Das Buch
Die Natur ist überall! Kaum aus der Haustür, schon stehen wir mittendrin. Pilze, die nach Mandarinen duften; Blüten, die ihre Farbe ändern; Insekten, die Zauberpilze essen; Flechten, die ins Weltall fliegen und Moose, die die Welt retten. Außerdem wilde Nahrung das ganze Jahr hindurch, die nicht nur lecker schmeckt, sondern auch unser Wohlbefinden verbessert. Also nichts wie los!
Die Autoren
VANESSA BRAUN, geboren 1993 im Schwarzwald, liebt das Reisen: Ihr Weg führte sie unter anderem schon nach Neuseeland, Italien, Australien, Indien und Marokko. Außerdem arbeitete sie als Buchhändlerin und ist zertifizierte Yogalehrerin und Heilpraktikerin.
NORMAN GLATZER, geboren 1993 in Berlin, ist Pilzsachverständiger. Nach Auslandsaufenthalten in Marokko und Indien war er in Berlin als Buchhändler und in der freien Theaterszene tätig.
Gemeinsam betreiben die beiden seit Februar 2019 den erfolgreichen YouTube-Kanal Buschfunkistan.
Norman Glatzer
Vanessa Braun
Pilze, Pflanzen und Tiere direkt
vor der Haustür – eine Entdeckungsreise
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ISBN 978-3-8437-2606-1
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021
Lektorat: Barbara Krause
Fotos im Bildteil:
Alle Abbildungen ohne Copyright-Vermerk stammen von den Autoren selbst.
Illustrationen im Innenteil: VektorStock®
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: © privat; FinePic®, München
E-Book: LVD GmbH, Berlin
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Etwas fehlt. Aus unseren geordneten, strukturierten und bürokratisierten Lebensmodellen wurde die Wildnis von Quadratschädeln und Betonköpfen einfach so weggezüchtet. Das machte uns zu blassen Zombies, die tagtäglich ihren Balanceakt aus Arbeiten und Konsumieren vollführen. Doch jetzt ist da diese Leere.
Einst gab es mal, so erinnern wir uns dunkel, eine lebendige sinnliche Wahrnehmung. Die Vögel sangen damals wundersame Melodien von Leben und Tod. Bald schon wurden sie abgelöst von brummenden Maschinen und Vibrationsalarm. Die Düfte von Blüten, Blättern und Gehölzen verführten uns einmal zum Müßiggang, doch nun rennen wir von Termin zu Termin, und unsere Nasenflügel verkrampfen sich in dieser mit Abgasen gewürzten Plastikwelt. Auch unsere Geschmackssinne stumpfen ab – der Vielfalt des immer Gleichen sei Dank! So kommt uns nach und nach ein Sinn nach dem anderen abhanden.
Apropos Sinn: Wer sind wir eigentlich? Wir sind ein Teil der Natur. Natur? Davon hört man doch immer wieder in den Dokumentationen. Das ist doch das, woraus die Straßenbäume gemacht sind. Und die kleinen Tiere darauf. Und sogar die Pilze, die wir manchmal darunter sehen.
Es ist Zeit für den Ausbruch aus der Betonisierung unserer Lebenswelt und unseres Bewusstseins. Lassen wir das Grau und die glatten Oberflächen hinter uns und stürzen uns in die kunterbunten Fraktale da draußen. Machen wir eine Reise in die Welt, nach der sich unsere Sinne sehnen, die Welt, die uns mit unseren Ursprüngen verbindet und doch Zukunft schenkt. Reisen wir in die Welt, wo keine Zeiger ticken, sondern nur Spechte auf Holz. Reisen wir in die Natur.
Führende Reiseexpert*innen sagen: »Die Natur ist immer eine Reise wert.« Schön und gut, aber wo ist sie denn nur, diese Natur? Ein Blick in den Atlas zeigt: keine Spur von einem Land mit diesem Namen. Und hier kommt die Magie der Grenzenlosigkeit ins Spiel: Die Natur ist überall, überall, wo Leben ist. Mutter Natur hat mit Orten, die sich fein säuberlich auf Karten einzeichnen lassen, nichts am Hut. Sie entfaltet sich allerorts, mit fließenden Übergängen und inhärenter Intelligenz. Wo diese organische Intelligenz waltet, da bedarf es weder eines Passes noch einer Mauer noch Stacheldrahts. Wir müssen nur das Haus verlassen, und schon stehen wir mitten in der Natur. Egal auf welchem Flecken Erde wir wohnen, eines ist gewiss: Die Wildnis beginnt vor jeder Haustür. Sie ist überall.
Vor der Haustür finden wir die Natur wahrscheinlich erst mal auf Fußhöhe. In den Fugen zwischen den Pflastersteinen, da geht es los. Kleine Moose und Pflänzchen kämpfen sich durch die menschengemachten Grenzen. Wer diese Steine dort hingepflastert hat, wollte vermutlich sagen: »Das hier ist mein, und hier darf nichts sein außer diesem Pflasterstein!« Doch Mutter Natur zeigt sich von solchen Maßnahmen unbeeindruckt und kämpft sich durch. Manche Menschen glauben, wir sollten die Wildnis zähmen und die Erde unter unsere Kontrolle bringen. Voller Überzeugung leben sie in dieser Illusion. Ein Hirngespinst, das so dämlich wie erheiternd ist. Wenn wir uns in tiefe Meditation begeben, können wir sogar das Kichern der Natur hören. Ein Gelächter angesichts dieser Naivität. Die Pflanzen in den Fugen unserer Pflastersteine sind der beste Beweis: Die Natur kann uns in jeder Hinsicht spielerisch überdauern. Zu denken, wir können uns die Erde unterwerfen oder würden das bereits tun, ist nichts als Unsinn. In den Augen der Natur sind wir Tollpatsche, die über ihren eigenen Übermut stolpern und mit dem Gesicht in einem Fladen landen. Die Kräfte der Natur sind so gewaltig und unfassbar, dass sie zu beherrschen ganz unmöglich ist. Ist das nicht fantastisch? Und wie sich später zeigen wird, sind diese Kräfte gar nicht mal so abgeneigt, für uns Menschen da zu sein. Wir müssen uns ihnen nur öffnen.
Die Pflanzen in den Fugen sind natürlich nur ein kurzer Blick durchs Schlüsselloch. Die Natur kann noch viel mehr. Ob in Parks, Wiesen oder Wäldern, wir befinden uns immer in ihr. Die Natur ist ein Ort, wo wir alle schon mal waren. Nur haben es viele von uns einfach noch nicht mitbekommen. Es wird also höchste Zeit, den Mut zu haben, die Tür zu öffnen.
Nachdem wir jetzt also wissen, wo die Natur ist, stellt sich noch die Frage nach der Zeit. Wann ist die beste Reisezeit? Die Frage nach dem Wann lässt sich genauso spektakulär beantworten wie die Frage nach dem Wo: immer. Da wir ja schon bemerkt haben, dass die Wildnis von Leben und Vielfalt überquillt, lohnt sich eine Reise zu jeder Zeit. Denn schon von einem zum anderen Tag kann alles wieder anders sein. Die wilde Natur hält sich nicht großartig an ihrem Gestern fest, sondern befindet sich in stetigem Wandel und erfindet sich in jedem Augenblick neu. Auf jeden Tod wird mit neuem Leben reagiert. Keimen, wachsen, sterben, verdaut werden. Ein endloser Kreislauf. Jede Jahreszeit hat ihre eigene Note, ihren eigenen Charme. Auch die Wesen der Natur haben alle ihre eigenen Zeitebenen. Nehmen wir mal die Pilze. Da gibt es autolytische Pilze, wie zum Beispiel Schopftintlinge. An einem heißen Sommertag kann es passieren, dass ihre Fruchtkörper über Nacht aus der Erde schießen, am Morgen Sporen in die Welt schicken und am Mittag schon wieder weg sind: zu Tinte zerflossen. Ihre Lebenszeit kann unter Umständen tatsächlich nur wenige Stunden betragen. Auf der anderen Seite steht zum Beispiel der Zunderschwamm. Seine Fruchtkörper wachsen jahrelang, in äußerst gemütlichem Tempo. Wer sich also fragt, wie lange Pilze, beziehungsweise deren Fruchtkörper, eigentlich zum Wachsen brauchen, bekommt hier die Antwort – oder auch nicht: Es ist absolut relativ.
Bei den Pflanzen geht es in Sachen Zeit auch sehr unterschiedlich zu. Die als Espe bekannte Zitterpappel wächst gerne mal einen Meter oder mehr im Jahr. In Windeseile schießt sie in Richtung Himmel, als würde irgendwo da oben ein Bus abfahren, den sie unbedingt noch kriegen will. Nach circa 100 Jahren realisiert sie dann aber, dass der öffentliche Nahverkehr im Himmelsreich eine Katastrophe ist, und stirbt. Ganz anders die Eibe: Sie ist die Zen-Mönchin in Form eines Baumes. Stress ist ihr ein Fremdwort, jedes Chlorophyllmolekül in ihr befindet sich in tiefster Meditation. Vielleicht wartet die Eibe einfach im wahrsten Sinne des Wortes auf die Erleuchtung. Denn die Eibe liebt es dunkel und wächst gerne im Schatten von Laubbäumen. Doch irgendwann will sie es dann doch mal mit ein paar Strahlen Sonne probieren. Wenn die schattenwerfenden Laubbäume um sie herum tot sind und erfolgreich überdauert wurden, kommt schließlich die totale Erleuchtung. Wer zuletzt lacht, lacht am besten, und darum wird eine Eibe gerne mal 2000 Jahre alt, bevor sie dann verstrahlt lächelnd abdankt.
Auch bei den Tieren gibt es alle Formen von Gegensätzen und Relativitäten. Eines dieser Tiere, der Gourmet des Waldes, auch bekannt als Pilzschnegel, erinnert optisch stark an eine Nacktschnecke. Der Pilzschnegel ist ein absoluter Slow-Food-Fanatiker, der seine Pilze nur äußerst langsam genießt. Normalerweise trifft man ihn ausschließlich beim Essen an. Wie gesagt, er ist ein Liebhaber der Haute Cuisine. Im Gegensatz dazu verputzt ein Eichhörnchen eine Nuss schon mal so schnell, dass wir gar nicht mitbekommen, dass da überhaupt jemals eine Nuss war. Glücklicherweise ist es nicht andersherum. Sonst gäbe es im Wald wohl keine Pilze mehr, aber reichlich dicke Schnegel.
So zeigt sich: Die Wesen der Natur haben alle ihre individuellen Zeitebenen und halten nicht viel von Uhren. Ihre Zeiten hängen von ihrer Art, ihrer Persönlichkeit und von den äußeren Bedingungen ab, unter denen sie leben.
Da haben wir sie also, die real existierende Utopie von Grenzenlosigkeit und dem Leben ohne Uhren: unter unseren Pflastersteinen, zwischen unseren Häusern und überall um uns herum. Wenn das mal keine guten Nachrichten für die Visionär*innen unter uns sind, deren Ideen von Apostel*innen des »gesunden Menschenverstandes« als naive Träumereien abgetan werden. Die Utopie ist schon da. Sie war sogar schon längst da, bevor es uns Menschen gab. Sie war da seit Anbeginn der Existenz und lange vor der Zeitrechnung.
Mit regelmäßigen Reisen in die Natur können wir die Utopie wieder in unser Bewusstsein integrieren. Durch die Natur zu reisen, heißt staunen und lernen, sich auflösen, verschmelzen und dann wieder neu zusammensetzen.
Wir wollen also die Reise ins Ungewisse und Grenzenlose wagen. Doch vorher heißt es, noch mal durchzuatmen und nicht sofort nackt aus dem Haus zu stürmen. Klar, die Natur lässt sich auch ganz wunderbar nackt erkunden, das wäre sogar sehr zu empfehlen, aber vielleicht erst jenseits der Zivilisation, um Ärger zu umgehen. Hierbei geht es jedoch nicht nur um Konfliktvermeidung. Denn insbesondere in Zivilisationsnähe lassen sich schon mal Pilze am nackten Körper sammeln, die besser nicht gesammelt werden sollten. Und das ganz ohne Sammelkörbchen! Also ziehen wir uns (erst mal) an.
Die Kunst der Naturerkundung liegt darin, immer aufs Schlimmste gefasst zu sein, ohne gleich den gesamten Kleiderschrank mitzuschleppen. Insbesondere bei ausgedehnteren Reisen spielt ein Faktor eine wichtige Rolle, der uns Nutznießer*innen von Dächern und Wänden vielleicht gar nicht mehr so bewusst ist: das Wetter. Von kalt bis warm, trocken bis nass, still bis stürmisch ist alles möglich, und es empfiehlt sich ein Blick auf die Tagesprognose. Fortgeschrittene Reisende setzen auf das Zwiebelprinzip. Entsprechend dem Wetter zieht man sich verschiedenste Schichten Kleidung an, die dann auch unterwegs ganz nach Bedarf justiert werden können. Wie sich hier schon zeigt, lässt sich viel von der Natur lernen, denn Zwiebeln sind uns in Sachen Bekleidung um einiges voraus. Kein Wunder also, dass sich Zwiebelgewächse wie der Bärlauch schon besonders früh im Jahr an die Erdoberfläche wagen.
Nun gibt es ja auch jede Menge toller Funktionskleidung. Die kann sicher praktisch sein, aber sie ist nicht überlebenswichtig. Mittlerweile ist Outdoorbekleidung jedoch fast zum Fetisch geworden: Wir leben im Zeitalter der Funktionskleidung. Nackte Haut reibt auf knisterndem Regenschutz. Ohne zu schwitzen natürlich, dank absoluter Atmungsaktivität. Selbst die Konsumkritischsten unter uns werden bei Outdoorbekleidung oft schwach, und Glückshormone lassen ihre Herzen schneller schlagen. Besonders an Sonntagen kann man diese Liebe zur Outdoorbekleidung beobachten: Spaziergänger*innen, die zwei Schritte in den Wald machen, aber das mit einer Kleidung, in der sie den Aufstieg am Mount Everest wagen könnten. Nicht dass diese Form der Kleidung nicht praktisch sein könnte. Manchmal möchte man fast glauben, Menschen ohne Funktionskleidung stürben direkt beim ersten Kontakt mit einem Regentropfen. Aber dem ist nicht so: Unsere Vorfahr*innen haben es auch in simpelster Kleidung und Jesuslatschen tagein, tagaus durch die Wildnis geschafft. Gänzlich ohne Nano-Hyper-Extreme-Ventilation-Protect5000-Beschichtung.
Sind wir erst einmal gut eingepackt, sollten wir auch ein Auge auf die Zeit des Sonnenuntergangs haben. Denn eines steht fest: Die Magie der Natur kann uns zwar ganz schön in den Bann ziehen, aber nachts im Wald zu stranden, ist bisweilen eher finster, zumindest für Debütant*innen der Naturerkundung.
Da die Reise auch was für die Hirnzellen ist, empfiehlt es sich, Literatur mitzunehmen. Je nachdem, ob sich der*die Reisende eher für Vögel, Pilze, Pflanzen oder andere Themen interessiert, sollte an entsprechende Bestimmungsliteratur gedacht werden. Außerdem benötigen wir noch einen Sammelkorb, am besten aus Weide. Dazu noch ein Taschenmesser und eine Lupe, und es kann fast losgehen. Fast, denn es empfiehlt sich, auch an Verpflegung zu denken, ganz nach individuellen Vorlieben. Wobei sich so manche Leckerei auch auf dem Wege finden lässt. Aber dazu später mehr.
Es gibt natürlich Dinge, die ganz bewusst nicht mitgenommen werden sollten: Müll oder Dreck anderer Art. Was außerdem nicht mitgenommen werden sollte: Bügeleisen. Niemand braucht Bügeleisen auf Reisen durch die Natur.
Etwas Fundamentales kann auch zu Hause bleiben: die Angst. Die Angst vor elefantengroßen Wildschweinen, vor Fuchsbandwürmern, die uns schon beim bloßen Anblick von Blaubeeren befallen, und die Angst vor fliegenpilzessenden Hexen. Denn während Ersteres und Zweiteres in dieser Form gar nicht vorkommen, gibt es zwar die bepilzten Hexen, die sind aber entgegen allen Vorurteilen und Behauptungen äußerst liebenswerte und nette Bewohner*innen des Waldes. Und die Wildschweine sind so sensibel, dass sie bereits merken, wenn wir auch nur einen Fuß in den Wald setzen, denn an uns haftet der Duft nach Aktenordnern und Abgasen: Eau de Civilisation. Und davon sind Wildschweine besonders am Tage recht wenig begeistert und halten sich von uns fern. Fuchsbandwurmerkrankungen stehen nach bisherigen Erkenntnissen in keinem Zusammenhang mit dem Sammeln von Beeren, Kräutern und Pilzen.1 Oder, um es anders zu sagen: Wer Angst vor dem Fuchsbandwurm hat, sollte auch Angst vor Erdbeeren haben. Denn der Fuchs, der im Begriff ist, ein Geschäft zu verrichten, macht auch nicht vor dem Erdbeerfeld der Landwirt*innen halt, die unseren nächsten Supermarkt beliefern. Und die Eier dieser Bandwürmer lassen sich nur durch Erhitzen mit über 70 °C loswerden. Paradoxerweise wird selten zum Garen von Erdbeeren geraten, während allen, die Blaubeeren im Wald essen möchten, die Sorge vor dem Fuchsbandwurm eingebläut wird.
Jetzt kann es aber wirklich losgehen. Sowohl äußerlich als auch innerlich sind wir jetzt bestens vorbereitet für das Abenteuer Wildnis. Es sei denn …
Was?
Nun ja, eine kleine Information am Rande: Aus kleinen Reisen in die Natur können mit der Zeit intensive Verschmelzungen mit dieser werden. Es kann also passieren, dass Reisende ihr Leben radikal transformieren und Dinge tun, die sie zuvor nicht für möglich gehalten haben: ihren Job kündigen, ihre Ernährung auf den Kopf stellen, den Wohnort wechseln, sich komplett neu erfinden und vieles mehr. Die Autor*innen dieser und der nachfolgenden Zeilen übernehmen keine Haftung für das ungewöhnliche Verhalten der Reisenden im Zusammenhang mit ihrer Wiederentdeckung der Natur.
Zeit für die ersten Schritte. Was für unsere Vorfahr*innen vor Tausenden von Jahren die normalste Sache der Welt war, kann sich für uns Papiertiger ganz schön schwierig gestalten. Die Natur in ihrer Wildheit zu erleben, ist für viele von uns so, als würde ein Fisch versuchen, ein Lagerfeuer zu machen. Gar nicht so einfach und womöglich sogar das erste Mal. Da wir es in den letzten Jahrhunderten geschafft haben, unsere Verbindung zu Mutter Natur aus den Augen zu verlieren, ist es für uns schwierig, den Draht zu unserem Ursprung zu finden. Darum lassen wir die Vergangenheit besser hinter uns und schauen frohen Mutes nach vorne. Vorwärtsschauen ist ohnehin von äußerster Wichtigkeit für die ersten Schritte, denn in der wilden Natur gibt es keine durch Pflastersteine begradigten Wege. Darum lassen wir das Grübeln fürs Erste lieber sein und besinnen uns auf unsere Schritte im Hier und Jetzt. Ob wir eleganten Schrittes in die Zukunft schreiten oder eher stolpern, hängt von der Ausrichtung unseres Bewusstseins ab.
Für die ersten Schritte suchen wir uns am besten ein nahe gelegenes natürliches Areal wie einen Wald und legen los. Denn was sich zwischen den Fugen vor unserer Haustür zaghaft ankündigt, entfaltet sich im Wald zur vollen Dröhnung: Pflanzen, Pilze, Flechten, Moose, Tiere und vieles mehr. Fraktale Formen, so weit das Auge reicht. Das kann unser Gehirn erst mal ganz schön überfordern, ist es doch aus der Zivilisation an gerade Kanten, Rechtecke und glatte Oberflächen gewöhnt. Gleichzeitig ist es durch einen Lebensstil, welcher auf regelmäßige Dopaminkicks setzt, völlig überstimuliert. Durch die nun eintretende Überforderung und den Entzug an Dopamintriggern schaltet unser Gehirn erst einmal auf Sparflamme. Irgendwie sieht hier draußen auf den ersten Blick alles relativ gleich aus, und es unterscheidet sich wenig voneinander. Baum mit Blättern, Baum mit Nadeln, Pflanze, Pilz, Vogel. So in der Art blicken wir in diese sich vor uns auftuende Welt. Die unglaubliche Artenvielfalt lässt sich zunächst gar nicht erfassen, und so scheint es, als wäre sie gar nicht da. Aber das ist nicht weiter schlimm, denn je mehr Reisen wir in die Natur unternehmen, desto besser wird sich unser armes Gehirn akklimatisieren und sein wahres Potenzial entfalten.
Beim Betreten des Waldes empfiehlt es sich zunächst einmal, den Wald zur Begrüßung in die Lunge einzusaugen. Keine Angst, die Bäume sind fest genug verwurzelt und bleiben sicher stehen. Also erst mal tief und langsam durchatmen. In einem Alltag, in dem wir uns vor Autoritäten wie Chef*innen wegducken, der einzige Sport der morgendliche Sprint zur Arbeit ist und uns verschiedene Medien tagtäglich Angst und Hass verkaufen, ist unsere Atmung nämlich völlig aus dem Gleichgewicht gekommen. Das Resultat ist eine flache Atmung, die zu allem Übel auch noch Autoabgase und penetrant riechende Parfüms in unsere Lungen zieht. Im Wald haben wir die Chance, das alles loszulassen. Die Luft ist sauber und voller ätherischer Öle. Die beruhigen uns, verbessern unsere Stimmung, steigern die Vitalität und reinigen uns. Die Waldluft hat eine bessere Bioverfügbarkeit als eine Line Kokain, sie geht direkt ins Blut und wirkt sofort. Und das ganz ohne Nebenwirkungen. Der Duft der Natur ist höchst komplex. Rinden, Blätter, Nadeln, Blüten, Laub, Pilze, Gräser, Moose und viele mehr tun sich hier zusammen als die begnadetsten Parfümeure der Welt. Wer mal an einem warmen sonnigen Herbsttag durch einen Mischwald gelaufen ist, in dem sich der Duft von Anistrichterlingen mit dem Duft von Kiefernharz mischt, weiß, wovon hier die Rede ist. Nach den ersten Atemzügen können wir nun die Last der Zivilisation hinter uns lassen und uns auf die Suche nach unseren animalischen Wurzeln machen.
Auch die anderen Sinne werden im Wald in völlig neue Welten katapultiert. Endlich Ruhe. Aus akustischer Sicht spielt sich in der Natur etwas sehr Paradoxes ab. Betreten wir die Wälder und Wiesen, so werden wir zuerst von einer atemberaubenden Stille verzaubert. Je weiter entfernt das nächste Dorf oder die nächste Stadt ist, umso besser. Es scheint plötzlich, als wären keine Geräusche mehr da, als herrsche absolute Stille. Doch dann, wenn die Ohren sich so langsam auf die neue Umgebung eingestellt haben, wird plötzlich klar, dass es gar nicht so still ist, wie es zunächst schien. Denn in der weiten Natur spielt sich eine unglaubliche Symphonie ab. Ihr Orchester ist so groß, dass unser kleiner Verstand es kaum verarbeiten kann. Doch genau das ist das Magische an der Symphonie der Natur. Tausende Vögel singen ihre Lieder, der Wind rauscht durch die Blätter, das alte Laub tänzelt auf dem Boden, die Bäche plätschern, der Regen tropft sanft oder turbulent auf die Erde, die Grillen zirpen, und viele weitere Klänge mischen mit. Die Symphonie der Natur ist in permanentem Wandel, je nach Jahreszeit, Tageszeit und Wetter. In ihr klingen die ältesten aller Melodien, da sie schon seit Anbeginn dieses Planeten existiert. Damals klang die Musik noch wesentlich bedrohlicher als heute und war vor allem von wilden Elementen wie Wind, Feuer und Wasser geprägt. Mittlerweile ist die Symphonie etwas lieblicher geworden, da sich verschiedene Lebewesen hinzugesellt haben. Ist das nicht faszinierend? Ein Musikstück, das schon seit der Entstehung der Erde ohne Unterbrechung gespielt wird. Und das Beste ist: Wir können dem Stück jederzeit lauschen, und es wird immer anders klingen. Anders zu jeder Zeit, anders an jedem Ort.
Das Thema Orientierung ist für alle Neuankömmlinge in der Natur auch nicht immer einfach zu handhaben. In zivilisierten Gefilden gibt es überall Schilder und markante Gebäude, die uns genau mitteilen, wo wir gerade sind. In einem Wald gibt es diese Dinge in der Regel nicht. Doch dafür gibt es dort, sofern es auch ein wirklicher Wald und keine intensiv bewirtschaftete Baumplantage ist, zum Teil monumentale Bäume, die sich mit ihrer majestätischen Schönheit tief im Bewusstsein verwurzeln. Bäume, die unsere kurze menschliche Lebensspanne um Jahrhunderte überdauern und vor Weisheit förmlich strahlen. Wenn wir einem solchen Baum begegnen, vergessen wir ihn nicht. Je mehr wir uns in der Natur aufhalten, umso besser wird unser Orientierungssinn werden. »An der alten Buche rechts, dann bis zur knorrigen Eiche, dort links abbiegen und dann bis zur Hainbuche gehen.« Solche Wegbeschreibungen können anfangs befremdlich sein, werden jedoch irgendwann ganz selbstverständlich und natürlich. Denn irgendwo, in den tiefsten Schubladen unseres Bewusstseins, schleicht der Orientierungssinn der Jäger*innen und Sammler*innen nach wie vor umher. Bei den ersten Schritten in den Wald ist es noch schwer, aber mit der Zeit werden wir unseren Weg finden. Und wer weiß, vielleicht hilft uns ein besserer Orientierungssinn ja auch im Alltag, zu uns selbst zu finden und so fröhlich pfeifend durch Sinnkrisen zu wandern, als wären sie ein lockerer Waldspaziergang.
Ein Pilz, der übrigens immer den Überblick behält und somit nie die Orientierung verliert, ist der Rotrandige Baumschwamm. Er lebt oft in toten, noch stehenden Bäumen und bildet dort seine steinharten Fruchtkörper aus – auch bekannt als »Baumpilze«. Die Poren befinden sich auf der Unterseite der Fruchtkörper, sodass die Sporen in Richtung Boden fallen. Fällt der Baum nun um, merkt der Pilz, dass seine Fruchtkörper nicht mehr horizontal ausgerichtet sind, und sorgt dafür, dass neu gebildete Poren erneut in Richtung Erdboden zeigen und nicht zur Seite. Porlinge wie der Rotrandige Baumschwamm haben also ganz erfolgreich ihr Seepferdchen in Schwerkraft gemacht, und dafür sollten wir ihnen auch mal gratulieren. Glückwunsch, ihr wilden Gravitropisten!
Ja, beim Betreten des Waldes geht es ganz schön rund für die Sinne. Da empfiehlt es sich, einen Gang runterzuschalten. Denn wer ungeübt mit dem hektischen Schritt des Alltags in den Wald rennt, wird relativ schnell seine*ihre Kauleisten mit dem Wurzelwerk des Bodens verschmelzen. Das langsame Laufen ist jedoch nur ein erster Tipp, um gut anzukommen. Denn fortgeschrittene Reisende erkunden den Wald mit dem eleganten Tritt eines Rehs. Dynamisch, progressiv, fast unhörbar und zuweilen tänzerisch. Wenn das keine guten Nachrichten sind. Erst noch mal neu laufen lernen, um eines Tages wie ein Reh zu werden!
Anekdote »Erster Pilz«
Dies ist die Geschichte, wie ein ganz gewöhnlicher Röhrling unser Leben für immer veränderte. Es war vor vielen Jahren in einem trockenen August. Wir wanderten durch einen alten Fichtenforst im Schwarzwald und dachten uns nichts Besonderes dabei. Der Boden war hart wie Beton und bestaubte unsere Schuhe. An einer Stelle unter besonders alten Bäumen schaffte es der Sonnenschein durchs Gehölz auf den Boden. Da ereignete sich der schicksalsträchtige Moment: Die Sonne beschien nicht einfach nur die nackte Erde, sondern beleuchtete den samtig braunen Hut eines Pilzes. Neugierig näherten wir uns dem fremdartigen Geschöpf. Irgendetwas war besonders an ihm. Vielleicht ahnten wir schon, dass diesem Pilz ein Zauber innewohnte. Um ihn näher zu betrachten, entnahmen wir ihn ehrfürchtig aus der Erde und waren verblüfft, was sich uns offenbarte. Ein Farbenspiel, das wir uns von einem Pilz so nie erträumt hätten. Der Hut war von unten nicht braun wie von oben, sondern hatte einen leuchtend roten Schwamm. Der Stiel hingegen war in einem satten Gelb gehalten, auf dem sich rote Sprenkel wiederfanden. An den Stellen, an denen wir den Pilz berührt hatten, verfärbte er sich nach wenigen Momenten tiefblau. Ob der Pilz uns wohl mit dieser Farbe warnen wollte?
Obwohl wir immer gedacht hatten, wir lieben die Natur, realisierten wir in diesem Moment, wie wenig wir über diese wussten. Wir blickten uns um, und die Natur blickte aus tausend unbekannten Augen auf uns zurück. Waren die Fichten hier wirklich Fichten oder vielleicht auch Tannen? Wir wussten es einfach nicht und beschlossen, uns kundig zu machen. Unsere erste Recherche galt dem magischen Pilz, den wir gefunden hatten. Es war ein Flockenstieliger Hexenröhrling. Zu unserer Überraschung war er sogar essbar, nein, viel besser, er war sogar ein Hochgenuss. Sein Zauber war erfolgreich auf uns übergesprungen. Wie verhext veränderte sich unser Blick in die Welt von diesem Tage an mehr und mehr. Wir lernten die Geschöpfe der Natur kennen und lernen immer noch. All das verdanken wir der Hexe mit dem braunen Filzhut.
Im letzten Kapitel deutete es sich bereits an: Unsere Sinne haben ganz schön zu tun, in der Natur einfach mal klarzukommen. Aber wenn sie das dann auf die Reihe kriegen, rollt ein noch viel größeres Ungeheuer auf uns zu: der Kulturschock. Wenn manche unserer humanoiden Mitbewohner*innen Reisen zu fernen Orten unternehmen, kommen sie des Öfteren mit theatralischen Reiseberichten wieder. »Die« sind da ja so anders, »die« verrichten ihr Geschäft gar nicht in eine Sitztoilette, sondern in ein Loch im Boden, und »die« essen ganz andere Sachen, als es »bei uns« gibt, und überhaupt, der Kulturschock war ja so hart, viel schlimmer noch als der Jetlag, für einen Urlaub sei es ja mal ganz nett, »aber ich könnte ›so‹ ja nicht leben!«. Doch diese kleinen kulturellen Unterschiede sind nichts gegen die, die in der Wildnis auf uns warten. Denn während es in anderen Ländern ja auch immer zivilisiert zugeht, nur eben mit etwas anderen Alltagsgewohnheiten, gibt es in der Wildnis keine Zivilisation! Die Toiletten müssen erst gegraben werden, und das Buffet ist zum Teil auch giftig.
»Was? Keine Zivilisation? Da müssen wir doch was machen! Los, schickt Kreuzritter*innen, schickt die Soldat*innen des gesunden Menschenverstandes. Ein Ort ohne Zivilisation auf diesem Planeten, das kann ja wohl nicht wahr sein!?« So oder so ähnlich könnten jetzt manche erzürnten Mitmenschen ausrufen. Doch auch sie werden merken: Der Kulturschock kann überwunden werden, und eine Reise in Gebiete ohne Zivilisation kann weiterbilden und bereichern. Denn in der wilden Natur ist vieles anders: Schonungslos sind wir dort ihren Kräften ausgesetzt, und auch unsere vorher schon angesprochene Neo-Multiversum-Giga-Protect5000-Jacke kann uns nicht vor allem schützen. Einen todbringenden Biss in einen Grünen Knollenblätterpilz kann auch sie nicht verhindern. Doch keine Sorge: Wer dem Kulturschock mit Offenheit und Faszination begegnet und nicht mit Abwehr, wird herzlich empfangen. Ganz genau wie auch an anderen Orten.
Die meisten Kulturschocks in der Natur sind unserer Entkoppelung von ihr geschuldet. Nehmen wir ein Beispiel: Löwenzahn. Falls dieses Wort jetzt den Ohrwurm der Titelmelodie der gleichnamigen Fernsehsendung getriggert hat: Gern geschehen! Doch um die soll es jetzt gar nicht gehen. Wer an die industriell verarbeiteten Lebensmittel gewöhnt ist, die vor allem aus Fett, Zucker, Salz und Weißmehl bestehen, hat irgendwann sehr verweichlichte Geschmacksnerven. Selbst das Obst, das wir zu kaufen kriegen, ist dermaßen auf einen möglichst hohen Zuckergehalt gezüchtet, dass es unseren Geschmacksnerven nicht viel zu bieten hat. Wenn wir dann mal auf einer wilden Wiese ein Blättchen Löwenzahn zu uns nehmen, fällt uns direkt eines auf: Eine unglaubliche Bitterkeit breitet sich in unserem Mund aus. Das kann uns ganz schön die Schuhe ausziehen, wenn wir schon seit Jahren keine gute Portion Bitterstoffe mehr zu uns genommen haben. Was aber den Löwenzahn so bitter macht, ist Balsam für unsere Innereien, insbesondere für Galle und Leber. Die beiden feiern dann, als wäre Lebus, der heilige Wanderprediger der Leber, wiederauferstanden. Der bittere Löwenzahn ist damit ein Paradebeispiel für den typischen Kulturschock. So mancher menschliche Grünschnabel verzieht schon beim Anknabbern das Gesicht und macht ein gewaltiges Drama draus. In großen Worten und Gesten wird dann der Qual angesichts des bitteren Geschmackes Ausdruck verliehen. Dabei ist der Löwenzahn eigentlich wie eben angesprochen sehr gut für uns. So ist das mit sehr vielen Kulturschocks, denn nur weil sie uns zunächst mit etwas Ungewohntem überfallen, sind sie nicht automatisch schlecht. Im Gegenteil, der Bruch mit der Gewohnheit ist ein echt korrekter Segen. Aber zurück zum Löwenzahn. Beim ersten Blatt kann es durchaus zum großen Drama kommen. Eines von der Art, das Goethe unter Umständen schon mal neidisch gemacht hätte. Essen wir ein paar Tage später dann mal wieder ein Blättchen oder sogar zwei, ist es gar nicht mehr so schlimm. Und eines Tages passiert dann etwas ganz Unerwartetes: Die Liebe zum Löwenzahn erblüht, und die Pflanze schmeckt plötzlich lecker. Ein Tag ohne Löwenzahn ist dann wie ein Tag ohne Sinn.
So wie beim Löwenzahn werden sich viele Dinge verändern. Der Kulturschock kann sich auch außerhalb des Waldes ereignen, und zwar in der gewohnten Alltagsumgebung. Es kann passieren, dass uns dort, wo wir uns tagtäglich aufhalten, Dinge auffallen, die wir vorher noch nie bemerkt haben. Nehmen wir mal Pilze, die an Bäumen wachsen. Je mehr wir von ihnen kennenlernen, desto mehr werden wir sie auch wahrnehmen. Nicht nur im Wald, sondern auch andernorts, wo es Bäume gibt. Das Bewusstsein öffnet sich für Neues, was schon immer da war. Eines Tages laufen wir dann alten Bekannten aus dem Wald mitten in der Stadt über den Weg. Tapfer ist der Zunderschwamm, der an der vierspurigen Hauptverkehrsstraße seine Sporen durch die Lüfte wehen lässt. Ganz genauso wird es mit den Pflanzen sein. Der Giersch, der da eigentlich schon immer am Supermarktparkplatz wuchs, hat plötzlich ein Gesicht und eine Persönlichkeit.
Anekdote »Hexenei«
Zu einer Zeit, als wir noch nicht ganz grün hinter den Ohren waren und unsere Verschmelzung mit der Natur gerade erst in den Startlöchern stand, zogen wir aus, um zum ersten Male weiße Pilze zu sammeln, und zwar Champignons. Diese kannten wir bisher nur aus dem Supermarkt, und wir waren ganz erpicht darauf, sie in der freien Wildbahn zu ergattern. Wobei es sich bei unseren Zielobjekten genau genommen um Wiesenchampignons handelte, während die im Supermarkt gehandelten Pilze eine andere Art sind.
Da das Sammeln von weißen Pilzen eher etwas für fortgeschrittene Sammler*innen ist und wir noch nicht so lange im Geschäft waren, war dieses Ansinnen ziemlich gewagt. Wiese um Wiese ließen wir hinter uns, doch weit und breit keine Spur von Pilzen. Dafür wanderte ein bunter Mix aus Wildkräutern in unser en Sammelkorb und ein leuchtendes Rot in unsere Gesichter. Der Sonne sei Dank. Gegen Nachmittag wollten wir es aber auch einmal im schattigen Wald versuchen. Doch auch hier schien in Sachen Pilze nichts los zu sein.
Wir waren schon drauf und dran, heimzugehen, da sahen wir einen Kreis von kleinen, halb mit Erde bedeckten weißen Kuppeln am Wegesrand. »Champignons!«, dachten wir. Arglos und doch gierig streckten wir unsere Finger aus. Doch kaum berührten unsere Fingerkuppen die potenziellen Champignons, oh Schreck, da zuckten unsere Hände auch schon zurück. Was war das? Wo wir auf den festen Widerstand knackiger Pilzhüte zu treffen gehofft hatten, spürten wir, wie die Gebilde unter ihrer weißen Haut nachgaben. Bei näherem Hinsehen stellten wir dann zudem fest, dass es sich bei den Kuppeln nicht um Pilze handelte, sondern um eiförmige Kugeln, die halb in der Erde vergraben waren. Mit Entsetzen sahen wir zu, wie aus einem der Eier eine transparente, gelartige Masse austrat. Konnte es sich hier womöglich um Schlangeneier handeln, und wenn ja, wo war die Mutter? Oder hatten wir gerade die Brut einer außerirdischen Lebensform entdeckt? Das war erst einmal zu viel für uns und der richtige Zeitpunkt, einen Schritt zurück zu machen. Wir atmeten durch und stellten uns dann der Situation.
Unter Zuhilfenahme verschiedenster Beschreibungen für die glibberigen Dinger zogen wir das Internet zurate. Zu unserer Erleichterung hatten wir mit unseren unwissenden Fingern nicht das Gelege eines seltenen Tieres betatscht, sondern waren in Berührung mit Hexeneiern gekommen. Ganz stinknormale Hexeneier, wie man sie in jedem gut sortierten Wald bisweilen finden kann. Nun waren wir auch bereit, uns mit dem Innenleben dieses Eis zu befassen, und zückten ein Messer, um einen Querschnitt zu machen. Wie wir bereits bei der ersten Berührung geahnt hatten, befand sich unter der ersten weißen Haut eine glibberige Masse. Doch das war nicht alles. In der geleeartigen Substanz befand sich ein zweites Ei, das auch in eine weiße Haut gekleidet war. Dieses innere Ei zeichnete sich wiederum durch eine feste, hirnartig marmorierte Erscheinung aus, die eine weitere weiße eiförmige Struktur enthielt. Was klingt wie eine Matrjoschka aus Alieneiern, war in Wirklichkeit das Jungstadium einer Stinkmorchel.
Nun waren der Kulturschock überwunden und unsere Neugier entflammt. Zu unserer Überraschung stellten wir fest, dass die festeren Bestandteile des Hexeneis eine Delikatesse sind. Noch mehr staunten wir darüber, wozu die gallertartige Masse verwendet werden konnte: als Feuchtigkeitsgel für die Haut. Und so kam es, dass wir nur kurze Zeit, nachdem uns die Fremdartigkeit dieses Pilzes hatte erschaudern lassen, auf dem Waldboden saßen und uns das kühlende Gelee eines Hexeneis in unsere sonnenverbrannten Gesichter schmierten.