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© 2021 Sabine Schumacher

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Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Titelfoto: Florian Grothe #Instagram: artdepart_3

ISBN: 978-3-7534-3409-4

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Die Muskeln, Sehnen und Bänder seiner Beine protestierten mit heftigem Zittern gegen die ungewohnte Anstrengung. Spitze Halme und Steine bohrten sich in die nackte Haut seiner Fußsohlen, während er über den längst abgeernteten Acker taumelte. Immer wieder geriet der Mann ins Straucheln, drohte zu fallen. Knackend barst das Eis der gefrorenen Pfützen unter seinen unsicheren Schritten. Die Geräusche hallten fremd in seinen Ohren. Das Licht der Wintersonne blendete ihn, stach schmerzhaft in seinen Augen. Auf einer der eisigen Platten rutschte er schließlich aus, verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Oberkörper voraus hart auf den Boden. Keuchend blieb er liegen. Sein Atem kondensierte in der kalten Luft zu weißen Wölkchen.

Eine Krähe landete neben ihm auf dem von Frost und Schnee überzuckerten Rand des Stoppelfeldes und hüpfte vorsichtig näher. Der Mann wandte den Kopf, sein langes, verfilztes Haar hing ihm quer übers Gesicht. Er streckte die Hand nach ihr aus. „Vogel!“, krächzte er. Verwundert lauschte er dem Klang seiner Stimme nach. „Vogel!“, rief er lauter und wurde gleich darauf von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Eiskristalle und Erdkrumen drangen in seinen Mund. Er würgte und schluckte. Als die Attacke vorüber war, drehte er sich schwer atmend auf den Rücken und blinzelte erstaunt in den strahlendblauen Himmel, der sich über ihm auftat. Er sah die Krähe als dunklen, unscharfen Fleck über sich kreisen. Sein unbeholfener Annäherungsversuch hatte sie vertrieben. Er war wieder allein.

Die dumpfe, schwarze Monotonie, in der er so lange dahingesiecht hatte, lichtete sich. Stück für Stück, wie eine sich langsam öffnende Jalousie morgens den Blick auf den neuen Tag freigibt. Er roch die Natur, spürte den harten, erdigen Boden unter sich, nahm die nasse Kälte wahr, die durch den dünnen Stoff seiner viel zu kurzen, zerschlissenen Kleidung drang, und begann zu denken. Nach wie langer Zeit? Monaten? Jahren? Jahrzehnten? Er wusste es nicht. Sein Gehirn entsann sich an eine Phase ungläubiger Wut, auf die Entsetzen, Elend, Hoffnungslosigkeit und Resignation folgten. Und zuletzt das tumbe Vergessen. „Was war davor? Du musst dich erinnern!“ Seine Finger krallten sich fest um die scharfkantigen Überreste der Getreidehalme, in denen er lag. Der Schmerz sollte ihm helfen, sich zu konzentrieren. „Wie ist dein Name? Wer bist du?“ Die Lösung schien so einfach, so nah!

Nach einer Weile setzte er sich mühsam auf, schaukelte wimmernd vor und zurück und schlug mit den Fäusten gegen seinen Kopf. Der Instinkt riet ihm umzudrehen, in die Sicherheit und Wärme der Box zurückzukehren. Sein Herz wollte das nicht. Heiße Tränen der Verzweiflung rannen über die schmutzigen Wangen und verloren sich im Wirrwarr seines ungepflegten Bartes. Er wischte sie nicht fort. Stattdessen fasste er einen Entschluss: Er würde die warnende Stimme seines Inneren ignorieren und weiter dem frostigen Feldweg folgen. Er wollte nicht in die Einsamkeit zurück. Unter keinen Umständen. Lieber würde er erfrieren.

Ungelenk rappelte er sich auf und rang einige Sekunden schwankend um die Balance. Dann setzte er entschlossen einen nackten Fuß vor den anderen. „Wo Wege sind, gibt es Straßen. Wo Straßen sind, fahren Autos. Wo Autos fahren, treffe ich auf Menschen.“ Er sollte rechtbehalten. Leider.

SCHNEEFORELLE

Der Winter hatte die Stadt fest im Griff. Seit Tagen schneite es ununterbrochen. Eigentümer und Mieter, die keinen Räumdienst verpflichtet hatten, mussten alle paar Stunden die Bürgersteige vor ihren Häusern freischaufeln, weniger umweltbewusste Verwaltungen und Genossenschaften ließen zentnerweise Salz auf die Gehwege und Tiefgaragenzufahrten ihrer Objekte streuen. Auch an den Kreuzungen der kleinen Nebenstraßen in Obermenzing war die weiße Pracht von Schneepflügen zu meterhohen Bergen aufgetürmt worden. Autofahrern fehlte die freie Sicht, und für Fußgänger war der Weg zu Supermarkt, Bushaltestelle oder Kindergarten zum unberechenbaren Hindernisparcours geworden. Wer konnte, blieb zu Hause.

„Die Briefträger können einem wirklich leidtun“, dachte Robert Lärche am späten Vormittag. Er stand am Fenster und beobachtete aus der Wärme seiner Küche heraus, wie sich eine einsame Postbotin im dichten Flockenwirbel mit ihrem Fahrrad durch die Schneemassen kämpfte. Sie schien am Ende ihrer Kräfte zu sein. Kurz vor seinem Briefkasten stoppte sie, holte Schwung, stockte erneut, versuchte es noch einmal. „Merkwürdig. Ich habe doch vorhin erst geräumt?“ Die hüfthohe Mauer um den Vorgarten behinderte seine Sicht, doch offensichtlich kam die Frau auf dem Gehweg schlicht nicht weiter. Rasch nahm er die Töpfe mit Basilikum, Petersilie und Schnittlauch vom Sims und öffnete das Fenster. „Warten Sie! Ich komme raus und helfe Ihnen!“ Sie wandte den Kopf und starrte ihn wortlos an. Auf ihrer blauen Mütze sammelte sich der Schnee. Ihr Mund öffnete und schloss sich lautlos; sie erinnerte Robert Lärche auf bizarre Weise an einen Fisch. „Schneeforelle“, dachte er amüsiert und hob grüßend die Hand. Doch statt zu antworten, verdrehte sie plötzlich die Augen, kippte mitsamt ihres gelben Fahrrads zur Seite und entschwand hinter dem Mäuerchen seinen Blicken. Der weiche Schnee dämpfte die Geräusche des Aufpralls. Auch danach blieb es beunruhigend still. „Um Himmelswillen!“ Robert Lärche zögerte nicht lange. Er hastete in den Flur, riss den Kamelhaarmantel vom Haken, schlüpfte in seine Winterschuhe mit Reißverschluss und eilte der Frau so schnell er konnte zu Hilfe.

Auf dem Bürgersteig hatte sich schon wieder eine stattliche Schicht Neuschnee gebildet. Als sich der Hausbesitzer am Gartentürchen gehetzt nach links wandte, war die Zustellerin bereits wieder zu sich gekommen. Mit weit aufgerissenen Augen saß sie auf dem Bürgersteig, das Fahrrad quer über den Beinen. Die Abdeckungen der Transporttaschen hatten sich beim Umfallen geöffnet. Briefe, Zeitschriften und bunte Werbeprospekte lagen ringsum verteilt im Schnee und saugten sich voll.

Als er auf die Frau zulief, stieß er mit dem Fuß gegen etwas Weiches, das unter dem kühlen Weiß verborgen lag. „Das wird wohl das Hindernis sein, an dem sie vorhin gescheitert ist“, vermutete Lärche flüchtig. Sein Fokus war ausschließlich auf die Postbotin gerichtet. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Haben Sie sich wehgetan?“ Er machte einen großen Schritt, doch die Hürde war breiter als angenommen. Er stolperte, rutschte aus und verlor prompt das Gleichgewicht. Seine Arme ruderten hilflos durch die Luft auf der vergeblichen Suche nach Halt. Mehrere Kohlmeisen und Grünfinken stoben aus dem selbst gebastelten Vogelhäuschen hinter der Gartenmauer auf, während er mit einem erstickten Ausruf zu Boden stürzte. Reflexartig biss er die Zähne zusammen, doch der erwartete Schmerz blieb aus. „Merkwürdig.“ Er war erstaunlich sanft mit Rücken und Hosenboden auf etwas Nachgiebiges gefallen. „Fühlt sich fast an wie Schaumgummi“, dachte Robert Lärche verwundert und setzte sich ächzend wieder auf. Er schien unverletzt, wie er erleichtert feststellte. Plötzlich gab etwas knackend unter ihm nach, sein Gesäß sackte ein paar Zentimeter tiefer. Pulvriger Neuschnee wirbelte auf und offenbarte einen bleichen, nackten Arm, der leblos aus dem Schnee hervorlugte. Er blinzelte, kniff die Augen zusammen, sah erneut hin. Heiße Magensäure schoss brennend seine Speiseröhre empor, als ihm endgültig klar wurde, worauf er gelandet war. Er wollte aufspringen und weglaufen, doch er war zu keiner Bewegung fähig. Stattdessen schluckte er mehrmals, um der Übelkeit Herr zu werden, die unbezwingbar von ihm Besitz ergriff. Ruckartig hob er den Kopf, als ihm einfiel, dass er nicht allein war.

Die Briefträgerin hatte sich nicht bewegt. Sie kauerte nach wie vor auf dem Gehweg, hielt beide Hände vor den Mund und weinte lautlos. Ihre Blicke trafen sich.

Robert Lärche räusperte sich umständlich: „Sehen Sie den kleinen blauen Schmetterling am Handgelenk?“, brachte er schließlich hervor und musste würgen. „Sehen Sie ihn? Da! Der Schmetterling! Sehen Sie ihn? – Das ist meine Frau! Sie ist wieder da!“ Er lachte hysterisch.

Im Polizeipräsidium in der Ettstraße lauschte Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein mit gerunzelter Stirn der aufgeregten Stimme, die ihm aus dem Hörer des Telefons entgegenschallte. Obwohl das Gespräch schon gut eine Minute dauerte, war es ihm bislang nicht möglich gewesen, das Gehörte in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen.

Am Schreibtisch gegenüber saß die junge Kriminalassistentin Susanne Nowak. Sie las gerade das interne Protokoll der Kollegen vom Einbruchsdezernat. Dreihundertfünfzig Versuchsmäuse waren aus der Forschungsabteilung eines Pharmaunternehmens gestohlen worden. Angeblich sei jedoch keine Viren- oder Krankheitsübertragung auf Menschen zu befürchten, schrieb der Leiter der Abteilung, da es sich nicht um die „geflederte, chinesische Gattung“ gehandelt habe, wie er zu scherzen beliebt hatte.

Die beiden Kriminaloberkommissare Georg „Schorsch“ Hinterhuber und Daniel Baumann teilten sich den zweiten Arbeitsplatz und verzweifelten an der Bürokratie, mit der sie ihre Fahrtkostenabrechnungen einreichen sollten, während der Computerspezialist Joachim Mayer, der seit einer Weihnachtsfeier vor mehreren Jahren von allen nur „Mausi“ genannt wurde, den dritten Doppelschreibtisch belegte. Der eigenwillig anmutende Spitzname bezog sich auf die Affinität des Beamten zu seinen Rechnern und deren Zubehör, die auch am hoffnungslos mit PC-Krimskrams aller Art überfüllten Schreibtisch zu erkennen war.

Diverse Aktenschränke, ein Sideboard mit Kaffeemaschine und integriertem Kühlschrank, sowie ein großer Besprechungstisch rundeten die auf Funktionalität ausgelegte Einrichtung des Gemeinschaftsbüros ab. Zudem waren sämtliche Arbeitszimmer des Präsidiums in Hoffnung auf ein verbessertes Raumklima vor kurzem mit sogenannten „Bürogärten“ ausgestattet worden: Yucca-Palmen und Alpenveilchen sollten für Ausgeglichenheit, Harmonie und reinere Luft sorgen. Der Erfolg ließ auf sich warten. Zumindest in diesem Münchner Amtszimmer, wo die Stimmung trotz des freundschaftlichen Verhältnisses, das die Mitarbeiter untereinander pflegten, mitunter so schnell hochkochen konnte, wie einer der rund dreihundert aktiven Geysire im Yellowstone-Nationalpark in Wyoming, USA.

Auch trotz der reduzierten Kohlendioxid-Belastung war der Kriminalhauptkommissar inzwischen an der Kapazitätsgrenze seiner Geduld angelangt: „Stopp! Aufhören! Ruhe jetzt, Zefix!“, raunzte er in den Hörer. „Ich versteh‘ kein Wort! Was ist los? – Atmen Sie tief durch! Und dann erzählen Sie alles noch mal, langsam und der Reihe nach.“

Sein offensichtlich noch unerfahrener und – mit welcher Situation auch immer – völlig überforderter Kollege am anderen Ende der Leitung schien den Rat tatsächlich zu beherzigen. Deutlich hörbar schnaufte er dem Kommissar ins Ohr.

„Halten wir uns doch einfach an die ‚Vier-W-Regel‘, als wären Sie ein ganz normaler Mensch“, schlug Franz Branntwein vor. „Wo ist etwas passiert? Was ist geschehen? Wie viele Personen sind verletzt? Wer ruft an?“

„Ja, gut. Das ist gut. So machen wir das. Danke. Das ist nämlich mein erster Leichenfund und ich…“

„W-w-w-w“, unterbrach der Kommissar und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Wo?“

„Onegin-, Ecke Bosettistraße.“

„Was?“

„Hier liegt eine tote Frau auf dem Bürgersteig!“

„Verletzte?“

„Nein.“

„Und Sie sind?“

„Polizeimeister Steininger, Inspektion 41. Dienstnummer…“

„Ist mir wurscht. – Sie haben also eine weibliche Leiche gefunden und brauchen Unterstützung.“

Susi Nowak blickte interessiert auf und bedeutete ihrem Chef mit einer ungeduldigen Handbewegung, den Lautsprecher einzuschalten.

„Ja, genau. Unterstützung. Die Kripo eben. Der Zeuge sagt, es war keine Absicht!“

„Welcher Zeuge?“

„Robert Lärche.“

„Was meinen Sie mit ‚keine Absicht‘? Hat er die Frau getötet?“

„Was?“ Nun war es an Steininger, verwirrt zu sein. „Nein! Er ist nur gestolpert.“

Kriminalhauptkommissar Branntwein seufzte. „Wo ist denn Ihr Kollege?“, fragte er dann in Hoffnung auf einen berufserfahreneren Ansprechpartner.

„Der musste das Auto umparken. Hier ist alles voller Schnee, da war kein Durchkommen mehr.“

„Es wäre vielleicht gar nicht schlecht gewesen, die Straße zu sperren. Aber egal – jetzt ist es, wie es ist. Sie bleiben bei der Toten. Lassen Sie niemanden in die Nähe. Ist die Spurensicherung schon verständigt?“

„Ich glaube nicht.“

„Gut, dann erledigen wir das.“ Er nickte Susi auffordernd zu. „Onegin-, Ecke Bosettistraße. – Wir beeilen uns.“ Branntwein beendete die Verbindung, während seine Assistentin schon die Nummer des Rechtsmedizinischen Instituts wählte.

„Was war das denn?“, ließ sich Daniel Baumann vernehmen. Auch Schorsch Hinterhuber hatte seine Tabellenstatistik abgespeichert und den Anruf mitverfolgt. „Hörte sich etwas konfus an, der junge Mann, nicht wahr?“, befand Daniel.

„Ehrlich gesagt: Ich hab‘ keine Ahnung! Am besten machen wir uns ein Bild vor Ort.“ Branntwein erhob sich und klaubte seine Jeansjacke vom Boden auf, die er heute Morgen achtlos am Garderobenständer vorbeigeworfen hatte. „Wir melden uns dann bei dir“, sagte er zu Mausi, der wie immer im Büro bleiben und als zentrale Anlauf- und Informationsstelle fungieren würde.

„Alles klar, Franz. Ich schau‘ schon mal, ob ich über diesen Robert Lärche was rausfinden kann.“

Der Kommissar nickte. „Tu das.“ Er trat zur Seite, um Susi Platz zu machen, die sich mit ihrer riesigen Umhängetasche an ihm vorbei aus dem Büro drängeln wollte.

„Ich geh‘ noch kurz aufs Klo“, informierte sie ihre Kollegen. „Wir treffen uns unten. Ihr könnt ja so lange schon mal die Autofrage klären.“

Daniel blickte irritiert drein. „Was gibt es denn da zu klären?! Schorsch und ich fahren doch sicher mit unserem Wagen, nicht wahr?“ Er knetete nervös die Hände und blickte von einem zum anderen. Es war kein Geheimnis, dass sich der gebürtige Schleswig-Holsteiner mit dem eigenwilligen und durchaus zur Monopol-Vorfahrt neigenden Fahrstil seines Vorgesetzten nicht recht anzufreunden wusste.

„Jetzt sei nicht so ein Schisser“, sagte Schorsch, legte seinem Freund aber begütigend die Hand auf den Rücken. „Du hast doch gehört, was der Steininger gesagt hat: In Obermenzing ist kein Durchkommen mehr. Wo sollen wir denn da parken? – Außerdem kann bei dem Schneechaos sowieso niemand schnell fahren. Nicht mal der Chef – nix für ungut, Franz.“

Branntwein schnaubte. „Ja, ja, is‘ scho‘ recht. Aber wenn du mir wieder das Auto vollkotzt, kannst du was erleben, Daniel!“

„Das muss ich mir jetzt wohl bis zum Ende meiner Tage anhören, nicht wahr? Nur, weil ich ein einziges Mal – noch dazu in leicht angetrunkenem Zustand… – Ihr Oberbayern seid wirklich ein nachtragendes Volk!“

Mausi verdrehte die Augen. „Jetzt haut’s endlich ab!“

TURNSCHUH-BLUES

Nachdem sich die vier Ermittler erfolgreich in Branntweins alten VW Golf gequetscht hatten – Schorsch bestand darauf, dass die Dame vorne saß – drehte der Kriminalhauptkommissar als erstes die Heizung auf Maximum und schaltete den nachträglich eingebauten CD-Player ein. Wenig später erfüllte James Carter den Wagen mit den Klängen seines Saxofons.

„Nur weil er Sommer wie Winter in Jeansjacke und Turnschuhen herumläuft, müssen wir jetzt alle schwitzen, nicht wahr?“, raunte Daniel Schorsch ins Ohr, krallte sich jedoch gleich darauf am Haltegriff der Seitentür fest, weil Branntwein das Auto mit angezogener Handbremse über den schlecht geräumten Parkplatz schleudern ließ.

Susi kicherte fröhlich. „Jetzt sei nicht so fies, Chef!“

„Ups!“ Branntwein lachte ebenfalls, lenkte aber ein. „Na gut – ich reiß‘ mich ’zam. Versprochen“, fügte er mit Blick in den Rückspiegel hinzu. Daniel lächelte tapfer und tupfte sich mit einem Taschentuch erste Schweißperlen von der Stirn.

Franz Branntwein folgte zunächst der Mars-, Arnulf- und Notburgastraße, überquerte die Nördliche Auffahrtsallee und fuhr dann auf der Menzingerstraße am Botanischen Garten vorbei.

„Die Grünanlage grenzt seit 1914 direkt an den Schlosspark Nymphenburg und zählt mit über zwanzig Hektar Fläche zu der größten ihrer Art in Deutschland“, dozierte Susi auswendig. „Hab‘ ich neulich erst gelesen. – Es gibt dort um die neunzehntausendsechshundert verschiedene Pflanzenarten“, fügte sie hinzu.

„Dein Hirn ist wie ein Schwamm“, sagte Branntwein, nicht zum ersten Mal.

„Ja, aber einer mit Filtersystem. Der Mist wird gleich wieder zu den Ohren rausgedrückt.“

„Daher kommt vermutlich auch die Redewendung, nicht wahr?“, schloss sich Daniel dem Geplänkel an. „Das kommt mir zu den Ohren raus.“

Schorsch stöhnte auf.

Über die Verdi- und Thuillestraße erreichte das Ermittlerteam schließlich nach circa dreißigminütiger Fahrt sein Ziel. Die Parkplatzsuche war einfacher als gedacht: Branntwein, der die uniformierten Kollegen am Gehweg stehen sah, bremste hinter dem Bus der Spurensicherung ab und schaltete kurzerhand den Motor aus. Der Transporter war zwar mit eingeschalteter Warnblickanlage diagonal zwischen zwei großen Schneehaufen und somit halb auf der Straße geparkt, doch das störte den Kommissar nicht weiter. Er knallte die Rundumleuchte aufs Wagendach, drückte am Armaturenbrett ebenfalls die rote Taste mit dem Warndreieck und ließ das Auto, wo es war.

„Also das hätten wir auch gekonnt, nicht wahr?“ Daniel rammte Schorsch den Ellbogen an den Hüftknochen. „Einfach mitten auf der Fahrbahn stehenbleiben!“

Schorsch zuckte schmerzverzerrt zusammen. „Wenigstens hast du deine neuen Bergstiefel an“, beschied er seinen Freund, mit aufs Personalpronomen gelegter Betonung, und deutete auf den Kriminalhauptkommissar, der schon über die schneebedeckte Fahrbahn stakste wie ein Kranich durchs Schilf.

„Grüß Gott, die Dame und Herren.“ Franz Branntwein zückte seinen Dienstausweis und stampfte heftig mit den Füßen auf der Stelle, um sein unpassendes Schuhwerk vom eiskalten Weiß zu befreien. „Was haben wir hier denn nun?“, wandte er sich fragend an die Streifenpolizisten, blickte jedoch nur in leere Gesichter.

Dr. Elisabeth Schneider, die Rechtsmedizinerin, die bei seinem Eintreffen am Boden gekniet hatte, erhob sich nun und warf ihm ein liebreizendes Lächeln zu, wie er erfreut bemerkte. „Hallo Franz! Die Spurensicherung und ich sind auch erst vor ein paar Minuten angekommen. Laut dem Ehemann handelt es sich bei der Leiche um die neunundfünfzigjährige Angela Lärche. Er ist im Haus; zusammen mit der Briefträgerin, die die Tote gefunden hat.“

„Dann geh‘ ich auch mal rein“, sagte Susi schnell und blies warme Atemluft zwischen ihre Hände. „Ist eh schweinekalt hier draußen. Bis später!“ Sie stiefelte durchs Gartentürchen zum Haus.

„Sie war bei der Auffindung also schon tot und wurde hier abgelegt?“, vergewisserte sich Branntwein.

„Auf den ersten Blick ja“, antwortete Schneider. „Zumindest sieht es nicht danach aus, als wäre sie aus einem fahrenden Wagen geworfen worden, obwohl sie einige Rippenbrüche zu haben scheint. Genaueres kann ich dir nach dem Röntgen sagen.“

„Sie ist nackt“, machte der junge Kollege Steininger auf das Offensichtliche aufmerksam. „Vielleicht ist sie erfroren.“

„Wenn, dann nicht hier. Der Körper weist sowohl auf der Brust als auch am Rücken Totenflecken auf. Das bedeutet, dass die Leiche nach dem Ableben umgelagert wurde. Die Frau ist mindestens zwei, höchstens zwölf Stunden tot.“

„Was sagen denn die Nachbarn?“, wandte sich Schorsch an die Kollegen in Blau.

„Ähm – keine Ahnung! Wir sollten doch hier bei der Leiche bleiben.“

„Alle beide?“

„Nicht aufregen, Schorsch. Dann übernehmen wir eben die Befragung der Anwohner. Am besten fangen wir gleich an. – Du möchtest sicher keinen Oberschenkelhalsbruch riskieren, indem du auf Sommerschühchen durch die Vorgärten schlitterst, nicht wahr Chef?“ Daniel überquerte die Straße, ohne eine Antwort abzuwarten. Die Zuständigkeiten im Team waren wie immer klar aufgeteilt. Branntwein und Susi würden mit den Zeugen beziehungsweise Hinterbliebenen sprechen, während Schorsch und er selbst die Suche nach weiteren Hinweisen aus der Nachbarschaft übernahmen.

„Dir geb‘ ich gleich Oberschenkelhalsbruch, du Flachlandpony auf Berghufen! – Das hört sich ja an, als wäre ich mit nicht mal Mitte fünfzig schon ein Tattergreis“, murmelte der Kriminalhauptkommissar aufgebracht vor sich hin, zugleich peinlich berührt. „Turnschuhe sind etwas für Junggebliebene, lasst euch das gesagt sein!“, rief er den beiden Kollegen hinterher.

„Sowieso!“, bestätigte Schorch ebenso laut und drückte auf den Klingelknopf des gegenüberliegenden Hauses.

Die Streifenpolizisten hatten dem verbalen Schlagabtausch irritiert zugehört. „Ähm – Wenn sie nicht erfroren ist, woran ist sie denn dann gestorben?“, wollte der Jüngere wissen.

„Herzstillstand“, fertige ihn Branntwein schlechtgelaunt ab.

„Ich lasse die Leiche gleich ins Institut bringen.“ Elisabeth Schneider entnahm ihrem Koffer mehrere Plastikbeutel und begann die Hände und Füße Angela Lärches einzutüten. So würden eventuell an ihnen anhaftende Spuren beim Transport nicht vernichtet werden. Am rechten Fuß stutzte sie. „Das ist merkwürdig. Hier wurde doch nicht gestreut, oder?“

„Bisschen Splitt liegt rum, weshalb fragst du?“ Der Kommissar beugte sich ein Stück herab und nutzte die Gelegenheit, der Rechtsmedizinerin ein wenig näher zu kommen.

„Täusche ich mich, oder schnüffelst du an meinen Haaren?“

„Ich schnüffle nicht, ich schnuppere“, korrigierte Branntwein, „aber durch die blöde Kapuze deines Overalls riech‘ ich sowieso nix.“

„Sie hat Sand an den Füßen, auch zwischen den Zehen und unter den Nägeln. Ich muss mir das im Labor genauer ansehen.“

„Brauchn Se uns no‘?“, meldete sich der ältere der beiden Polizisten erstmals zu Wort. Er sprach mit deutlich sächsischem Akzent.

„Kommt darauf an“, antwortete der Kommissar. „Was ist denn schon alles erledigt?“

„Nix ist erledigt!“, grantelte plötzlich eine Stimme hinter seinem Rücken. „Genau das ist ja der Mist! Keine Absperrung, sämtliche Spuren zertrampelt – ich weiß überhaupt nicht, was ich hier eigentlich soll!“ Conrad Fleischmann, der Leiter der Kriminaltechnik und ein alter Freund des leitenden Ermittlers, fixierte die beiden Uniformierten mit bösen Blicken. Die traten unbehaglich von einem Bein aufs andere, was nicht nur der Kälte geschuldet war.

„Hallo Conni!“ Der Kommissar schlug dem anderen kräftig mit der flachen Hand auf den Oberarm. „Schön, dich zu sehen.“

„Ja, ja! – Von hinten durch den Garten ist unser Leichenlieferant jedenfalls nicht gekommen. Da ist alles makellos. So weiß wie Schnee.“

„Du bist ja richtig poetisch heute.“

„Reiz‘ mich nicht! Ich ärgere mich schwarz wie Ebenholz über die Schlamperei am Fundort. Und wenn’s nach mir ginge, wäre hier manche Nase gleich so rot wie Blut.“

„Wie bidde?! Mir lass‘n uns doch von Ihn‘ nich‘ bedrohn!", fuhr der ältere der Polizisten auf.

Branntwein schüttelte bedächtig den Kopf. „Er bedroht Sie nicht, Herr… äh… – das ist in Bayern eine ganz normale Form der Kommunikation in Anlehnung an eine hypothetische Wunschäußerung, die Bezug nimmt auf ein Märchen der Gebrüder Grimm“, klärte er geduldig auf. „Eine echte Schlägerei bedürfte nämlich keiner Ankündigung“, fügte er hinzu, als der Sachse ihn ungläubig ansah. „Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein, wir brauchen Sie hier nicht mehr. Es wäre aber sehr freundlich, wenn Sie uns Ihren umfassenden Bericht baldmöglichst zukommen lassen könnten.“

Conrad Fleischmann meinte, ein „Die sinn do ni ganz saubor! Nimm dir di nich zum Vorbild, mei Gudor!“ zu hören, während die beiden Kollegen in Blau beleidigt abzogen. „Gut, dass du dich immer so gewählt ausdrücken kannst!“, wandte er sich feixend an Branntwein.

„Und du immer so charmant auftreten…!“ Der Kommissar quetschte sich mit dem Gesäß an die kleine Mauer und zog den Bauch ein, um den Sargträgern Platz zu machen. Sie hatten die Hosenbeine ihrer Anzüge in ausladende Moonboots gesteckt und trugen dick gepolsterte Steppjacken. Wie immer waren sie komplett in Schwarz gekleidet.

„Ihr seht aus wie zwei Michelin-Männchen in Trauer“, konnte sich Branntwein nicht verkneifen, seine Gedanken laut auszusprechen. Elisabeth Schneider, die die Verladung überwachte, warf ihm einen amüsierten Blick zu. Die beiden Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens hingegen würdigten ihn keines Kommentars. „Na gut – ich geh‘ dann auch mal rein. – Du bist hier fertig, oder Elisabeth? Was denkst du, wann du mir Genaueres mitteilen kannst? Und sag‘ jetzt nicht ‚nach der Obduktion‘!“

„Du kannst morgen gegen neun Uhr mit Susi zu mir ins Institut kommen. Wenn sich etwas ändern sollte, gebe ich dir rechtzeitig Bescheid.“

„Alles klar. – Wo hast du eigentlich geparkt?“

„Gar nicht. Ich bin mit einer Taxe gekommen. Mein Auto ist in der Werkstatt. – Aber das ist kein Problem, da hinten gibt es einen Stand.“ Sie schälte sich aus ihrem Schutzoverall. Darunter kam ein kanariengelber Schianzug zum Vorschein. „Also dann, bis morgen – respektive später.“ Sie hob lächelnd die Hand zum Gruß, schnappte sich ihren Koffer und stapfte davon. Fleischmann und Branntwein sahen ihr hinterher.

„Und?“, fragte Fleischmann.

„Wird langsam“, antwortete der Kommissar zufrieden.

Am Bus der Spurensicherung verabschiedeten sich die befreundeten Kollegen voneinander. Branntwein hatte sein Auto ein Stück zurückgesetzt, damit Fleischmann problemlos ausparken konnte. „Du brauchst nichts mehr aus dem Haus, oder Conni?“, fragte er jetzt.

„Nein, die Tote scheint ja eindeutig identifiziert zu sein. Aber ich bin neugierig, wie sich das aufklärt.“

„Ja, ich bin auch gespannt. Ziemlich mysteriös das Ganze. – Pfiat di, Conni! Man hört sich.“

„Habe die Ehre!“

Franz Branntwein schlurfte durch den kleinen Vorgarten und klopfte an der Tür des Eigenheims. „Familie Lärche“ stand auf einem reich verzierten Holzschild zu lesen. „Wahrscheinlich Handarbeit von der Auer Dult“, dachte der Kommissar. Auf der anderen Straßenseite sah er Daniel und Schorsch, die sich kurz berieten und dann aufteilten. Susi öffnete und führte ihn über einen kurzen Flur mit Garderobe in eine warme Wohnküche, wo Robert Lärche und die Briefträgerin gemeinsam vor einer dampfenden Tasse Kamillentee saßen und schweigend auf den Tisch starrten. Bei seinem Eintreten blickten die Beiden auf.

„Grüß Gott! Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein. Mein aufrichtiges Beileid.“ Er griff nach der Hand des Witwers und schüttelte sie.

„Danke.“

„Das ist Frau Patzelt. Maria Patzelt. Sie hat die Verstorbene gegen elf Uhr vierzig gefunden“, stellte Susi die Zeugin vor.

„Mir sind bei meinem Sturz fast alle Sendungen aus den Transporttaschen gepurzelt. Beim Einsammeln habe ich gar nicht daran gedacht, dass ich sie vielleicht besser hätte liegenlassen sollen. Ich hoffe, ich habe keine wichtigen Spuren zertrampelt“, gestand sie mit leiser Stimme.

„Nein, machen Sie sich keine Sorgen“, versicherte der Kommissar. „Das war schon in Ordnung, schließlich tragen Sie die Verantwortung.“ Er war froh, dass Conrad Fleischmann ihn nicht hören konnte. „Mir als Kunde ist es sogar eine Beruhigung zu wissen, dass mit der Post so gewissenhaft umgegangen wird“, fügte er hinzu. „Aber wie genau ist es denn dazu gekommen?“

Maria Patzelt knetete nervös ihre Hände und starrte wieder auf den Tisch. „Ich dachte zunächst, es wäre nur eine Verwehung, oder dass vielleicht jemand den Schnee beim Autoabkehren auf den Bürgersteig geworfen hatte – etwas in der Art.“ Sie rang um Fassung. „Jedenfalls bin ich mit dem Fahrrad beim ersten Anlauf nicht über den – ähm – den kleinen Buckel gekommen, der mir im Weg war. Und dann habe ich noch mal Schwung geholt. – Sie müssen entschuldigen, ich konnte ja nicht wissen…!“, wandte sie sich merklich erschüttert an Robert Lärche. Der nickte knapp, fand aber kein freundliches Wort.

Susi legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Unterarm. „Nein, das konnten Sie wirklich nicht wissen.“

Maria Patzelt lächelte die Kriminalassistentin dankbar an. „Beim zweiten Versuch muss ich dann mit dem Vorderrad an der… an dem Brustkorb hängengeblieben sein. – Oh mein Gott! Diesen Moment werde ich nie vergessen!“

„Und dann haben Sie Herrn Lärche gerufen?“, fragte Branntwein betont sachlich.

„Nein. Er hat mich gerufen.“

„Das verstehe ich nicht. Wie meinen Sie das?“

„Wenn ich an dieser Stelle vielleicht…“, klinkte sich Robert Lärche ins Gespräch ein.

Der Kommissar nickte zustimmend. „Wenn Sie sich dazu schon in der Lage fühlen, sehr gerne.“

„Ich hatte Frau Patzelt aus der Küche beobachtet. Natürlich kannte ich ihren Namen nicht. Aber ich sah, dass sie Probleme mit dem Fahrrad hatte. Deshalb habe ich das Fenster geöffnet und ihr zugerufen, dass ich rauskommen und ihr helfen würde. Sie sah mich jedoch nur verdattert an und fiel mitsamt ihrem Fahrrad in Ohnmacht.“

„Das war gewiss ein Schreck für Sie. Und dann?“

„Bin ich so schnell wie möglich zu ihr geeilt. Aber als ich am Gartentürchen um die Ecke bog, war sie schon wieder bei Bewusstsein und saß auf dem Boden. Das Fahrrad war ebenfalls umgekippt. Überall lagen Briefe und Zeitschriften herum.“ Robert Lärche schluckte schwer, bevor er fortfuhr: „Ich habe Angela unter dem Schnee nicht bemerkt, sondern nur auf Frau Patzelt geachtet. Es ging alles so schnell… – Ich muss über sie gestolpert und auf ihrem Arm ausgerutscht sein.“ Er schloss angesichts der grausigen Erinnerung die Lider und schauderte. Als er die Augen wieder öffnete, glaubte Franz Branntwein, sowohl Schmerz als auch Resignation in ihnen lesen zu können. Lärche erhob sich schweigend, trat ans Fenster und blickte hinaus. „Wenigstens habe ich jetzt Klarheit und weiß, woran ich bin!“, sagte er schließlich mit gepresster Stimme.

„Klarheit?“ Der Kommissar runzelte die Stirn.

„Nun, Angela ist tot. Sie wird nicht wieder zu mir zurückkommen“, antwortete Lärche, ohne sich umzudrehen. Seine Schultern bebten.

„Susi, könntest du bitte Frau Patzelt hinausbegleiten?“, sagte Branntwein in das folgende Schweigen hinein.

„Natürlich.“ Die beiden Frauen erhoben sich.

„Auf Wiedersehen, Herr Lärche“, sagte die Briefträgerin leise. „Und mein herzliches Beileid.“

„Ja. Auf Wiedersehen.“

„Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“, fragte die Kriminalassistentin, als sie mit der Zeugin im Flur stand und die Küchentür hinter ihnen geschlossen hatte.

„Nein danke, es geht schon.“

„Eine Frage noch, Frau Patzelt: Als Sie gemeinsam mit Herrn Lärche hier ins Haus gegangen sind, da haben Sie Ihr Fahrrad doch zuvor noch über die Leiche heben müssen.“

Maria Patzelt sah Susanne Nowak aus übergroßen Augen an und schluckte. „Ja“, bestätigte sie dann. „Es war schrecklich. Herr Lärche hat mir dabei geholfen.“

„Wie wirkte er da auf Sie? War er gefasst, erschüttert, verwirrt…?“

„Wir befanden uns beide in einer Art Schockzustand; haben irgendwie einfach funktioniert. Zumindest war das mein Eindruck.“

Susi nickte verständnisvoll. „Und als Sie das Fahrrad dann hierher zum Haus geschoben haben, sind Ihnen da mehrere Fußspuren aufgefallen? Oder nur die, die von Herrn Lärche stammten, als er Ihnen zu Hilfe kam? Also von der Eingangstür zur Straße hin, meine ich?“

Maria Patzelt griff sich unbewusst an die Kehle. „Warum fragen Sie mich das? Meinen Sie, dass er seine Frau selbst…? Also, dass er die Leiche…, dass er sie selbst dort abgelegt haben könnte? – Oh mein Gott!“

„Nein. Ich meine gar nichts, Frau Patzelt. Ich möchte nur von Ihnen wissen, ob Sie sich anhand der Schuhabdrücke im Schnee daran erinnern können, wie oft jemand seit dem letzten Räumen vom Haus zur Straße gegangen war.“

„Nein. Tut mir leid. Ich weiß es nicht. Ich glaube, es war alles noch recht unberührt, aber sicher sagen kann ich es nicht“, antwortete sie und zupfte nervös an der Nagelhaut ihres rechten Daumens.

„Das macht nichts“, beruhigte Susi die augenscheinlich verwirrte Frau. „Ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Vorher schon? Vielleicht aus der Ferne?“

„Nein, auch nicht! Ich komme immer aus der Bosettistraße und biege dann hier in die Oneginstraße ab. Da habe ich keinen Blick auf das Haus.“

Susi reichte ihr eine Visitenkarte. „Bitte melden Sie sich, falls Ihnen noch etwas einfällt. Ganz egal, was. Und rufen Sie jemanden an, der Ihnen jetzt beisteht und dabei hilft, das Ganze zu verarbeiten, wenn Sie zu Hause sind.“

„Das werde ich. Gleich, nachdem ich meinen Chef informiert habe. Vielen Dank, Sie sind sehr nett. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, Frau Patzelt.“

DAS BILD HÄNGT SCHIEF

Als Susi in die Küche zurückkehrte, hatte sich die Atmosphäre im Raum verändert. Auch die Körpersprache ihres Chefs war eine andere. Statt anteilnehmend und empathisch wirkte er nun misstrauisch und angespannt.

„Setz‘ dich“, sagte er zu seiner Assistentin. „Herr Lärche war gerade dabei, mir vom Verschwinden seiner Frau zu erzählen. – Bitte, fahren Sie fort. Sie haben Ihre Gattin also vor gut drei Jahren zum letzten Mal gesehen…?“

„Ja. Am zweiundzwanzigsten Oktober, um genau zu sein. Ein Sonntag. Ich kam vom Skatfrühschoppen nach Hause, und sie war fort.“ In seinen Augen schimmerten Tränen.

„Einfach so?“

„Ja. Einfach so.“

Der Kommissar schob seinen Stuhl ein Stück zurück und schlug die Beine übereinander. „Aber Sie haben keine Vermisstenanzeige erstattet“, stellte er fest und verschränkte die Arme vor der Brust. Mausi, der im Präsidium mit seinen Recherchen begonnen hatte, hätte ihnen diese wichtige Information längst mitgeteilt. Davon war Branntwein überzeugt. Dennoch warf er Susi einen kurzen Blick zu.

Die verstand ihn auch ohne Worte und schüttelte stumm den Kopf. „Keine Nachricht aus dem Büro“, sollte das heißen.

„Warum nicht?“, wandte er sich daraufhin wieder an Robert Lärche.

„Weil ich meine Frau zwar auf zwischenmenschlicher Ebene vermisst habe – sehr sogar –, aber sozusagen nicht auf rechtlicher. Angela war schließlich erwachsen. Sie konnte gehen, wohin sie wollte, und natürlich mit wem auch immer.“

„Denken Sie dabei an jemand bestimmten?“

„Nein. Aber als Architekt war ich oft auf Reisen, bin es heute noch. Ich baue Staudämme. Weltweit. Angela warf mir vor, zu wenig Zeit für sie zu haben; zumal ich nicht wollte, dass sie mich begleitete. Sie sagte, dass ich mich nicht zu wundern bräuchte, falls sie eines Tages mit einem Anderen auf und davon wäre.“

„Aber Ihre Frau war zu diesem Zeitpunkt doch schon Mitte fünfzig!“, rief Susi spontan und fing sich einen strafenden Blick ihres Vorgesetzten ein. „Wobei… – ‚Alter schützt vor Liebe nicht, aber Liebe vor dem Altern‘, hat schon Coco Chanel gesagt!“ Die beiden Männer gingen auf ihren verlegenen Zusatz nicht ein.

„Weshalb sollte Ihre Frau nicht mit Ihnen verreisen?“, fragte Branntwein vielmehr.

„Das war eine persönliche Entscheidung.“

„Und an diesem zweiundzwanzigsten Oktober vor drei Jahren dachten Sie dann, dass sie ihre Drohung wahrgemacht hätte.“ Branntwein hatte die Frage als Feststellung formuliert.

Lärche nickte. Susi zückte ihr Smartphone und schrieb eine Nachricht an Mausi. Der Kommissar beugte sich ein Stück weit nach vorne und fixierte sein Gegenüber. „Hat Ihre Frau denn einen Abschiedsbrief hinterlassen?“

„Nein. Aber ihre Zahnbürste, Mantel und Schuhe fehlten. Außerdem hatte sie ‚Piep‘ mitsamt seinem Käfig mitgenommen. Das war unser Wellensittich, den sie erst kurz zuvor gekauft hatte. – Den Haustürschlüssel hat sie aber dagelassen“, fügte er verbittert hinzu.

„Was war mit dem Auto?“, führte Branntwein die Befragung fort.

Robert Lärche schien verwirrt. „Welches Auto denn?“

„Na, der Wagen Ihrer Frau!“

„Ach so. Angela besaß nicht einmal den Führerschein, geschweige denn ein Fahrzeug.“

„Und Sie pflegten all die Jahre keinen Kontakt? Keine Unterhaltsforderungen? Keine Nachsendeadresse für die Post?“

„Nein. Nichts dergleichen.“

„Gab es gemeinsame Bankkonten?“

„Ja, aber ich habe Angelas Karten sperren lassen, nachdem sie verschwunden war.“

„Sie hätte ja trotzdem etwas für sich beanspruchen können.“

„Aber das hat sie nicht getan.“

„Und Sie waren darüber nicht irritiert?“

Lärche zuckte die Schultern. „Ich nahm an, dass sie jetzt eine andere Quelle hat, die ihr einen Dampfdruckreiniger und beheizbare Lockenwickler finanziert“, sagte er sarkastisch. „Entschuldigen Sie, das war unpassend.“ Er erhob sich erneut, um aus dem Fenster zu blicken. Das schien eine Eigenart von ihm zu sein. „Wir – mein Sohn Markus und ich – waren der Meinung, dass sie offensichtlich einen kompletten Neuanfang machen wollte.“

„Sie haben wirklich nie wieder etwas von ihr gehört?“

Robert Lärche schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen.

„Sie sagten ‚mein‘ Sohn…?“

„Markus stammt aus erster Ehe. Aber sie hatten ein gutes Verhältnis, Angela und er. Mein Gott, ich muss ihn anrufen! – Hören Sie… Mir wird das alles zu viel. Über drei Jahre lang nichts – und dann liegt sie plötzlich tot vor der Tür! Noch dazu so… – so würdelos!“ Der Mann schlug die Hände vors Gesicht und senkte den Kopf. „Ich muss das erst verarbeiten. – Wenn Sie mich jetzt also bitte allein lassen würden!“, fügte er energischer hinzu und sah auf. „Ich brauche Ruhe!“

„Ich fürchte, so einfach ist das nicht, Herr Lärche“, sagte Branntwein. Er hielt Susis Handy mit Mausis Antwort in der Hand, das sie ihm gereicht hatte. „Ihre Frau war die letzten fünfzehn Jahre nur unter einer Adresse gemeldet: nämlich dieser hier.“

Der Witwer schnellte herum und riss ungläubig die Augen auf. „Was?! Was sagen Sie da?! Was bedeutet das?“ Er taumelte. Susi sprang auf und führte ihn zu einem Stuhl. Mit zitternden Knien ließ er sich langsam darauf nieder und schnappte nach Luft.

„Tja“, dachte Branntwein. „Gute Frage! Sie zieht sich Mantel und Schuhe an, nimmt ihren Wellensittich und die Zahnbürste und verschwindet. Einfach so – ohne sich umzumelden?“ Laut sagte er: „Das bedeutet, dass wir uns bei Ihnen ein bisschen umschauen müssen.“

„Umschauen? Weshalb? Wonach suchen Sie denn?“ Robert Lärches Stimme schwankte zwischen Entsetzen, Verwirrung und Trotz.

„Bitte entschuldigen Sie uns kurz“, sagte Branntwein, reichte Susi das Smartphone zurück und bedeutete ihr mit einer knappen Kopfbewegung, ihm in den Flur zu folgen.

„Entweder hat er sie hier über Jahre hinweg versteckt und dann umgebracht, oder sie wurde entführt.“ Der Kommissar hatte die Tür hinter sich zugezogen und sprach mit leiser Stimme. „Fragt sich nur wozu, wenn stimmt, was Lärche sagt, und es keine Lösegeldforderungen gab. Mausi soll diesen Markus ausfindig machen und aufs Präsidium bestellen.“

Susi tippte die entsprechende Anweisung umgehend in ihr Mobiltelefon. „Heute noch?“, fragte sie dabei.

„Ja.“

Es klopfte an der Haustür. Branntwein, der direkt davorstand, machte auf. „Gut, dass ihr da seid“, sagte er zu Daniel und Schorsch. „Ihr müsst gleich noch mal los.“

„Jetzt lass‘ uns doch erst einmal eintreten! Wir sind total durchgefroren, nicht wahr?“ Daniel drängelte sich an seinem Chef vorbei.

Schorsch folgte ihm auf dem Fuße. „Sowieso!“, bestätigte er dabei und legte seinem Vorgesetzten zum Beweis den eiskalten Handrücken an die Wange.

Branntwein zuckte zurück. „Spinnst du?! Du fangst glei a paar!“

Die Küchentür öffnete sich, und Robert Lärche trat zu ihnen in den Flur. Langsam wurde es eng. „Wer sind die Herren?“, verlangte er zu wissen und blickte ärgerlich auf Pfützen schmutzigen Tauwassers, die sich um die Schuhe der gerade eingetroffenen Ermittler bildeten.

„Ich bin Kriminaloberkommissar Daniel Baumann, und das ist mein Kollege, Georg Hinterhuber. Unser herzliches Beileid zum Tod Ihrer Frau.“

Schorsch brummte zustimmend.

„Wir müssen Sie noch um einen klitzekleinen Moment Geduld bitten, Herr Lärche“, wandte sich Susi mit charmantem Lächeln an den unfreiwilligen Gastgeber. „Was meinen Sie, ob ich wohl auch so ein Tässchen Kamillentee bekommen könnte?“

„Sehr gerne“, knurrte Lärche widerwillig mit zusammengebissenen Zähnen, ging aber tatsächlich in die Küche zurück.

„Kamillentee! Ja Pfui Deibi!“ Branntwein verzog angewidert das Gesicht. „Sieht aus wie vom kranken Pferd – und riecht auch so, hat mein Opa immer gesagt.“

„Ich dachte, dein Großvater hat Kühe gehalten?“, fragte Susi spitz.

„Auch.“

„Das ist doch jetzt völlig einerlei, nicht wahr?“, ereiferte sich Daniel. „Viel lieber würde ich erfahren, warum wir wieder hinaus in die Kälte sollen!“

„Zucker oder Honig?“ Robert Lärche streckte den Kopf aus der Küche.

„Was? Äh – ohne alles, danke!“ Susi wartete, bis sie wieder ungestört waren. Dann fragte sie leise: „Hat denn jemand etwas beobachten können?“

„Ein weißer, hellgrauer oder cremefarbener Lieferwagen beziehungsweise Kleintransporter – je nachdem, wem du glauben willst – ist zwischen zehn Uhr und elf Uhr dreißig von mehreren Nachbarn hier in der Gegend gesehen worden. Es könnte sich natürlich ebenso um unterschiedliche Fahrzeuge handeln, jedoch nicht um Lieferdienste. Da waren sich alle einig, weil die erst später kommen. Ob das, oder eines dieser Fahrzeuge vor Robert Lärches Haus angehalten hat, ist nicht bekannt. Ebenso wenig wie das oder die Kraftfahrzeugkennzeichen“, führte Daniel umständlich aus. Auch er hatte seine Stimme gesenkt.

„Habt ihr nach dem Verhältnis der Eheleute untereinander gefragt?“, wollte Branntwein wissen.

„Sowieso!“, wisperte Schorsch. „Schlecht war’s. Sie ist ihm davongelaufen.“

„Schon vor über drei Jahren! – Das erzählt zumindest die Nachbarin von schräg gegenüber. Und von den anderen Anwohnern, die wir befragt haben, wurde sie ebenfalls so lange nicht mehr gesehen“, ergänzte Daniel.

„Hm.“ Branntwein überlegte. „Na gut, dann bleibt’s erst mal da. Wir müssen das Haus auf eine mögliche Anwesenheit von Angela Lärche während der letzten drei Jahre überprüfen.“

„Du denkst, er hat sie hier festgehalten? Versteckt?“, fragte Daniel.

Der Kommissar grunzte und wog unschlüssig den Kopf. Das Geflüster ging ihm langsam auf die Nerven. „Schau mer mal“, antwortete er schließlich in normalem Tonfall und ging zurück in die Küche.

„Ich habe darüber nachgedacht und glaube nicht, dass ich dem zustimmen muss“, stellte Robert Lärche fest, als ihm Branntwein mitteilte, dass sie jetzt mit der Überprüfung der Räumlichkeiten beginnen würden.

„Das ist korrekt“, antwortete Branntwein beherrscht und verstand den Mann absichtlich falsch. „Aufgrund der Sachlage brauchen wir Ihre Zustimmung nicht. – Daniel, du fängst oben an, Schorsch im Keller. – Geht es von dort aus auch in die Garage?“

Der Hauseigentümer runzelte die Stirn und nickte.

„Gut, dann übernimmst du die gleich mit“, wies er Schorsch an. „Gibt es im Garten einen Schuppen oder ähnliches?“ Stummes, energisches Kopfschütteln war die Antwort. „Okay, dann los! – Ich kontrolliere das Erdgeschoss und Susi trinkt hier zusammen mit Herrn Lärche gemütlich ihren Kamillentee.“

„Das ist ein Unverschämtheit“, polterte der Witwer. „Ich werde mich über Sie beschweren!“

„Ja, das können Sie gerne machen. Susi, gibst du ihm bitte Hallers Direktdurchwahl? – Günter Haller leitet das Polizeipräsidium in der Ettstraße, ist Erster Kriminalhauptkommissar und mein Vorgesetzter“, fügte er erklärend hinzu. „Aber ganz ehrlich, Herr Lärche, bei allem pietätvollen Respekt und Verständnis: Die Leiche Ihrer seit angeblich über drei Jahren spurlos verschwundenen Frau wird unbekleidet vor Ihrer Haustür gefunden! Und zwar ziemlich frisch! Was glauben Sie eigentlich, was die Polizei in einem solchen Fall tut? Tee trinken?“ Seine Stimme hatte zunehmend an Schärfe gewonnen. „Natürlich sind Sie verdächtig, sie hier festgehalten und umgebracht zu haben, Zefix! Und jetzt lassen Sie mich meine Arbeit machen“, blaffte er und stapfte wütend ohne ein weiteres Wort zur Küchentür hinaus. Schorsch und Daniel folgten ihm.

Susanne Nowak blickte ihrem Chef leicht gekränkt hinterher. „Dabei hat er doch selbst gesagt, dass ich mit Ihnen… – na egal! Denken wir uns nichts dabei. Der ist nur so schlecht gelaunt, weil er erst zwei Tassen Kaffee intus hat. – Möchten Sie, dass ich Ihnen die Telefonnummer von Herrn Haller gleich diktiere, oder soll ich sie lieber aufschreiben?“ Robert Lärche starrte die junge Frau fassungslos an.

Wie verabredet durchstreifte Daniel Baumann das erste Stockwerk. Im Badezimmer deutete nichts auf die Anwesenheit einer zweiten Person im Haushalt hin: eine Zahnbürste, ein Duschbad, ein Shampoo, ein Deodorant. Er wandte sich dem Schlafzimmer zu. Hier bot sich ihm das gleiche Bild: Auf dem Doppelbett lagen lediglich ein Kopfkissen und eine Bettdecke, im Schrank befand sich ausschließlich Männerkleidung, ebenso in den Schubladen der Kommode. Nachdem sich weder die Rückwand des Schlafzimmerschrankes lockern ließ noch der große Ankleidespiegel den Eingang in ein geheimes Reich verbarg, suchte er hinter dem Regal im Aufgang des Treppenhauses nach einer versteckten Tür. Erst vor wenigen Monaten waren die Ermittler bei der Ergreifung eines Serienmörders auf einen verborgenen Raum gestoßen, dessen Zugang durch ein Wandgerüst mit Autoreifen getarnt gewesen war. Doch außer jeder Menge verstaubter Reisesouvenirs in Form von südamerikanischen Deko-Tellern, asiatischen Alabaster-Delfinen und afrikanischen Voodoo-Masken konnte er nichts entdecken.

Seine Blicke wanderten über die blanken Wände bis hin zur Decke. Da! Eine rechteckige Luke mit Griff. Es musste einen Speicher geben. Daniel sah sich suchend um. Wie kam man dort hinauf? Dunkel erinnerte er sich an einen Fernsehfilm, den er einmal gesehen hatte. Da war die Leiter direkt in der Klappe integriert gewesen. Er beschloss einen Stuhl aus dem Schlafzimmer zu holen, um nachzusehen.