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Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2574-3
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
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Bildredaktion: Bettina Lambrecht
Umschlaggestaltung: Brian Barth
Autorenfoto: © Klaus Vyhnalek
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Ich denke darüber nach, dass die Pandemie uns dazu einlädt, Inventur zu machen. Sie eröffnet uns die Gelegenheit, die Bestände unserer Lebensform sorgsam zu sichten, Stück für Stück – und zu überlegen, was wegkann, weil es überholt ist, und was künftig gebraucht wird. Wir stehen in unserem Zusammenleben mit den anderen Kreaturen an einem Scheideweg, das spüren in dieser Pandemie die meisten.
Corine Pelluchon, französische Philosophin1
Something is hiding in the texture of time.
Högni, isländischer Songwriter2
Die folgenden beiden Illustrationen stammen von meinem Sohn Julian Horx. Er hat die »Beings« erfunden: blaue, formbare Wesen, die sich unentwegt selbst in Bezug auf die Welt verändern. Die Grafiken sind Ausschnitte aus dem CORONA – TRIPTYCHON DES SCHRECKENS, das Sie unter Julian-Horx.com in voller Größe bewundern können.
 
			
			 
			
			Im Sommer 2020, ein halbes Jahr nach dem ersten Lockdown, der die Welt veränderte, wenige Wochen, nachdem ich meinen Aufsatz »Die Welt nach Corona« veröffentlicht hatte, lag ein äußerst analoger Brief in meinem Briefkasten. Ein Briefumschlag, aus dem sich in einer eleganten Frauenschrift auf feinem Schreibpapier (mit Wasserzeichen) folgender Text entfaltete:
Was Sie schreiben, ist sicher gut gemeint. Aber es ist längst zu spät, der Karren wird nicht mehr herumgerissen werden können. Corona zeigt, dass die Natur sich gegen uns erhebt. Die Wirtschaft ist ein Todesmarsch ins unbegrenzte Wachstum, die Bevölkerung der ärmsten Länder steigt und steigt. Selbst wenn die Entwicklung heute gestoppt werden würde, sagte mir neulich ein Wissenschaftler, würde alles noch ewig weiterlaufen und die Vernichtung von Mensch und Erde vorantreiben. Aber die Erde kommt auch gut ohne den Menschen aus, sehr gut sogar. Wir ruinieren uns eben selbst, solange wir noch können, und deshalb geht alles den Bach runter.
So empfindet
Helene Müller aus Bergisch-Gladbach
Kennen Sie diesen Sound? Der Untergang als Konsequenz der Geschichte. Die Verderbtheit des Menschen.
Und ist das nicht wunderbar geschrieben? Geradezu poetisch?
Haben Sie selbst schon manchmal so gedacht?
Es lohnt sich, diesen Brief intensiver zu lesen. Karren. Todesmarsch. Vernichtung. Den Bach runter. Diese Wörter wurzeln im Schuld- und Strafdiskurs religiöser Weltbilder. Obendrein enthält die Botschaft von Helene Müller aus Bergisch-Gladbach Annahmen, die falsch sind, aber sich zäh als Weltmodelle halten. Zum Beispiel steigt die Geburtenrate in der Welt, auch der Ärmeren, schon lange nicht mehr, sondern fällt. Die »Bevölkerungsexplosion«, die viele Jahre das Schreckgespenst des Zukunftspessimismus war, ist heute widerlegt. Trends können sich verändern. Weltbilder stammen oft aus einer Vergangenheit, von der man sich nicht lösen kann. Wachstum kann auch postmateriell sein, sich von Rohstoffen und Energieverbrauch entkoppeln.
Liest man noch ein wenig tiefer in den Brief hinein, zeigen sich dort noch andere interessante Aspekte. Erstens macht sich die Autorin mit einer sehr klaren, sehr mächtigen Stimme sehr klein. Der Text hat etwas Heroisches, Pathetisches. Er handelt von der ganzen Welt und ihrem Ende. Dem Untergang. Das ist groß. Und doch schließt die Autorin ihre Betrachtung mit dem zarten Begriff der Empfindung. Gleichzeitig liegt etwas Heiteres in diesem Text. Innere Welt und äußere Wahrnehmung scheinen aufs Wunderbarste übereinzustimmen. Der Weltuntergang, der hier verkündet wird, scheint eine Art Zufriedenheit, einen Seelenfrieden, auszustrahlen.
Eine Genugtuung.
Alle Probleme sind ein für alle Mal erledigt. Alles ist vollkommen klar und ohne Widersprüche. Die Welt geht unter, und wir alle sind schuld. Man nennt das auch die dunkle Erlösung.
Könnte es sein, dass Helene Müller aus Bergisch-Gladbach sich selbst aufgegeben hat, und deshalb alle anderen Menschen, die ganze Welt, aufgeben muss?
Ich möchte Ihnen eine kleine ketzerische These anbieten.
Wir haben es eigentlich ganz gut gemacht, mit Corona.
Wie bitte?
Ich behaupte, dass wir – als Individuen, Familien, Nachbarn, als »Deutschland« oder »Europa« oder »Welt« – gar nicht so schlecht mit dieser gewaltigen Herausforderung einer Pandemie umgegangen sind.
Merken Sie, wie dieser Satz gar nicht geht? Man kann über die Corona-Krise so ziemlich alles sagen. Aber das nicht!
Ist nicht alles vollkommen schiefgegangen? Ein einziges Desaster? Hat die Politik nicht total versagt? Die Wegschließ-Mentalität! Die Impfkatastrophe! Die schrecklichen Corona-Gegner, die allerorts durch die Straßen zogen und die Gesellschaft spalteten! Die mangelnde gesellschaftliche Solidarität! Die steigende Ungleichheit! Die leidenden Kinder! Die Ignoranz der Behörden! Die vielen Toten!
Was wäre, wenn dieses Stakkato der Unzumutbarkeiten nicht die Wirklichkeit, sondern nur ein Ausdruck unserer übersteigerten Ansprüche wäre?
Wir hätten es wie die Neuseeländer machen müssen – eine erfolgreiche No-Covid-Strategie, die die Gesellschaft vereinte.
Aber wir waren eben nicht Neuseeland. Wir leben nicht auf einer weit entfernten Insel. Wir hatten keine jugendliche Power-Frau wie Jacinda Ardern als Kanzlerin, die die Nation einte. Wir haben unsere Schwierigkeiten mit der »Nation«.
Wir hätten es so konsequent wie die Chinesen machen müssen!
Wirklich?
Haben nicht die USA und Großbritannien rasend schnell geimpft? Allerdings. Aber wir vergessen dabei, dass es dort vor der großen Impfkampagne eine sehr hohe Zahl von Covid-Todesopfern gab. Und dass diese Länder daraufhin einen Impf-Patriotismus betrieben, indem sie sich die ersten Kontingente der Impfstoffe mit ihrer Wirtschaftsmacht vom Markt wegkauften. Irgendjemand hätte in diesem Spiel immer den Kürzeren gezogen.
Corona war so gut wie überall eine Achterbahn. Italien hatte am Anfang ein schreckliches Trauma mit Tausenden Toten zu verkraften. Und geriet danach in eine Reformphase, die das politische System umkrempelte. Es gab Länder wie Tschechien, Portugal und Polen, wo man sich nicht auf strenge Maßnahmen einigte und dann in schreckliche Situationen geriet. Dort gingen im weiteren Verlauf die Infektionszahlen am konsequentesten zurück. Wer zu Beginn der Pandemie tadelloser Krisenmeister war, wurde in der zweiten und dritten Runde schwer gebeutelt. Und vice versa. Das zunächst verschonte Indien geriet mit der dritten Welle in eine Katastrophe. Das fast coronafreie Australien fühlte sich so immun, dass es kaum impfte. Selbst im Vorbildland Taiwan kam es nach einem Jahr Null-Strategie plötzlich zu einem heftigen Ausbruch. Es gab den schweizerischen Weg. Und den schwedischen, der überall niedergemacht wurde, aber auch seine Vorteile hatte.
Alle hatten Verluste. Alle haben Fehler gemacht. Alle haben um den richtigen Weg gerungen. Unter Streit, Leid und Tränen.
Jedes Land scheiterte auch immer wieder an seinen eigenen Ansprüchen. Seinen Lebenslügen. Seinen Illusionen. Seinen Selbstüberschätzungen.
Warum ist es so schwer zu denken, dass wir diese Krise bewältigt haben, so gut wie es irgendwie ging? Das hat womöglich mit unseren Perfektionsansprüchen zu tun. In unserer Anspruchswelt soll alles perfekt funktionieren: Staat, Ökonomie, Politik, der Nachbar. Das verlangen wir einfach, in Krisen ganz besonders.
Wir bewegen uns gerne im Abwärtsvergleich. Was nicht perfekt ist, das ist immer schlechter. Ich nenne das auch den Immerschlechterismus. Auf diese Weise werden wir undankbar. Zu uns selbst und anderen. Wir werden schreckliche Zeitgenossen.
Dabei könnte man aus der Zukunft heraus auch ganz anders über die Corona-Krise denken. Zum ersten Mal in der Geschichte haben sich so gut wie alle Länder der Erde geeinigt, ihre gesamte Wirtschaft zu riskieren, um ältere, schwächere oder fragilere Menschen vor dem frühzeitigen Tod zu bewahren.
Hat es so etwas in der Geschichte jemals gegeben? War das nicht ein gewaltiger zivilisatorischer Fortschritt? Zumindest ein Fortschrittsversuch?
Was sagt es über »die Menschheit« und ihre Zukunft aus?
Sind »wir« wirklich diese verderbten, zum Untergang verdammten Idioten, als die wir uns ziemlich oft selbst beschreiben?
War Corona ein ausschließliches Desaster? Oder beinhaltet es auch eine Hoffnung?
Wir erwarten, dass etwas, was uns gequält und gestört hat, irgendwann endgültig vorbei ist. Aber Corona ist nie wirklich »vorbei«. Wir bewegen uns jetzt in Richtung auf das »pandemische Gleichgewicht«. Das ist ein Zustand, in dem etwas, was nicht akzeptabel war, zu einem akzeptablen Phänomen wird. So geschah es auch schon mit vielen anderen Krankheiten, die Todesopfer fordern.
Dieses Buch ist ein Buch über die Hoffnung. Über das Kant’sche »Was dürfen wir hoffen?«. Über die Zu-Mutungen, in die unser Leben durch Corona geriet. Und was wir daraus lernen können. Ganz nebenbei handelt dieses Buch auch von den großen Zukunftsfragen, die durch die Krise auf so eindringliche Weise aktualisiert worden sind:
Geht die Welt wirklich unter? Sind wir als Spezies verdammt? Ist die Zukunft längst zu Ende? Kann »die Welt« überhaupt untergehen?