Ariadne, Tochter von König Minos und Schwester des Minotaurus, ist so ganz anders als ihre Geschwister. Aufgewachsen mit den griechischen Heldensagen, schwört sie sich, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und es nicht den Göttern zu überlassen. Jedes Jahr beobachtet sie, wie das unterworfene Athen als Tribut 14 Jugendliche nach Kreta schickt, um den Hunger des Minotaurus, halb Mensch, halb Stier, zu stillen. Sie lehnt sich vergeblich gegen diese Grausamkeit auf. Bis sie sich in einen der Todgeweihten verliebt. Theseus verspricht ihr, sie mit nach Athen zu nehmen, wenn sie ihm hilft, das Ungeheuer zu töten. Ariadne verrät den Zugang zum Labyrinth und schenkt Theseus einen roten Wollfaden, mit dem er den Weg zurück zu ihr findet. Gemeinsam segeln sie los, doch Theseus lässt sie auf der Insel Naxos zurück. So beginnt Ariadnes eigene Geschichte.
Roman
Aus dem Englischen
von
Simone Jakob
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2594-1
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Ariadne bei Wildfire, Headline Publishing Group Ltd., London
© 2021 by Jennifer Saint
© der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Autorenfoto: © Katie Byram
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»Wenn du vor der Menge stehst und den ruhmreichen Tod des Stiermenschen in jenen verschlungenen, steinernen Gängen schilderst, so vergiss nicht, auch von mir zu erzählen.«
Ariadnes Brief an Theseus, Ovids Heroides
Lasst mich die Geschichte eines rechtschaffenen Mannes erzählen.
Der rechtschaffene Mann hieß König Minos von Kreta und zog aus, um Krieg gegen Athen zu führen, denn er wollte seinen Sohn Androgeos rächen. Der unbezwingbare Athlet hatte bei den Panathenäen bei allen Wettkämpfen gesiegt, nur um kurz darauf auf einem einsamen athenischen Hügel von einem rasenden Stier zerrissen zu werden. Minos machte Athen für den Tod seines Sohnes verantwortlich, und es dürstete ihn nach blutiger Vergeltung.
Auf dem Weg nach Athen besuchte Minos Megara, um seine Macht zu demonstrieren und das Königreich zu erobern. Nisos, der König von Megara, war weithin für seine Unbesiegbarkeit bekannt, doch trotz seines legendären Rufs war er Minos in keiner Hinsicht gewachsen. Indem er Nisos der purpurnen Locke beraubte, der dieser seine unsterbliche Macht verdankte, gelang es Minos, ihn zu besiegen und den Unglückseligen zu erschlagen.
Doch woher wusste Minos um die Quelle von Nisos’ Macht? Minos erklärte mir unbekümmert, die Tochter des Königs, die schöne Prinzessin Skylla, habe sich rettungslos in ihn verliebt. Als sie ihm ihre süßen Versprechungen ins Ohr hauchte, bereitwillig für seine Liebe ihre Heimat und ihre Familie aufzugeben, verriet sie ihm auch den Schlüssel zum Verderben ihres Vaters.
Minos war natürlich zu Recht entsetzt über ihren Mangel an töchterlicher Ergebenheit, und sobald Megara gefallen war, ließ er das verliebte Mädchen am Heck seines Schiffs anbinden und zu Tode schleifen, während sie schreiend und weinend ihr blindes Vertrauen in seine Liebe beklagte.
Sie habe nun einmal ihren Vater und ihr Land verraten, erklärte er mir, als er nach der Einnahme Athens im Siegestaumel nach Knossos zurückkehrte. Und was sollte mein Vater, König Minos von Kreta, mit einer verräterischen Tochter anfangen?
Ich bin Ariadne, Prinzessin von Kreta, obwohl meine eigene Geschichte mich weit von der felsigen Küste meiner Heimat fortführen wird. Mein Vater Minos erzählte mir gern und oft davon, wie seine untadelige Moral ihm zum Sieg über Megara, zur Herrschaft über Athen und zu der Gelegenheit verhalf, mit seinem unfehlbaren Urteilsvermögen ein leuchtendes Vorbild zu geben.
In manchen Versionen ihrer Geschichte heißt es, Skylla sei im Augenblick ihres Todes in einen Seevogel verwandelt worden. Doch statt dadurch ihrem grausamen Schicksal zu entkommen, musste sie sofort vor einem Adler mit einem purpurnen Streifen fliehen, der sie bis in alle Ewigkeit verfolgt. Ich bin durchaus geneigt, das zu glauben, denn die Götter haben bekanntlich ihre Freude an Spektakeln von unendlich in die Länge gezogenen Qualen.
Aber wenn ich mir Skylla vorstellte, dann als törichtes, allzu menschliches Mädchen, das inmitten der schäumenden Wellen im Kielwasser des Schiffs meines Vaters nach Luft rang. Ich sah sie vor mir, wie sie im tosenden Wasser nicht nur von den schweren eisernen Ketten, mit denen man sie gefesselt hatte, in die Tiefe gezogen wurde, sondern auch von der Last der Wahrheit, dass sie alles, was sie gekannt hatte, für eine Liebe geopfert hatte, die so trügerisch war wie die in der Gischt schimmernden Regenbögen.
Nach Skylla und Nisos war das blutige Werk meines Vaters jedoch noch nicht vollbracht. Von Athen verlangte er einen schrecklichen Preis für den Frieden. Zeus, der allmächtige Herrscher der Götter, schätzte Macht bei Sterblichen über alles, und so gewährte er seinem Favoriten Minos die Gnade einer schrecklichen Seuche, die er wie eine Sturmflut aus Krankheit, Leid und Tod über Athen hereinbrechen ließ. Ein großes Geschrei erhob sich in der Stadt, als Mütter mit ansehen mussten, wie ihre Kinder vor ihren Augen dahinsiechten und starben, als Soldaten auf dem Schlachtfeld zusammenbrachen und als die stolze Stadt – die erkennen musste, dass sie wie alle Städte nur aus schwachem, menschlichem Fleisch bestand – unter der Last der Leichenberge zu ersticken drohte und kapitulieren musste. Athen blieb keine andere Wahl, als all seine Forderungen zu erfüllen.
Mein Vater verlangte jedoch weder Macht noch Reichtum von Athen, sondern einen Tribut – sieben athenische Jünglinge und sieben athenische Jungfrauen mussten jedes Jahr auf einem Schiff nach Kreta entsandt werden, um den Hunger jenes Ungeheuers zu stillen, an dessen Existenz meine Familie fast zerbrochen wäre, die uns aber in den Status eines Mythos erhob. Jene Kreatur, deren Gebrüll die Gebäude unseres Palastes erzittern ließ, wenn die Zeit ihrer jährlichen Fütterung nahte, und die tief unter der Erde in einem so weitverzweigten, verworrenen Labyrinth hauste, dass niemand, der es betrat, je wieder zurück ans Tageslicht fand.
Ein Labyrinth, zu dem ich allein den Schlüssel besaß.
Ein Labyrinth, das jenes Wesen beherbergte, das Minos’ größte Demütigung und zugleich sein wertvollster Besitz war.
Meinen Bruder, den Minotaurus.
Als Kind übte der verwinkelte Palast von Knossos eine endlose Faszination auf mich aus. Ich streifte durch eine verwirrende Anzahl von Räumen und verwinkelten Gängen, strich über die glatten roten Mauern, fuhr mit den Fingerspitzen die Umrisse der Labrys nach – jener Doppelaxt, die viele Steine des Palastes zierte. Später erfuhr ich, dass die Labrys die Macht des Zeus symbolisiert, der damit den Donner herbeiruft – eine gewaltige Machtdemonstration. Für mich, die ich durch den Irrgarten meines Zuhauses streunte, sahen sie aus wie Schmetterlinge. Und es war auch der Schmetterling, an den ich dachte, wenn ich aus dem düsteren Kokon des Palastinneren in den offenen, lichtdurchfluteten Hof trat, in dessen Mitte ein poliertes rundes Objekt prangte, auf dem ich die glücklichsten Stunden meiner Kindheit verbrachte – eine große Tanzbühne. Oft wirbelte ich in schwindelerregenden Kreisen dahin, wob mit den Füßen ein unsichtbares Muster auf dieses Wunderwerk aus Holz, ein handwerklicher Triumph des legendären Erfinders Dädalus. Obwohl die Tanzbühne natürlich nicht als seine berühmteste Schöpfung in die Geschichte eingehen würde.
Ich hatte zugesehen, wie er sie gebaut hatte; ein übereifriges Mädchen, das sich voller Ungeduld hinter ihm herumdrückte und gespannt darauf wartete, dass sie endlich fertig wurde, ohne zu ahnen, dass es einem Erfinder bei der Arbeit zuschaute, dessen Ruhm sich in ganz Griechenland verbreitete. Vielleicht sogar auf der ganzen Welt, auch wenn ich darüber nicht allzu viel wusste. Genau genommen wusste ich so gut wie nichts über das, was außerhalb der Palastmauern lag. Obwohl seitdem viele Jahre vergangen sind, sehe ich Dädalus in meiner Erinnerung als jungen Mann vor mir, erfüllt von der Energie und dem Feuer seiner Kreativität. Während ich ihm bei der Arbeit zuschaute, erzählte er mir, wie er sein Handwerk erlernt hatte, indem er von Ort zu Ort zog, bis seine außergewöhnlichen Talente die Aufmerksamkeit meines Vaters erregten, der dafür sorgte, dass es sich für ihn lohnte, an einem Ort zu bleiben. Dädalus war, wie mir schien, schon überall auf der Welt gewesen, und ich hing an seinen Lippen, wenn er die sengenden Sandwüsten Ägyptens und scheinbar unendlich weit entfernte Königreiche wie Illyrien oder Nubien beschrieb. Ich sah Schiffe, deren Masten und Segel unter Dädalus’ kundiger Anleitung konstruiert worden waren, in See stechen und malte mir aus, wie es sein würde, in einem davon über das Meer zu fahren, zu spüren, wie die Bretter unter den Füßen knarzten, während die Wellen gegen den Schiffsrumpf brandeten.
Unser Palast war voll von den Kreationen des Dädalus. Die Statuen, die er schuf, wirkten so lebensecht, dass sie mit Ketten an der Wand befestigt wurden, damit sie nicht davonmarschierten. Seine exquisiten langen Goldketten zierten den Hals und die Handgelenke meiner Mutter. Als er meine begehrlichen Blicke bemerkte, schenkte er mir meine eigene Kette mit einem kleinen Anhänger – zwei Bienen, die eine Honigwabe einrahmen. Er bestand ganz aus poliertem Gold und glänzte so prächtig in der Sonne, dass ich glaubte, die winzigen Honigtropfen würden in der Hitze schmelzen.
»Für dich, Ariadne.« Er sprach immer ernst mit mir, was mir gefiel.
In seiner Gegenwart kam ich mir nie vor wie ein lästiges Kind, eine Tochter, die nie eine Flotte befehligen oder ein Königreich erobern würde und deshalb für Minos von wenig Interesse war. Falls Dädalus mich nur bei Laune hielt, merkte ich es nicht, denn ich hatte immer das Gefühl, dass wir uns auf Augenhöhe begegneten.
Ehrfürchtig nahm ich den Anhänger entgegen, drehte ihn in den Händen und bestaunte seine Schönheit. »Warum Bienen?«, fragte ich ihn.
Er zuckte lächelnd die Schultern. »Warum nicht?«, fragte er zurück. »Die Götter lieben Bienen. Als Zeus noch ein Kleinkind war, fütterten ihn Bienen in seinem Höhlenversteck mit Honig, bis er stark genug war, um die mächtigen Titanen zu besiegen. Bienen stellen den Honig her, mit dem Dionysos seinen Wein mischt, damit er süß und unwiderstehlich wird. Es heißt, dass sogar der monströse Zerberus, der die Unterwelt bewacht, mithilfe von Honigkuchen bezähmt werden kann! Wenn du diese Kette um den Hals trägst, kannst du jeden Willen dem deinen sanft unterwerfen.«
Ich brauchte ihn nicht zu fragen, wessen Willen es zu besänftigen galt. Ganz Kreta zitterte vor Minos’ unerbittlichem Urteil. Ich wusste, es würde mehr als ein paar Bienen brauchen, um ihn zu beeinflussen, trotzdem war ich bezaubert von dem Geschenk und legte es nie ab. Ich trug es voller Stolz, als wir der Hochzeitsfeier des Dädalus beiwohnten. Mein Vater, der entzückt war, dass Dädalus sich mit einer Tochter Kretas vermählte, hielt ein üppiges Festmahl für ihn ab. Denn jedes weitere Band, das ihn mit diesem Ort verknüpfte, bedeutete, dass Minos weiterhin mit seinem brillanten Erfinder angeben konnte. Obwohl seine Frau bei der Geburt des gemeinsamen Kindes im Kindbett starb, als sie noch kein Jahr verheiratet waren, tröstete sich Dädalus mit seinem neugeborenen Sohn Ikarus, und ich liebte es, zuzusehen, wie er den Säugling in den Armen wiegte und ihm die Blumen, die Vögel und die vielen Wunder des Palastes zeigte. Meine jüngere Schwester Phädra tappte verzückt hinter ihnen her, und wenn ich es müde wurde, sie vor allen möglichen Gefahren zu beschützen, überließ ich sie der Obhut des Dädalus und schlich zurück zu meiner Tanzbühne.
Früher hatte auch meine Mutter Pasiphaë gern getanzt, und sie hatte es mir beigebracht. Sie hielt nichts von formellen Schrittfolgen, stattdessen vermachte sie mir ihre Gabe, freie Bewegungsabfolgen in fließende, geschmeidige Formen zu bringen. Ich sah zu, wie sie sich der Musik hingab, in eine Art anmutige Raserei verfiel, und folgte ihrem Vorbild. Sie machte für mich ein Spiel daraus, rief mir die Namen von Sternbildern zu, die ich mit den Füßen auf dem Boden nachzeichnen sollte; Konstellationen, aus denen sie sowohl Tänze als auch Geschichten spann. »Orion!«, sagte sie, und ich hüpfte eifrig von einer Stelle zur nächsten, um die Lichtpunkte anzudeuten, die den todgeweihten Jäger am Himmel abbildeten. »Artemis hat ihn dorthin versetzt, damit sie ihn jede Nacht anschauen kann«, vertraute sie mir an, als wir uns danach auf den Boden sinken ließen, um zu verschnaufen.
»Artemis ist eine jungfräuliche Göttin, die ihre Keuschheit erbittert verteidigt«, hatte sie mir erklärt. »Doch Orion, ein sterblicher Mann, war ihr Lieblingsjagdgefährte, denn er war ihr an Geschicklichkeit fast ebenbürtig.« Eine heikle Situation für einen Sterblichen. Götter mochten die Talente der Menschen für die Jagd, die Musik oder die Webkunst schätzen, hielten dabei jedoch immer nach Hybris Ausschau – und wehe dem Menschen, der die Götter zu überflügeln drohte. Unsterbliche konnten es nicht ertragen, von irgendjemandem übertroffen zu werden.
»Getrieben vom Ehrgeiz, mit Artemis’ verblüffendem Jagdgeschick mitzuhalten, versuchte Orion verzweifelt, sie zu beeindrucken«, fuhr meine Mutter fort. Sie sah zu Phädra und Ikarus hinüber, die am Rande der Holzbühne spielten. Sie waren unzertrennlich. Phädra war begeistert, die Ältere von beiden zu sein und endlich jemanden zu haben, dem sie Befehle erteilen konnte. Nachdem Pasiphaë sich vergewissert hatte, dass sie ganz in ihr Spiel vertieft waren und uns nicht belauschten, erzählte sie weiter. »Vielleicht hoffte er auch, sie trotz ihres Keuschheitsgelübdes für sich zu gewinnen, wenn er genug Tiere erlegte, um ihre Bewunderung zu erlangen. Und so kamen die beiden hierher nach Kreta, um eine große Jagd zu veranstalten. Tag für Tag schlachteten sie die Tiere der Insel ab, bis ihre Beute sich als Zeugnis für ihr Jagdglück bis zum Himmel auftürmte. Doch als ihr Blut die Erde tränkte, erwachte Gaia, die Mutter aller lebenden Wesen, aus friedlichen Träumen. Sie war entsetzt über das Massaker, das Orion Seite an Seite mit der angebeteten Göttin anrichtete. Gaia fürchtete, er werde alles Leben auslöschen, wie er sich in seinem Blutrausch vor Artemis brüstete. Und so rief sie eine ihrer Kreaturen zu sich, die in einer unterirdischen Höhle hauste: einen gigantischen Skorpion, den sie dem Prahlsüchtigen auf den Hals hetzte. Ein solches Ungetüm hatte die Welt noch nicht gesehen. Sein Panzer glänzte wie polierter Obsidian. Seine riesigen Zangen waren so groß wie zwei ausgewachsene Männer, sein schrecklicher stachelbewehrter Schwanz ragte bis in den wolkenlosen Himmel auf, verdunkelte selbst das Licht des Helios und warf einen gewaltigen Schatten.«
Bei dieser Beschreibung der legendären Bestie lief es mir kalt den Rücken hinunter, und ich kniff die Augen zu, als würde sie gleich vor mir auftauchen, unvorstellbar scheußlich und grausam.
»Doch Orion hatte keine Angst«, fuhr Pasiphaë fort. »Oder zumindest zeigte er sie nicht. Aber er war dem Skorpion in keiner Hinsicht gewachsen, und Artemis mischte sich nicht ein, um ihn den mächtigen Zangen der Kreatur zu entreißen …« An dieser Stelle legte sie eine Kunstpause ein, die eine beredtere Beschreibung von Orions mitleiderregendem Kampf lieferte, als ihre Worte es vermocht hätten. Nachdem ich mir ausgemalt hatte, wie das Leben aus ihm wich, seine menschliche Schwäche enthüllt wurde und er schließlich seinen Verletzungen erlag, erschöpft von dem Versuch, es in seiner sterblichen Hülle den Göttern gleichtun zu wollen, fuhr sie fort: »Und Artemis trauerte um ihren Jagdgefährten, sammelte seine sterblichen Überreste ein, die über ganz Kreta verstreut lagen, und versetzte sie an den Himmel, wo sie noch heute in der Dunkelheit leuchten und sie ihn jede Nacht betrachten kann, wenn sie mit ihrem silbernen Bogen zur Jagd aufbricht, allein und unangefochten in ihrer Überlegenheit und Keuschheit.«
Es gab unzählige solcher Geschichten. Es schien, als wäre der Nachthimmel mit Sterblichen gespickt, die den Göttern begegnet waren und nun als leuchtendes Exempel für die Welt dienten, wozu Unsterbliche fähig waren. Damals stürzte meine Mutter sich noch mit ebenso selbstvergessener Hingabe in ihre Geschichten wie in ihren Tanz, bevor ihre unschuldigen Vergnügungen als Beweis für ihre Zügellosigkeit gegen sie verwendet wurden. Zu dieser Zeit versuchte allerdings noch niemand, sie als unweiblich zu brandmarken oder ihr lüsterne, unnatürliche Gefühle zu unterstellen, darum tanzte sie völlig ungezwungen mit mir, während Phädra mit Ikarus spielte. Das einzige Urteil, das wir damals zu fürchten hatten, war das meines gefühllosen Vaters. Doch gemeinsam konnten wir uns im Tanz von unseren Ängsten befreien.
Als junge Frau jedoch tanzte ich allein. Das Geräusch meiner Schritte auf dem glänzenden Holzboden bildete den wirbelnden Trommelrhythmus, in dem ich mich verlieren konnte, der mich ganz in seinen Bann riss. Selbst ohne Musik konnte er das ferne Klappern der Hufe tief unter der Erde dämpfen, im Herzen jener Konstruktion, die Dädalus endgültig zu unsterblichem Ruhm verhalf. Und ich reckte die Arme zum Himmel empor und vergaß für die Dauer des Tanzes das Grauen, das unter uns wohnte.
Das führt mich zu einer weiteren Geschichte, die Minos allerdings nur ungern erzählte. Als junger Mann versuchte er verzweifelt, sich unter seinen drei rivalisierenden Brüdern im Kampf um die Königswürde hervorzutun. Und so betete er zu Poseidon, ihm als Zeichen seiner göttlichen Gnade einen prächtigen Stier zu senden, und schwor, er werde das Tier zu Ehren Poseidons opfern, wodurch er in einem Zug Poseidons Gunst und die Königswürde zu erlangen hoffte.
Poseidon schickte ihm den Stier als Bestätigung seines Anrechts, über Kreta zu herrschen, doch das Tier war von so vollkommener Schönheit, dass mein Vater glaubte, er könne den Gott überlisten, indem er ein anderes, minderwertiges Tier opferte und den kretischen Stier für sich behielt. Erzürnt über seinen Ungehorsam, sann der Gott des Meeres auf Rache.
Meine Mutter Pasiphaë ist die Tochter des Sonnengottes Helios. Anders als mein Großvater, der wie eine gleißend helle Flamme leuchtet, umgab sie nur ein leichter goldener Schimmer. Ich erinnere mich an das weiche Strahlen ihrer bronzefarbenen Augen, die Sommerwärme ihrer Umarmung und den Sonnenschein ihres Lächelns. Das war in meiner Kindheit, als sie mich noch ansah und nicht durch mich hindurch. Bevor sie den Preis für den Verrat ihres Mannes bezahlte.
Von Salz und Seepocken übersät, erhob sich Poseidon aus den Tiefen des Meeres in einer Woge aus Gischt und Zorn. Seine Rache richtete sich nicht direkt gegen Minos, jenen Mann, der ihn verraten hatte, sondern gegen meine Mutter, die Königin von Kreta, die er in wahnsinniger Leidenschaft zu dem Stier entbrennen ließ. Von animalischer Lust getrieben, machte ihre Begierde sie hinterhältig und gerissen, und so überredete sie den nichtsahnenden Dädalus, eine Kuh aus Holz zu fertigen, die so lebensecht wirkte, dass der Stier sich täuschen ließ und mit ihr auch die verrückte Königin bestieg, die sich darin verbarg.
Diese Vereinigung war ein verbotenes Thema des Klatsches auf Kreta, doch Gerüchte darüber verbreiteten sich überall wie ein bösartiger Pesthauch und erreichten auch mein Ohr. Ein gefundenes Fressen für missgünstige Adelige, schadenfrohe Händler, verdrießliche Diener, boshafte Frauen, die sich fasziniert ihrem morbiden Entsetzen hingaben, oder lüsterne junge Männer, die sich an dem schlüpfrigen Irrsinn ergötzten – ihr Flüstern und Wispern, ihr abfälliges Zischen und ihr höhnisches Kichern drang bis in alle Winkel des Palastes vor. Poseidon hatte sein Ziel mit tödlicher Präzision getroffen. Minos zu verschonen und stattdessen seine Frau auf eine so groteske Weise zu erniedrigen, demütigte auch ihren Mann – gehörnt von einem primitiven Tier, verheiratet mit einer Frau, die von unnatürlichem Verlangen in den Wahnsinn getrieben wurde.
Pasiphaë war wunderschön, und ihre göttliche Herkunft machte sie zu einer glorreichen Trophäe, die Minos mit der Hochzeit erwarb. Ihr zartes, kultiviertes, liebliches Wesen war sein ganzer Stolz, was ihre Schande für Poseidon umso köstlicher machte. Wenn man etwas hat, auf das man sehr stolz ist und das einen über all seine Mitmenschen erhebt, bereitet es den Göttern anscheinend besonders viel Freude, es zu zerstören, dachte ich eines Morgens, nicht lange nach Pasiphaës Frevel. Als ich das seidige blonde Haar meiner kleinen Schwester kämmte, das wir beide von unserer Mutter geerbt hatten, brach ich in Tränen aus, denn ihre goldenen Strähnen kamen mir in jenem Moment vor wie eine einzige gefährliche Verlockung für jene göttlichen Kolosse, die im Himmel lebten und unsere armseligen Schätze und Triumphe mit einem Schnippen ihrer unsterblichen Finger zu Staub zerfallen lassen konnten.
Meine Dienerin Eirene fand mich schluchzend über das Haar der bestürzten Phädra gebeugt. »Ariadne«, sagte sie. »Was ist los?«
Sie dachte zweifellos, ich würde über die Schande meiner Mutter weinen, aber mit kindlicher Selbstbezogenheit war ich eher um mich selbst besorgt. »Was, wenn die Götter …«, stammelte ich unter Tränen. »Was, wenn sie mir meine Haare nehmen und ich nur noch ein hässlicher Kahlkopf bin?«
Wenn Eirene ein Lächeln unterdrücken musste, ließ sie es mich nicht merken. Sie schob mich sanft beiseite und nahm selbst den Kamm in die Hand. »Und warum sollten sie so etwas tun?«
»Weil Vater sie wieder wütend macht!«, rief ich. »Vielleicht nehmen sie mir die Haare, um mit einer hässlichen Tochter Schande über ihn zu bringen.«
Phädra rümpfte die Nase. »Prinzessinnen haben keine Glatzen«, sagte sie bestimmt.
Und eine kahlköpfige Prinzessin wäre nutzlos. Minos hatte immer von der Ehe gesprochen, die ich eines Tages eingehen würde; eine ruhmreiche Vereinigung, die Kreta große Ehre einbringen würde. Er hätte nicht so laut damit angeben sollen. Die schleichende Erkenntnis überlief mich wie ein eisiger Schauer. Wie sollte ich mich gegen seine Verfehlungen wappnen? Wenn er die Götter erzürnte und sie seine Frau bestraften, warum nicht auch seine Tochter?
Damals wusste ich noch nicht, dass ich auf eine grundlegende Wahrheit des Frauseins gestoßen war: Ganz gleich, wie tadellos unser Leben war, die Leidenschaften und Begierden der Männer konnten uns jederzeit in den Ruin stürzen, ohne dass wir etwas dagegen zu unternehmen vermochten.
Das konnte auch Eirene nicht leugnen. Und so erzählte sie uns eine Geschichte: Perseus, ein tapferer Held, den Zeus in Form eines Goldregens mit der wunderschönen Danaë gezeugt hatte, wuchs zu einem würdigen Sohn seines mächtigen Vaters heran, und wie alle Helden besiegte auch er ein schreckliches Ungeheuer und befreite die Welt von seiner Grausamkeit. Wir kannten die Geschichte, wie er der Gorgone Medusa den Kopf abgeschlagen hatte, und hatten gebannt der Schilderung gelauscht, wie die Schlangen auf ihrem Kopf sich wanden, zischten und nach ihm schnappten, als er sein magisches Schwert schwang. Die Nachricht dieser Heldentat hatte erst vor Kurzem unseren Hof erreicht, und wir hatten alle über seinen Mut gestaunt und uns schaudernd seinen Schild vorgestellt, auf dem jetzt das schreckliche Haupt der Gorgone prangte, das jeden, der es ansah, sofort zu Stein erstarren ließ.
Doch heute erzählte uns Eirene nicht von Perseus, sondern von Medusa und wie sie zu ihrer Schlangenkrone gekommen war. Es war eine Geschichte, wie ich sie letzthin erwartete. Meine Welt war nicht länger eine der tapferen Helden; nach und nach erfuhr ich vom Schmerz der Frauen, der die Geschichten über ihre Großtaten unausgesprochen überlagerte.
»Medusa war einst wunderschön«, erzählte uns Eirene. Sie hatte den Kamm beiseitegelegt, und Phädra war auf ihren Schoß geklettert. »Meine Mutter hat sie einmal gesehen, bei einem großen Fest zu Ehren der Athene, zwar nur aus der Ferne, aber sie hat Medusa an ihrem herrlichen Haar erkannt. Es glänzte in der Sonne wie ein Fluss. Sie wuchs zu einer atemberaubend schönen jungen Frau heran, schwor jedoch, keusch zu bleiben, und lachte die Freier aus, die sie um ihre Hand baten …« Eirene schwieg, als würde sie ihre Worte sorgfältig abwägen. Aus gutem Grund, denn sie wusste, dass das keine geeignete Geschichte für kleine Prinzessinnen war. Trotzdem erzählte sie weiter. »Im Tempel der Athene traf sie auf einen Freier, den sie nicht verspotten oder abweisen konnte. Der mächtige Poseidon wollte das schöne Mädchen für sich und ließ sich von ihrem Flehen und ihren Schreien nicht davon abhalten, den heiligen Ort zu entweihen, in dem sie sich befanden.« Sie holte tief Luft.
Meine Tränen waren versiegt, und ich hörte gebannt zu. Ich kannte Medusa nur als Ungeheuer. Nie hätte ich gedacht, dass sie noch etwas anderes sein könnte. In den Erzählungen über Perseus gab es keinen Platz für eine Medusa mit einer eigenen Geschichte.
»Athene war erzürnt«, fuhr Eirene fort. »Als jungfräuliche Göttin konnte sie ein so dreistes Verbrechen in ihrem Tempel nicht dulden. Sie musste das Mädchen bestrafen, das schamlos genug war, sich von Poseidon überwältigen zu lassen und Athene mit dem Anblick ihres Verderbens grob zu beleidigen.«
Und so musste Medusa für Poseidons Tat büßen. Das ergab keinen Sinn; ich legte den Kopf schief und versuchte es mit den Augen der Götter zu sehen. Die verschiedenen Teile des Bildes glitten an ihren Platz: ein schrecklicher Anblick aus der Sicht eines Sterblichen, wie die Schönheit des Spinnennetzes, das der Fliege grässlich erscheinen muss.
»Athene berührte Medusas Haar und ersetzte es durch lebendige Schlangen. Sie nahm ihr ihre Schönheit und machte ihr Gesicht so hässlich, dass es jeden, der sie ansah, in Stein verwandelte. Und so wütete Medusa, wohin sie auch ging, und hinterließ Steinstatuen, deren Gesichter für immer in Grimassen des Schreckens erstarrt waren. So leidenschaftlich Männer sie früher umworben hatten, so sehr fürchteten sie sie jetzt und flohen vor ihr. Sie rächte sich hundertfach, ehe Perseus sie enthauptete.«
Ich brach mein entsetztes Schweigen. »Warum erzählst du uns diese Geschichte, Eirene?«
Sie strich mir über die Haare, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. »Ich finde, es ist an der Zeit, dass ihr andere Dinge erfahrt«, erwiderte sie.
In den folgenden Tagen stießen mich meine Gedanken immer wieder auf diese Geschichte. Wie wenn bei einem Biss in einen weichen Pfirsich die Zunge den Stein berührt: der plötzliche, unerwartete harte Kern in der Mitte von allem. Ich kam nicht umhin, die Parallelen zwischen Medusa und Pasiphaë zu bemerken. Beide mussten den Preis für die Vergehen anderer bezahlen. Aber Pasiphaë schrumpfte mit jedem Tag, während ihr Leib immer mehr anschwoll, unnatürlich geformt wie das Kind darin. Sie sah nicht mehr auf, sprach nicht mehr. Sie war keine Medusa, trug ihr Leid nicht wie eine Krone aus Schlangen auf dem Kopf, die sich zischend und wütend aufbäumten, sondern zog sich in sich zurück. Meine Mutter war nicht mehr als eine dünne durchscheinende Muschelschale am Strand, die von der Brandung zu Sand zermalmt wurde.
Wenn es so weit war, würde ich wie Medusa sein, beschloss ich. Sollten die Götter mich eines Tages für die Taten eines Mannes zur Verantwortung ziehen, würde ich mich nicht verstecken wie Pasiphaë. Ich würde die Schlangenkrone tragen, und die Welt würde vor mir fliehen.