Das Buch
Mit seinem zweiten Memoir nach Dienstags bei Morrie offenbart Bestsellerautor Mitch Albom die Verletzlichkeit eines liebenden Vaters. Als seine Pflegetochter Chika an einem Hirntumor erkrankt, wird er mit schweren Entscheidungen und dem nahenden Tod eines geliebten Menschen konfrontiert. Dieses Buch erzählt die Geschichte von Chika, von der Kraft der Liebe und dem Glück der unverhofften Geschenke des Lebens – egal von welcher Dauer sie auch sein mögen.
Der Autor
MITCH ALBOM, geb. 1958, wurde bekannt durch sein Memoir Dienstags bei Morrie (1997), das zum Weltbestseller wurde. Neben seiner Arbeit als erfolgreicher Buchautor und Journalist hat Albom seine eigene Radioshow und ist, wie auch Stephen King, Mitglied der Rockband The Rock Bottom Remainders. 2011 wurde Albom mit der Ehrendoktorwürde der Michigan State University ausgezeichnet. Er gründete verschiedene Hilfsorganisationen in seiner Heimatstadt Detroit, wo er gemeinsam mit seiner Frau Janine lebt. Nach dem Erdbeben in Haiti 2010 übernahm er die Leitung der Have Faith Haiti Mission für Waisenkinder.
Mitch Albom
CHIKA
Ein kleines Mädchen,
ein Erdbeben und eine besondere
Familiengeschichte
Aus dem Amerikanischen
von Jochen Winter
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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Finding Chika
bei Harper/HarperCollins Publishers, NY, USA.
ISBN 978-3-8437-2340-4
© der deutschen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
© der Originalausgabe 2019 ASOP Inc.
Übersetzung: Jochen Winter
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung und Innenabbildungen mit freundlicher Genehmigung des Autors
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für die Kids im Waisenhaus der
Have Faith Haiti Mission,
die uns jeden Tag aufs Neue die unglaubliche
Widerstandsfähigkeit von Kindern
vor Augen führen.
Als ich ein Jahr alt war,
hatte ich gerade erst begonnen.
Als ich zwei war,
war ich noch fast neu.
Als ich drei war,
war ich kaum ich.
Als ich vier war,
war ich nicht viel mehr.
Als ich fünf war,
war ich gerade lebendig.
Aber jetzt bin ich sechs. Und so
schlau, wie man nur sein kann.
Daher denk ich, dass ich jetzt
und für immer sechs sein werde.
A. A. Milne
EINS
Wir
»Warum schreibst du nicht, Mister Mitch?«
Chika liegt auf dem Teppich in meinem Arbeitszimmer. Sie dreht sich auf den Rücken und spielt mit ihren Fingern.
Hierher kommt sie am frühen Morgen, wenn das Licht im Fenster noch hauchzart ist. Manchmal hat sie eine Puppe bei sich oder ein Filzstift-Set. Dann wieder ist allein sie da, ohne irgendeinen Gegenstand. Sie trägt ihren blauen Pyjama, mit dem My-Little-Pony-Cartoon auf dem Oberteil und den pastellfarbenen Sternen auf der Hose. In der Vergangenheit liebte sie es, ihre Kleidung jeden Morgen nach dem Zähneputzen auszuwählen und die Farben der Socken und der Shirts aufeinander abzustimmen.
Aber das macht sie nun nicht mehr.
Chika starb im letzten Frühling, als die Bäume in unserem Garten zu knospen begannen, so wie sie auch jetzt knospen, da wieder Frühling ist. Ihre Abwesenheit ließ uns atemlos zurück, ohne Schlaf, ohne Appetit. Ein ums andere Mal starrten wir, meine Frau Janine und ich, endlose Momente vor uns hin, ehe ein gesprochenes Wort das Schweigen zerriss.
Eines Morgens dann tauchte Chika wieder auf.
»Warum schreibst du nicht?«, fragt sie erneut.
Die Arme verschränkt, blicke ich wie versteinert auf den leeren Bildschirm.
Worüber?
»Über mich.«
Das werde ich.
»Wann?«
Bald.
Sie macht ein grrr-Geräusch, wie ein Cartoon-Tiger.
Sei nicht böse.
»Hmpf.«
Sei nicht böse, Chika.
»Hmpf.«
Geh nicht weg, ja?
Sie tippt mit ihren kleinen Fingern auf den Schreibtisch, als müsse sie darüber nachdenken.
Chika bleibt nie lange. Zum ersten Mal erschien sie acht Monate nach ihrem Tod, am Morgen der Beerdigung meines Vaters. Ich ging nach draußen, um den Himmel zu betrachten. Und da war sie plötzlich, stand neben mir und umfasste das Geländer der Veranda. Ungläubig sagte ich ihren Namen – »Chika?« –, und sie wandte sich mir zu, damit ich wüsste, dass sie mich hören konnte. Ich sprach schnell, überzeugt, es sei ein Traum und sie würde augenblicklich verschwinden.
Das war damals. Wenn sie, wie seit einiger Zeit, wieder erscheint, bin ich ruhig. »Guten Morgen, schönes Mädchen«, sage ich, und sie erwidert: »Guten Morgen, Mister Mitch«, setzt sich auf den Boden oder ihren kleinen Stuhl, den ich nie aus meinem Arbeitszimmer entfernt habe. Wahrscheinlich kann man sich an alles im Leben gewöhnen. Sogar daran.
»Warum schreibst du nicht?«, wiederholt Chika.
Die Leute meinen, ich solle warten.
»Wer?«
Freunde. Kollegen.
»Warum?«
Ich weiß es nicht.
Das ist eine Lüge. Ich weiß es sehr wohl. Du brauchst mehr Zeit. Diese Geschichte ist noch zu schmerzhaft. Du bist zu emotional. Vielleicht haben sie recht. Wenn man über seine Liebsten schreibt, akzeptiert man womöglich für immer jene Wirklichkeit, die ihnen im Geschriebenen zukommt, und offenbar will ich die Wirklichkeit nicht akzeptieren, dass Chika tot ist, dass ich nichts als Worte auf Papier vor mir habe.
»Schau mir zu, Mister Mitch!«
Sie dreht sich wieder auf den Rücken, rollt hin und her.
»The isby-bisby spider went up a water spout …«
Itsy-bitsy, korrigiere ich. Die Worte lauten itsy-bitsy.
»Nix da!«, ruft sie.
Ihre Wangen sind voll, die Haare straff geflochten und die Lippen gespitzt, als würde sie gleich pfeifen. Sie ist so groß, wie sie war, als wir sie, ein fünfjähriges Mädchen, von Haiti hierher brachten und ihr sagten, sie werde mit uns leben, bis die Ärzte dafür gesorgt hätten, dass es ihr besser ginge.
»Wann …
wirst …
du …
anfangen …
zu SCHREIBEN?«
Warum beschäftigt dich das so sehr?, frage ich.
»Das«, antwortet sie und deutet auf etwas.
Ich folge ihrem Finger über meinen Schreibtisch hinweg, vorbei an Erinnerungsstücken aus ihrer Zeit mit uns: Fotos, eine Schnabeltasse aus Plastik, ihr kleiner roter Drachen aus dem Zeichentrickfilm Mulan, ein Kalender –
»Das.«
Der Kalender? Ich lese das Datum: 6. April 2018.
Morgen, am 7. April, wird es ein Jahr sein.
Ein Jahr, seitdem sie uns verlassen hat.
Ist das der Grund, warum du so reagierst?, frage ich.
Sie schaut auf ihre Füße.
»Ich will nicht, dass du mich vergisst«, murmelt sie.
Oh, Liebling, sage ich, das ist unmöglich. Man kann einen Menschen, den man liebt, nicht vergessen.
Sie neigt den Kopf, so als wäre mir etwas Offenkundiges entgangen.
»Doch, kann man«, erwidert sie.
Im Laufe ihrer ersten Monate bei uns las ich Chika eines Abends aus Pu baut ein Haus von A. A. Milne vor. Sie liebte es, vorgelesen zu bekommen. Dabei schmiegte sie den Kopf in meine Bauchhöhle, lehnte das Buch gegen ihre aufgerichteten Oberschenkel und ergriff die Seite, um sie zu wenden, bevor ich sie fertiggelesen hatte.
Gegen Ende des betreffenden Kapitels sagt der im Aufbruch begriffene Christopher Robin zu Pu dem Bär: »Versprich mir, dass du mich niemals vergessen wirst. Nicht mal, wenn ich hundert bin.« Doch zunächst gibt der Bär kein Versprechen, sondern stellt die Frage: »Wie alt werde ich dann sein?« – als wollte er wissen, auf was er sich da einlässt.
Diese Episode erinnerte mich an unser Waisenhaus auf Haiti und daran, dass die Kinder dort bei der Ankunft eines Besuchers fragen: »Wie lange bleibst du?«, als würden sie die Zuneigung bemessen, die sie ihm gewähren sollten. Sie alle waren irgendwann zurückgelassen worden, mit Tränen in den Augen zum Tor starrend und darauf wartend, dass jemand wiederkommt und sie mit nach Hause nimmt. Das gleiche Schicksal widerfuhr auch Chika. Die Person, die sie ins Waisenhaus brachte, ging noch am gleichen Tag fort. Vielleicht also meint sie genau das. Man kann seine geliebten Menschen vergessen. Oder zumindest nicht ihretwegen zurückkehren.
Wieder werfe ich einen flüchtigen Blick auf den Kalender. Kann tatsächlich schon ein Jahr seit ihrem Tod vergangen sein? Es fühlt sich an wie gestern. Es fühlt sich an wie für immer.
Gut, Chika, sage ich. Ich werde anfangen zu schreiben.
»Juhu!«, kreischt sie und ballt die Fäuste.
Eine Bedingung.
Ihre Fäuste öffnen sich.
Du musst hierbleiben, während ich schreibe. Du musst bei mir bleiben, einverstanden?
Ich weiß, dass sie meine Forderung nicht erfüllen kann. Trotzdem feilsche ich. Das ist alles, was wir, Janine und ich, im Grunde wünschen, seit Chika von uns gegangen ist – die ganze Zeit mit ihr am gleichen Ort zu sein.
»Erzähl mir meine Geschichte«, sagt Chika.
Und du wirst bleiben?
»Ich versuch’s.«
In Ordnung, sage ich. Ich werde dir die Geschichte über dich und mich erzählen.
»Über uns«, erwidert sie.
Über uns, bekräftige ich.
Du
Es war einmal, Chika, da kam ich in dein Land. Ich war nicht dort an dem Tag, als du geboren wurdest. Ich traf ein paar Wochen später ein, weil etwas wirklich Schlimmes geschehen war. Es wurde Erdbeben genannt. Ein Erdbeben ist, wenn …
Wir
»… Halt, Mister Mitch.«
Was ist los?
»Sprich nicht so.«
Wie denn?
»Als wär ich noch ein kleines Kind.«
Aber du bist erst sieben.
»Nix da.«
Du bist nicht mehr sieben?
Sie schüttelt den Kopf.
Wie alt bist du?
Sie zuckt mit der Achsel.
Was soll ich tun?
»Sprich wie ein Erwachsener. Wie du mit Miss Janine sprichst.«
Bist du sicher?
Sie umfasst meine Handgelenke und führt sie zur Tastatur zurück. Ich spüre die Wärme ihrer kleinen Hände und schwelge in diesem wohligen Gefühl. Ich habe gelernt, dass ich Chika nicht berühren kann, sie aber mich. Ich weiß nicht genau, warum das so ist. Ich verstehe nicht die Regeln. Doch ich bin dankbar für ihre Besuche und sehne mich nach jedem unscheinbaren Kontakt.
Und also beginne ich von Neuem.
Du
Ich war nicht mit dabei an dem Tag, als du geboren wurdest, Chika. Ich traf ein paar Wochen später auf Haiti ein, um nach einem schrecklichen Erdbeben Hilfe zu leisten. Und da du mich aufforderst, wie ein Erwachsener zu sprechen, kann ich sagen: Die Erschütterung war so heftig, dass sie in dreißig Sekunden fast drei Prozent der Bevölkerung deines Landes ausgelöscht hat. Gebäude zerbröckelten. Bürokomplexe stürzten ein. Häuser, die Familien beherbergten, waren im einen Moment intakt, im nächsten nur mehr Rauchwolken. Menschen starben und wurden unter den Trümmern begraben, viele von ihnen erst Wochen später gefunden, ihre Haut mit grauem Staub bedeckt. Nie konnte die genaue Zahl der Verlorenen ermittelt werden, nicht einmal bis zum heutigen Tag, aber es waren mehrere Hunderttausend. In weniger als einer Minute wurden mehr Menschen getötet als an all den Tagen des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs und des Golfkriegs zusammen.
Es war eine Tragödie auf einer Insel, wo die Tragödie keine Fremde ist. Haiti, dein Heimatland, ist die zweitärmste Nation der Welt, mit einer Geschichte des Elends und zahlreichen Toden jener Art, die zu früh eintreten.
Aber sie ist auch ein Ort großen Glücks, Chika. Ein Ort der Schönheit, des fröhlichen Lachens und unerschütterlichen Glaubens – und der Kinder, die in einem Regenschauer spontan Ringelreihen tanzen und sich dann völlig überdreht auf den Boden werfen, als wüssten sie nicht, wohin mit all ihrer Freude. Genauso warst auch du einst glücklich dort, selbst in äußerster Armut.
Die Geschichte deiner Geburt wurde mir folgendermaßen erzählt: Am 9. Januar 2010 bist du in einem Betonziegelhaus nahe einem Brotfruchtbaum zur Welt gekommen. Kein Arzt war zugegen. Ein Geburtshelfer namens Albert entband dich aus dem Schoß deiner Mutter. Allen Berichten nach verlief deine Geburt ohne Komplikationen, du hast geschrien, als du es solltest, und geschlafen, wenn es erwartet wurde.
Drei Tage alt, am 12. Januar, hast du in einer heißen Nachmittagsstunde gerade auf der Brust deiner Mutter geschlafen, als plötzlich die Welt erbebte, als würde die Erde einen gewaltigen Donner in sich tragen. Dein Betonziegelhaus schwankte, das Dach stürzte herab, dann brach der Bau auseinander wie eine Walnuss und setzte euch beide dem offenen Himmel aus.
Vielleicht hat Gott gut auf dich aufgepasst, Chika, denn Er nahm an diesem Tag weder dich fort noch deine Mutter, wiewohl er zugleich so viele andere mit sich fortgenommen hat. Dein Zuhause war zerstört, aber ihr zwei wart unversehrt – dem Himmel entblößt, aber unversehrt. Rings um euch liefen die Leute umher und strauchelten, beteten und weinten. Die Bäume waren umgestürzt, und die Tiere versteckten sich.
In dieser Nacht, und vielen darauffolgenden, schliefst du in den Zuckerrohrfeldern auf einem Bett aus Blättern, unter den Sternen. So wurdest du ins Erdreich deines Heimatlandes geboren, Chika, in all seine aufgewühlte Raserei und Schönheit, und vielleicht deshalb hast auch du manchmal getobt und gewütet und warst du so schön.
Du bist Haitianerin. Obschon du in Amerika gelebt hast und in Amerika gestorben bist, warst du stets von einem anderen Ort – so wie auch jetzt, noch während du hier bei mir sitzt.
Wir
»Schon besser«, sagt Chika, auf dem Rücken liegend.
Gut, erwidere ich.
»Mister Mitch?«
Ja?
»Ich weiß vom Tranbleman té.«
Das Erdbeben.
»Es war schlimm.«
Ja, in der Tat.
»Mister Mitch?«
Ja?
»Ich muss dir was erzählen.«
Was?
»Ich kann’s nicht sagen.«
Ihre Augen schauen zu mir hoch, und ich schwöre, dass ich sie noch immer sehen könnte, selbst wenn ich ein, zwei Kilometer entfernt wäre. Es heißt, die Augen eines Kindes seien im Alter von etwa drei Jahren voll ausgebildet, und deshalb wirkten sie so groß im Gesicht. Vielleicht aber sind jene Jahre so angefüllt mit Staunen, dass das Kind gar nicht anders kann, als die Augen weit aufzureißen.
Kann ich weitermachen?, frage ich. Fürs Erste?
Sie presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf hin und her, als hätte sie gerade eine bittere Zitrone probiert. Zu Lebzeiten vollführte sie diese Geste ständig, als müsste jeder Gedanke wie wild durch ihr Gehirn purzeln.
»Mach weiter«, entscheidet sie.
Du
Einmal, es war spät abends, hockten Miss Janine und ich an deinem Bett, und du fragtest uns leise: »Wie habt ihr mich gefunden?«
Die Frage erschien mir derart traurig, dass ich sie nur wiederholen konnte: »Wie wir dich gefunden haben?« Und du sagtest: »Ja.« Worauf wir fragten: »Du meinst, wie du zu uns gekommen bist?«, und wieder hast du zugestimmt. Aber ich denke, du meintest es so, wie du es sagtest, denn an das Leben vor der Zeit im Waisenhaus hattest du lediglich trübe Erinnerungen, wie in einem dunstverhangenen Wald. Daher ergab deine anfängliche Frage durchaus Sinn, eben weil du offenbar wirklich das Gefühl hattest, gefunden worden zu sein.
Aber nie warst du verloren, Chika. Das sollst du wissen. Es gab Menschen, die dich liebten, ehe wir dich liebten. Wie ich erfahren habe, war deine Mutter Resilia eine große, starke Frau mit breitem Gesicht und ernstem Ausdruck, wie du ihn gelegentlich zeigst, wenn du deinen Willen nicht bekommst. Tochter eines Süßkartoffelbauern in der Hafenstadt Aux Cayes, kam sie mit siebzehn Jahren nach Port-au-Prince. Sie las gern, aß am liebsten Fisch und verkaufte kleine Dinge auf der Straße, um Geld zu verdienen. Mit ihrer Freundin Herzulia unternahm deine Mutter Spaziergänge und amüsierte sich über Männer, bis sie schließlich selbst eine Beziehung anfing mit einem älteren, traurig dreinblickenden Mann. Sein Vorname lautete Fedner und sein Familienname Jeune. Das ist auch dein Nachname. Das französische Adjektiv jeune bedeutet »jung«, also passt er zu dir.
Resilia und Fedner hatten vor dir schon zwei Mädchen bekommen, deine Schwestern, und als deine Mutter mit dir schwanger wurde, sagte sie zu Herzulia, du seist ihr letztes Kind. Gemeinsam wählten sie einen eleganten Namen für dich, Medjerda, obwohl dich alle schon sehr bald »Chika« nannten. Jemand führte dies auf den Umstand zurück, dass du ein stämmiges Baby warst. Eine andere Person meinte, es handle sich um einen Kosenamen. Im Grunde spielt das keine Rolle. Wir tragen Namen, die uns gegeben und nur mit uns in Verbindung gebracht werden, und Chika war der deine. Hätte deine Mutter recht behalten und wärst du tatsächlich ihr letztes Kind gewesen, würde sie vielleicht noch leben, und so hätte ich dich wahrscheinlich nie kennengelernt.
Aber sie und Fedner bekamen zwei Jahre nach deiner Geburt ein weiteres Kind, einen Jungen. Er wurde im heißesten Monat des Jahres entbunden, im August, während der frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang. Wieder war Albert, der Geburtshelfer, da, doch diesmal ging etwas schief.
Dein Bruder lebte.
Deine Mutter starb.
Ich weiß, Chika, es ergibt keinen Sinn, dass Geburt und Tod sich im selben Bett begegnen, doch genau das ist passiert, und zugleich war dies das Letzte, was du für lange Zeit von deiner Herkunftsfamilie gesehen hast. Nach der Beerdigung trug Herzulia dich weg. Sie sagte, deine Mutter habe sie zur Patin bestimmt und auf ihrem Entschluss beharrt: »Sollte ich sterben, musst du Chika zu dir nehmen.« Also tat sie es. Dein Vater widersprach nicht. Er hat keines seiner Kinder behalten. Vielleicht war er zutiefst bestürzt über den Tod deiner Mutter und wusste buchstäblich nicht, was er machen sollte.
Wie auch immer, deine älteste Schwester Muriel kam zu einer Tante, deine zweitälteste Schwester Mirlanda zu einer Freundin der Familie, dein neugeborener Bruder Moïse – dessen Namenspatron in der Bibel von einer ägyptischen Prinzessin großgezogen worden war – zum Bruder deiner Mutter, in eine beengte Wohnung, die er mit seiner Frau teilte.
Und du gingst mit Herzulia, einer kleinen, kräftigen Frau mit hoher, dünner Stimme, die deine Mutter innig liebte und nach dem Begräbnis den ganzen Tag weinte. An jenem Nachmittag nahm sie dich sowie zwei Garnituren deiner Kleidung mit, dann seid ihr zusammen auf der Rückbank eines haitianischen Sammeltaxis davongefahren.
Diese Kleidungsstücke waren alles, was du aus deinem ersten Zuhause behalten konntest, Chika. Ich kann nur sagen, dass Gott gnädig gewesen ist, indem Er verhinderte, dass du dich an die damalige Zeit erinnerst. Deine Mutter wurde mit anderen Menschen in einem großen Grab bestattet, aber nirgendwo gibt es einen Hinweis auf sie, irgendeinen Gedenkstein, den du besuchen oder vor dem du beten könntest, obwohl du immer und überall beten kannst, wie du aufgrund deines Unterrichts weißt.
Dein nächstes Zuhause hatte nicht lange Bestand. Weniger als ein Jahr. Es war eine in einem Betonziegelgebäude gelegene Einzimmerwohnung, die du mit Herzulias Familie geteilt hast. Sie hatte kein eigenes Badezimmer. Wenn abends der Strom ausfiel, herrschte völlige Dunkelheit. Morgens hast du schmutzige Bettlaken die Treppen hochgetragen zum Dach, eine gefährliche Unternehmung für ein noch keine drei Jahre altes Kind. Eine Nachbarin, die dich dabei beobachtete, war zunehmend besorgt um deine Sicherheit. Sie empfahl Herzulia, dass du in einem Waisenhaus wohl besser aufgehoben wärst. Sie kannte eines unweit entfernt, in einem Stadtbezirk namens Delmas 33.
Das ist jenes Waisenhaus, das ich seit 2010 betreibe, dem Jahr des Erdbebens – der Ort, den du misyon an nanntest, »die Mission«, genauer gesagt, die Have Faith Haiti Mission, ein rechteckiges Stück Land hinter einem hohen grauen Tor in der Rue Anne Laramie, einer mit Schlaglöchern übersäten Straße, in der sich, wenn es regnet, Pfützen bilden wie kleine Seen.
Und das, Chika, war der Beginn des Schicksals, das uns beide zusammenführte, oder dessen Fortsetzung, sollte ich sagen, denn der Herr kommt nicht auf halbem Weg durchs Leben auf irgendwelche Ideen.
Erinnerst du dich an die erste Begegnung mit mir? Manchmal sagtest du Ja, dann wieder hatte ich Zweifel, denn du warst noch so jung, erst drei. Du trugst Klemmen und Bänder im Haar, dazu ein rosafarbenes Kleid, von Herzulia eigens ausgesucht, weil die haitianischen Erwachsenen, die zu uns kommen, oft glauben, wir würden die Kleinen eher aufnehmen, wenn sie gut angezogen sind. Natürlich ist dem nicht so. Bisweilen scheint es ziemlich unpassend, Kinder, die aus ärmlichen Verhältnissen zu uns gebracht werden, derart herauszuputzen. Vielleicht ist Stolz mit im Spiel, den man respektieren muss, besonders in einem fremden Land, dessen Sitten und Gebräuche man nicht immer versteht; jedenfalls gab es in Haiti viele Situationen, die mir einfach unbegreiflich waren.
Ehrlich gesagt, Chika, verstand ich in den ersten Jahren nur wenig von Haiti, dem Waisenhaus oder davon, wie ich diese Einrichtung in Gang bringen sollte. Jeden Tag fiel der Strom aus, fehlte es an Wasser, wurden die Lieferungen von Reis und Bulgur unterbrochen, und nie hatten wir genug Medikamente. Reparateure sagten, sie seien unterwegs, und kamen dann doch nicht. Formalitäten – von Quittungen bis zu Behördendokumenten – mussten von Hand erledigt werden. Ich bin von Beruf Schriftsteller, ansässig in Detroit, und obwohl ich in Amerika einige karitative Projekte geleitet habe, fühlte ich mich in Haiti wie ein Mann, der Montageanweisungen in einer fremden Sprache zu lesen versucht.
Darüber hinaus hatten Janine und ich keine eigenen Kinder. Trotz meiner Begeisterung war ich also unerfahren in elterlichen Angelegenheiten. Ich fummelte an kleinen Reißverschlüssen und Knöpfen herum. Ich reagierte zu heftig, wenn ein Kind sich übergab. Ich stammelte, wenn es darum ging, unseren Jungen die Pubertät zu erklären.
Doch eines wusste ich: Sobald Kinder zu unserem Tor gebracht wurden, musste ich über ihr Äußeres hinwegsehen, denn sie waren so zahlreich, ihre Nöte so groß, und auf jedes Kind, zu dem wir Ja sagen konnten, kamen zehn weitere, die aufzunehmen wir nicht in der Lage waren. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Mehrheit der Haitianer lebt von weniger als zwei Dollar am Tag; viele haben weder Strom noch frisches Wasser und müssen zum Kochen Holzkohle benutzen. Von tausend Kindern sterben achtzig vor Vollendung ihres fünften Lebensjahres.
Kinder zu beschützen und zu ernähren, ist für einen Großteil der Haitianer von vorrangiger Dringlichkeit, Chika. Ein Haus wie das unsere kann ihnen diese Hoffnung bieten. Vielleicht kommen deshalb so viele. Und wenn sie es tun, muss ich Fragen stellen, zum Beispiel: Wie leben die Kinder? Was essen sie? Welche schlimmen Zustände haben sie zu uns geführt?
Du sollst wissen, dass die erwachsene Person nach solchen Fragen manchmal in Tränen ausbricht. Eine Mutter Anfang zwanzig war so hochschwanger, dass ich dachte, sie würde ihr Kind jeden Moment in unserem Büro gebären. Sie hatte einen Sohn, etwa vier Jahre alt, der neben ihr stand, und einen Säugling in den Armen. Sie bat uns, beide aufzunehmen, weil sie weder Geld noch Arbeit, weder ein Zuhause noch Lebensmittel habe, um sie zu ernähren. Als ich fragte, wie sie das Kind, das sie noch in sich trug, versorgen wolle, rief sie: »Ou mèt pran li tou«, das könnt ihr auch haben.
Sie war nicht herzlos. Ich glaube, sie liebte ihre Kinder – so innig, dass sie ihnen ein sichereres Leben wünschte, selbst wenn dies bedeutete, sie nicht mehr jeden Tag sehen zu können. Es bedarf einer besonderen Stärke, um für ein Kind zu sorgen, Chika, und einer noch weitaus größeren Stärke, um sich einzugestehen, dass man dazu nicht imstande ist.
Möglicherweise hat auch Herzulia so empfunden, als sie dich zu uns brachte. Sie sagte, sie habe selbst drei Kinder und kein Geld. Als wir miteinander sprachen, hast du uns schweigsam beobachtet, während deine Patin gelegentlich dein Kleid glatt strich.
An die folgende Szene erinnere ich mich am besten. Nach einer Weile hast du die Arme verschränkt, als würdest du ungeduldig, ich schaute dich an, und du schautest zurück, ich streckte die Zunge heraus und du die deine, ich lachte, und du lachtest ebenfalls.
Die meisten Kinder, die zu unserer Mission gebracht werden, sind scheu und unruhig und sehen weg, wenn ich ihren Blick zu erhaschen versuche. Du aber hast von Anfang an den Augenkontakt mit mir hergestellt.
Und obwohl ich nur so wenig über dich wusste, Chika, war mir klar, dass du tapfer warst – und dass diese Tapferkeit dir in diesem Leben helfen würde.
Aber ich ahnte nicht, wie sehr.
Wir
»Warte, Mister Mitch!«
Ja?
»Ich hab eine Frage.«
Nur zu.
Sie legt die Hände auf meinen Schreibtisch und drückt dagegen.
»Als ich zur Mission gekommen bin, hab ich da geweint?«
Nein.
»War ich wütend?«
Ich denke nicht. Warum solltest du wütend gewesen sein?
»Weil ich so klein war!«, betont sie, als wäre das sonnenklar. »Und ich musste weg von zu Hause!«
Bist du jetzt böse deswegen?
»Nein.« Sie schaut zur Seite. »Ich werde nicht mehr wütend.«
Eigentlich stimmt mich das traurig, denn Chikas ungezügeltes Temperament war eine ihrer liebenswertesten Charaktereigenschaften. Immer wieder verschränkte sie die Arme, wandte sich von uns ab und zog das Kinn weit nach unten auf die Brust. Wenn ich mich ihr von rechts näherte, drehte sie sich nach links, und umgekehrt. Wenn ich mich vor sie hinkauerte und ihre Schultern umfasste, musste ich ein Grinsen unterdrücken. Was für eine mürrische Miene! Obwohl Chika noch ein Kind war, hatte sie den Gesichtsausdruck eines Mannes in mittleren Jahren, der auf der Bank griesgrämig Schlange steht, geradezu perfektioniert.
Macht es dich nun glücklicher, nicht mehr wütend zu werden?
»Manchmal vermiss ich’s.«
Wann?
»Zum Beispiel, erinnerst du dich, wenn ich geschrien habe und Miss Janine und du mich ermahnten: ›Chika, wir schreien uns nicht an‹?«
Da vermisst du, wütend zu sein?
»Ich vermisse nicht, wüüüteeend zu sein«, erwidert sie in gedehntem Ton. »Ich vermisse, dass ihr mir sagt, es nicht zu sein.«
Ich halte inne und schlucke, wie ich es während ihres Lebens oft getan habe, wenn ihre spontane Weisheit mich in Staunen versetzte.
»Mister Mitch?«
Ja?
»War ich dein Lieblingskind in Haiti?«
Die Frage entlockt mir ein Lächeln. Tatsache ist, dass Chika von dem Tag an, da wir sie aufnahmen, ein glühendes, rechthaberisches Temperament besaß und schon bald die anderen Kinder, sogar die älteren, herumkommandierte wie ein Feldwebel. Sie gab Anweisungen, wer im Staffelllauf zuerst starten sollte, mit welcher Puppe zu spielen sei und wo man sich vor dem Waschraum anzustellen habe. Sie hatte eine kräftige Stimme und eine eigensinnige Ader, weshalb ich glaube, dass einige der scheueren Kinder sich vor ihr fürchteten. Gerne würde ich wissen, woher ihre ungestüme, draufgängerische Art kam, was vor unserem Eintritt in ihr Leben geschehen war, das sie derart tollkühn machte. Nur eines weiß ich, wenn ich die Fotos aus jenen frühen Tagen betrachte: Sie posierte häufig mit einer Hand auf der vorspringenden Hüfte, hob drohend den Finger, und fast kann man sie sagen hören: »Nein, nein, nein!«
Du bist mein allergrößter Liebling, sage ich jetzt zu ihr.
»Das sagst du dauernd.«
Nun, du bist es.
Chika rollt auf den Bauch, und plötzlich ist eine Puppe bei ihr. Keine Ahnung, woher sie die hat. Es handelt sich um eine Art Prinzessin mit blauem Kleid und schwarzem Haar, in dem ein Diadem steckt. Chika schiebt die Arme der Puppe nach oben, als wären sie zum Himmel hochgestreckt.
»Mister Mitch?«
Hm?
»Warum hattet ihr keine kleinen Kinder?«
Ich stocke.
Was meinst du?
»Du hast gesagt, die Leute brachten euch ihre kleinen Kinder, aber du und Miss Janine hattet keine.«
Ich bin dabei, deine Geschichte zu schreiben, Chika. Was hat das mit deiner Lebensgeschichte zu tun?
Ihre Augenlider heben sich, als würde eine Muschelschale sich öffnen. Sie weiß, dass es ganz und gar mit ihrer Lebensgeschichte zu tun hat.
Ich
Nun gut. Die wahre Antwort lautet: Egoismus. Ich habe dich immer davor gewarnt, egoistisch zu sein, Chika, aber das heißt nicht, dass ich selbst nicht egoistisch war. Oft war ich es nämlich, vor allem in jüngeren Jahren und besonders im Umgang mit meiner Zeit. Ich dachte, so viel davon sei noch übrig. Eine Familie zu gründen, erschien mir wie ein neuer Teppich, den ich in einem Wandschrank verstauen und irgendwann einmal entrollen konnte, sobald ich dafür bereit war.
Wenn also in den Jahren, da ich mit Frauen ausging, eine allzu häufig über Kinder sprach, trennte ich mich von ihr. Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit als Sportreporter und nahm jeden Auftrag an, den ich ergattern konnte. Meine einzige lange Beziehung vor der mit Miss Janine dauerte bis zu einem Verlobungsring, aber die Frau änderte ihre Meinung und verließ mich eines Tages plötzlich – um einen anderen Mann zu heiraten. Nach einigen Monaten des Leidens und der Verwirrung sagte ich mir, dass es so vielleicht zum Besten sei.