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LESEEXEMPLAR

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Titel

Nora Hespers

Mein Opa, sein Widerstand gegen die Nazis und ich

Suhrkamp

Motto

Ich bin die Summe all dessen, was vor mir geschah,
all dessen, was unter meinen Augen getan wurde,
all dessen, was mir angetan wurde.
Ich bin jeder Mensch und jedes Ding,
dessen Dasein das meine beeinflusste
oder von meinem beeinflusst wurde.

Ich bin alles, was geschieht,
nachdem ich nicht mehr bin,
und was nicht geschähe,
wenn ich nicht gekommen wäre.

Salman Rushdie

Prolog

Wenn dir die Geschichte vors Schienbein tritt

Ich habe noch nie so geweint. So still. So tief erschüttert. So fassungslos. So überwältigt von Schmerz, Trauer und Bewunderung gleichzeitig. Auf dem Bildschirm meines Laptops stehen Worte, die aus einer Vergangenheit zu mir sprechen, die mir bis dahin zu den Ohren raushing. Weil ich nichts mit dieser Welt anzufangen wusste, von der mein Vater immer erzählt hat. Mein Vater, der sogar ein Jahr älter ist als meine Oma mütterlicherseits. Er, geboren am 21. Februar 1931, wurde nie müde zu erzählen, wie sein Vater vor den Nazis fliehen musste. Wie er deswegen als kleiner Junge in den Niederlanden aufgewachsen ist. Wie seine Eltern ihn später in einem Kinderheim in Belgien versteckt haben. Wie sie dort Rattenköttel ins Mehl gemahlen haben, weil sie zu faul waren, die aus dem Hafer rauszusortieren. Wie die Nazis seinen Vater am Fleischerhaken erhängt haben. Wie er in Mönchengladbach von Bomben verschüttet wird und neben ihm seine Tante stirbt, während er mit geplatztem Trommelfell überlebt. Ich kenne all diese Geschichten. Mein Vater ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Er performt sie mit donnernder Stimme und großen Gesten. Wie ein Theaterschauspieler. Ich habe als Kind fasziniert zugehört. Aber wirklich verstanden habe ich das nicht.

Bis zu diesem Tag. Dem Tag, an dem ich eigentlich nach einem Thema für meine Diplomarbeit suche. Es ist 2006, Frühjahr und neben meiner Studentenbude fährt der Aufzug in unregelmäßigen Abständen auf und ab. Ansonsten ist es still. Zumindest erinnere ich mich nicht an irgendwelche Geräusche. Aus Neugier und Langeweile tippe ich meinen Familiennamen in eine Suchmaschine und lande bei einem Wikipedia-Artikel über Theo Hespers. Bis zu diesem Tag war mir nicht mal klar, dass mein Opa da überhaupt einen Eintrag hat. Verlinkt ist ein Referat aus dem Quickborn von Meinulf Barbers. Keine Ahnung, was der Quickborn ist oder wer Meinulf Barbers, aber das Referat klingt spannend, also klicke ich darauf. Ich bin seltsam gefangen von dem, was ich da lese, und tauche tief in die Geschichte ab. Plötzlich bin ich dabei, als die Gestapo das Haus meines Großvaters mit Flakscheinwerfern anstrahlt und alles auf den Kopf stellt, um angebliche Flugblätter zu finden. Es ist ein Tag im Frühjahr 1933, kurz danach flieht mein Großvater von Mönchengladbach nach Venlo. Mutmaßlich zu Fuß. Ich lese von seiner politischen Arbeit im Exil, seinen Artikeln für die Widerstandszeitschrift. Von seiner Verhaftung. Und dann sind da diese Briefe aus der Gestapo-Haft an seine Familie. Mir ist längst klar, dass mein Großvater weiß, dass er nicht lebend aus der Sache rauskommt. Er weiß, dass er sterben wird. Ich weiß, dass er sterben wird. Und dann lese ich diese Zeilen, die alle Schleusen öffnen und mich gleichzeitig stockstarr werden lassen.

Aber einmal wird ja alles vorbei sein und auch für mich Friede sein. Ihr werdet, hoffe ich, noch einmal die neue schöne Zeit erleben, nach der ich mich immer sehnte, in einem glücklichen Volk, friedlich, gesättigt und froh leben. Ich wünsche es allen Menschen!1

Die Tränen tropfen auf meinen Schreibtisch. Ich starre auf den Bildschirm und bin nicht fähig, mich zu bewegen. Minutenlang hält dieser Zustand an. Und auch Tage später fühle ich mich noch, als wäre ich nicht richtig wach geworden aus einem schrecklichen Albtraum. Es wird sechs Jahre dauern, bis ich mich erneut mit dieser Geschichte beschäftige.

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Da steht er, der Satz, der bei mir alle Schleusen öffnet. Der mich so erschüttert, dass es mir den Boden unter den Füßen wegzieht.

Die Vorgeschichte 1923-33

Wie man zum Feind der Nazis wird

Jede Geschichte ist ein Prozess. Eine Aneinanderreihung von Ereignissen. Eine Abfolge von Entscheidungen, die durch Individuen getroffen werden. Wenn diese Abfolge von Ereignissen und Entscheidungen einen besonders großen, kollektiv spürbaren Einfluss hat, dann sprechen wir davon, etwas Historisches erlebt zu haben. Dann erleben wir uns selbst als Teil dieser Geschichte. Dann sind wir zum Beispiel Weltmeister geworden. So entstehen historische Daten. All die kleinen Entscheidungen auf dem Weg dorthin – und besonders die vielen kleinen Momente des Scheiterns – treten dahinter zurück. Oder werden in der Retrospektive als Heldengeschichten erzählt. Meistens. Manchmal gibt es auch Heldinnengeschichten. Die wurden bislang allerdings deutlich seltener erzählt.

Am Ende aber ist jedes einzelne Leben durch die persönlichen und individuellen Entscheidungen unserer Vorfahr:innen geprägt. Wir sind jetzt hier an diesem Punkt, weil zu jedem anderen Zeitpunkt davor Menschen Entscheidungen getroffen haben. Die Entscheidung, etwas zu tun, oder auch die Entscheidung, etwas zu lassen. Und es ist schon einigermaßen erstaunlich, dass wir trotz aller Grausamkeiten, trotz all der Gewalt, die wir uns als Menschen gegenseitig Tag für Tag überall auf der Welt antun, so weit gekommen sind. Die Optimistin würde sagen: Ist doch alles in allem gut gelaufen! Die Pessimistin würde zurückblicken und fragen: Aber war es das wert? All diese Menschenleben? Ich frage mich: Wie weit sind wir wirklich gekommen? Und wo in diesem ganzen Prozess stehen wir eigentlich heute?

Warum ich mich das frage? Nun, die jüngere deutsche Geschichte ist hinlänglich bekannt. Für alle jene, die eine kleine Zusammenfassung brauchen: Nach einer kurzen Phase der Demokratie während der Weimarer Republik (1918 bis 1933) riss im Januar 1933 die Nationalsozialistische Partei Deutschlands (NSDAP) die Macht an sich und ernannte den gebürtigen Österreicher Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler. Es folgten die grausamsten, unmenschlichsten und zerstörerischsten zwölf Jahre in der deutschen und europäischen Geschichte. Ja, ja, ich weiß, das haben wir alle mal im Geschichtsunterricht gelernt. Ich auch. Und ich kann eins verraten: Ich hatte genau null Interesse an Geschichte und habe aus dieser Zeit ungefähr nichts behalten. Bis auf diesen einen Satz einer älteren Geschichtslehrerin, den ich damals als Pubertierende absurd lustig fand und deswegen bis heute zitieren kann: »Die russische Revolution ist auch mal lecker ins eigene Auge gegangen.« Ich habe immer noch nicht die leiseste Ahnung, was dieser Satz konkret bedeuten soll.

Ich bin keine Historikerin. Ich bin Journalistin. Eine, die Sportwissenschaften studiert hat. Im historischen Fach bin ich komplette Quereinsteigerin. Mit einem allerdings sehr besonderen Zugriff auf die jüngere deutsche Geschichte: Denn mein Großvater Theo Hespers war Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Regime in Deutschland. Und sein Sohn Dietrich Franz Hespers ist nicht nur mein Vater, sondern auch Zeitzeuge. Denn er wurde am 21. Februar 1931 geboren. Zum Zeitpunkt der sogenannten Machtergreifung der Nazis ist er gerade mal zwei Jahre alt. Bereits wenige Monate danach, im Frühjahr 1933, muss sein Vater Theo Deutschland verlassen. Was Theo damals nicht weiß: Es wird keinen Weg zurück geben. Er wird die Stadt, in der er aufgewachsen ist, nie wiedersehen. Er wird als Gefangener der Nazis zurück nach Deutschland gebracht werden. Inhaftiert, verhört, gefoltert, zum Tode verurteilt und am 9. September 1943 in einer Garage der Haftanstalt Berlin-Plötzensee erhängt werden. Über 250 politische Gefangene werden in den Blutnächten von Plötzensee zwischen dem 7. und 12. September 1943 im Akkord hingerichtet.1 Bei vielen läuft das Begnadigungsverfahren noch. Jeweils acht Menschen werden mit Drahtschlingen an den Fleischerhaken aufgeknüpft, die an einem schwarzen Balken im hinteren Teil der Garage befestigt sind. Weil bei Angriffen durch die Alliierten das Fallbeil zerstört wurde. Aber der Reihe nach.

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1919/​20: Mein Großvater Theo (2. v.r.) als Schüler des Stiftisch Humanistischen Gymnasiums in Mönchengladbach mit Mitschülern und Lehrer. So lässig, wie nur ein Teenager in eine Kamera guckt.

Mein Großvater Theodor Franz Maria Hespers wurde am 12. Dezember 1903 in Mönchengladbach geboren. Einer mittelgroßen Stadt am Niederrhein, nahe der niederländischen Grenze, in der heute etwas mehr als 260000 Menschen leben. Als mein Großvater geboren wird, ist Mönchengladbach eine Stadt mit einer florierenden Textilindustrie. Theo geht dort aufs Stiftisch Humanistische Gymnasium, das auch ich über siebzig Jahre später besuchen werde. Tradition ist Tradition. Im Gegensatz zu mir darf mein Großvater dort aber nicht sein Abitur machen. Denn sein Vater erlaubt ihm das nur, wenn er ein Theologiestudium anschließt. Was zur damaligen Zeit heißt: Priesterweihen und Zölibat. Denn die Familie meines Großvaters ist streng katholisch. Zwei seiner Onkel – Pater Alvaro und Pater Bruno – dienen dem Papst in Rom. Seine Tante Maria ist als Schwester Christophera Priorin eines Klosters in der Nähe von Venlo. Auch mein Großvater Theo ist überzeugter Katholik. Nur von der Kirche als Institution ist er nicht ganz so überzeugt. Und die Aussicht auf ein Leben im Zölibat – nun ja –, die schien ihm wohl nicht allzu attraktiv.2

Also macht mein Großvater kein Abitur, geht demzufolge auch nicht studieren und absolviert stattdessen eine Ausbildung. Eine kaufmännische Lehre bei einer Buntweberei. Und, was soll ich sagen, auch mein Lebensweg wird diesbezüglich ähnlich verlaufen. Das soll natürlich nicht heißen, dass ich die Reinkarnation meines Großvaters bin – das wäre eine sehr tragische Geschichte. Aber es tauchen bei meiner Recherche immer wieder Parallelen auf, die mich stutzig werden lassen. Von den meisten dieser Überschneidungspunkte hatte ich bis vor kurzem nicht die leiseste Ahnung, weil ich bei den sich immer und immer wiederholenden Geschichten meines Vaters über »den Krieg« die Ohren auf Durchzug stelle. Denn, mal ehrlich, wenn man sowohl zu Hause als auch in der Schule ständig mit den historischen Ereignissen aus dem »Dritten Reich« beschallt wird, dann stellt sich bei aller künstlerischer Performance eine Art Abnutzungseffekt ein.

Nach seiner Ausbildung geht mein Großvater an die Preußische Höhere Fachschule für Textilindustrie und macht dort einen Werkmeister-Kursus. Heute wäre das ein Studium zum Textilingenieur. Auch ich werde nach der Ausbildung studieren – Sportjournalismus ist allerdings wirklich was komplett anderes. Während ich in meinem Studium mit Anfang zwanzig gegen Hürden, Stoppuhren und Bänderrisse kämpfe, wird damals mein gerade neunzehn Jahre alter Großvater Theo politisch aktiv – und macht das erste Mal Bekanntschaft mit einer Gefängniszelle. Denn im Oktober und November 1923 kommt es in einigen größeren Städten im Rheinland zu Auseinandersetzungen mit separatistischen Gruppen.3

Für alle, die in Geschichte genauso wenig aufgepasst haben wie ich: Zu dieser Zeit, also nach Ende des Ersten Weltkrieges, waren große Teile des Rheinlandes von Frankreich und Belgien besetzt. Und es gab separatistische Bestrebungen, die das Rheinland und auch Teile des Ruhrgebiets komplett unter französischer Führung wissen wollten. Da die französischen und belgischen Soldaten die deutsche Bevölkerung massiv drangsalierten, waren nicht alle so begeistert von der Idee einer Abspaltung unter französischer oder belgischer Führung. Auch meinem Großvater gefiel das nicht, und so beteiligte er sich »aktiv und führend« am Widerstand gegen die Separatisten.4 Als eine separatistische Gruppe die Fahne der »Rheinischen Republik«5 auf dem Mönchengladbacher Rathaus Abtei hisst, holt mein Großvater sie wieder runter – und wird dafür von den belgischen Behörden ins Gefängnis geworfen. Nach drei Tagen kommt er wieder frei und hat großes Glück, dass er nicht vor einem Kriegsgericht angeklagt wird. Funfact: Auch der spätere Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, der gebürtig aus Rheydt stammt, das heute ebenfalls zu Mönchengladbach gehört, hat wie mein Großvater gegen die Separatisten gekämpft. Das heißt: Die beiden standen mal auf der gleichen Seite der Geschichte. Mein Großvater wird den Kampf gegen die Separatisten später als großen Fehler bezeichnen. Also zumindest gegenüber seinen Freunden. Aber wer konnte 1923 schon absehen, wozu all das mal führen wird?6 Gegenüber den Nazis wird er nach seiner Verhaftung versuchen, dieses Ereignis zu seinem Vorteil zu nutzen. Vorteil im Sinne von: wenigstens keine Todesstrafe.7

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Bescheinigung von Dr. jur. Werner Becker, dass mein Großvater 1923 für die Separatisten gekämpft hat und verhaftet wurde.

An dieser Stelle muss ich, glaube ich, nochmal einen kleinen Einschub machen. Keine Sorge, es wird noch spannend genug. Aber ein paar Dinge aus der Zeit und aus dem Umfeld meines Großvaters sind heute für viele Menschen erklärungsbedürftig. Und ich möchte niemanden hier verlieren, weil die Zusammenhänge nicht klar sind.

Mein Großvater war in verschiedenen Jugendbünden aktiv. Das war zu seiner Zeit recht normal. Es gab die verschiedensten Organisationen, die sich über das gesamte politische Spektrum erstreckt haben. Es gab linke und rechte, katholische, evangelische, freikirchliche und jüdische Jugendbünde. Einige glichen eher einer Wehrsportgruppe und dienten als Vorbereitung für den Dienst beim Militär. Auch nationalistisch geprägte Jugendbünde waren keine Seltenheit. Viele davon sind in der Zeit vor dem Nationalsozialismus entstanden und deshalb waren das jetzt auch nicht zwingend Nazi-Vereinigungen.8 Die NSDAP als Partei mit eigener Jugendgruppe wird erst 1923 gegründet, die Hitlerjugend (HJ) 1926. Sie ist damals zunächst einfach eine von vielen Jugendgruppen. Klar, in einigen dieser Bünde war das Nationalistische bereits angelegt. Auf der anderen Seite war Deutschland zu diesem Zeitpunkt ohnehin stark nationalistisch geprägt. Wir befinden uns ja in einer Zeit des Wandels. Des Wandels von einer kaiserlichen Monarchie hin zu einer noch sehr jungen, parlamentarischen Demokratie. Und deshalb ist es für viele eben kein Widerspruch, für eine parlamentarische Demokratie zu sein und dabei ein ausgeprägtes nationales Bewusstsein zu haben. Und sich damit gegen eine Abspaltung des Rheinlandes von Deutschland zur Wehr zu setzen.

Über alle diese Gruppen hinweg gibt es eine Gemeinsamkeit: das Bewegen in der freien Natur. Das Wandern. Auf lange gemeinsame Fußmärsche durch die Landschaft und auf Zeltlager konnten sich irgendwie all diese Jugendorganisationen als verbindendes Element einigen. Der Oberbegriff für diese Organisationen, die später samt und sonders von den Nazis verboten oder in die Hitlerjugend überführt wurden, ist Bündische Jugend. Auch Jugendbewegung oder Wandervogel werden mitunter synonym verwendet. Aber der Begriff suggeriert eine Homogenität, die es so nie gegeben hat.

Mein Großvater war gleich in mehreren Jugendbünden organisiert und hat dort leitende Funktionen übernommen. Dabei war es vielen dieser Bünde wichtig, dass ihre Führer – ja, die hießen so, aber den Führer gab es ja auch noch nicht – von der Gruppe akzeptiert wurden. Also es gab eine Hierarchie, aber eine leitende Funktion hatte man nur so lange inne, wie die Gruppe mit der Führung zufrieden war. War sie es nicht, wurde ein neuer Führer gewählt. Demokratie im Kleinen sozusagen. Zumindest ist das in den Gruppen so, in denen mein Großvater aktiv ist. Während des Kampfs gegen die Separatisten ist er im Jungnationalen Selbstschutz organisiert. Eine weitere geistige Heimat findet er im Quickborn. Der Quickborn ist im Prinzip eine kleine katholische Revoluzzer-Gruppe, die sich ihre eigenen Regeln macht. Sie ist freikirchlich organisiert, das macht es leichter, Forderungen zu stellen wie etwa – Achtung – sexuelle Aufklärung für Jungen und Mädchen. Und mehr noch: Sie wollen die Trennung der Geschlechter in den Gruppen aufheben. Allein diese Forderung sorgt innerhalb der katholischen Kirche für so viel Schnappatmung, dass auf der deutschen Bischofskonferenz ein Antrag eingeht, die Organisation doch bitte zu verbieten. Für alle, die jetzt an Hippie-Kommunen und freie Liebe denken: Der Quickborn ist gleichzeitig eine Abstinenzler-Bewegung, die Genussgiften wie Tabak und Alkohol entsagt, weil man ein Leben führen will frei von körperlicher Abhängigkeit, in Selbstbehauptung und ohne Gruppenzwang. In den 1920er Jahren sind das ziemlich revolutionäre Gedanken. Und ehrlich gesagt: In Bezug auf die katholische Kirche sind es einige dieser Gedanken bis heute. Zum Beispiel, wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht. Hashtag Maria 2.0.9

Die Mitgliedschaft in diesen Bünden prägt meinen Großvater auf verschiedenen Ebenen. Zum einen bildet er so schon sehr früh ein großes Netzwerk und verbindet sich mit Menschen, die später in seinem Leben eine entscheidende Rolle spielen sollen. Zum anderen lernt er über den Quickborn seine Frau kennen, Katharina Kelz, genannt Käthchen. Meine Großmutter. Die ist Mitglied im Jungborn, wo sich die Jugendlichen der kleinbürgerlichen Familien und Handwerker zusammenschließen. Meinem Großvater gefällt das Temperament meiner Großmutter und ihr loses Proletariermundwerk. Es wird mehr und lauter gelacht als in seinem streng katholischen Elternhaus, in dem sein Vater Franz ein eisernes Regiment führt. Durch seine Arbeit in den verschiedenen Bünden wächst der junge Theo mehr und mehr zu einem politischen Aktivisten heran. 1925 wird er Teil der christlich-sozialen Bewegung unter Vitus Heller. Die Leitmotive der Bewegung sind zum Beispiel Pazifismus, soziale Gerechtigkeit und ein einfaches Leben im Einklang mit der Natur. Im Prinzip genau die Themen, für die eine junge, politisierte Generation heute weltweit wieder auf die Straßen geht: Fridays for Future, Seebrücke, die ganze Nachhaltigkeitsbewegung, Zero Waste, Einsatz für Geflüchtete, Einsatz für soziale Gerechtigkeit und antirassistisches Engagement, um ein friedliches Miteinander zu gewährleisten. Und ja, es hat natürlich immer Menschen gegeben, die sich dafür einsetzen. Gerade in der jungen Generation. Aber wir sehen zum einen gerade eine globale Bewegung. Und zum anderen finde ich es spannend, dass das keine neuen Themen sind. Das heißt: Wir haben da was gemeinsam mit unseren Vorfahr:innen, auch wenn die längst nicht mehr unter uns weilen.

Bevor mein Großvater aber sein erstes politisches Amt antritt, geht er 1926 zusammen mit einem Freund auf Weltreise – zu Fuß, versteht sich. Also, er hat zumindest vor, die ganze Welt zu sehen. Und das, obwohl er mit seiner Ausbildung richtig gute Chancen auf eine bürgerliche Karriere hat. Aber er pfeift auf Karriere. Denn er hat sich längst anderen Werten verschrieben. Und so macht es ihm wenig aus, auf Luxus zu verzichten. Denn Backpacking heißt damals nicht, per Eurorail-Ticket mit dem Zug durch die Gegend zu fahren und in Jugendherbergen, Airbnbs oder kleinen Hotels zu übernachten. Sondern tatsächlich auf Schusters Rappen unterwegs zu sein – also zu Fuß. Oder eben zu trampen. Allerdings weniger als Mitfahrer in Autos, die sind ja noch recht selten, sondern eher als Gast auf einem Eselskarren oder illegal an Zügen hängend. Und das alles ohne Smartphone, digitale Navigationsgeräte, Wetter-Apps und Messenger. Gekommen ist er bis Spanisch-Marokko. Immerhin. Sein Weg dahin führt über die Schweiz, Italien und Südfrankreich. In Spanien arbeitet mein Großvater einige Monate in Barcelona als Monteur in der Textilindustrie.10 Indien und Persien will er eigentlich auch noch bereisen, aber dafür hat er kein Geld mehr, und für sein weiteres Wunschziel Russland bekommt er kein Einreisevisum. Immerhin schaut er auf dem Rückweg noch bei einem seiner Onkel in Rom vorbei. Kleiner Abstecher zum Vatikan mit persönlicher Betreuung – hat auch nicht jede:r.

Was er auf seiner Reise sieht, lässt ihn nicht los. Vor allem die Armut der Arbeiter:innen in den südlichen Ländern und die soziale Ungerechtigkeit geben ihm zu denken. Auch deshalb will er sich den gelebten Sozialismus mal aus nächster Nähe ansehen. Ist eine andere Welt möglich? Eine sozialere? Eine gerechtere? Um doch noch in die UdSSR zu kommen, tritt mein Großvater Theo in die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) ein und wird dort zweiter Vorsitzender. Nicht weil er überzeugter Kommunist ist, sondern weil er als Angehöriger einer kommunistischen Delegation die Chance auf ein Visum hat. Und so gelingt es ihm im Oktober 1927, als Teil der sogenannten Dritten Russland-Delegation acht Wochen lang durch die Sowjetunion zu reisen. Eine Reise, für die er mal wieder seinen Job aufgibt. Bürgerliche Werte und so. Er sieht nicht nur Moskau, sondern darf mit einer Sondergenehmigung auch das Textilgebiet an der oberen Wolga und den Kaukasus bereisen. Von seiner Reise bringt er neben vielen Eindrücken des gelebten Kommunismus auch russische Lieder mit nach Hause. Weshalb auch mein Vater später oft russische Weisen auf der Balalaika spielt, wenn seine Freunde bei uns zu Gast sind. Bis heute geht mir das Herz auf, wenn ich jemanden Balalaika spielen höre.

Als mein Großvater zurück nach Mönchengladbach kommt, geht es politisch bereits hoch her. Die NSDAP gewinnt zunehmend an Macht und an Zulauf. Sie ist offen antisemitisch. Die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft für Juden steht von Anfang an im Parteiprogramm. Die Parteipropaganda der NSDAP ist bereits zu Beginn darauf angelegt, Angst, Hass und Neid zu schüren. Die Weltwirtschaftskrise trifft auch Deutschland hart, und so fallen die Spaltungsbemühungen der Partei auf fruchtbaren Boden. Die Bauern haben wegen der komplett verfallenen Agrarpreise Angst um ihre Existenz, Einzelhändler haben Angst vor der Konkurrenz jüdisch geführter Kaufhauskonzerne und das akademische Bürgertum hat Angst vor einer Verproletarisierung. Mein Großvater sieht früh, wohin das führt, und engagiert sich politisch. Als katholischer junger Mann, der sich vor allem für die sozialen Belange der Menschen einsetzt, wäre eigentlich die Zentrumspartei die erste Anlaufstelle für ihn. Aber es gibt etwas, das ihn entschieden stört. Sowohl an den katholischen Vertretern als auch an den Vertretern der sozialdemokratischen Parteien.

Wir sahen, dass die Vertreter des Sozialismus sich nicht entschieden für eine soziale Neuordnung einsetzten, dass die Vertreter des Nationalismus nicht das Wohl des Volkes und der Nation, sondern egoistische Ziele im Auge hatten, dass die Vertreter des Katholizismus nicht die Weite zeigten, die der Weltkirche ansteht, dass die Vertreter des Christentums mit der Nächstenliebe nicht ernst machten.11

Jedes Mal wenn ich diese Zeilen lese und jedes Mal wenn ich in den letzten sechs Jahren in der taz, im Spiegel, der Tagesschau oder einer Lokalzeitung eine Nachricht über rechtsextreme Organisationen, rechtsextrem motivierte Gewalt, rassistische Übergriffe, Aufmärsche, Hetzjagden, rechtsextreme, nationalistische und völkische Verbindungen bei Polizei und Bundeswehr lese, höre und sehe – jedes Mal dann stelle ich mir die Frage: Und wie ist das heute? Was machen die Vertreter:innen sozialer Werte? Was machen die Vertreter:innen christlicher Werte? Leben sie, was sie vorgeben, leben zu wollen? Und was mache ich? Denn klar, es ist immer einfach, von anderen zu fordern, sie mögen doch bitte etwas tun. Aber selber etwas zu tun, das ist eine ganz andere Nummer. Mein Großvater beantwortet diese Frage für sich so: Er geht in die Politik. 1928 kandidiert er als Stadtverordneter. Er wird zwar als Zweiter auf der Liste nicht gewählt, kann aber trotzdem in verschiedenen Ausschüssen der Stadtverordnetenversammlung aktiv werden, wie zum Beispiel Jugendpflege, Sport, Erziehung und Gesundheitswesen.12

Trotz seines politischen Engagements hat mein Großvater aber wohl noch Zeit für ein Privatleben. Und so heiratet er am 3. Mai 1930 meine Oma Käthchen. Pünktlich neun Monate später, am 21. Februar 1931, kommt mein Vater zur Welt. Getauft auf den Namen Dietrich Franz Hespers. Mein Vater erzählt später ganz gerne, er wäre eines dieser Frühchen gewesen, die damals recht häufig erstaunlich propper und gesund zur Welt kamen. Aber wenn ich das so nachrechne … ist das wohl eher sowas wie der Ehering danach. Die Pille danach gab’s ja nicht. Oder es hat einfach sofort geklappt. Fragen kann ich das weder meine Oma noch meinen Opa Theo. Und mein Vater hat immer schon am liebsten gute Geschichten erzählt, deren Wahrheitsgehalt nicht immer einer Überprüfung standhält.

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Frühjahr/​Sommer 1931: Eine glückliche Familie: Meine Oma Käthe (l). und mein Opa Theo mit Klein-Dietrich auf dem Arm, meinem Vater.

Neben der Freude über seine junge Familie dürften bei meinem Großvater aber auch die Sorgenfalten tiefer geworden sein. Denn sein Engagement beschränkt sich nicht nur auf die Aufgaben in den Ausschüssen. Er spricht sich auch immer wieder öffentlich gegen die NSDAP aus – sogar auf Veranstaltungen der Partei selbst. Etwas, für das er sich später in den Verhören sogar rechtfertigen muss. Am 13. Juni 1942, einem der ersten Verhöre im Reichssicherheitshauptamt in Berlin, gibt er zu seinem Lebenslauf an:

Ich entsinne mich jedoch, einmal im Jahre 1930, im ersten Jahre meiner Ehe, als wir in dem Dorfe Hardt b. M.-Gladbach wohnten, in einer Versammlung der NSDAP. als Diskussionsredner aufgetreten zu sein, in welcher ich lediglich meine politische Anschauung im Sinne der christlich-sozialen Reichspartei vertreten habe. Wenn mir vorgehalten wird, dass ich also gegen die NSDAP. bei dieser Gelegenheit gesprochen hätte, dann erwidere ich, dass dies nicht zutrifft, zumal es sich damals mehr um eine freundliche Aussprache mit den Anwesenden handelte, von denen verschiedene sogar gute Bekannte von mir waren.13

Das mag vielleicht bei dieser Veranstaltung so gewesen sein, aber seine Schwester Maria weiß auch andere Geschichten dieser Zusammenkünfte zu erzählen. Denn die Anhänger der NSDAP äußern ihr Missfallen über die Äußerungen meines Großvaters durchaus auch mal mit Fäusten. Und so kommt er von der ein oder anderen Parteiveranstaltung mit einer blutigen Nase nach Hause. Wer von den Schlägertrupps der damals schon aktiven SA weiß, die solche Parteiveranstaltungen geschützt haben, den überrascht die Geschichte nicht. Mein Großvater, überzeugter Pazifist, lässt sich dadurch nicht einschüchtern. Im Gegenteil. Er setzt sogar noch eins drauf, als die Nazis längst an der Macht sind.

Herbst 2012