Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2021 Jörg M. Karaschewski
Umschlaggestaltung: Judith Bürger
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7557-8770-9
Warum waren die Fahrstühle in diesem Gebäude nur so unglaublich eng? Friederike bugsierte ihren kleinen Transportwagen mit 150 neuen DVDs gekonnt in die winzige Kabine des Aufzugs. Auf dem Weg in die 2. Etage der Stadtbibliothek Bremen, in der sie vor vier Wochen ihr Freiwilliges Soziales Jahr Kultur begonnen hatte, grübelte sie darüber nach, welchen Sinn so kleine Fahrstühle in einer großen Bibliothek hätten.
Ihre Gedanken zu Dimensionierungen vertikaler Erschließungselemente -so hatte vor ein paar Tagen der Kollege vom Personalrat die Fahrstuhlanlage genanntlenkte sie ganz bewusst von ihrem aufkommenden unguten Bauchgefühl ab.
Im 2. Stockwerk der Bücherei befand sich die umfangreiche Sachbuchabteilung. Dort gab es zudem eine große Anzahl von Dokumentarfilmen zu den verschiedensten Themenbereichen. Digitale Medien nahmen immer größere Bereiche der Bibliothek ein, nur mit Büchern allein konnte man heutzutage niemanden mehr in eine Bücherei locken.
Die Tür des kleinen Lifts öffnete sich vor Friederike mit einem leisen Poltern. Vorsichtig lenkte sie ihren Transportwagen in den Raum. Sofort hatte sie wieder dieses eigenartige Gefühl, als würden ihr die Ohren zufallen, wie beim Start eines Flugzeugs oder beim Bergsteigen. Nur half hier kein Druckausgleich, sie hatte es bei ihrem ersten Besuch in der Sachbuchabteilung probiert als ihr vor einigen Wochen das Gebäude gezeigt wurde. Erfolglos. Es war eine drückende Stille im Raum, die ihr beim Eintritt entgegenschlug. Eine fast unnatürliche Ruhe, die eine versteckte tiefsitzende Angst auszulösen schien.
Sie versuchte das Aufkommen des unguten Gefühls beiseite zu schieben indem sie sich auf ihre Aufgabe konzentrierte. Da war es auch schon passiert. Ihr Wagen eckte am Fuß des ersten Buchregals auf ihrem Weg an und wie in Zeitlupe sah sie eine DVD nach der anderen, mit lautem Krachen auf den glatten PVC-Boden fallen. Alles ging jedoch tatsächlich so schnell, dass sie keine Möglichkeit hatte die Kaskade zu stoppen. Als sie endlich mit der Hand an der Wagenseite den Strom fallender DVDs unterbrochen hatte, war bereits fast die Hälfte aller Filme auf dem Fußboden verteilt.
Plötzlich überwog der peinliche Eindruck ungewollt im Mittelpunkt zu stehen. Flugs und so leise wie irgend möglich sammelte sie die zahlreichen Hüllen ein und stapelte sie wieder sorgsam auf dem kleinen Transportwagen. Nicht nach links oder rechts schauend machte sie sich auf den Weg in den Bereich der neuen Medien.
Warum sich die DVDs in einer der hintersten Ecken der Abteilung befanden erschien ihr bei ihrem ersten Besuch unverständlich, heute war sie dankbar, sich auf diese Weise aus dem Blickfeld der anderen Mitarbeiter und Besucher bewegen zu können.
Das Händezittern und der erhöhte Herzschlag ließen bald nach und sie begann die Filme in die Regale zu sortieren. Täuschte sie sich oder waren ihre Ohren auch nicht mehr zugefallen? Insgesamt hatte sie den Eindruck, dass auch das bedrückende Gefühl fast verschwunden war. Was man sich so alles einbilden kann.
Nach einer halben Stunde steuerte sie mit ihrem Wagen wieder auf den winzigen Fahrstuhl zu. Die Tür des Aufzugs bereits in Sichtweite spürte sie es erneut, drückende Stille, aufkommende Angst. Sie schaute sich um. Niemand der anwesenden Besucher schien ähnliches zu spüren, alle gingen fokussiert ihren Tätigkeiten nach als würden sie diese brüllende Stille nicht spüren oder sie gar mögen.
Sie beschleunigte ihren Schritt und hoffte insgeheim, dass die Kabine noch dort war, wo sie sie vor einer halben Stunde verlassen hatte. Von einer befreienden Erleichterung durchflutet sah sie das Licht der Fahrstuhlkabine, lenkte ihren Wagen wieder geschickt hinein und drückte den Knopf zum Erdgeschoss. Als die Tür sich schloss, verschwanden auch die aufkommenden Angstgefühle.
Friederike würde diesen Bereich der Bibliothek künftig meiden. Nicht nur aus Angst, alle dort würden sich sofort an ihr Missgeschick mit den Dokumentarfilmen erinnern, nein, da war auch etwas anderes. Sie konnte es nicht beschreiben aber es war da und es war nichts Gutes.
David Shriner war mit sich und der Welt im Reinen. Er hatte gerade eine längere Artikelserie über die Einflüsse Deutscher Einwanderer in den USA bis zum 1. Weltkrieg erfolgreich abgeschlossen. Die Leser des Buffalo Herold waren ihr begeistert gefolgt und spekulierten in zahlreichen Leserbriefen über alternative Szenarien ohne Kriegseintritt der USA. Viele Amerikaner besannen sich wieder ihrer deutschen Wurzeln, da passten Davids fundierte aber sehr verständlich formulierte Beiträge aus dem Land ihrer Vorfahren genau in die Zeit.
David war freier Journalist, den es vor jetzt über zehn Jahren nach Norddeutschland verschlagen hatte. Schon damals merkte er, dass er mit seinen geschichtlichen Themen aus der Alten Welt in seiner Heimat einen Nerv getroffen hatte.
Als er nach Deutschland kam, bestand seine Tante Ilse darauf, dass er zunächst bei ihr wohnen müsse. Tante Ilse lebte in einem kleinen Ort in Niedersachsen. Er war nicht besonders schön und hatte auch kulturell nichts zu bieten aber David merkte schnell, es war genau der Ort, der ihm guttat. Fast schon eintönige Ruhe, keine wesentlichen Veränderungen, Menschen grüßten sich, wenn sie aneinander vorbei gingen und ein großer Wald direkt am Ende der Straße.
Als Tante Ilse vor vier Jahren verstarb, vermachte sie David nicht nur das Haus, das ihr Mann Ende der 1950 selbst entworfen und gebaut hatte, sie hinterließ ihm auch ein kleines Vermögen. Seinen Onkel Werner hatte er nie kennengelernt. David wusste nur, dass er im Maschinenbau und bei der Entwicklung technischer Neuheiten im Fahrzeugbau tätig gewesen war. Im Krieg entwickelte Onkel Werner Motoren für den Holzgasantrieb.
Beide lebten ausgesprochen sparsam und kaum ein Nachbar ahnte wohl von dem Wohlstand der beiden. Aber sie waren glücklich so wie sie lebten. Und nun konnte David dank dieses Erbes ein unbekümmertes Leben führen und nur die Themen und Aufträge bearbeiten, zu denen er wirklich Lust hatte.
Er bog in seine Straße ein. Hier reihten sich vor dem Wald einige schnuckelige Einfamilienhäuser aus den 1950ern aneinander. Die Gärten waren für heutige Verhältnisse schon fast zu groß und da David der grüne Daumen fehlte, teilte er sich einen älteren Gärtner mit seinem Nachbarn Joachim.
Sein alter 5er BMW rollte fast lautlos in die kurze Einfahrt vor der Doppelgarage. Er machte sich nicht die Mühe, den Wagen in die Garage zu fahren. Sein Kühlschrank war fast leer und auch Getränke fehlten. Auf alle Fälle musste er nachher nochmal los.
Im Hereingehen sammelte er die auf dem Boden des Windfangs verteilte Post ein und legte sie auf die Ecke eines Schränkchens in Flur. In der Küche stand auf dem uralten, mit dickem weißem Lack lackierten Küchenschrank seiner Tante, eine angebrochene Flasche Pinotage. Er schenkte sich ein kleines Glas ein und genoss auf dem Weg in das Wohnzimmer den unglaublich voluminösen Duft dieser südafrikanischen Eigenzüchtung.
Zwei kleine Schluck dieses Rotweins erfüllten ihn mit einer wohligen Wärme und inneren Zufriedenheit. Er griff nach seinem auf dem Tisch liegenden Laptop und verfolgte interessiert wie die neuen E-Mails geladen wurde. Ein Name stach ihm sofort ins Auge. Nick Kirstein war Chefredakteur des New York Mirror. David hatte in seinen frühen Jahren ein gutes Jahr in der Redaktion des Mirror gearbeitet und dort viele gute Kontakte aufbauen können. Nick war damals ein junger eher unbeachteter Redakteur für Klatsch und Tratsch aus der Gesellschaft, mit dem sich David schnell anfreundete. Irgendwann nutzte Nick seine breit gestreuten Kontakte um auch im Politikbereich Fuß zu fassen. Die Schnittmengen beider Bereiche waren viel größer als seine Kollegen sich vorstellen konnten und so avancierte der eher unbeachtete Gesellschaftskollumnist zu einem gefürchteten und gefeierten Ausnahmejournalisten, der scheinbar alles über jeden Politiker und Prominenten wusste.
David blickte auf die kleine Uhr an der Wand, in New York war es jetzt Mittag. Das war die beste Zeit, um entspannt mit Nick zu sprechen. Er griff zum Telefon und ließ die eigespeicherte New Yorker Nummer wählen. Bereits nach wenigen Sekunden meldete sich die vertraute Stimme von Nick. „Auf dich ist immer Verlass. Wenn man dir ein Informationsbröckchen hinwirft, schnappst du neugierig wie ein Waschweib zu.“
David lachte: „Glaube ja nicht, dass du mich so einfach im Griff hast. Suchst du eigentlich noch immer die Mülltonnen der New Yorker Prominenz nach brauchbaren Informationen durch?“ Nick wusste die Anspielung auf seine frühen Jahre gut zu nehmen: „Na klar, nur sind die Mülltonnen der Politiker deutlich größer und der Inhalt stinkt bei jedem erbärmlich.“ Natürlich wühlte Nick nicht mehr selbst, er wusste jedoch um die Wichtigkeit investigativer journalistischer Basisarbeit.
„Irgendwann schicke ich dir ein Paar achsellange Gummihandschuhe, die kannst du dann in dein Büro hängen und jungen Journalisten Angst machen“ witzelte David. Diese Handschuhe lagen schon seit Monaten versandfertig in seinem Arbeitszimmer.
„Was kann ich für dich tun, Nick? Beim Querlesen habe ich etwas vom Wiederaufbau einer Kirche und amerikanischer Hilfe gelesen.“
„Genau, aber lass mich dir erstmal die Vorgeschichte erzählen, dann hast du das ganze Bild.“
„Leg mal los. Ich habe ein Glas Wein und alle Zeit der Welt für dich.“
„Als unsere 8. Air Force 1943 nach Europa verlegt wurde, war eines ihrer primären Ziele die Zerstörung der Hafen- und Industrieanlagen von Bremen. Bei einem dieser Angriffe, am 20. Dezember 1943 schlug eine Sprengbombe an das Fundament von Bremens höchstem Kirchturm. Die Kirche St. Ansgarii lag in der Bremer Innenstadt und hatte einen gut 320 Fuß hohen Turm. Dieser Turm wurde von unseren Bomberpiloten gerne als Orientierungspunkt genutzt. Wie durch ein Wunder blieb er nach dem Angriff stehen. Erst einige Monate später gab die geschwächte Bausubstanz nach und der Turm stürzte am 1. September 1944 zur Seite, direkt in das Kirchenschiff hinein.“
David überlegte kurz, ob er diese Geschichte schon einmal gehört hatte. Er war ein paarmal in der Bremer Innenstadt gewesen, hatte sich hierbei aber mehr um die Geschichte der Häfen und der Auswandererbewegung gekümmert.
„Leider nicht das einzige Stück Kulturgut, dass dem Krieg zum Opfer fiel.“ bemerkte er trocken.
Nick fuhr fort: „Die Trümmer der Kirche wurden in den 1950er Jahren vollständig beseitigt und eine Kirche gleichen Namens in einem anderen Stadtteil errichtet. Inzwischen gibt es in Bremen aber einen neuen Verein, der die alte St. Ansgarii Kirche an ihrem ursprünglichen Standort wieder aufbauen möchte.“
„Spannende Geschichte, aber was kann ich für dich tun?“ rätselte David.
„Du bist doch ein Profi darin, die deutschstämmige amerikanische Öffentlichkeit für die deutsche Geschichte zu interessieren. Stell dir vor David, Amerikaner sammeln für den Wiederaufbau von St. Ansgarii. Was für eine Geste, was für ein Symbol. Das wäre der Handschlag über den Ozean, den wir heute so dringend brauchen. Und du kannst mit einer Artikelserie den Stein ins Rollen bringen. Das wird besser als der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden. Da lag die halbe Kirche ja noch jahrzehntelang als Puzzle herum und die Briten verstehen halt nichts von guter PR Arbeit.“
Der Gedanke entwickelte sich in Davids Gehirn. Tausende deutschstämmige Amerikaner würden kleine Spenden leisten, würden Paten für einzelne Steine werden oder würden ihren Namen auf einem kleinen Messingschild an einer Kirchenbank wissen. Thoughts and prayers. Hilfe für gute Christenmenschen lag den Amerikanern quasi im Blut. Für die Weihung der Kirche würde man mindestens den Vizepräsidenten verpflichten können. Was für ein Schritt der Freundschaft in den angeschlagenen transatlantischen Beziehungen. Binnen weniger Sekunden hatte er im Kopf bereits ein griffiges Konzept gestaltet.
Nick sah förmlich vor seinem geistigen Auge wie es in David arbeitete. Er ahnte schon vor seiner E-Mail, dass David auf die Geschichte anspringen würde. „Also David, möchtest du die Artikelserie zum Kirchenbau machen? Du bist der Beste für das Thema, das weißt du.“
Fast schon ein wenig zu schnell hörte David sich sagen: „Ich habe den Schreibtisch zwar gerade ziemlich voll, aber für dich mache ich das natürlich. Honorar wie üblich?“ „Wie immer wird dein Honorar meine Zeitung in die Nähe der Insolvenz treiben“ lachte Nick. „Und nach der Auflagenerhöhung durch meine Serie fliegst du die ganze Redaktion wieder nach Vegas. Diesmal komme ich aber mit. Egal, ich arbeite mich ein und melde mich dann wieder bei dir. Danke, dass du an mich gedacht hast Nick.“
David legte das Telefon wieder auf den Tisch, griff gedankenversunken nach seinem Weinglas und leerte es in einem Zug. Er musste noch schnell Weinnachschub und etwas Essbares kaufen, es würde eine sehr lange Nacht werden. Oh, wie er diese Anfangsrecherchen liebte.
Die Bremer Krankenkasse für Handel und Industrie lag mit ihrem Hauptgebäude nur wenige Schritte von der Schlachte, der Weserpromenade in Bremen, entfernt an der Martinistraße, direkt neben der St. Martini Kirche.
Ute Plander schob den vor ihr liegenden Antrag auf Krankentagegeld hin und her. Ihre Konzentration litt nachhaltig, wenn sie so hungrig wie jetzt war. Das 8 zu 16 Intervallfasten wurde ihr von ihrer Ernährungsberaterin empfohlen, zeigte sogar erste sehr positive Ergebnisse, trotzdem fraß der Hunger sie jetzt förmlich auf. Ihre 16 Stunden ohne Mahlzeit endeten gleich um 12:30 Uhr, dann begannen die acht Stunden, in denen Essen in jedweder Menge erlaubt war. Der Verzicht auf ihr geliebtes Frühstück fiel schwer und ihr Körper wollte sich mit diesen neuen Essenszeiten einfach noch nicht anfreunden.
Wie in Zeitlupe zogen sich die letzten Minuten dahin. Dann zeigte die Systemuhr ihres Computers die erlösende Uhrzeit. Normalerweise würde sie bei gutem Wetter in eines der zahlreichen Lokale an der Schlachte gehen und beim Essen auf die Weser blicken.
Heute allerdings war typisches Bremer Schmuddelwetter. Leicht windig, mit einem fiesen Nieselregen und einer Wolkendecke, die es den ganzen Tag nicht wirklich hell werden ließ. Insofern machte sie sich auf den Weg zur betriebseigenen Kantine im dritten Stockwerk des Bürogebäudes. Das Essen dort war nicht die große Küche eines klassischen Restaurants, aber es war ehrlich gekocht, eigentlich immer ziemlich lecker und machte satt.
Sie zwang sich an den Türen des Fahrstuhls vorbei hin zum Treppenhaus und ging die zwei Etagen nach oben. „Trimm dich auf der Treppe“ versuchte ein DIN A4 großes Schild an der Wand Fahrstuhlfahrer für den Fußweg die Stufen hinauf zu motivieren.
Was sie nicht bedacht hatte, viele Kollegen orientierten sich bei ihren Essenszeiten auch jeweils an der vollen und an der halben Stunde. Entsprechend gut besucht war es. Ute Plander reihte sich, von ersten Anzeichen einer deutlichen Unterzuckerung gezeichnet, in der Reihe der hungrigen Kolleginnen und Kollegen.
Die Auswahl zwischen einer Rote Beete Suppe mit Rindfleischeinlage und Kasselernacken mit einem halben Pfirsich im Blätterteig war schnell entschieden. Die Sauce Choron zum Kasseler war einfach jedes Mal unübertroffen und so eine Suppe hielt einfach nicht lange genug vor. Zum Nachtisch gönnte sie sich ein kleines Schälchen kaltes Grießflammerie mit einer Kirschsauce.
Ihr Blick glitt durch den mit einem unspektakulären weißen Rauputz versehenen Raum. Einige Tröge mit immergrünen Hydrokulturen lockerten die große Fläche etwas auf.
Da die meisten Kollegen nur wenig Zeit für das Mittagessen erübrigen wollten, um dann abends eher gehen zu können, hatte sie sich angewöhnt alleine zu speisen. Wenn sie schon 16 Stunden des Tages nichts essen durfte, dann sollte die erste Mahlzeit des Tages aber auch genossen werden. Daher nahm sie sich Zeit und aß immer sehr bewusst.
Sie fand ein Platz an einem unbesetzten Zweiertisch. Leider nicht am Fenster, aber was nahm sie nicht alles für etwas Ruhe in Kauf.
Nachdem sie ihr Tablett auf dem Tisch abgestellt hatte, setzte sie sich mit Blick in den Raum auf den Stuhl mit der leicht schwingenden Rückenlehne. Wenn schon kein Tisch am Fenster frei war, musste der Blick auf die Kolleginnen und Kollegen als Mittagsbelustigung ausreichen.
Der Kasseler war okay, am ersten Bissen des Pfirsichs verbrannte sie sich wie fast jedes Mal die Zunge und die Sauce Choron war wie bereits erwartet göttlich. Leider gab es nur wenig Interessantes bei den anderen essenden Kollegen zu sehen. Offensichtlich keine neuen Liebschaften, auch keine Streitgespräche, keine mitgebrachten Kinder liefen herum. Alles doch ziemlich langweilig.
Sie Griff zu der am Tellerrand liegenden Papierserviette, so dass ihr Teelöffel leise mit einem metallischen Geräusch auf den Boden fiel. Mist, direkt unter den Tisch dachte sie bei sich als sie versuchte, möglichst ästhetisch ohne den Stuhl zu verlassen, den Arm so weit unter den Tisch zu dirigieren, dass sie den Löffel erreichen konnte. Es half nichts, die Wand hinter ihr verhinderte, dass sie den Stuhl ausreichend nach hinten schieben konnte. Also schob sie ihren Stuhl zur Seite und bückte sich dann komplett unter die Tischplatte.
Im Halbdunkel unter dem Tisch erreichten die Fingerspitzen ihrer rechten Hand den Löffel. Schon hatte sie ihn vollständig ergriffen, da ließ sie ihn erschreckt wieder fallen. Was leuchtete dort eben auf? Sie griff erneut in Richtung Löffel und knallte dieses Mal vor Schreck mit dem Kopf leicht gegen die über ihr befindliche Tischplatte.
Ja, sie hatte sich tatsächlich nicht geirrt. Sobald ihre Finger das Metall berührten, erschien ein bläuliches Leuchten um die komplette äußere Form des Löffels herum. Wie eine schwache Aura hielt das Leuchten an, solange ihre Finger mit dem Metall in Kontakt standen. Ließ sie ihn los, war das Licht ad hoc verschwunden.
Vorsichtig kam sie unter dem Tisch hervor, nahm sich ihre Gabel vom Tablett und beugte sich erneut herab. Auch die Gabel begann bläulich um den äußeren Rand herum zu leuchten. Das Licht war so schwach, dass man es oberhalb der Tischplatte nicht erkennen konnte. Im Halbdunkel unter dem Tisch war es jedoch klar zu sehen.
Sie war kurz versucht das Phänomen auf ihren unbeschreiblichen Hunger zurück zu führen. So unterzuckert, wie sie war, konnte eigentlich alles passieren. Wahrscheinlich war es wohl doch nur eine Spiegelung dieser grellen Halogenbeleuchtung. Ein wenig irritiert konzentrierte sie sich zunächst wieder auf die so dringend notwendige Nahrungsaufnahme.
Nach dem sie alles aufgegessen hatte, schob sie nun auch ihr Messer vorsichtig unter die Tischplatte. Da war doch wieder dieses leichte bläuliche Leuchten. Wieso hatte sie das vorher noch nie bemerkt? Von den Kollegen war zu einer solchen Erscheinung bisher nichts an ihr Ohr gedrungen. So etwas hätte doch längst die Runde gemacht. Sie blickte um sich, alles war so normal wie es nur sein konnte. Was sollen die Kollegen denken, wenn ich dauernd mein Besteck unter den Tisch halte? Dieser Gedankengang durchzuckte sie, so dass sie aufstand und sich möglichst unauffällig zur Geschirrabgabe bewegte.
Eine ältere Kollegin der Kantine nahm ihr benutztes Geschirr entgegen und lächelte sie an: „Mahlzeit Ute, gib mir mal dein Tablett. Alles okay bei dir? Was macht das Intervallfasten?“
Ute Plander wirkte noch leicht verwirrt: „Alles gut. Habt ihr irgendwas an der Beleuchtung gemacht?“
„Nicht, dass ich wüsste. Stört dich etwas?“
„Nein, nein, ist alles gut. Eure Sauce Choron war wie immer ein Gedicht.“
„Oh, vielen Dank. Ich gebe es dem Küchenchef weiter. Die hat er selbst gemacht.“
Ute ging zum Treppenhaus. Ein paar Schritte an der frischen Luft, würden sie wieder zur Ruhe bringen. Niemand bemerkte das bläuliche Leuchten um die Metallösen der Schuhe beider hinter ihr gehenden Kolleginnen. Kurz vor dem Treppenhaus war es einfach verschwunden.
Als David am folgenden Morgen seine Tasche packte, war er mit der Geschichte der St. Ansgarii Kirche in Bremen bereits weitgehend vertraut. Insbesondere auch die heftige Kontroverse um den Abriss der verbliebenen Ruine im Jahr 1959 hatte ihn sehr beschäftigt.
Er ging in die Küche, blickte kurz auf die Uhr über der Arbeitsplatte und griff dann mit einem leicht diabolischen Grinsen zum Telefon. Während die gespeicherte Nummer gewählt wurde, schenkte er sich noch einen Kaffee in seinen Becher und goss einen ordentlichen Schuss Milch aus der bereitstehenden H-Milch Packung hinzu.
Am anderen Ende der Leitung meldete sich nach längerem Klingeln eine weibliche Stimme wie aus der Tiefe einer Gruft: „Was is?“.
Immer noch böse grinsend flötete er in den Hörer: „Guten Morgen Julia, meine kleine Frohnatur. Hast du Lust auf ein paar arbeitsreiche Tage in Bremen? Ich suche noch ein Helferlein.“
Die Antwort kam etwas verzögert und leicht gequält: „Willst du mich verarschen, weißt du wie spät es ist?“
„Ist gleich sieben Uhr durch, da hat man das Gröbste bereits erledigt.“
„David, du musst unbedingt etwas gegen deine senile Bettflucht machen. Deine penetrante Fröhlichkeit ist nicht zum Aushalten, verdammt. Okay, erzähl mal, was liegt an. Aber bitte ganz langsam.“
David hatte Julia vor ein paar Jahren auf einem Historikertag in Magdeburg kennengelernt. Sie war wie er eine freie Journalistin, stand mit Anfang zwanzig aber noch ganz am Beginn ihrer Karriere.
David hatte damals an der Hotelbar versucht, sie anzubaggern oder alternativ unter den Tisch zu trinken. Beides ging jedoch fulminant in Hose. Sein Repertoire an Anmachsprüchen war schnell aufgebraucht und größere Mengen Bier und Ouzo schienen einfach an ihr abzuperlen.
Als er am darauffolgenden Morgen mit heftigen Presswehen im Kopf erwachte, entschied er sich, ähnliche Versuche künftig zu unterlassen, den Kontakt aber nicht abreißen zu lassen. Und so hatten sie bei einem gemeinsamen Katerfrühstück im Restaurant des Hotels vereinbart, dass er sie hinzuziehen könnte, falls er ein interessantes Thema für eine US-Zeitung bekommen würde. Sofern sie Zeit und Lust hätte, dieses Thema für eine deutsche Zeitung zu bearbeiten, würden sie sich das Thema aufteilen. Auf diese Weise hatte sich bei einigen Artikeln bereits eine faszinierende und vor Allem auch produktive Symbiose entwickelt.
David erläuterte ihr kurz die Geschichte um den mit Nick Kirstein diskutierten Kirchenwiederaufbau und die geplante Sammlung US-amerikanischer Hilfe.
Da Julias Aufnahmekapazität jedoch ganz offensichtlich uhrzeitbedingt ausgesprochen begrenzt war, schlug er vor, sie vom Bahnhof in Walsrode abzuholen und nach Bremen mitzunehmen sofern sie gleich packen und sich auf den Weg zu ihm machen würde.
„Ist lieb, dass du wieder an mich gedacht hast.“ artikulierte Julia jetzt zumindest etwas flüssiger. „Wie lange wollen wir dort bleiben? Bremen hat eine ganz gute Jugendherberge, wenn ich mich recht entsinne. Direkt an der Weser.“
David lachte ein wenig in sich hinein: „Ja, ich kenne die finanzielle Lage junger Journalistinnen. Mit zunehmendem Alter lege ich jedoch Wert auf etwas mehr Komfort. Ich habe uns schon mal zwei schöne Zimmer in der Villa Leinemann gebucht. Du hilfst mir wie immer bei den Interviews und der Faktenrecherche, im Gegenzug sponsor ich dir eine angemessene Unterkunft. Ich denke in zwei bis drei Tagen sind wir durch.“
Julia klang plötzlich hellwach und hochkonzentriert: „Gibt es dort einen Wellnessbereich?“
„Wenn du damit einen gediegenen Frühstücksbereich für orale Wellness meinst, na klar. Von irgendwelchen sinnbefreiten sportlichen Aktivitäten wird man dort Gott sei Dank völlig verschont.“
„Das reicht mir aus.“
„Da bin ich aber beruhigt.“
„Okay, ich bin in ungefähr zwei Stunden in Walsrode am Bahnhof. Der Heidesprinter kommt bei dir um 09:28 Uhr an. Ich schaue gleich noch mal in den Fahrplan, aber der ändert sich eigentlich kaum.“
David blickte nochmals zur Uhr an der Küchenwand: „Alles klar, ich hole dich dann nachher dort ab.“
Er war sich nicht ganz sicher, ob sie seinen letzten Satz überhaupt noch gehört hatte, die Leitung war bereits tot. Wahrscheinlich hatte sie gleich nach Heraussuchen der nächsten Zugverbindung aufgelegt und rotierte jetzt daheim beim Zusammensuchen ihrer Reiseutensilien.
David lehnte sich entspannt auf dem Küchenstuhl zurück und blickte durch das Fenster auf die Straße wo sich ortsüblich absolut nichts tat. Nun hatte der doch noch genügend Zeit für ein ausgiebiges Frühstück.