger und Kälte geplagten Bevölkerung den Besatzern gegenüber immer feindseliger? Und die Anschläge der Untergrundkämpfer häuften sich.

Robert war wild entschlossen, sich auch einer Widerstandsbewegung anzuschließen. Der Schreibtischjob bei der Metallgesellschaft Fonofer, wo er nach einem abgebrochenen Medizinstudium zu arbeiten angefangen hatte, langweilte ihn. Er brannte darauf, endlich etwas gegen die Deutschen zu tun. Nicht genug damit, daß alles, was die Belgier erwirtschafteten, Lebensmittel, Textilien oder Kohle, nach Deutschland ging. Nun sollten auch noch die jungen Leute zur Arbeit in deutschen Fabriken zwangsverpflichtet werden, um die Räder von Hitlers Rüstungsindustrie rotieren zu lassen. Robert mußte in diesen Tagen häufig an seinen Vater denken. Der Militärarzt, ursprünglich ein glühender Verehrer der deutschen Kultur, hatte im Ersten Weltkrieg an der Yser-Front all seine Hochachtung vor dem Volk der Dichter und Denker verloren. Für besonders barbarisch hielt er, daß die Deutschen beim Einmarsch 1914 die kostbare Universitätsbibliothek von Leuven mit ihren unersetzlichen Schriften in Brand gesetzt hatten. »Irgendwie«, erinnert sich Maistriau, »waren wir jungen Leute gegen die Deutschen, auch vor dem Zweiten Weltkrieg.«

Sein großer Freund Youra, den Robert im Gymnasium so bewundert hatte, war ihm auch jetzt wieder voraus. Er sei in der Résistance aktiv, erzählte er Maistriau, und arbeite als Kurier. Weil er sich in einigen Kliniken gut auskenne, habe er auch schon geholfen, gemeinsam mit jungen Untergrundkämpfern im Arztkittel ein krankenhausreif geschlagenes Gestapo-Opfer aus der Klinik herauszuschmuggeln. Doch anders als sein älterer Bruder Alexandre, ein überzeugter Kommunist, der den bewaffneten Partisanen angehörte, hatte sich Youra bisher noch keiner Gruppe angeschlossen. Der intellektuelle Freigeist verabscheute jede Form des Zwanges und wollte sich weder organisatorisch noch ideologisch einbinden lassen.

Auf einmal drängten sich deutsche Polizisten in die Menge, einige hielten Schäferhunde an der Leine. Offensichtlich hatten sie Anweisung, die Menschenansammlung aufzulösen. Sie griffen einzelne Neugierige heraus und führten sie ab. Höchste Zeit für Youra, das gefährliche Pflaster zu verlassen. Die beiden Schulkameraden wohnten noch immer im selben Viertel, in der Nähe ihres Gymnasiums in Uccle. Und so legten sie wie in alten Zeiten den Fußweg von zwanzig Minuten gemeinsam zurück.

Vom dritten Stockwerk der Avenue Louise Nummer 453 beobachtete Judenreferent Kurt Asche, wie sich die Menge langsam zerstreute. Im Laufe des Tages war der NS-Funktionär immer wieder ans Fenster getreten, um durch die zersplitterten Scheiben auf das Treiben zu blicken. Der Anblick dieser heiteren Menschen machte ihn wütend. Um nicht gesehen zu werden, hielt sich der kleinwüchsige Mann mit dem verkniffenen Gesicht im dunklen Hintergrund seines Büros, das wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war.

Asche war Adolf Eichmanns verlängerter Arm in Belgien. Und als Referent und Obersturmführer der SS genoß er das Privileg eines Büros an diesem Prachtboulevard mit Blick auf den Park der Abbaye de la Cambre. Als am Morgen das Flugzeug im Sturzflug auf das Gebäude zudonnerte, waren andere Mitarbeiter ans Fenster gerannt, um die Ursache des ohrenbetäubenden Lärms zu erkunden. Einige hatten ihre Neugierde mit schweren Verletzungen oder gar mit dem Leben bezahlen müssen.

Gegen Mittag hatte man ein Telegramm nach Berlin geschickt. Es unterrichtete das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) von dem Angriff eines »englischen Tieffliegers auf das Kanzleigebäude«. Vier Tote und fünf Schwerverletzte wurden gemeldet. Auch einen guten Kumpel von Asche hatte es erwischt. Bedauerlich für den Judenreferenten. Denn mit diesem Mitarbeiter aus der Abteilung IVc hatte er bestens kooperiert. Hin und wieder hatten sie, bei entsprechender Zahlung, wohlhabende Juden aus der Deportationsliste gestrichen und ihnen einen französischen Paß verkauft. Wer würde nun seinen Posten einnehmen, sorgte sich der Obersturmführer. Denn von dem Gehalt allein konnte er sein ausschweifendes Nachtleben, seine Ausflüge in Brüssels Bordelle und seine feuchtfröhlichen Abende in einschlägigen Kneipen nicht bestreiten. Asches Geldgier war noch größer als sein Antisemitismus.

Daß der Chef des Sicherheitsdienstes, Alfred Thomas, an seinem Mahagonischreibtisch von einer Granate tödlich getroffen wurde, ließ ihn kalt. Die Witwe in Stettin und seine Kinder würden nun den Höchstsatz aus der Hinterbliebenenversorgung der Partei-Kasse bekommen.Was Asche nicht wissen konnte: Am folgenden Tag würde die Witwe seines Vorgesetzten einem dritten Sohn das Leben schenken, Günther Alfred, geboren am 21. 1. 1943.

Womöglich eröffnete der Tod des SS-Sturmbannführers seinem Untergebenen Asche nun die langersehnte Chance zur Beförderung. Der Ehrgeiz des gelernten Drogistengehilfen war geweckt. Schließlich hatte er Thomas schon bei wichtigen Besprechungen in der Reichshauptstadt vertreten. So im Juni 1942 bei einer Unterredung mit Adolf Eichmann, dem Vollstrecker der Endlösung. Damals hatten er und seine Kollegen aus Paris und Den Haag den Auftrag erhalten, dafür zu sorgen, daß »aus den besetzten Westgebieten größere Judenmengen dem KZ Auschwitz zwecks Arbeitsleistung überstellt werden«.

Asche war seither mit Eifer bei der Sache. Neunzehn Transporte mit rund 16000 Deportierten hatten Belgien inzwischen verlassen, der letzte Zug am 15. Januar. Die »Evakuierten«, wie sie im Jargon der Nazibürokraten hießen, blieben wie vom Erdboden verschwunden. Nun würde Kurt Asche, als Vertreter seines verstorbenen Vorgesetzten Thomas, den nächsten Transport, den 20. Konvoi zu organisieren haben.

Unten im Keller des vornehmen Hochhauses mit der lädierten Fassade saß eine zierliche junge Frau in Krankenschwesterntracht. Die bildhübsche Régine Krochmal war in der Nacht zuvor ins Netz der »voleurs de la vie«, wie sie Kurt Asches Menschenfänger nannte, geraten. Die 22jährige gehörte der Österreichischen Freiheitsfront an, einer Gruppe von jüdischen Widerständlern, die mit ihren Flugblättern und Zeitungen die Wehrmachtssoldaten in Belgien über die wahren Absichten Hitlers aufzuklären suchten. »Ziemlich primitives Agitationsmaterial«, wie Régines damaliger Kampfgenosse Hans Mayer befand, der nach dem Krieg unter dem Namen Jean Améry als Schriftsteller bekannt wurde: »Ich habe manchen Grund zu der Annahme, daß die feldgrauen Soldaten unsere vervielfältigten Schriften, die sie vor den Kasernen fanden, stracks und hackenklappernd ihren Vorgesetzten weitergaben, die ihrerseits mit der gleichen dienstlichen Fixigkeit die Sicherheitsbehörden verständigten.«

In der Nacht zum 20. Januar hatten Régine und ihre österreichischen Freunde in der Wohnung eines Genossen die Matrizen ihrer Zeitung »Die Wahrheit« abgezogen. Wie immer trug sie ihre Schwesternuniform mit der blauen Haube. »Das war für mich die beste Tarnung«, erklärt sie Jahrzehnte nach diesen Erlebnissen, »damit habe ich jede Kontrolle passiert und war an keine Sperrstunde gebunden.« Gegen Mitternacht bemerkten die jungen Leute einen Wagen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Hauses parkte. Das war ungewöhnlich in dieser Nachbarschaft, schließlich hatten die Deutschen fast alle belgischen Autos beschlagnahmt. Sie waren offensichtlich verraten worden. Zwar besaß Bobby, der Mieter der Wohnung, einen argentinischen Paß. Aber wenn die SS-Polizei die kleine Druckerei entdecken würde, dann drohte ihnen Folter und womöglich die Exekution.

Hastig versteckten sie den kostbaren Vervielfältigungsapparat, verbargen Papier und Matrizen. Dann flohen die beiden Freunde aus dem Fenster zur Gartenseite. Régine legte sich ins Bett. Als die Fahnder gegen die Tür schlugen, öffnete sie scheinbar verschlafen. Ein Mann habe sie mit in diese Wohnung genommen, erklärte sie den beiden Männern in den langen Ledermänteln, und sie hier allein gelassen, damit sie wenigstens für diese Nacht ein Dach über dem Kopf habe. Régine gab sich als Jüdin zu erkennen. Und die Häscher, froh über diese leichte Beute, unterließen es, die Wohnung zu durchsuchen.

Bis in die frühen Morgenstunden wurde die Tür des Kellers im Haus Nummer 453 immer wieder für weitere niedergedrückte und verzweifelte Ankömmlinge aufgeschlossen. Nach Mitternacht – wenn die Gejagten, aus tiefem Schlaf hochgeschreckt, keine Chance mehr hatten zu fliehen – kam die Zeit der gnadenlosen Jäger.

Kurz nach 9 Uhr morgens verstummte der Lärm der Geschosse, und Régine hörte im Flur die Wachmannschaften rennen und schreien. Einen Augenblick lang erwog sie zu fliehen. Mehr als fünfzig Jahre später fragt sie sich noch immer, ob sie damals richtig entschied. »Ich dachte, es ist aussichtslos, sie sind nah und sie sind wütend, sie werden dich töten.« Sie blieb.

Bevor die Rassegesetze der Nazis im Sommer 1942 Régine arbeitslos machten, hatte sie ihre Ausbildung als Krankenschwester und Hebamme abgeschlossen. Sie liebte ihren Beruf. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als den werdenden Müttern beizustehen und den Babies auf die Welt zu helfen. Und sie erinnerte sich an eine Nacht im Krankenhaus von Etterbeek, als sie, die Lernschwester, gemeinsam mit einem jungen Assistenzarzt bei einer Frau Geburtshilfe leistete. Der dunkelhaarige gut aussehende Mediziner hatte sie nachhaltig beeindruckt. »Ein Mann zum Verlieben«, erinnert sie sich. Es war Youra Livchitz.

Zweites Kapitel
Youra Livchitz

Wie jeden Samstagabend war die kleine Wohnung binnen kurzem mit dicken Rauchschwaden und hitzigen Diskussionen erfüllt. Im Salon von Minnie Minet drängte sich die Brüsseler Boheme: Künstler, Intellektuelle sowie hübsche junge Mädchen in kurzem Faltenrock und langen, eng anliegenden Jacken, im Stil der »Zazous«, der Swing-Jugend, gekleidet. Der Jour fixe bei der exotischen Pianistin war für manchen der einzige Lichtblick in der sonst so langen düsteren Woche. Die Wände der Wohnung waren mit Fotos der Werke von Minnies Künstlerfreunden tapeziert. Und die musikalischen Einlagen der Gäste waren alles andere als amateurhaft. Einige der Solisten wurden wie der Violinist Arthur Grumiaux später weltberühmt.

Hier, in der Rue Van Goidtsnoven, war man unter Gleichgesinnten. Man kam zusammen, um zu musizieren, der Musik zu lauschen und vor allem zu reden. Offen miteinander zu reden, das wurde – je länger die deutschen Besatzer das Land in Atem hielten – für Minnies Gäste schließlich noch wichtiger als die geliebte Musik. Sonst wäre man an dem Ungesagten erstickt.

Irgendwie schaffte es immer einer der Habitués, Wein oder gar Kaffee zu organisieren. Minnies javanische Zubereitung der kostbaren Bohnen war eine Sensation. Sie wurden mit der Mühle gemahlen, dann goß Minnie in einer stundenlangen Prozedur das Kaffeepulver mit kleinsten Mengen kochendem Wasser auf. Das Filtrat war schwarz und dickflüssig und konnte nur mit viel Milch genossen werden. Die Suppe, die im großen Topf zur Selbstbedienung auf dem Herd stand, war ein Gemeinschaftswerk der Gäste. Jeder brachte mit, was er hatte: Reis, Gemüse oder Kartoffeln, vielleicht sogar ein ergattertes Stück Fleisch. Von Kriegsmonat zu Kriegsmonat fiel der Eintopf dünner aus. Der Kuchen bestand schließlich nur noch aus einer dunklen Masse von Kastanienmehl und Süßstoff. Aber nie gingen Minnies Gäste mit leerem Magen nach Hause.

Die kleine, wohlgerundete Gastgeberin mit den hohen Wangenknochen und den schrägen Katzenaugen, Tochter einer Indonesierin und eines Niederländers, war in dem behäbig bürgerlichen Brüssel eine außergewöhnliche Erscheinung. Sie war fröhlich, spontan und sexy. Die Begrüßungsküßchen, darauf achtete sie, mußten auf ihren beiden tiefen Grübchen plaziert werden. War sie 35 Jahre alt oder 45? Niemand vermochte es zu sagen. Von ihrem sehr viel älteren Ehemann, einem Professor am Konservatorium, lebte sie getrennt. Aber er unterstützte sie. Minnie war nicht nur Künstlerin, sie war auch eine Lebenskünstlerin mit einem großen Herzen.

Engstirnige Spießer waren ihr verhaßt. Die deutschen Besatzer in ihren blankgewienerten Schaftstiefeln, die dem Land ihren Stechschritt und ihre Marschmusik aufzuzwingen versuchten, waren ihr ein Greuel. Immer mehr wurden Minnies musikalische Soirees für ihre Intellektuellen- und Künstlerfreunde aus dem Widerstand ein Vorwand, Informationen auszutauschen oder gar die nächsten Coups zu besprechen. Der Musikliebhaber und Maler Marcel Hastir, der viele dieser Samstagabende bei Minnie mit seinem sprühenden Witz belebte, schüttelt seinen weißen Kopf, als er sich im Jahr 1999 an diese Zeiten erinnert: »Einige waren damals ziemlich leichtsinnig, geradezu abenteuerlustig. Und es gab viele, die zu viel erzählten.«

Youra Livchitz zählte zu Minnies liebsten Gästen. Er war geistreich, belesen und politisch interessiert. Ein brillanter Kopf, dem Lehrer und Professoren eine große Zukunft prophezeiten. Und wenn der Mittzwanziger an einem solchen Abend auf ebenbürtige Geprächspartner stieß, dann konnte er über Gott und die Welt oder auch stundenlang über den »idealen Menschen« philosophieren. Nicht der sozialistische Held, nicht der geniale Künstler oder der Wissenschaftler verkörperten für den jungen Mann den Idealtyp. Youra lehnte jede Festlegung auf eine Doktrin und jede Beschränkung auf ein Spezialgebiet ab. »Der vollkommene Mensch«, so sein Credo, »ist der vielseitig Gebildete, der sein Leben nicht schmalspurig und geradlinig plant, sondern sich von seinen unterschiedlichsten Interessen bestimmen läßt.«

Oft tauchte auch Youras älterer Bruder Alexandre in der buntgemischten Gesellschaft auf. Er wirkte verschlossener und ernster als sein sechs Jahre jüngerer eloquenter Bruder. Beide waren großgewachsen, sportlich und übten eine große Anziehungskraft auf Frauen aus. Dank des Altersunterschieds kamen sich die beiden dabei nicht in die Quere. Alexandre hatte mit der gleichaltrigen Wilhelmine Cohen-Baudoux angebändelt. Die üppige Schwarzhaarige, die sich so zu kleiden wußte, daß ihre Formen zur Geltung kamen, war zwar verheiratet, aber für jeden Flirt zu haben. Die Willy »hatte viele Techtelmechel«, erinnert sich Marcel Hastir. Eine Malerin, die damals ständiger Gast bei den Soirees von Minnie Minet war, drückt es krasser aus: »Die Willy war ein Luder.«

Wenn die Straßenbahn nicht mehr fuhr oder Sperrstunde war, fanden die Gäste bei Minnie bis zum Sonntagmorgen nächtliches Asyl. Es wurden Schlafsäcke und Decken auf dem Fußboden ausgerollt, für einen Schläfer fand sich Platz in der leeren Badewanne. Und als wärmende Bettflasche brachte Minnie ihnen allen im Winter eine mit heißem Wasser gefüllte Joghurtflasche.

Die Beziehung zwischen dem jungen Medizinstudenten und der lebenslustigen Minnie muß recht eng gewesen sein. Ein Schnappschuß zeigt die beiden, als sie nebeneinander sitzend die Aussicht auf die Meuse bei Namur genießen. Im nahegelegenen Profondeville besaß das Ehepaar Minet ein kleines Sommerhaus.

Wie alle, die Youra aus dieser Zeit kannten, schwärmte auch Evelyn Coulon-Allègre von diesem jungen Mediziner. Lily, wie man sie damals nannte, war ein hübscher Backfisch, als sie Livchitz 1938 kennenlernte. Ihre Eltern und Youras Mutter gehörten der Theosophischen Gemeinschaft in Brüssel an. Und bei den Konzerten und Vorträgen, zu denen sie ihre Eltern begleitete, fiel dem jungen Mädchen mit den leuchtend blonden Haaren der gut aussehende Medizinstudent auf. Er war ihre erste Liebe. Rein platonisch. Denn der sechs Jahre ältere Youra behandelte sie zwar fürsorglich und herzlich, aber sah in ihr wohl eher eine kleine Schwester. Eine Zeitlang gab Youra seiner jungen Freundin Nachhilfeunterricht in Mathematik. Aber Lily lernte in diesen Stunden so gut wie nichts. »Ich konnte einfach nicht richtig denken, so verliebt war ich.«

Youra nahm sie mit, wenn in diesen politisch bewegten Zeiten an der Université Libre de Bruxelles gegen das faschistische Franco-Regime in Spanien oder die Invasion der Japaner in China protestiert wurde. Und sie demonstrierte an seiner Seite gegen den belgischen Rechtsradikalen und Hitler-Anhänger Léon Degrelle und dessen »Rexisten«, die mit ihren Großveranstaltungen in Brüssel politisches Terrain zu gewinnen suchten. Als Vorkommando des Faschistenführers Degrelle zog eine Gruppe von Matronen in grünen Jagdröcken, mit Blockabsätzen und Jägerhütchen in den Saal, die Arme zum Hitler-Gruß ausgestreckt.

»Für Youra gab es keine gesellschaftlichen Barrieren, ihm standen alle Türen offen«, erzählt Lily Allègre. Sie war siebzehn, als sie ihn auf das Geburtstagsfest eines Studienfreundes begleiten durfte. Zu einer – wie es damals Mode war – »gardenparty« im feinen Villenviertel von Rhodes-St.Genèse. Als die beiden jungen Leute sich in dem von Lampions erhellten Garten den elegant gekleideten Gästen näherten, beugte sich Youra zu seiner eingeschüchterten Freundin hinunter: »Entschuldige, daß ich dich zu den Großbürgerlichen ausführe.« Schließlich hatte sich Youra bisher ihr gegenüber als vehementer Verfechter des Sozialismus, des Antibürgerlichen zu erkennen gegeben.

Diesen Abend hat Lily noch aus einem anderen Grund nicht vergessen. Der junge Gastgeber wurde später ihr Ehemann. Er hatte sich bei seinem Geburtstagsfest für Youras schüchterne Begleiterin zu interessieren begonnen.

Seit 1928 lebte Youra mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder Alexandre in Brüssel. Jüdische Immigranten aus dem Osten Europas, so schien es, die der wirtschaftlichen Not zu entfliehen suchten. Tatsächlich aber stammte Youras Mutter Rachel Livchitz aus einer der reichsten Familien Bessarabiens.

Rachel Livchitz, das spürte jeder, der ihr begegnete, war eine außergewöhnliche Person. Sie kam nicht aus den einfachen und beengten Verhältnissen des »stedtls«. Die hochgewachsene Frau mit den markanten Gesichtszügen und den strahlend blauen Augen, die sie ihrem Sohn Youra vererbt hatte, stammte aus der jüdischen Aristokratie. Sie sprach fließend Englisch, Französisch, Deutsch und Russisch. »Sie war eine Großbürgerin, nicht aufgrund ihrer Lebensumstände, sondern aufgrund ihres Verhaltens, sie hatte Klasse«, faßt Yvonne Jospa ihren Eindruck von Rachel Livchitz zusammen. Yvonne und ihr Mann Hertz Jospa waren etwa zur selben Zeit wie die Familie Livchitz aus Bessarabien nach Belgien gekommen, um hier zu studieren. Die Sozialwissenschaftlerin und ihr Mann gehörten zum selben Kreis von linken Intellektuellen wie Youra und sein Bruder Alexandre und spielten während der deutschen Besatzung eine tragende Rolle im jüdischen Widerstand.

Wer den Blick dafür hatte, konnte in der bescheidenen, aber geschmackvoll eingerichteten Wohnung der Familie Livchitz manchen Hinweis auf ihre wohlhabende Herkunft entdecken. Ein paar alte Stiche, ein prachtvoller Samowar und feines Silber. Die mit Jugendstilornamenten verzierten Teelöffel, in die ihre Anfangsbuchstaben R. L. eingraviert sind, hüten heute russische Freunde als teures Andenken an diese Grande Dame, die manchmal sogar etwas snobistisch sein konnte.

Die Mitchnicks, Youras Großeltern mütterlicherseits, gehörten zu den reichsten Familien von Kischiniew, der Hauptstadt der russischen Provinz Bessarabien. Rachels Vater war Mitglied in der noblen zaristischen Kaufmannsgilde und besaß riesige Ländereien, Weinberge und ein Gestüt, in dem Pferde für die russische Armee gezüchtet wurden. Die Eltern waren gläubige Juden, erzogen ihre dreizehn Kinder gleichwohl weltoffen und unorthodox. Um die Jüngste der 13köpfigen Kinderschar, um Rachel, kümmerte sich eine französische Gouvernante. Sie war der einzige Verdruß in diesem Kindheitsparadies der mit allen irdischen Gütern gesegneten Großfamilie. Auch den Töchtern ließ der aufgeklärte Kaufmann Vater Mitchnick die beste Ausbildung angedeihen. Rachel, 1889 geboren, war Gasthörerin an der Universität St. Petersburg und studierte zwei Semester lang in Paris an der Sorbonne, wo sich auch eine ältere Schwester eingeschrieben hatte. Studienreisen nach England und in die Schweiz vervollständigten das anspruchsvolle Bildungsprogramm der jungen russischen Dame.

Lachend erzählte die über Achtzigjährige ihren Freunden in Brüssel von einem unvergeßlichen Abend bei ihrer Schwester in Paris. Rachel war eines Tages ein interessanter Tischherr für das Abendessen bei ihrer Schwester angekündigt worden. Man hatte ihr nicht zuviel versprochen. Der Landsmann mit der hohen Stirn und den glühenden Augen imponierte der Studentin sehr. Es war Wladimir Iljitsch Lenin. Und womöglich waren der aus Russland geflohene Revolutionär und seine charmante junge Tischdame sogar miteinander verwandt. Denn Rachels Mutter und die Mutter Lenins hießen beide mit Mädchennamen Blank.

Vielleicht schilderte Rachel dem neunzehn Jahre älteren Exilrussen bei dieser Gelegenheit, wie sie als Lyzeumsschülerin 1905 in ihrer Heimatstadt Kischiniew bei einer der vielen Massendemonstrationen gegen das Zarenregime mitmarschiert war. Immer wenn sie glaubte, jemand könnte sie, die höhere Tochter, unter den Demonstranten erkennen, zog sie die schwarze Schürze ihrer Schuluniform über das Gesicht. Ihre Sympathie für die sozialistischen Revolutionäre sollte Rachel Livchitz nie ganz verlieren. Auch Yvonne Jospa, lange Jahre Mitglied der kommunistischen Partei Belgiens, erinnert sich, daß die so großbürgerliche wirkende Madame Livchitz aus ihrer Sympathie für die Linken nie einen Hehl gemacht hatte.

Selten hingegen sprach Rachel Livchitz von ihrem Ehemann Salomon, der wie sie aus Kischiniew stammte. Schlema Livchitz war eine Jugendliebe, mit einem ihrer älteren Brüder besuchte er dieselbe Klasse im Gymnasium. Aber die Ehe entwickelte sich nicht besonders glücklich. Sie heirateten früh, noch ehe der junge Gatte sein Medizinstudium abgeschlossen hatte. Da die russischen Universitäten den Juden mit einem Numerus Clausus den Zugang verwehrten, war Youras Vater gezwungen, im Ausland zu studieren.

Ein Hinweis auf das junge Ehepaar findet sich in der Kartei des Münchener Einwohnermeldeamtes. Am 1. Dezember 1910 meldete sich der damals 24jährige Schlema Liwschiz gebürtig aus Meschirow, mit seiner Frau Rachel, geborene Mitschnick, in München an. Er war russischer Staatsangehöriger und studierte Medizin. Am 20. April 1911 kam ihr Sohn Alexandre zur Welt. 1913 promovierte »Schlema Liwschiz« – so die deutsche Schreibweise des Namens – zum Dr. med. an der Münchener Universität. Dann brach der Erste Weltkrieg aus, und der frischgebackene Mediziner wurde als Militärarzt zur Armee eingezogen. Wahrscheinlich verschlugen die Kriegswirren die Familie nach Kiew, wo am 30. September 1917 Youra das Licht der Welt erblickte.

Irgendwann hat Rachel Livchitz es nicht länger ertragen wollen, daß ihr Mann sie mit anderen Frauen betrog. Sie war 38 Jahre alt, als sie sich von ihm trennte und die Scheidung einreichte. Im selben Jahr, 1927, kam sie mit ihren beiden Söhnen nach Brüssel, um sich dort niederzulassen, Belgien galt als besonders gastfreundlich und liberal. Ihre Heimatstadt Kischiniew, aus der sie zuwanderte, war 1918 – wie die gesamte Provinz Bessarabien – Rumänien zugeschlagen worden. Und so steht in ihrem belgischen Personalausweis und in den Ausweisen ihrer Söhne als Staatsangehörigkeit »Rumänisch«.

Sich von der wohlsituierten Großfamilie und von dem Mann zu trennen und mit den Kindern in die Fremde zu gehen, ist nicht nur für die damalige Zeit ein außergewöhnlicher Akt. Er zeugt von einer großen Unabhängigkeit und einem starken Selbstbewußtsein dieser Frau, die alle nur »Saps« nannten. Diesen Namen hatte der kleine Youra seiner Mutter gegeben, als er zu sprechen anfing. Fotos aus den glücklichen Jahren in Brüssel zeigen eine schlanke Frau mit ausgeprägten Gesichtszügen, die viel innere Stärke verraten. Das schwere, hochgesteckte Haar fällt ihr weich ins Gesicht. Sie wird als äußerst gebildet und warmherzig geschildert. Die heute fast neunzigjährige Yvonne Jospa erinnert sich voller Hochachtung an ihre ältere Landsmännin: »Sie war immer bereit zu helfen, und sie war groß darin, Lösungen für schwierige Probleme zu finden.«

Als junge Frau war Rachel Livchitz mit der Theosophie, der Lehre von der übersinnlichen Welterkenntnis, in Berührung gekommen. Diese Weltanschauung mit mystischen und esoterischen Elementen, die im deutschsprachigen Raum den Anthroposophen Rudolf Steiner stark beinflußt hat, war in Rußland, aber auch in Deutschland sehr verbreitet. Zielstrebig wandte sich Rachel bei ihrer Ankunft in Brüssel an den Arzt Dr. Nyssen. Wahrscheinlich hatte es sich in der internationalen theosophischen Kommune herumgesprochen, daß eine Gruppe von Mitgliedern in Brüssel sich zu einem fortschrittlichen Wohnexperiment zusammengeschlossen hatten.

Die Künstler und Intellektuellen um den weißhaarigen und weißbärtigen Mediziner Nyssen hatten in Uccle, in der Avenue de Floréal, zwei geräumige Stadthäuser aus der Jahrhundertwende miteinander verbunden. Sie lebten dort in einer Art theosophischer Wohngemeinschaft und widmeten sich nach Feierabend – die Mitglieder arbeiteten als Architekten, Lehrer, Musiker oder Schriftsteller – dem Studium der Theosophie. Überall an den Wänden kündeten Traktate und Wandsprüche von der höheren Bestimmung und vom Leben außerhalb des irdischen Seins. Wie in einer Kommune sollten die Klassenschranken und sozialen Unterschiede überwunden werden, die Honorare oder Gehälter der berufstätigen Mitglieder flossen an die »Monada«, so hieß die Gemeinschaft, und alle anderen Erwachsenen versorgten den gemeinsamen Haushalt. Da der Wohngemeinschaft auch ein kleines Pensionat angeschlossen war, gab es für Youras Mutter viel zu tun. Zwölf kleine Mädchen waren in zwei Schlafsälen untergebracht. Sie mußten bekocht und bei ihren Hausaufgaben beaufsichtigt werden. Da der Patron des Hauses, Dr. Nyssen, auch Vorsitzender der Vegetarischen Gesellschaft Belgiens war, wurde viel Wert auf biologische Kost gelegt.

Die Kinder waren an allen Hausarbeiten beteiligt, erzählt Henriette Vander Hecht, die damals eine der ersten kleinen Pensionärinnen in der »Monada« war. Ihre Eltern waren Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft. Und da ihre Mutter wegen einer schwierigen Schwangerschaft die kleine Riquet, wie sie wegen ihres schwarzen Schopfes genannt wurde, nicht versorgen konnte, zog sie vorübergehend in das Jugendstilhaus in der Avenue de Floréal: »Es war für mich ein Paradies.« Unvergessen ist für sie, wie sie, die damals Neunjährige, mit dem vier Jahre älteren Youra gemeinsam in der Küche zum Geschirrspülen eingeteilt war. »Youra kam mir schon recht erwachsen vor, er war sehr redegewandt und philosophierte gern.« An diesem Abend schlüpfte er, das Geschirrtuch in der Hand, in die Rolle des Philosophen Sokrates. Er stellte der kleinen Riquet eine Frage nach der anderen, auf die er eine ernsthafte Antwort erwartete. Später lernte Henriette im Gymnasium, daß Sokrates mit dieser Methode, die Youra bei ihr erprobte, seine Geprächspartner angeregt hatte, sich »auf das eigentliche Sein« zu besinnen.

Youras älterer Bruder Alexandre, den sie alle Choura nannten, kam nur in den Semesterferien und an den Wochenenden in die »Monada«. Da Rachel Livchitz von ihrer Familie in Bessarabien mit einer kleinen monatlichen Rente unterstützt wurde, konnte sie ihrem Ältesten in Gent das Studium der Ingenieurwissenschaft finanzieren. Choura, der eher praktisch veranlagt war, zeichnete sich allerdings nicht durch allzu großen Fleiß aus. Er genoß das lockere Studentenleben in vollen Zügen.

Als sich dann in der »Monada« eine Liebesaffäre zwischen dem damals über zwanzigjährigen Alexandre und einer jungen Montessori-Lehrerin entspann, schritt Dr. Nyssen ein. Er legte der Familie Livchitz nahe, die Wohngemeinschaft zu verlassen. Dem weißbärtigen Patriarchen und seiner strengen, knochigen Frau mißfiel zudem, wie die jungen Mädchen aus dem Pensionat den halbwüchsigen Youra anhimmelten.

Ganz in der Nähe, in der Avenue Brugmann, fand Rachel Livchitz im dritten Stock eines Eckhauses eine Wohnung. Die hellen Räume richtete sie mit wenig Mitteln ein. Sogar eine Dusche war installiert. Bunte dekorative Tücher verbargen die Schäbigkeit einiger Möbel, die sie billig erstanden hatte.

Von hier aus war es für Youra nur eine knappe Viertelstunde zu Fuß zum Athénée d’Uccle. Erst 1930 hatte die liberal-sozialistische Mehrheit der Vorortgemeinde dieses städtische Gymnasium gegründet. Denn die ländliche Sommerfrische für wohlhabende Brüsseler hatte sich zu einem geschäftigen Vorort entwickelt. Ganze Straßenzüge mit Reihenhäusern entstanden für die aus der Innenstadt ins Grüne drängenden Bürger und Kleinbürger. Die ganz reichen Stadtflüchtlinge ließen sich auf riesigen Arealen hochmoderne Villen im Bauhausstil errichten.

Das neue städtische Gymnasium war Ausdruck dieser Aufbruchstimmung. Es war der liberal-sozialistische Gegenentwurf zum klassischen katholischen Kolleg. Und es war das erste gemischte Gymnasium für Jungen und Mädchen. Religion stand nicht auf dem Lehrplan dieser freigeistigen Lehranstalt, in die all jene Bürger ihre Kinder schickten, die den späteren deutschen Besatzern ein Dorn im Auge waren: Sozialisten, Freimaurer, Juden. Sogar Kommunisten waren als Lehrer geduldet.

Leiter der Schule war freilich ein Mann, der allergrößten Wert auf Disziplin und Ordnung legte. Er bestand auf absoluter Pünktlichkeit, korrekter Sprache und adretter Kleidung bei seinen Schülern. In schnurgeraden Zweierreihen mußten Youra und seine Schulkameraden nach der Pause schweigend auf dem Schulhof warten, bis sie nach dem Appell im Gänsemarsch eingelassen wurden. Der Philologe Albert Peeters, der in den fünfziger Jahren auch der erste Direktor der Brüsseler Europaschule werden sollte, war ein erklärter Gegner der Rousseauschen Freiheitsprinzipien und des Laisser-faire. Doch als Anhänger eines humanistischen Bildungsideals war er tolerant genug, seinem handverlesenen Lehrerkollegium alle Freiheiten zu gewähren, wenn sie nur der Erziehung und Bildung der Schüler zugute kamen.

Einer der herausragendsten Lehrer des Athénée d’Uccle war der Geschichtslehrer Léon Moulin. Der überzeugte Sozialist begeisterte ganze Schülergenerationen mit seinem unkonventionellen Unterrichtsstil für sein Fach. Youra zählte zu seinen Lieblingsschülern. Und er blieb mit ihm auch nach dem Abitur in ständigem Kontakt, so hingerissen war er von dem Jungen, in dessen Wesen sich strahlende Lebenslust, Wissensdurst und Nachdenklichkeit miteinander vereinten.

In diesem Klima von Disziplin und intellektueller Offenheit wuchsen selbständig denkende und couragierte junge Menschen heran. Kein anderes Gymnasium in Brüssel hat so viele Blutopfer gegen die Nazibesatzer gebracht wie diese kleine kommunale Lehranstalt. Drei Lehrer und vierzehn Schüler starben als Widerständler, acht dieser Ehemaligen des Athénée d’Uccle wurden von den Deutschen hingerichtet.

1931 trat Youra diesem kleinen Gymnasium von damals nur hundert Schülern und zwölf Lehrern bei. Er war vierzehn Jahre alt und kam in die vierte Sekundarklasse. Wenn er morgens durch das Schultor ging, tauchte er in eine grüne Idylle ein. In dem verwunschenen Park von Wolvendael lag ein Schloß, das Schulgebäude. Die Stadtväter hatten ihr neues Gymnasium in dem alten und für Unterrichtszwecke nicht sonderlich geeigneten Gebäude untergebracht. Aber Schüler und Lehrer liebten ihr romantisches Provisorium hinter der Mauer zur Avenue De Fré. An heißen Sommertagen wurde im Schatten einer alten Buche unterrichtet.

Für seine Mitschüler war Youra Livchitz so etwas wie ein Star. »Er galt als Philosoph, als Idealist, bei uns war er sehr angesehen – auch wenn wir nicht alles, was er sagte, verstanden«, erzählt der vier Jahre jüngere Robert Maistriau.