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Fußnoten


1 Siehe Der Butler 9 Die Jäger

2 Siehe Schattenchronik 1 Die andere Ebene

3 Siehe Schattenchronik 9 Willkommen auf Hell-Go-Land


SCHATTENCHRONIK – GEGEN TOD UND TEUFEL
Band 11



In dieser Reihe bisher erschienen:

2901 Curd Cornelius Die andere Ebene

2902 Curd Cornelius Die Riesenwespe vom Edersee

2903 Curd Cornelius & D. J. Franzen Die Ruine im Wald

2904 Curd Cornelius & Astrid Pfister Das Geistermädchen

2905 Curd Cornelius & G. G. Grandt Killerkäfer im Westerwald

2906 Andreas Zwengel Die Stadt am Meer

2907 Michael Mühlehner Gamma-Phantome

2908 Curd Cornelius & A. Schröder Dunkles Sauerland

2909 Andreas Zwengel Willkommen auf Hell-Go-Land

2910 Andreas Zwengel Tempel des Todes

2911 Andreas Zwengel Flussvampire

2912 Andreas Zwengel Die Barriere bricht

2913 Andreas Zwengel Die vier Reiter der Hölle

2914 Michael Mühlehner Der Voodoo-Hexer



Andreas Zwengel


FLUSSVAMPIRE





Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de

© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-557-9

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



Kapitel 1


Der alte Lukas fand die Leiche im Morgengrauen. Die junge Frau schwang leicht im Wind, ihr Kopf hing in einer Schlinge, die Zunge drängte zwischen den Zähnen hervor. Der Regen der letzten Nacht hatte die dünne Bluse und den Rock völlig durchweicht, sodass sich der Körper deutlich durch den nassen Stoff abzeichnete. Lukas war hin- und hergerissen zwischen Schamgefühl und Vernunft. Auf der einen Seite wollte er die Leiche aus ihrer unwürdigen Position befreien und ihre Blöße bedecken, auf der anderen Seite war er sicher, die Polizei würde ihm anschließend Vorwürfe machen, falls er etwas veränderte.

Er wusste, dass dies ein Traum war, denn er träumte ihn fast jede Nacht. Als nächstes würde sie ihre Lider heben und die milchig-weißen, pupillenlosen Augen zum Vorschein kommen. Das war der Moment, an dem er jedes Mal erwachte.


*


Am Morgen war wieder ein Lamm verschwunden. Lukas zählte die Jungtiere zweimal durch, obwohl er genau wusste, wie überflüssig das war. Zwei Tiere in zwei Tagen, das konnte kein Zufall sein. Die beiden Muttertiere klagten und suchten nach ihren Jungen. Ständig mussten sie von den Hunden zur Herde zurückgetrieben werden. Für Laurel und Hardy gab es keine Verschnaufpause und wenn das so weiterging, würde Lukas die Herde auch tagsüber einpferchen müssen.

Diebstahl war leider keine Seltenheit. Lammfleisch war teuer und somit das Wertvollste, das es bei ihm zu holen gab. Die Wolle brachte schon lange kein Geld mehr.

Lukas klemmte die Daumen hinter seine Hosenträger und betrachtete die Herde. Er lebte für seine Tiere. Er begleitete sie von der Geburt bis zum Tod und verteidigte sie dazwischen gegen jede Gefahr. Doch diesmal hatte er versagt. Zweimal.

In seiner Tasche spürte er das Handy, das ihm seine Tochter aufgedrängt hatte. Nur für Notfälle, hatte sie gesagt, und dies war wohl einer, aber er zögerte noch, es zu benutzen. Nächsten Sommer wurde er siebzig. Sie würden sagen, er sei zu alt für diese Arbeit. Wie lange konnte er noch ungestört seinen Beruf ausüben? Da spielte es keine Rolle, dass er vor fünf Jahren von der Zeitschrift Der gute Hirte für seine langjährige Arbeit ausgezeichnet worden war. Er hatte die Ehrung im Kreise seiner Lieben gefeiert. Mit zwei Dosen Hundefutter, einer Flasche Jägermeister und einer Anhängerladung frischem Heu.

Lukas war den Umgang mit anderen Menschen nicht mehr gewohnt. Seine Tochter Miriam war seine einzige Verbindung zur Außenwelt, und sie beschränkte die Zahl ihrer Besuche auf das Allernötigste. Lukas war das nur recht. Er fühlte sich in der Gesellschaft von Menschen nicht besonders wohl und mied sie, wo er nur konnte.

Eine einzige Person besaß sein Vertrauen, und heute würde sie vorbeikommen. Helen. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er sich darauf freute. Mehr noch, er wartete schon ungeduldig auf die Begegnung. Lukas hatte nie begriffen, warum Helen sich anfangs solche Mühe gegeben hatte, mit ihm bekannt zu werden. Er verhielt sich damals sehr abweisend und versuchte, sie zu ignorieren. Doch sie ließ sich davon nicht abschrecken. Vielleicht sah sie es als persönliche Herausforderung. Lukas hatte den Eindruck, je mehr er sich wehrte, desto öfter besuchte sie ihn.

Helen war jung. Jünger als seine Tochter. Sie hätte seine Enkelin sein können. War dies die Erklärung? Sollte er ihr den Großvater ersetzen, den sie nicht hatte? Oder waren seine Überlegungen Unsinn und sie einfach nur ein nettes Mädchen ohne Hintergedanken? Sie hatte zwei Pferde auf der Koppel neben seinem Lagerplatz gehabt. Eine Woche lang war sie jeden Tag zu ihm herübergekommen, um etwas zu plaudern. Das hieß, sie redete, und er tat so, als würde er nicht zuhören. Nachdem er zum nächsten Lagerplatz gezogen war, besuchte sie ihn auf ihren Ausritten. Es kam der Tag, an dem er ihr zum ersten Mal auf eine ihrer Fragen antwortete. Da hatte er verloren.

Als er Helen gestern von dem verschwundenen Lamm erzählte, machte sie sich sofort auf die Suche nach ihm und dehnte ihren Ausritt kreisförmig um sein Lager aus. Sie war enttäuscht gewesen, als ihre Suche erfolglos blieb. Wie würde sie nun auf die Nachricht reagieren, dass ein weiteres seiner Lämmer verschwunden war?

Lukas stopfte seine Pfeife, die ihm stets beim Nachdenken half, als plötzlich Laurel und Hardy ein Schaf aus dem dichten Unterholz zur Herde zurücktrieben. Wieder eine verzweifelte Mutter, dachte er und schickte die Hunde mit einem knappen Befehl weg. Anschließend redete er beruhigend auf das Schaf ein. Es kannte die Stimme des alten Schäfers lange genug, um ihn dicht an sich heranzulassen. Lukas kratzte die kahle Stelle an seinem Hinterkopf. Vielleicht sollte er diesen Platz räumen? Eigentlich wollten sie eine ganze Woche hier verbringen, aber sie konnten sich auch früher auf den Weg machen. Die Weide war ohnehin kleiner als angegeben und seine Herde würde sie zu schnell abgrasen.

Ein Umzug bedeutete keine Kleinigkeit, man unternahm ihn nicht leichtfertig aus einer Laune heraus. Es gab immer weniger Wege mit immer mehr Hindernissen. Lukas musste sich häufig mit Autofahrern streiten, denen seine Überquerung einer Straße eine Zwangspause verordnete und die deshalb versuchten, die Herde zu durchfahren. Oder er wurde von Fußgängern angepöbelt, die aus Unachtsamkeit in die Hinterlassenschaft seiner Tiere getreten waren.

Der Weg zu dieser Weide war besonders zermürbend gewesen, da die Polizei eine Straßensperre errichtet hatte und Lukas seine Herde durch die Autos und ihre wartenden Fahrer treiben musste. Ein weiterer Umweg hätte ihn einen halben Tag gekostet und je länger und weiter sie bis zur nächsten Weide wanderten, desto mehr Kalorien verbrauchten die Tiere. Schon deshalb würde er bleiben.

Vielleicht steckten Konkurrenten hinter dem Verschwinden der Lämmer, denn Lukas hatte Feinde in der Branche. Zwei Kandidaten fielen ihm sofort ein, weil sie eine Schande für ihren Beruf waren. Buchstäblich Schwarze Schafe unter den Schäfern. Er hatte beide wegen Tierquälerei angezeigt und traute ihnen durchaus zu, auf diese Art Rache zu nehmen. Zumindest einem von ihnen, für den anderen war der planerische Aufwand viel zu anspruchsvoll. Oder hatten sie sich am Ende zusammengetan? Sollte er die Polizei anrufen? Wahrscheinlich beobachtete man ihn gerade in diesem Moment und wartete seine Reaktion ab. Lukas war bereit nachzugeben, um das Leben seiner Herde zu schützen, denn das war seine Aufgabe. Sturheit würde ihn nur weitere Tiere kosten. Seufzend kramte er das Handy aus der Tasche, um seiner Tochter den erneuten Umzug mitzuteilen, als er ein Wiehern hörte.

Lukas blickte auf und sah Helens Pferd über den Kamm galoppieren. Es näherte sich der Herde, da es Lukas kannte. Er überlegte, wie das Pferd hieß. Helen hatte den Namen in jedem zweiten Satz erwähnt, aber er wollte ihm partout nicht einfallen. Wo war sie? Hatte das Pferd sie abgeworfen oder war sie gestürzt? Er konnte sich das nicht vorstellen, dazu war sie eine viel zu erfahrene Reiterin. Langsam ging er auf das Pferd zu, das in einiger Entfernung zum Lager stehen geblieben war, und sprach es dabei ruhig an. Vorsichtig fasste er die Zügel und streichelte den Hals des Tieres. Das Pferd bewegte sich zur Seite. Allerdings nicht, um sich loszureißen, ­sondern um Lukas mit sich zu ziehen. Langsam trabte es los, und der alte Mann hatte Schwierigkeiten mitzuhalten. Lukas hätte die Zügel einfach loslassen können, doch ein Instinkt riet ihm, dass es besser war, dem Pferd zu folgen.

Ihr Weg ging über den Kamm in das Tal dahinter und die nächste Steigung hinauf. Lukas keuchte wie eine alte Dampfmaschine, seine Beine schmerzten höllisch. Mit gesenktem Kopf setzte er einen Fuß vor den anderen, während seine ausgestreckten Arme die Zügel hielten. Am Fuß eines Baumes blieb das Pferd plötzlich stehen. Lukas sah sich keuchend um, aber er konnte nichts Auffälliges entdecken. Dann hörte er ein leises Geräusch über sich. Etwas rieb über einen Ast.

Lukas blickte langsam auf und fiel dann aus dem Stand auf den Hintern. Der Schmerz, der von seinem Steißbein ins Gehirn jagte war unglaublich, aber er zuckte nicht einmal. Stumm und starr saß er dort und sah zu dem Ast auf, von dem Helen herabhing. Ihr Gesicht war bläulich verfärbt und verriet, dass jede Hilfe zu spät kam.

Viel Zeit verging. Hardy saß neben ihm, und als es Zeit wurde, die Herde zusammenzutreiben, begann er zu winseln. Er stieß Lukas mit der Schnauze an und kratzte mit der Pfote neben seinem Bein die Erde auf. Erst als der Hund seinen Ärmel fasste und zu ziehen begann, machte sich Lukas mit einer heftigen Bewegung los. Eine einzelne Träne rollte über sein Gesicht, und Hardy leckte sie von der Wange auf. Dann gab es kein Halten mehr, die Tränen flossen in Strömen. Der alte Mann zitterte vor Schmerz und Trauer.