Sie weiß, dass er weiß, dass sie weiß, dass er es weiß!
London 1817: Als Lady Violet Grey und Lord James Audley sich vor fünf Jahren trafen, verliebten sie sich und heirateten Hals über Kopf. Nun sprechen die beiden seit vier Jahren kein Wort mehr miteinander. Aber als Violet die Nachricht erhält, dass James einen Reitunfall hatte, macht sie sich sofort auf den Weg zu ihm. Nur um ihn dann wohlauf anzutreffen, wenn man mal von dem heftigen Kater absieht. Um ihrem Ehemann eine Lektion zu erteilen, täuscht Violet vor, krank zu sein. Soll er sich doch mal Sorgen machen! Doch James durchschaut sie und sinnt auf Rache. Zwischen kleinen und großen Lügen, Verstrickungen und Peinlichkeiten, aber vor allem neu entfachter Leidenschaft merken die beiden schließlich, dass sie sich eventuell gar nicht so sehr hassen, wie sie glauben...
Roman
Aus dem Amerikanischen
von
Cherokee Moon Agnew
Forever by Ullstein
forever.ullstein.de
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage November 2021
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Original English Copyright © 2020 by Martha Waters
Titel der amerikanischen Originalausgabe: To Have and to Hoax (Atria Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München (Blumen); © Marc Owen / arcangel images (Pärchen)
Autorenfoto: © Ryan Chamberlain
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ISBN 978-3-95818-633-0
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Für meine Eltern, die mit mir Jane Austens Haus besucht haben.
Und für Jillian, Corinne, Eleanor und Elizabeth – zukünftige Heldinnen ihrer eigenen Geschichten.
Lady Violet Grey, achtzehn Jahre alt und von schöner Gestalt, mit einem respektablen Vermögen und makellosem Stammbaum, zeigte alle Vorzüge, die sich eine junge Dame aus guter Gesellschaft zu wünschen vermochte. Nur eine wichtige Eigenschaft fehlte ihr, laut ihrer Mutter: eine Sanftmütigkeit, die einer Dame angemessen wäre.
»Neugier, meine Liebe, wird dich nirgendwohin bringen«, hatte Lady Worthington ihre Tochter im Laufe der Jahre ihrer nicht enden wollenden Jugend schon mehr als einmal getadelt. »Neugier führt einen auf Balkone! Und sie treibt einen in den Ruin!«
Ruin.
Auch wenn Violet nichts gegen das Wort als solches hatte, es ließ sie an den Parthenon in Griechenland denken – einen Ort, den sie nur allzu gern besucht hätte, wäre sie kein englisches Mädchen aus gutem Hause gewesen –, hasste sie es jedoch mittlerweile, sobald es im Zusammenhang mit jungen Damen, wie sie selbst eine war, fiel. Ihre Mutter hatte das Wort bereits so oft erwähnt, um Violet vor ihrem unpassenden Verhalten zu warnen, dass sie es sich mittlerweile immer mit großem R vorstellte. Man besuchte Ruinen. Man war Ruiniert.
Und durfte man Lady Worthingtons ständigen Ermahnungen Glauben schenken, so lief Violet große Gefahr, in diesen überaus unerwünschten Zustand zu verfallen. Als Lady Worthington ein Buch mit skandalöser Poesie entdeckte, das Violet aus der Familienbibliothek entwendet hatte, warnte sie vor dem Ruin. Als sie einen Brief entdeckte, den Violet an den Herausgeber des Arts and Sciences Review geschrieben hatte bezüglich eines in Frankreich neu entdeckten Kometen, warnte sie vor dem Ruin. (»Aber ich wollte ihn unter männlichem Pseudonym abschicken!«, protestierte Violet, als ihre Mutter den Brief in Fetzen zerriss.) Laut Lady Worthington lauerte der Ruin an jeder Ecke.
Kurzum: Es war besorgniserregend.
Oder zumindest hätte es jeder andere als besorgniserregend empfunden. Nur Violet nicht.
Die ständigen Ermahnungen, die in den Monaten vor Violets Präsentation bei Hofe und ihrer ersten Saison in London immer häufiger wurden, machten sie noch neugieriger, was genau es mit diesem Ruin auf sich hatte.
Ihre Mutter, normalerweise fürchterlich redselig, was dieses Thema betraf, wurde auffällig wortkarg, wenn Violet sich nach konkreten Details erkundigte. Violet hatte bereits ihre zwei besten Freundinnen, Diana Bourne und Lady Emily Turner, gefragt, aber sie schienen genauso wenig darüber zu wissen. Sie begann, die Bibliothek von Worth Hall, dem Landgut der Worthingtons, nach Informationen zu durchforsten, wurde jedoch zur Anprobe nach London geschickt, bevor sie Fortschritte verzeichnen konnte.
Es war frustrierend, die erste Saison so unwissend zu beginnen. Und es war ziemlich enttäuschend, als sie sich ein paar Wochen später an einem der gefährlichsten Orte überhaupt befand, an denen man mit großer Wahrscheinlichkeit den Ruin fand – auf einem Balkon. Sie stellte fest, dass es nicht annähernd so aufregend war, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Der Gentleman, der versuchte, sie in den Ruin zu treiben, Jeremy Overington, Marquess of Willingham und berühmt-berüchtigter Lebemann, war ihr nicht ganz unbekannt, da er der beste Freund des großen Bruders ihrer besten Freundin Diana war. Violet erinnerte sich lebhaft, wie Penvale sie, Diana und Emily während seines Heimatbesuchs aus Eton mit Willinghams Heldentaten erfreut hatte. Sie hatte Lord Willingham allerdings schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen, bis zu diesem Monat, als sie in die Londoner Gesellschaft eingeführt wurde.
Man konnte Willinghams Attraktivität nicht leugnen, vorausgesetzt, man fand goldenes Haar, blaue Augen und perfekt sitzende Reithosen anziehend (was bei Violet – wie bei jedem anderen richtigen englischen Mädchen – der Fall war). An jenem Abend auf dem Montgomery-Ball merkte sie, dass er einen Walzer mit einer jungen Dame gerne dafür nutzte, die besagte junge Dame hinaus auf einen dunklen Balkon zu führen.
Violet war von dieser Entwicklung der Ereignisse ziemlich überrascht. Vor wenigen Augenblicken hatten sie sich noch müßig über ihre ersten Eindrücke von London unterhalten, unter den Kronleuchtern getanzt und in romantischem Kerzenlicht gebadet, und nun waren sie hier. Allein. Die Orchestermusik drang gedämpft durch die französischen Türen, die zurück in den Ballsaal führten. Plötzlich ging alles sehr schnell. Sie konnte gar nicht sagen, wie es passiert war. Doch im einen Moment fragte Jeremy sie lachend, ob es das erste Mal war, dass sie jemand auf einen Balkon gelockt habe, und im nächsten landete sein Mund auf ihrem.
Nun war sie Ruiniert. Und dennoch. Violet hatte bisher den Eindruck gewonnen – durch die vielen Bücher, die sie heimlich gelesen und vor ihrer Mutter versteckt hatte –, dass Ruin eine eher freudvolle Erfahrung war. Warum sonst sollte eine Dame für einen flüchtigen Moment alles aufs Spiel setzen? Doch um ehrlich zu sein, fand Violet ihren eigenen Ruin weitaus weniger vergnüglich, als sie es sich erhofft hatte.
Sicherlich, Lord Willinghams Arme waren stark, als er Violet gegen seine Brust drückte, die beruhigend muskulös war. Und ja, er duftete angenehm nach Bergamotte, und sein Mund bewegte sich mit einer Leichtigkeit, die auf jahrelange Erfahrung schließen ließ, über ihren. Und dennoch.
Und dennoch.
Violet fühlte sich auf seltsame Art unbeteiligt. Während sich ein Teil von ihr auf das Geschehen konzentrierte, eine Hand in Willinghams Nacken, die Augen fest geschlossen, konnte ein anderer Teil ihres Geistes nicht umhin, sich von der kühlen Abendluft gestört zu fühlen, von dem leicht unangenehmen Gefühl im Nacken, das sich langsam einstellte, da sie den Kopf die ganze Zeit nach oben recken musste, und von der Möglichkeit, auf sie zukommende Schritte zu vernehmen.
Kurz darauf stellte sie panisch fest, dass sie tatsächlich Schritte hörte, begleitet von einer eindeutig männlichen Stimme.
»Jeremy, du lässt allmählich nach«, sagte der Mann. Willingham wirbelte herum und versuchte, Violet vor dem Blick des Mannes abzuschirmen. »Ich dachte, du wüsstest inzwischen, dass du dir für deine Liaisons lieber eine dunklere Ecke des Balkons suchen solltest.«
Der Besitzer der Stimme trat in einen Lichtkegel, und Violets erster Eindruck war, dass er der schönste Mann war, den sie je gesehen hatte. Sie hatte es immer für idiotisch gehalten, wenn Mädchen in Büchern diese Aussage trafen. Wie war es bitte möglich, dass eine Frau im Bruchteil einer Sekunde entscheiden konnte, dass das Gesicht eines Mannes schöner war als das aller anderen Männer, denen sie im Laufe ihres Lebens begegnet war? Es war vollkommen unlogisch. Absurd.
Und dennoch. In diesem Moment wurde Violet ebenfalls absurd, denn nichts konnte sie mehr von diesem Glauben abbringen. Der Fremde war groß, breitschultrig und nicht älter als Lord Willingham, von dem Violet wusste, dass er aus Oxford kam und erst seit ein paar Saisons in London war. Sein Haar, noch dunkler als Violets, erschien im schummrigen Licht schwarz. Seine Augen waren von einem kräftigen, erstaunlichen Grün. Als sich ihre Blicke über Lord Willinghams Schulter hinweg trafen, verspürte Violet in Anbetracht seiner körperlichen Nähe und der Art, wie er sie musterte, einen Nervenkitzel. Er bewegte sich mit athletischer Geschmeidigkeit, und mit einem Mal kam ihr der Gedanke, dass sie ihn gern auf dem Rücken eines Pferdes sehen würde. Sie konnte sich regelrecht den Gesichtsausdruck ihrer Mutter vorstellen, wenn sie diesen Gedanken gehört hätte. Lady Worthington hätte es unangebracht gefunden, auch wenn Violet nicht genau wusste, warum. Sie musste die Hand vor den Mund schlagen, um ihr Lachen zu unterdrücken, das in der Stille des Balkons unnatürlich laut klang.
Nun betrachtete der Neuankömmling sie noch genauer, und seine Augen wurden groß. Violet wurde von der wilden, flüchtigen Hoffnung ergriffen, er wäre von ihrer Schönheit ebenso fasziniert wie sie von seiner. Selbst ihre Mutter war mitunter gezwungen, ihre Kritik im Zaum zu halten und widerwillig zuzugeben, dass Violet schön genug sei, dass man über den Rest hinwegsehen könne. Hoffentlich. Natürlich meinte sie mit »dem Rest« alle Aspekte ihres Charakters, die Violet zu dem Menschen machten, der sie nun mal war.
Jedoch verflog diese romantische Vorstellung umgehend, als sie seinen wütenden Gesichtsausdruck sah, als er sie musterte.
»Jeremy«, sagte er und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lord Willingham zu, der mehr schlecht als recht versuchte, Violet vor dem Blick des Fremden abzuschirmen. »Das geht zu weit.«
»Das hast du schon mal gesagt, alter Junge. Aber irgendwie sind das immer leere Worte«, erwiderte Lord Willingham in trägem Ton. Violet spürte jedoch die Anspannung, die von seinem Körper ausging.
»Als ich meinen Vater getroffen habe und er mir sagte, ich würde dich mit Sicherheit hier draußen mit einer Dame finden, die gerettet werden müsse, dachte ich, er würde sich irren. Ich hätte mit einer Witwe gerechnet. Oder vielleicht mit einer untreuen Ehefrau. Aber doch nicht mit einem Mädchen.« Die Augen des Fremden blitzten, als er sprach, und obwohl er nicht die Stimme erhoben hatte, war sich Violet sicher, dass er kein Mann war, den man provozieren sollte. Sie jedoch war von Natur aus eigensinnig und fand die Vorstellung, ihn zu provozieren, nahezu verlockend.
»Audley, mach dir nicht ins Hemd«, antwortete Lord Willingham, und Violet wurde bewusst, dass es sich bei dem Fremden um Lord James Audley handelte, den zweiten Sohn des Duke of Dovington und den dritten im untrennbaren Trio, bestehend aus ihm selbst, Lord Willingham und Penvale. Sie waren alle zusammen in Eton gewesen und dann in Oxford. Doch in all der Zeit, die Violet mit Diana und Penvale verbracht hatte, hatte sie Lord James bisher nicht kennengelernt.
»Du bist der Einzige, der uns gesehen hat. Kein Grund zur Panik«, fuhr Lord Willingham fort. Violet hatte große Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Das kann auch nur ein Mann sagen, dachte sie. Natürlich gab es keinen Grund, dass er in Panik verfiel, denn schließlich war er ein Mann und konnte tun und lassen, was er wollte. Sie jedoch saß in der Patsche. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was Penvale im Laufe der Jahre über Lord James erzählt hatte. War er diskret? Diese Frage konnte sie nur schwer beantworten, denn Penvales Geschichten aus der Schulzeit enthielten für gewöhnlich Frösche in Betten und andere Dinge, die Jungs aus unerklärlichen Gründen amüsant fanden. Wirklich, es war Grund genug, um die Intelligenz des anderen Geschlechts gänzlich infrage zu stellen.
»Ich hätte genauso gut jemand anderes sein können. Dann wäre der Ruf der jungen Dame ruiniert gewesen«, sagte Lord James in ruhigem Ton, der jedoch mit jedem Wort eisiger wurde. »Ich fasse nicht, dass du inzwischen so weit gesunken bist, dass du versuchst, Jungfrauen auf Bällen zu verführen.«
Eine Welle der Scham, gepaart mit Wut, überkam Violet. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, trat sie aus Lord Willinghams Schatten heraus und sah Lord James geradewegs in die Augen.
»Die Jungfrau, von der hier die Rede ist, kann Sie hören, Sir«, bemerkte sie steif. »Und sie würde Ihre Diskretion in dieser Angelegenheit sehr zu schätzen wissen.«
Lord James kniff die Augen zusammen. »Dann sollte sie zukünftig besser keine Spaziergänge auf Balkonen mit Männern von fragwürdigem Ruf unternehmen.« Er nickte mit dem Kopf in Lord Willinghams Richtung, jedoch ohne den Blick von Violet zu wenden.
Obwohl sie eine erneute Welle der Wut ergriff, stockte ihr der Atem, als sie sich in diesem grünen Blick gefangen sah. Es fühlte sich an, als hätte man ihr Korsett zu eng geschnürt (was durchaus möglich war). Es war ihr unmöglich, den Blickkontakt zu unterbrechen.
»Mir war im Ballsaal zu heiß«, sagte sie und schenkte ihm ihr sittsamstes Lächeln. »Der Marquess war so freundlich, mich nach draußen zu geleiten, damit ich ein wenig frische Luft schnappen kann.«
»War er das?« Der Fremde hob eine der dunklen Augenbrauen. »Zu freundlich von ihm«, fügte er sarkastisch hinzu. »Merkwürdig nur, dass es so schien, als würde er Ihre Luftzufuhr eher verhindern statt fördern, als ich Sie zusammen angetroffen habe.«
Violet spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, doch sie ließ sich nicht einschüchtern. Sie war nicht sicher, was er an sich hatte, das in ihr den Wunsch weckte, ihm überlegen zu sein, doch sie konnte sich nicht dazu bringen wegzusehen, leise eine Entschuldigung zu murmeln und darum zu bitten, wieder nach drinnen begleitet zu werden.
»Lord Willingham benimmt sich viel mehr wie ein Gentleman, als Sie es gerade tun, Mylord«, konterte sie. »Ich wusste nicht, dass es die Art eines Gentlemans ist, einer Dame Unbehagen zu bereiten.« Doch sie weigerte sich, ihm ihr eigenes Unbehagen zu zeigen. Wie jede wohlerzogene junge Dame hatte sie eine hervorragende Haltung, und sie widerstand dem Impuls, angesichts einer so beschämenden Unterhaltung zusammenzuschrumpfen.
»Bitte vergeben Sie mir«, sagte Lord James, und sein Blick wurde ein wenig sanfter, auch wenn in seinem Tonfall keinerlei Reue mitschwang. »Mir war nicht bewusst, dass Sie sich unbehaglich fühlen. Man merkt es Ihnen kein bisschen an.« Er klang zynisch, doch in seinen Worten lag auch ein Hauch Bewunderung.
»Es ist meine erste Saison, Mylord«, sagte sie und dachte darüber nach, mit den Wimpern zu klimpern, entschied sich dann aber für einen rehäugigen Unschuldsblick. »Das ist alles noch sehr neu für mich.« Sie befürchtete schon, sie hätte es übertrieben, als sich Lord James‘ Gesichtsausdruck leicht verhärtete. Grund für diese Veränderung schien jedoch etwas zu sein, das sie gesagt hatte, und nicht ihre Rehaugen.
»Meine Güte, Jeremy«, murmelte er und strafte Willingham mit einem bösen Blick. »Kannst du dir nicht wenigstens eine suchen, die schon seit ein paar Saisons dabei ist? Eine, die weiß, was sie von dir zu erwarten hat?«
»Offensichtlich nicht«, entgegnete Willingham fröhlich. »Die Versuchung war einfach zu groß.« Er grinste Violet teuflisch an, und sie hatte große Mühe, das Lächeln nicht zu erwidern. Es war unschwer zu erkennen, warum ihm so viele Ehefrauen und Witwen verfielen. »Da ich ein so unbelehrbarer Schurke bin, dass man mir keine Dame anvertrauen sollte, könntest du, Audley, mir vielleicht den Gefallen tun und Lady Violet wieder nach drinnen begleiten? Natürlich erst in ein paar Minuten. Des Anstands wegen.« Den letzten Satz betonte er übertrieben dramatisch, um Lord James auf die Nerven zu gehen, dessen war sich Violet sicher. Und es schien, als hätte er damit Erfolg. Zwar veränderte sich sein Gesichtsausdruck nicht, doch sie bemerkte, wie sich sein Körper noch weiter versteifte, als würde ihm gleich der Geduldsfaden reißen.
Damit meinte Lord Willingham natürlich, dass es überaus skandalös wäre, wenn Violet nach so langer Abwesenheit mit ihm gemeinsam den Saal betreten würde. Käme sie mit einem anderen Gentleman zurück, würde es den Tratschtanten vermutlich nicht auffallen, wie lange sie mit Willingham auf dem Balkon gewesen war. Oder noch besser: Sie hätten vergessen, mit welchem Gentleman sie überhaupt nach draußen gegangen war.
Lord James runzelte jedoch immer noch die Stirn. »Ich verstehe nicht ganz, warum es weniger skandalös wäre, wenn ich die Dame hineinführe«, sagte er, und Violet konnte nicht umhin, sich an seinem Zögern zu stören. Sie hatte sich nie für sonderlich eitel gehalten, aber keine Dame freute sich darüber, wenn sich ein Herr so zierte, ein paar Minuten mit ihr zu verbringen.
Lord Willingham lachte. »Machen wir uns nichts vor, Audley. Jeder weiß, dass du ein ehrenwerter Mann bist, der niemals den Ruf einer unschuldigen Dame beschmutzen würde, während ich nur einen Fehltritt davon entfernt bin, aus allen anständigen Ballsälen verbannt zu werden.« Er trat zurück, als hätte er an einem Duell teilgenommen und würde seinem Gegner nun den Sieg zugestehen. Übertrieben verbeugte er sich vor Violet. Es war fürchterlich schwierig, einen Gentleman zu finden, der die Kunst des Verbeugens wirklich zu schätzen wusste. »Lady Violet Grey, darf ich Ihnen Lord James Audley vorstellen? Er wird Sie sicher in die warme Umarmung der Gesellschaft zurückführen.«
»Wohin gehen Sie?«, fragte Violet.
»Ich hole mir einen Drink«, erwiderte er sehr enthusiastisch. So viel Enthusiasmus hatte er in ihrer Gegenwart bisher noch nicht gezeigt.
Dann war er verschwunden. Mit offenem Mund starrte Lord James ihm hinterher, die teilnahmslose Fassade war endgültig zerbrochen. Vor Empörung war er kurz sprachlos.
»Dieser verdammte Mistkerl«, murmelte er und vergaß wohl, dass er in Beisein einer jungen Dame war, deren Unschuld er eben noch betont hatte. Doch Violet war von seiner derben Ausdrucksweise natürlich entzückt, denn so sprachen sonst nur die Schurken in Büchern. Insgeheim hatte sie schon seit Jahren gehofft, mal einen Mann fluchen zu hören. Für den zukünftigen Gebrauch – natürlich nur außer Hörweite ihrer Mutter – prägte sie sich die Schimpfwörter genau ein.
Erst mit Verspätung wurde sich Lord James ihrer Anwesenheit wieder bewusst. Obwohl er aufgebracht war und offensichtlich verwundert über Lord Willinghams abrupten Abgang, verfehlte seine Aufmerksamkeit auch diesmal nicht ihre Wirkung. Violet versuchte, Worte für das zu finden, was sie empfand, scheiterte jedoch. Sie konnte es nur so beschreiben: Wenn er sie ansah, hatte sie das Gefühl, er würde sie klarer und vollständiger sehen als jeder andere vor ihm.
Es war beunruhigend. Und irritierend.
»Ich entschuldige mich«, sagte er steif, und Violet blinzelte. Sie begriff nicht sofort, dass er sich für seine Ausdrucksweise entschuldigte und nicht für das Unbehagen, das er ihr durch seinen prüfenden Blick bereitete. »Das war ziemlich unhöflich von mir.«
»Oh, Sie müssen sich nicht entschuldigen«, meinte Violet gedankenlos. »Zumindest nicht fürs Fluchen. Wenn Sie sich jedoch dafür entschuldigen wollen, dass Sie mir das Gefühl geben, meine Gesellschaft wäre Ihnen nicht recht, oder für die Tatsache, dass Sie über mich gesprochen haben, als wäre ich nicht da, als wäre ich ein trotziges Kind, dann würde ich das nur zu gern hören.«
Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Sie sind ganz schön frech, wenn man bedenkt, dass man uns noch nicht anständig einander vorgestellt hat.«
»Unsinn. Was war es denn Ihrer Meinung nach, was Lord Willingham eben getan hat?«
»Sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen«, erwiderte Lord James düster. Dann musterte er sie. »Sie sind also Lady Violet Grey. Penvale hat mir bereits von Ihnen erzählt.«
Violet schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln. »Hoffentlich nur Gutes?«
»Er meinte, er habe Sie und seine Schwester mal dabei erwischt, wie Sie in Ihren Nachthemden im See badeten«, sagte Lord James knapp. Dann lächelte er ein wenig, was seinen ernsten Gesichtsausdruck abmilderte, und fügte hinzu: »Es ist also eine Frage der Perspektive. Ich nehme an, Ihre Mutter würde das nicht als etwas Gutes erachten. Für einen achtzehnjährigen Kerl jedoch war es zugegeben ziemlich interessant.«
»Mylord, ich glaube, wir kennen uns noch nicht lange genug, als dass wir uns über meine Unterkleidung unterhalten sollten«, sagte Violet grinsend. Ihm entwich ein Lachen, bevor er es zurückhalten konnte, was dazu führte, dass sie ihn jetzt noch mehr mochte.
»Ab welchem Zeitpunkt würden Sie das für angemessen halten? Mit Etiketten kenne ich mich ehrlich gesagt nicht sonderlich gut aus.«
Flirtete er etwa mit ihr?
»Nicht, bevor wir nicht mindestens zweimal miteinander getanzt haben«, entgegnete Violet mit fester Stimme. Flirtete sie etwa auch mit ihm?
»Verstehe«, erwiderte er gespielt düster.
»Immerhin habe ich sehr zarte Gefühle, die Sie verletzen könnten«, fügte sie hinzu und wurde mit einem kleinen Lächeln in der Dunkelheit belohnt. Es war nur flüchtig, trotzdem hatte es sein Gesicht verändert. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie einiges dafür geben würde, noch einmal so von ihm angelächelt zu werden.
»Ehrlich gesagt glaube ich, Sie laufen bislang eher Gefahr, meine Gefühle zu verletzen«, antwortete er trocken. Als sie bedachte, unter welchen Umständen er sie kennengelernt hatte, spürte Violet, wie sie errötete. Es war zum Verrücktwerden.
»Mylord«, sagte sie steif. »Ich möchte Sie bitten, nicht zu erwähnen …«
»Sie müssen mich nicht erst darum bitten«, unterbrach er sie. »Das würde ich niemals tun.« Er ging nicht näher darauf ein, doch sie glaubte ihm sofort.
»Ich will gar nicht wissen, was Sie jetzt von mir denken«, sagte Violet lachend und hoffte, ihr Lachen würde locker und weltgewandt klingen, als würde man sie regelmäßig dabei erwischen, wie sie auf Balkonen Herren umarmte. Doch ihr Herz hämmerte laut in ihrer Brust, und in einem Moment der Klarheit wurde ihr bewusst, dass es sie durchaus interessierte, was Lord James Audley von ihr hielt, obwohl sie ihn vor nicht einmal fünf Minuten kennengelernt hatte. Das war ziemlich befremdlich, wenn man bedachte, dass sie sich normalerweise nicht um die Meinung anderer scherte, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter.
Sie stellte fest, dass sie, ohne es zu merken, ein wenig näher an ihn herangerückt war. Sie musste den Kopf weiter in den Nacken legen, um zu ihm aufzublicken, als noch vor wenigen Augenblicken, und Lord James’ breite Schultern schirmten das Licht ab, das aus dem Ballsaal hinter ihnen fiel. Nun standen sie vollständig im Schatten. Selbst wenn jetzt jemand den Balkon betreten hätte, hätte der Eindringling Schwierigkeiten gehabt, sie zu entdecken. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich auf seltsame Weise atemlos.
»Sie sind mit Abstand die interessanteste junge Dame, die ich in dieser Saison bisher kennengelernt habe«, sagte er ohne auch nur den geringsten Hauch von Spott in der Stimme und seinem Gesicht. Warum hatte sie das Gefühl, interessant sei das Netteste, was sie je von einem Mann zu hören bekommen hatte? Warum wollte sie lieber aus seinem Mund interessant hören als schön oder bezaubernd oder amüsant, alles Komplimente, die ihr diese Saison bereits entgegengebracht worden waren?
Er sah ihr in die Augen und hielt ihrem Blick stand, und ihr Herz begann, noch schneller zu schlagen. Ihr Herz hämmerte so laut in ihren Ohren, sie war sicher, er musste es ebenfalls hören. War das normal? Sollte sie besser einen Arzt aufsuchen? So viel sie über die Gewohnheiten zu Hofe auch gelesen hatte, Ohnmachtsanfälle im Mondlicht auf Balkonen aufgrund von Herzschwäche hatten nirgendwo Erwähnung gefunden.
»Ich bin sicher, meine Mutter wäre bestürzt, wenn sie das hören würde.« Violet presste ein Lachen hervor, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. »Sie hat immer Sorge, dass ich zu interessant sein könnte. Das sei nicht zu meinem Besten.«
Er lächelte erneut, nur ein kurzes Aufblitzen, bevor es wieder verschwand. Und wieder hatte Violet das seltsame Gefühl, dass im Vergleich zu diesem strahlenden Lächeln alles um sie herum dunkler wurde. Selbst als es bereits verschwunden war, blieb seine Präsenz immer noch spürbar und ließ sein kantiges Gesicht ein wenig weicher erscheinen. Einladender. Jetzt, da sie dieses Lächeln gesehen hatte, würde sie es nie wieder vergessen können.
»Nun ja, aber es ist zu meinem Besten.« Er machte einen Schritt nach vorn und streckte die Hand aus.
»Lady Violet«, sagte er. »Würden Sie mir die Ehre erweisen und mit mir tanzen?«
»Hier?«, fragte Violet lachend. »Auf einem Balkon? Allein?« Schließlich war der Ballsaal, der für einen Tanz mehr als geeignet war, nur ein paar Schritte entfernt. Der Ballsaal, in den er sie eigentlich hätte eskortieren sollen.
»Ich nahm an, wir würden wieder hineingehen«, antwortete er und grinste ein wenig. »Aber …« Er zögerte, und Violet wusste, dass er es ebenfalls spürte, diese Anziehungskraft zwischen ihnen. Sie wollte nicht in einen lauten, überfüllten Ballsaal zurückkehren und mit ihm über das Wetter plaudern.
»Man kann die Musik immer noch hören«, sagte sie, bevor sie sich selbst davon abhalten konnte. Und es stimmte. Durch die französischen Türen vernahm man den Klang von Musik, die sie in der kühlen Nachtluft zu umhüllen schien.
»Ja, das kann man«, bestätigte er so schnell, dass sie beinahe laut gelacht hätte. »Bitte sagen Sie mir, dass Sie mit mir tanzen«, fügte er hinzu und machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Inzwischen war er ihr näher, als es der Anstand zuließ. Violet legte den Kopf in den Nacken und sah ihn an. Wieder nahm sie dieser grüne Blick voll und ganz gefangen. Das Wort bitte klang aus seinem Mund überaus anziehend.
»Wenn ich zweimal mit Ihnen tanzen muss, bevor wir über Ihre Unterkleidung sprechen können«, fügte er hinzu, »sollte ich besser keine Zeit verlieren. Es ist eine Unterhaltung, die ich nur allzu bald führen möchte.«
Ein verblüfftes Lachen brach aus Violet hervor, und er ergriff die Chance, sie mit Schwung in seine Arme zu ziehen. Sie hatte diese Beschreibung immer ein wenig absurd gefunden, wenn sie ihr in einem Roman begegnet war, und doch schien sie ihr, hier auf diesem Balkon, an diesem Abend im Mondschein, vollkommen zutreffend.
Natürlich hatte Violet bereits zuvor mit Männern getanzt. Und bis zu diesem Moment hätte sie gesagt, sie habe diese Tänze durchaus genossen. Selbstverständlich waren manche besser gewesen als andere. So sei nun mal das Leben, hatte ihre Mutter einmal seufzend bemerkt. Aber im Großen und Ganzen verstand sich Violet als eine Dame, die gern tanzte.
Doch nun, Walzer tanzend auf einem Balkon, in den Armen eines Mannes, den sie kaum kannte, erkannte sie, dass alle bisherigen Tänze nur ein flackerndes Kerzenlicht im Vergleich zu diesem gewesen waren, der hell strahlte wie die Sonne. Er hielt sie fest in seinen Armen und drehte sie geschickt im Takt der Musik. Ihm so nahe, konnte sie den besonderen Duft wahrnehmen, der an ihm hing, eine Kombination aus frisch gebügelter Wäsche, Rasierseife und einem Hauch von Alkohol – vielleicht Brandy? Was auch immer es war, die Mixtur war durch und durch betörend. Wilde, verrückte Gedanken gingen ihr durch den Kopf: Wäre es seltsam, die Nase gegen sein perfekt gebügeltes Jackett zu drücken und zu riechen?
Ja, das wäre es, entschied sie.
Sie blickte auf in sein unglaublich schönes Gesicht, während sie sich langsam drehten, und ihre Blicke trafen sich. Sein Lächeln war nicht wieder aufgeblitzt, aber sie konnte es in seinen Augen wiederentdecken. In der Art, wie er zu ihr herabblickte. Ihr wurde heiß, und ihr Körper begann auf eine Weise zu jucken, die sie nicht erklären konnte. Doch es war kein gänzlich unangenehmes Gefühl.
Seit die Saison vor ein paar Wochen begonnen hatte, hatte Violet viele Tänze getanzt, sich mit vielen Gentlemen unterhalten, viele hübsche Kleider getragen – doch es war hier, in einer nur wenig spektakulären Robe aus rosafarbener Seide (die ihrer Meinung nach nicht zu ihrem Hautton passte), auf einem abgeschiedenen Balkon, dass sich Violet dachte Ja, genau so sollte es sein.
»Wissen Sie, ich glaube, das waren die angenehmsten zehn Minuten, die ich im vergangenen Jahr auf Bällen verbracht habe«, sagte Lord James, auf fast unheimliche Weise Violets Gedanken aussprechend.
»Das kann ich mir nur schwer vorstellen«, sagte Violet fröhlich und versuchte, das Gefühl zu ignorieren, das seine Worte in ihr ausgelöst hatten. »Gentlemen ist es gestattet, an allerhand Aktivitäten teilzunehmen, die unpassend sind für junge Damen. Manche davon sind bestimmt vergnüglicher, als an einem kühlen Abend im Freien herumzustehen.«
»Das stimmt«, pflichtete er ihr bei. »Und doch muss ich sagen, dass ich Ihre Gesellschaft bisher am meisten genossen habe.«
Sie sah zu ihm auf, während sie sich langsam über den Balkon drehten, seine eine Hand warm und fest in ihrer, während die andere förmlich ein Loch durch die Lagen ihres Kleids zu brennen schien.
»Lady Violet«, sagte er und blieb abrupt stehen. »Ich werde Sie nun hineinbringen, bevor ich noch etwas tue, das ich später bereuen werde.«
»Oh?«, sagte Violet, unfähig, ihre Enttäuschung gänzlich zu verstecken. Doch statt sie loszulassen, zog er sie noch näher zu sich. Sein Körper lockte den ihren an wie das Kerzenlicht die Motten.
»Um ehrlich zu sein«, sagte er und sah zu ihr herab, »weiß ich nicht, ob ich es tatsächlich bereuen würde. Doch da ich mich von den Jeremy Overingtons dieser Welt distanzieren möchte, gehört es nicht zu meinen Gewohnheiten, junge Damen auf Balkonen zu küssen.« Er löste die Hand von ihrer Hüfte und legte sie an ihre Wange. Dann nahm er eine ihrer dunklen Strähnen zwischen Daumen und Zeigefinger. Violet stand da wie angewurzelt. Selbst wenn der Ballsaal jetzt in Flammen aufgegangen wäre, hätte sie sich außerstande gesehen, sich zu bewegen.
Doch wie sie nur wenige Augenblicke später feststellen musste, war die Stimme ihrer Mutter effektiver als jegliches Inferno.
»Violet Grey!«, erklang schrill Lady Worthingtons Stimme, in der Entsetzen und Missbilligung um die Vormacht kämpften. Sofort senkte Lord James die Hand, und Violet machte zwei Schritte rückwärts, doch es war bereits zu spät.
Man hatte sie gesehen.
Lady Worthington stürmte auf sie zu, ihr Federkopfschmuck zitterte vor Empörung. Sie war noch immer eine wunderschöne Frau, noch keine vierzig, doch Violet fand, dass sie sich häufig kleidete, als wäre sie wesentlich älter. Aber in diesem Moment verfehlte ihre Schönheit nicht ihre einschüchternde Wirkung – die blassen Wangen glühten, die blauen Augen funkelten vor Zorn. Sie blickte von Violet zu Lord James und wieder zu Violet. Ein einziger ihrer Blicke sagte mehr als tausend Worte. Violet wappnete sich für den Angriff, doch ihre Mutter richtete die ersten Worte an den Herrn statt an sie.
»Lord James Audley, nehme ich an.« Es klang nicht wirklich wie eine Frage. Lady Worthington kannte die wichtigsten Familienstammbäume in- und auswendig, wie Violet nur zu gut wusste.
»Da liegen Sie richtig, Mylady«, erwiderte Lord James mit einer höflichen Verbeugung.
»Nun, Mylord«, sagte Lady Worthington in so spitzem Ton, dass sich Violet krümmte, »ich nehme an, Sie haben nichts dagegen, mir ganz genau zu erklären, was Sie hier auf diesem Balkon mit meiner Tochter vorhatten?«
Kurz hielt Lord James Lady Worthingtons Blick stand, bevor er Violet ansah. Er betrachtete sie einen langen Moment, und sie wusste – aus irgendeinem Grund wusste sie es einfach –, was er als Nächstes sagen würde, so gern sie es auch verhindert hätte.
»Um ehrlich zu sein, Mylady«, sagte er, immer noch wie ein vollkommener Gentleman, »wollte ich Ihrer Tochter gerade einen Antrag machen.«