Der Autor

Beate Rygiert – Foto © Ulrike Klumpp

BEATE RYGIERT studierte Theater-, Musik- und Literaturwissenschaft in München und Florenz und war danach als Dramaturgin an verschiedenen Theatern engagiert. Im Jahr 2000 legte sie mit Bronjas Erbe ihren ersten Roman vor, 2001 folgte Die Fälscherin. 2020 eroberte sie mit Die Pianistin und 2021 mit Frau von Goethe die Spiegel-Online-Bestsellerliste. Ihre Romane werden außerdem in zahlreiche Sprachen übersetzt. Beate Rygiert lebt und arbeitet im Schwarzwald.

Das Buch

»Du hast eine Eroberung gemacht«, sagte Vicki Baum, als sie am nächsten Tag die Friedrichstraße hinuntergingen. »Der ganze Verlag spricht von dir und Dr. Franz.«
»Du liebe Güte«, entgegnete Rosalie. »Wir hatten einen angenehmen Abend miteinander. Das ist schon alles.«
»Und er hat dir drei Dutzend Rosen geschickt.«
»Zwei Dutzend. Immer diese Übertreibungen!« Rosalie fühlte, wie ihre Freundin sie feixend von der Seite betrachtete.
»Nun erzähl schon. Oder soll ich Dr. Franz selbst fragen?«
»Das würdest du niemals wagen«, antwortete Rosalie lachend und war sich trotzdem nicht ganz sicher. Vicki war allerhand zuzutrauen.

Beate Rygiert

Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher

Roman

Ullstein

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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: www.buerosued.de (Rahmen, Details); Circa Images /Bridgeman Images (Straßenszene); Arcangel Images © Lee Avison(Frau)
Autorinnenfoto: © Ulrike Klumpp
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ISBN 978-3-8437-2580-4

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Widmung

Dieses Buch widme ich allen mutigen Frauen,
die in ihrer Zeit Großartiges geleistet haben
und heute vergessen sind.

1

Der Taxifahrer trat fluchend auf die Bremse und riss das Steuer herum, um die Pferdedroschke zu überholen, die den Weg versperrte.

»Immer mit der Ruhe«, rief Rosalie durch das Schiebefenster hindurch nach vorn und hielt sich an der Lederschlaufe über der Kabinentür fest. »Ich würde gerne in einem Stück beim Verlag ankommen.«

Der Fahrer brummte etwas Unverständliches und bog endlich in die Kochstraße ein. Vor dem prächtigen dreigeschossigen Eckgebäude zur Charlottenstraße mit der Nummer 23 kam er zum Stehen.

»In einem Stück, das Frollein«, erklärte er frech und schob sein Käppi in den Nacken, hielt ihr den Schlag auf und starrte auf ihre seidenbestrumpften Füße in den hochhackigen Riemchensandalen, während sie ausstieg. Gott, dachte Rosalie, wie anders das Leben doch in Paris war. Jedes Mal, wenn sie von dort nach Berlin zurückkam, brauchte sie mindestens einen Tag, um sich an die Umgangsformen hier zu gewöhnen. Sie drückte dem Mann einen Geldschein in die Hand und trat durch die Drehkreuztür des Portals, über dem eine große, in Stein gemeißelte Eule wachte.

Wie immer, wenn sie diese Schwelle überschritt, begann ihr Herz auch jetzt in einem anderen Rhythmus zu schlagen. Hier waren die Heimat des gedruckten Wortes und das größte Verlagsimperium Europas. Sicher: Paris hatte mehr Charme, mehr Klasse und Eleganz, da mochte ihre Freundin Vicki Baum sagen, was sie wollte. Das Ullstein-Haus allerdings stand in Berlin, und so etwas gab es sonst nirgendwo.

»Herzlich willkommen, Frau Dr. Gräfenberg«, sagte der Pförtner, und Rosalie strahlte ihn an.

»Danke, Herr Tomaschke«, antwortete sie. »Wie schön, mit meinem Namen begrüßt zu werden.«

»Das ist doch selbstverständlich, gnädige Frau«, erklärte Tomaschke mit verhohlenem Stolz. »Ich kenne jeden beim Namen, der hier aus- und eingeht.«

»Herr Bernhard erwartet mich«, sagte Rosalie, und der Pförtner hob den Apparat ab, um sie anzukündigen.

»Gehen Sie nur«, sagte er. »Ich sag oben Bescheid.«

Emsige Geschäftigkeit empfing sie in der Eingangshalle. Botenjungen mit oder ohne Rollwagen voller Akten flitzten die Flure entlang. Eine Tür flog auf, und Rosalie erhaschte einen kurzen Blick in die riesige Setzerei, wo in scheinbar endlosen Reihen Männer Bleibuchstaben aus halb aufgerichteten Setzkästen nahmen und sie mit flinken Fingern zu Wörtern und Sätzen zusammensetzten, die man am folgenden Tag in einer der Zeitschriften oder Zeitungen des Hauses lesen würde. Georg Bernhards Büro befand sich im zweiten Stock, und Rosalie beschloss, statt der zentralen Treppe den Paternoster zu nehmen.

Seit ihrer Scheidung lebte sie in Paris und schickte von dort Artikel und Reiseberichte an viele verschiedene deutsche Zeitungsredaktionen. Vor allem jedoch schrieb sie für den Ullstein Verlag, wo ihre Beiträge in der Unterhaltungszeitschrift Uhu, in der Berliner Illustrirten Zeitung, kurz BIZ genannt, und vor allem in der Vossischen Zeitung veröffentlicht wurden, deren Chefredakteur der berühmte Georg Bernhard war, ein Mann Ende vierzig mit einem riesenhaften Mund, der, wenn er lächelte, buchstäblich von einem Ohr bis zum anderen zu reichen schien. Rosalie mochte ihn, er war klug und hatte einen beißenden Humor, und obwohl jeder wusste, dass die Vossische, wie sie in Berlin liebevoll genannt wurde, ein Zuschussgeschäft für die Gebrüder Ullstein bedeutete, galt Bernhard als eine der wichtigsten Größen innerhalb der komplizierten Personalstruktur des Presseimperiums. Außerdem hatte er einen Sitz im Reichstag, und das war für alle Beteiligten ein großer Vorteil.

»Wie geht es Ihnen, Frau Henschke?«, fragte Rosalie Bernhards Vorzimmerdame, eine Dame um die fünfzig mit strenger Steckfrisur und einer Schwäche für ausgefallene Parfums. Aus diesem Grund hatte Rosalie ihr auch dieses Mal ein kleines Präsent aus dem Hause Houbigant mitgebracht, das seine Wirkung nicht verfehlte. »Haben Sie das schon?«, fragte Rosalie und deutete auf das Etikett, auf dem der mit Blüten umrankte Name Quelques Fleurs stand. »Es ist das erste Parfüm der Welt, in dem mehrere Blütendüfte vereinigt wurden.«

»Wie nett von Ihnen!« Irmtraut Henschke öffnete vorsichtig den Flacon, um an ihm zu schnuppern. »Einfach hinreißend! Frau Dr. Gräfenberg, das werde ich Ihnen nie vergessen. Und wie elegant Sie wieder sind. Diese Frisur …« Ihr Blick wanderte von Rosalies kess geschnittenem dunklen Bubikopf zu ihrem leichten Sommermantel und dem dazu passenden Kleid in der Farbe von Rosenholz. »Ist das Seide?«

Noch ehe Rosalie antworten konnte, flog die Tür zum Büro des Chefredakteurs auf, und Bernhard stand auf der Schwelle.

»Na, da ist sie ja«, begrüßte er Rosalie und winkte sie herein. »Frisch aus der Weltstadt Paris importiert.« Er beugte sich über ihre Hand und deutete einen Handkuss an, was Rosalie überraschte. Ansonsten gab einer wie Bernhard nicht viel auf solche Förmlichkeiten, außer man begegnete sich auf dem Presseball oder bei einem offiziellen Empfang. »Was macht unser Erzfeind?« Er lachte scheppernd, nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Nein, natürlich will ich sagen: Was macht das zarte junge Pflänzchen der deutsch-französischen Freundschaft?«

»Es wächst und gedeiht, und ich hoffe, es wird einmal aufs Schönste erblühen«, gab Rosalie zurück. »Ich kenne niemanden in Paris, der sich das nicht ebenfalls wünscht.«

Bernhard bat sie nicht wie üblich, auf dem Besucherstuhl an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, sondern führte sie zu der kleinen Sitzgruppe in der Ecke, die er für Ehrengäste bereithielt, wie Frau Henschke Rosalie einmal verraten hatte.

»Ihre Reportage aus Westafrika war recht hübsch«, eröffnete er nun das Gespräch. »Sie kam gut an. Was haben Sie uns dieses Mal Schönes mitgebracht?«

»Ein Interview mit Aristide Briand«, antwortete Rosalie und bemühte sich, nicht allzu stolz zu klingen. Dass es ihr gelungen war, einen ganzen Nachmittag lang mit dem früheren französischen Premier- und gegenwärtigen Außenminister, der gemeinsam mit Gustav Stresemann für die Annäherung der beiden Länder den Friedensnobelpreis erhalten hatte, über die Zukunft Europas zu sprechen, war tatsächlich eine journalistische Meisterleistung und verdankte sich Rosalies Gabe, Kontakte nicht nur zu knüpfen, sondern auch zu pflegen. Sie kannte Kollegen, die hätten gemordet, um einen Termin bei Briand zu bekommen, und prompt entgleisten ihrem Gegenüber für einen Augenblick die Gesichtszüge. Von wegen »recht hübsch«, dachte Rosalie voller Genugtuung, ließ jedoch nichts von ihrem Triumphgefühl merken. Stattdessen holte sie den Artikel aus ihrer Rindsledertasche und reichte ihn Bernhard. »Selbstverständlich ist es ein Exklusiv-Interview«, fügte sie sachlich hinzu.

Bernhard griff nach den von ihr sauber getippten Blättern und begann zu lesen. Rosalie schlug ein Bein über das andere und lehnte sich in die Lederpolster zurück. Zu gern hätte sie sich eine Zigarette angezündet, doch sie ließ es sein. Zwar rauchten die Redakteure im Allgemeinen wie die Schlote, bei einer Frau fand sie selbst das jedoch wenig attraktiv.

»Nicht schlecht«, meinte Bernhard und legte den Artikel zurück auf den Tisch und musterte sie aus seinen dunklen Augen hinter den runden Gläsern seiner Hornbrille. »Wie kommt es eigentlich«, sagte er dann, und sein Mund zog sich wieder in die Breite, »dass eine elegante Dame wie Sie sich so für Politik interessiert?«

Rosalie blieb einen Moment lang die Luft weg. Waren denn Politik und Eleganz in seinen Augen unvereinbar?

»Vermutlich fasziniert mich die Eleganz politischer Lösungen«, antwortete sie und wünschte sich nun noch sehnlicher eine Zigarette. »Und die Politik eleganter Menschen.«

»Was werden Sie als Nächstes Elegantes für uns schreiben?«

»Im September würde ich gern zur Völkerbundversammlung nach Genf fahren und über die Verhandlungen zur Räumung des Rheinlands berichten.«

Bernhards Augen wurden schmaler. »Tut mir leid«, sagte er, und jede Jovialität war aus seiner Stimme gewichen. »Das ist Aufgabe des Chefredakteurs.«

»Oh«, machte Rosalie. »Sie fahren selbst?« Es war, soweit sie informiert war, schon lange nicht mehr vorgekommen, dass Bernhard sich höchstpersönlich auf eine solche Pressereise begeben hatte.

»So ist es.« Er warf ihr einen lauernden Blick zu. »Allerdings … Wie wäre es, wenn wir gemeinsam fahren würden?«

»Nach Genf?« Rosalie musste kurz blinzeln und versuchte zu verstehen, was er ihr wirklich sagen wollte. Doch natürlich war es nur allzu offensichtlich.

»Ja, nach Genf«, wiederholte er und lehnte sich nun ebenfalls entspannt in seinem Sessel zurück. »Und außerdem … Was halten Sie davon, mit mir heute Abend auszugehen? Ich könnte einen Tisch im Eden reservieren. Und danach … Ich würde sagen, da lassen wir uns einfach ein wenig durch das Berliner Nachtleben treiben. Wie klingt das für Sie?«

Wie das für mich klingt, du lüsterner alter Bock, dachte Rosalie empört, das willst du lieber gar nicht wissen.

»Das klingt nach einem bemerkenswerten Abend«, antwortete sie stattdessen mit einem entwaffnenden Lächeln. »Bedauerlicherweise habe ich heute schon andere Pläne.« Sie erhob sich. »Es freut mich, dass wir so gut zusammenarbeiten, Herr Bernhard«, sagte sie. »Und vor allem, dass Ihnen mein Exklusiv-Interview mit Monsieur Briand gefällt.«


Im Flur musste sie kurz tief durchatmen. Hatte sie sich das eben nur eingebildet? Nein. Der Chefredakteur der Vossischen Zeitung hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ihre Beziehungen über das Geschäftliche hinaus gerne ausbauen würde. Sie stöhnte innerlich auf, dann machte sie sich auf den Weg zu Vicki Baums Büro.

Hinter den verglasten Wänden der Redaktionsbüros saß ein ganzes Heer von Tippfräulein an ihren Maschinen, die meisten von ihnen junge Frauen in knielangen Röcken und luftigen, locker über den Bund fallenden Schluppenblusen. Rasch ging sie ins dritte Stockwerk, wo die Mitarbeiter der Frauenzeitschrift Die Dame untergebracht waren. Auf dem Flur traf sie Anita, die für die beliebte Zeitschrift Modewelt zuständig war und von der kein Mensch wusste, wie sie mit Nachnamen hieß, denn sie unterschrieb auch ihre Artikel stets nur mit dem Vornamen. Rosalie beantwortete geduldig ihre Fragen nach den neuesten Trends in Paris und diskutierte mit ihr die Vorzüge der »neuen Taille«, die künftig nicht mehr auf Hüfthöhe hängen würde wie in den vergangenen beiden Jahren, sondern wieder dort sitzen würden, wo sie hingehörte. Außerdem würde die Abendmode wieder bodenlang sein, was man seit Jahren für ausgeschlossen gehalten hatte.

»Madeleine Vionnet ist bei dieser neuen Linie mal wieder ganz vorne mit dabei«, berichtete Rosalie. »Ich war bei ihrer Modeschau, und ich muss sagen, ihre aktuellen Modelle sind schlicht hinreißend. Sie sind so raffiniert geschnitten, dass ihr Faltenwurf wirkt wie bei den antiken Statuen. In Paris nennt man sie die Bildhauerin des Stoffes. Natürlich verwendet sie hauptsächlich Seide.«

»Sie hat den Diagonalschnitt erfunden«, schwärmte Anita. »Man schneidet den Stoff diagonal zum Fadenlauf, das macht die Kleider anschmiegsam und elastisch, sodass man sich darin fabelhaft bewegen kann, selbst wenn das Modell auf Figur geschnitten ist. Isadora Duncan ist in Kleidern von ihr aufgetreten.« Anitas Augen glänzten. »Du hast nicht zufällig einen Katalog von Vionnets neuester Kollektion mitgebracht?«

»Nein, tut mir leid, für Mode interessiere ich mich nur privat. Mit euren Beziehungen kannst du dir das Material doch über Nacht schicken lassen, oder? Ich bin sicher, Dr. Stahl tut dir den Gefallen.«

»Dr. Stahl wird mir was husten.« Anita brach bei dem Gedanken, den seriösen Pariser Korrespondenten der Ullsteins um so etwas Profanes wie den Katalog einer neuen Modekollektion zu bitten, in Gelächter aus. »Keine Sorge, ich hab meine Quellen. Willst du den Andruck der neuen Modeseiten sehen?«

»Liebend gern, Anita, aber heute nicht«, wehrte Rosalie freundlich ab. »Ich möchte noch bei Vicki vorbeischauen.« Sie sah auf ihre Armbanduhr.

»Da ist sie.« Anita wies in Richtung Treppe und schüttelte grinsend den Kopf. »Schau sie dir an. Garantiert kommt sie gerade von ihrem Training. Na dann, ich muss los.«

Rosalie sah ihrer Freundin entgegen und traute ihren Augen nicht. Die berühmte Schriftstellerin Vicki Baum trug weiße Tennisschuhe und einen lilafarbenen Sportanzug aus einem seltsamen irisierenden Stoff. Über ihrer Schulter hingen Boxhandschuhe. Ein weißes Stirnband hielt ihr die blonden Locken aus dem Gesicht. Dass sie in diesem Frühjahr vierzig geworden war, sah man ihr kein bisschen an.

»Du warst doch nicht etwa boxen?«, fragte Rosalie mit einem ungläubigen Lachen, nachdem sie sich herzlich begrüßt hatten.

»Natürlich war ich das.« Vickis Augen glitzerten vor Vergnügen. »Du solltest das auch mal ausprobieren, Rosalie. Das hält jung und fit.« Sie nahm die Handschuhe von ihrer Schulter und boxte damit spielerisch gegen die Schulter ihrer Freundin. »Natürlich hast du das noch lange nicht nötig«, fügte sie hinzu. »Du siehst fabelhaft aus, Rosalie. Na ja, du bist ja zwanzig Jahre jünger als ich. Fast könntest du meine Tochter sein.«

»Du übertreibst maßlos«, gab Rosalie lachend zurück. »Als meine Mutter gehst du nirgendwo durch.« Tatsächlich war sie fast zehn Jahre jünger als die Schriftstellerin. »Aber sag mal, meinst du das wirklich ernst mit dem Training? Oder hast du dir die hier nur für einen Artikel ausgeliehen?« Misstrauisch beäugte sie die Boxhandschuhe.

»Nein, natürlich trainiere ich wirklich. Und zwar bei Sabri Mahir höchstpersönlich.«

»Entschuldige – bei wem?«

»Na bei diesem Türken, bei dem Franz Diener trainiert. Das ist der Boxer, der um ein Haar Max Schmeling besiegt hätte. Und wenn du die kleinen Leute fragst, dann hat er das auch. Nur die Punktrichter waren anderer Meinung.«

»Ich versteh kein Wort …«

»Weißt du was? Morgen nehm ich dich mit. Doch, doch, keine Widerrede. Jeder geht zu Sabri zum Trainieren, jeder! Auch Frauen. Carola Neher zum Beispiel und Marlene Dietrich. Ja, schau nicht so. Mich hat er leider auf Diät gesetzt.«

Sie hatten Vickis geräumiges Büro erreicht, das zur Kochstraße hinausging, was ihren hohen Stellenwert im Unternehmen ausdrückte, anfangs hatte sie nämlich mit einer Art Besenkammer vorliebnehmen müssen, inzwischen hatte die Geschäftsleitung allerdings erkannt, was man an Vicki Baum hatte. Überall stapelten sich Bücher, Rezensionsexemplare, denn Vicki Baum war für die Literaturbeilage der Frauenzeitschrift Die Dame zuständig, die sogenannten »Losen Blätter«, und war damit sozusagen die Vermittlerin zwischen dem »Haus der Bücher« und dem »Haus der Presse«, denn für beides war Ullstein auf der ganzen Welt berühmt. Es roch nach Mokka, bedrucktem Papier und reifen Äpfeln, Vicki hatte stets mindestens einen auf ihrem Schreibtisch liegen – Rosalie liebte diese Melange.

Amüsiert sah sie zu, wie ihre Freundin die Boxhandschuhe im Aktenschrank verstaute, so als wären sie die ganz alltäglichen Accessoires einer Dame von Welt, wie ein Schirm oder eine Handtasche. Ach, wie sehr hatte sie ihre extravagante Freundin vermisst.

»Hat du unser Blümchen schon kennengelernt?« Vicki wies auf eine dünne junge Frau mit dem hübschen Gesicht einer Füchsin, die in eine Schreibmaschine tippte, als wollte sie Funken aus ihr schlagen. Ihr langes rötliches Haar hatte sie im Nacken zusammengesteckt, ein paar widerspenstige Löckchen hatten sich allerdings daraus gelöst und umspielten ihr Gesicht wie kleine Flämmchen. »Fräulein Blume ist seit einem Monat mein Tippfräulein. Darf ich Ihnen Frau Dr. Gräfenberg vorstellen, eine sehr gute alte Freundin von mir.«

Das Schreibmaschinengeklapper verstummte, und das Tippfräulein starrte Rosalie ehrfurchtsvoll aus großen grüngoldenen Augen an.

»Sehr erfreut, Frau Doktor.« Dann zog sie ihre hübsche Stirn kraus. »Gräfenberg?«, fragte sie nach. »So wie der berühmte Frauenarzt?«

Rosalie verzog das Gesicht und hob zu einer Erklärung an, doch Vicki kam ihr zuvor.

»Lassen Sie es gut sein, Fräulein Blume. Rosalie ist eine unserer besten Journalistinnen. Sie hat diesen famosen Reisebericht über Westafrika geschrieben, der Ihnen so gut gefallen hat. Der gute Frauenarzt ist längst passé, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»So ist es«, warf Rosalie ein und lächelte das Tippfräulein aufmunternd an, denn die junge Frau hatte vor Verlegenheit rote Flecken im Gesicht bekommen. »Der Name ist das Einzige, was mir von dieser Ehe geblieben ist.« Und zu Vicki gewandt fügte sie hinzu: »Ach, ich hatte so gehofft, mit dir zu Mittag zu essen. Aber wenn dieser boxende Türke dich auf Diät gesetzt hat …«

»Er hat nicht gesagt, dass ich verhungern soll«, unterbrach Vicki sie entschlossen und sah auf ihre Armbanduhr. »Und ich hab einen Bärenhunger.«


2

Statt ins Casino im Obergeschoss des Ullstein-Hauses gingen die Freundinnen lieber um die Ecke in das Café im ersten Stock an der Friedrichstraße Ecke Leipziger Straße, wohin sich normalerweise keiner ihrer Kollegen verirrte und wo sie hoffen konnten, ungestört zu plaudern. Sie bestellten beide das Tagesessen, Toast mit Setzei, und zündeten sich im Schein der altmodischen Stehlampen mit Schirmen aus farbigen Glasperlen Zigaretten an.

»Wenn Sabri mich sehen könnte«, schmunzelte Vicki und nahm einen tiefen Zug. »Er würde mich glatt rauswerfen.«

»Du redest ja schon, als wärt ihr verheiratet«, spottete Rosalie.

Vicki blies den Rauch aus und lachte. »Oh nein«, antwortete sie. »Da läuft gar nichts. Außerdem kommen Hans und die Jungs bald nach Berlin.«

»Tatsächlich? Dein Mann will seinen Posten in Mannheim wirklich aufgeben?«

Eigentlich hieß Vickis Ehemann Richard Lert, doch alle, die ihm nahestanden, nannten ihn bei seinem zweiten Vornamen Hans. »Ja, mich hat es ehrlich gesagt auch gewundert.« Vicki nahm einen Schluck von ihrer Brause. Alkohol lehnte sie während des Tages strikt ab. »Er meinte, die Familie sei ihm wichtiger als sein Posten als Generalmusikdirektor, und hat gekündigt. Aber keine Bange, er wird hier in der Philharmonie Gastverträge bekommen. Und an der Staatsoper ebenfalls. Er verhandelt gerade die Konditionen.«

Das Essen wurde gebracht, und Rosalie bestellte einen trockenen Weißwein, wie sie es sich in Paris angewöhnt hatte. Es reichte, wenn Vicki darauf verzichtete, fand sie.

»Weißt du«, sagte sie zu ihrer Freundin, die sich über den Toast hermachte, »dass ich euch kolossal bewundere, dich und Hans?«

Vicki warf ihr einen erstaunten Blick zu. »So? Und wofür?«

»Ich kenne kein glücklicheres Paar als euch beide«, erklärte Rosalie und tunkte Weißbrot in das Gelbe des Eis. »Wie lang seid ihr schon verheiratet?«

»Viel zu lange«, spottete Vicki und tupfte sich den Mund ab. »Und glaub mir, wenn die Jungen nicht wären … Ich hätte mich vermutlich schon vor einer Weile scheiden lassen. Stattdessen bin ich nach Berlin gegangen.« Sie sah Rosalie nachdenklich an. »Vielleicht hättest du auch erst nach Paris gehen sollen, statt dich gleich scheiden zu lassen. Womöglich wäre alles anders gekommen? So ein bisschen Abstand tut jeder Ehe gut.«

Rosalie schüttelte heftig den Kopf. »Vergiss es«, entgegnete sie entschlossen. »Mit Ernst und mir – das wäre nichts mehr geworden. Es sei denn, er hätte seine Praxis aufgegeben. Und das wird er niemals tun.«

»Er ist eine Koryphäe in seinem Fach«, wandte Vicki ein. »Du kannst einem Mann nicht das wegnehmen, woran ihm am meisten liegt.«

»So ist es. Und da Dr. Gräfenberg am Unterleib der gesamten weiblichen Einwohnerschaft Berlins so unendlich viel gelegen ist …«

»Ach komm«, unterbrach Vicki sie. »So sind die Männer eben. Hans’ Liebschaften mit den Ballett- und Chormädchen sind Legende. Ich habe aufgehört zu zählen und meine Mannheimer Freunde gebeten, mich nicht mehr über seine Amouren auf dem Laufenden zu halten. Das ist besser für unsere Ehe und für meine Nerven.«

Rosalie schwieg. Wie konnte Vicki nur so abgeklärt sein? Gut, sie hatte zwei wundervolle Söhne, das mochte die Untreue ihres Mannes irgendwie ausgleichen. Und sie musste auch nicht in der Praxis eines Gynäkologen leben, wo zu Stoßzeiten selbst das private Esszimmer und der Salon von wartenden Patientinnen belagert wurden. Sie musste nicht den Geruch nach Äther und Desinfektionsmittel in ihren eigenen vier Wänden ertragen und nicht die Blicke der jüngeren, attraktiven Patientinnen, an denen der Herr Doktor mehr durchführte als reine Routineuntersuchungen …

»Ehrlich gesagt ist mir bei aller Freude auch ein wenig mulmig zumute bei dem Gedanken, dass ich meine Berliner Freiheit dem Familienleben zuliebe wieder aufgeben muss«, gestand Vicki.

Rosalie nickte. Das konnte sie nur zu gut verstehen. Drei Jahre lang hatte ihre Freundin das Leben in dieser vibrierenden Stadt allein genossen, war oftmals noch spätabends mit ihr und anderen Freunden ausgegangen und hatte auf niemanden außer sich selbst Rücksicht nehmen müssen. Auch Rosalie genoss diese Unabhängigkeit seit ihrer Scheidung in vollen Zügen.

»Aber was ist mit dir?« Vicki sah sie neugierig an. »Gibt es einen neuen Mann in deinem Leben?« Vicki schob den letzten Bissen ihres Toasts in den Mund und betrachtete sie aufmerksam.

»Nun … ja«, gab Rosalie widerstrebend zu. »Es ist ein Geheimnis.«

Vicki nickte. »Natürlich ist es das. Das ist es doch immer.«

»Nein, du verstehst nicht«, warf Rosalie lebhaft ein, »es muss wirklich ganz und gar geheim gehalten werden.«

»Eine geheime Mission also«, räumte ihre Freundin amüsiert ein. »Und wie heißt er?«

Rosalie biss sich auf die Unterlippe. Sie kannte Vicki schon so viele Jahre. Sie war in Mannheim aufgewachsen, und die Lerts gingen in ihrem Elternhaus ein und aus. Auf Vicki war Verlass. Trotzdem zögerte sie. Je weniger Menschen von dieser Affäre wussten, desto besser. Auf der anderen Seite brannte sie darauf, mit jemandem darüber zu sprechen.

»Lebt er in Paris oder hier in Berlin?«, half Vicki nach.

»In Berlin.« Rosalie sah ein, dass ihre Zurückhaltung die Freundin nur noch neugieriger machte. »Ich habe ihn in Genf kennengelernt, während des Weltwirtschaftsgipfels. Er arbeitet in den höchsten Regierungskreisen, deshalb …«

»Verstehe«, unterbrach Vicki sie. »Und das Letzte, was ich möchte, ist dich in Schwierigkeiten bringen, das weißt du. Also … warum finden wir nicht einen Tarnnamen für diesen Herrn? Wie wäre es mit … Kobra?«

Rosalie lachte. »Das klingt ja wie aus einem Spionageroman«, kicherte sie.

»Vielleicht sollte ich mal einen schreiben«, stimmte Vicki ihr zu. »Und dieser Kobra hat also dein Herz erobert.«

»Im Sturm.«

»So leidenschaftlich?«

»Na ja, zunächst nicht.« Rosalie legte endgültig ihr Besteck auf den Teller. Außer ein wenig von dem Eidotter mit Weißbrot hatte sie nichts gegessen. Sie war viel zu aufgeregt dafür und hatte den Bauch ohnehin voller Schmetterlinge. Denn an diesem Abend würde sie ihn endlich wiedersehen.

»Jetzt erzähl mal von ganz vorn«, bat Vicki sie und lehnte sich zurück.

»Da gibt es gar nicht so viel zu erzählen.« Rosalie sah über die voll besetzten Tische hinweg aus dem Fenster, doch statt des Berliner Himmels sah sie wieder die große Fontäne im Genfer See vor sich und das trübe Grau eines regnerischen Februarmorgens. »Wir standen alle in der Vorhalle des Sitzungssaals und warteten darauf, dass es losging. Da fiel mir ein Mann auf, der lässig in einem der Polsterstühle mehr lag als saß, die Beine weit von sich gestreckt und die Hände in den Taschen vergraben. Ich sah ihn nur von der Seite, und ich schwöre dir, ich hab mich auf der Stelle in diesen Mann verliebt.«

»Wie?«, fragte Vicki verständnislos nach. »Einfach so? Was hat er gemacht?«

»Er hat gegähnt.«

Vicki starrte sie an, dann fing sie an zu lachen. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen!«

»Nein«, beteuerte Rosalie. »Vicki, noch nie zuvor habe ich einen Mann so hinreißend und so ausdauernd gähnen sehen. Ich wollte natürlich herausfinden, wer er ist, und habe einen befreundeten Journalisten gefragt, ob er ihn kennt. In dem Moment hat eine Delegation für kurze Zeit die Sicht auf ihn versperrt, und danach war er verschwunden, so als hätte er nie existiert.«

»Hört sich so an, als sollten wir ihn lieber den ›Großen Gähner‹ nennen statt Kobra?«, schlug Vicki vor. Sie lachten. »Und wie ging es weiter?«

»Tagelang hab ich nach ihm gesucht«, gestand Rosalie. »Die ganze verdammte Woche lang – der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Ich ging zu jedem Pressetermin und zu jedem Empfang, der mir einigermaßen wichtig erschien, und knüpfte dabei jede Menge Kontakte. Doch im Grunde war ich die ganze Zeit nur auf der Suche nach ihm. Vergeblich.«

»Eine kurze Lovestory«, konnte Vicki sich nicht verkneifen zu sagen. »Einer Autorin würde man so was nicht durchgehen lassen. Der Geschichte fehlen eindeutig der zweite und der dritte Akt.«

»Ich bin noch nicht fertig«, erklärte Rosalie. »Am allerletzten Abend – ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben – fand der Abschlussempfang statt. Ich hatte einen Platz am Tisch von Robert Weismann persönlich …«

»Natürlich«, warf Vicki ironisch ein. »Ich hab mich oft gefragt, wie du zu deinen glänzenden Kontakten in die höchsten Regierungskreise kommst.«

»Na hör mal, das gehört halt zur Arbeit einer guten Journalistin. Also. Der Stuhl neben mir blieb frei. Wir waren schon beim Dessert, als auf einmal die Tür aufging. Und rate mal, wer auf der Schwelle stand?«

»Kobra.«

»Genau. Ich hätte mich beinahe an meinem Erdbeerparfait verschluckt. Er sah sich kurz um und steuerte dann direkt auf unseren Tisch zu …«

»Aha, also einer aus Weismanns Stab«, folgerte Vicki glasklar. »Ein Geheimdienstler. Jetzt versteh ich deine Zurückhaltung.«

Rosalie beschloss, diese Bemerkung zu ignorieren.

»Und weißt du was?«, fuhr sie fort, als hätte sie nichts gehört. »Im nächsten Moment küsste er mir die Hand und nahm neben mir Platz. ›Na endlich‹, sagte ich nur. ›Ich hab Sie überall gesucht. Aber jetzt ist alles gut.‹«

Sie schwieg. Wenn sie an jenen Abend zurückdachte, konnte sie selbst nicht glauben, welche Wendung ihr Leben von da an genommen hatte.

»Ich hoffe«, sagte Vicki nach einer Weile, »er hat wenigstens an diesem Abend nicht gegähnt.«

Sie lachten beide, und Rosalie war ihrer Freundin dankbar für die Bemerkung.

»Nein«, sagte sie. »Das hat er den ganzen Abend nicht getan und auch während der Nacht nicht. Ob du es glaubst oder nicht – ich war fast ein bisschen enttäuscht darüber.«

Der Kellner kam, räumte die Teller ab und fragte nach weiteren Wünschen. Sie bestellten Kaffee und warteten, bis der junge Mann außer Hörweite war.

»Das war also der Anfang«, nahm Vicki den Faden wieder auf, und Rosalie wurde klar, dass ihre Freundin sie nicht mehr so leicht von der Angel lassen würde. Wenn jemand wie Vicki Baum eine gute Geschichte witterte, dann gab es kein Halten. »Und wie geht es nun weiter? Höre ich schon Hochzeitsglocken in der Ferne läuten, oder ist das nur die Tram?«

Wieder lachten die beiden. Dann schüttelte Rosalie ernst den Kopf.

»An so etwas ist nicht zu denken.«

»Wieso? Ist er schon verheiratet?«

»Nein, das nicht. Aber …« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Ach weißt du, Vicki, die Ehe ist eine seltsame Einrichtung, und ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür gemacht bin. Sieh mal, mit Ernst war es vor unserer Heirat auch ganz wunderbar, es war so … so aufregend, unsere Liebe erschien mir wie ein immerwährendes Fest. Kaum waren wir verheiratet …«

»Du warst einfach viel zu jung«, fand Vicki. »Einundzwanzig, nicht wahr? In diesem Alter macht man nichts als Dummheiten. Bei mir war es genauso. Ich war im selben Alter, als ich den Max geheiratet habe. Max Prels, im Nachhinein ein riesengroßer Fehler. Obwohl. Er war es, der mich zum Schreiben gebracht hat, denn er war zwar Journalist und hat sogar eine Zeitschrift gegründet, war allerdings meist viel zu beschäftigt, um seine Artikel rechtzeitig zu verfassen. Das hab dann ich für ihn getan.« Sie lachte leise in sich hinein. »Na ja, ich sollte ihm dankbar sein, denn ohne ihn würde ich vielleicht heute noch die Harfe in irgendeinem Orchester spielen. Du siehst also. Für etwas war es gut.«

»Bei mir nicht«, widersprach Rosalie. »Wie ich deinem Tippfräulein vorhin schon gesagt habe – das Einzige, was mir von der Ehe blieb, ist der Name.«

»Bis zu deiner nächsten Heirat«, gab Vicki amüsiert zurück. »Wobei mir Gräfenberg besser gefällt als Kobra. Nun, vielleicht sorgt diese Liebe wenigstens dafür, dass wir dich hier in Berlin in Zukunft öfter zu sehen bekommen. Mich würde es freuen.«


Rosalie begleitete ihre Freundin zurück zum Verlag, und auf dem Weg dorthin berichtete sie ihr von der seltsamen Wendung, die ihr Gespräch mit Georg Bernhard gegen Ende genommen hatte.

»Du glaubst wirklich, er will mit dir anbandeln?«

»Er wollte mich heute Abend zum Essen ausführen. Ins Eden! Und sich anschließend mit mir durchs Berliner Nachtleben treiben lassen.«

Vicki pfiff wenig damenhaft durch die Zähne. In diesem Moment hielt eine Maybach-Limousine vor dem Verlagshaus. Ein zierlicher älterer Herr entstieg ihr. Er hatte feine Gesichtszüge, eine spitze Nase und einen schön geformten Mund.

»Franz Ullstein, der mächtigste der fünf Brüder«, flüsterte Vicki ihrer Freundin zu. »Alle nennen ihn nur Dr. Franz.« Rosalie nickte.

»Ich weiß«, entgegnete sie leise. »Wir sind uns schon einmal begegnet. Ist eine Weile her.«

»Stimmt. Ich hab vergessen, dass du einfach jeden kennst.«

»Nun ja, kennen ist wohl zu viel gesagt. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich an mich erinnert.«

Der Generaldirektor warf den Damen einen abwesend wirkenden Blick zu, hob höflich den Hut, und die Sonne ließ sein spärliches Haar rotgolden aufleuchten. Dann ging er ohne weiteren Gruß an ihnen vorbei.

»Er hat uns nicht erkannt«, erklärte Vicki. »Dr. Franz ist unglaublich kurzsichtig. Ohne seinen Kneifer ist er blind wie ein Maulwurf. Ganz bestimmt erinnert er sich an dich. Denn dich vergisst kein Mann so schnell wieder.«

Rosalie musste lachen. »Du übertreibst wie immer, liebste Vicki.«

»Um auf Bernhard zurückzukommen: Willst du weiter für die Vossische schreiben?«, fragte Vicki, die niemals ein Thema, das sie wichtig fand, aus den Augen verlor.

»Natürlich möchte ich das. Ich verkaufe meine Artikel zwar auch an viele andere Blätter. Aber die Vossische ist die Königsklasse.«

»Dann solltest du seine Einladung besser annehmen«, riet ihr Vicki.

»Was sagst du?« Rosalie war fassungslos.

»Nun, du bist geschickt genug, um dich nach dem Essen auf eine Weise zu verabschieden, die seine Ehre nicht kränkt«, erklärte Vicki.

»Ich kann heute Abend nicht«, entgegnete Rosalie trotzig.

Vicki hob die Brauen und sah ihr tief in die Augen. »Aha«, meinte sie. »Herr Kobra wartet.«

»Ach, Vicki«, stöhnte Rosalie und ließ sich von der Älteren in die Arme schließen. »Ich hab ihn zwei Monate nicht gesehen. Ich schwöre dir, ich halte es keinen Tag länger aus.«

»Pass auf dich auf«, flüsterte ihr Vicki ins Ohr, solange sie sich umarmt hielten. »Und denk daran: Kobras sind gefährlich.«