Der Autor

Paul Brannigan – Foto © privat

Paul Brannigan ist Autor und Musikjournalist, u.a. bei KERRANG!, und hat eine Biographie über Dave Grohl ("This Is A Call: The Life And Times Of Dave Grohl"), einem Sunday Times Bestseller sowie für Faber & Faber die zweibändige Biographie "Birth, School, Metallica, Death" geschrieben.

Das Buch

Der Musikjournalist Paul Brannigan, der Zugang zu allen Bandmitgliedern und zum engsten Kreis von Eddie van Halens Familie hatte, zeichnet  erstmals das spannende wie atemlose Auf und Ab des Musikers nach. Eine faszinierende Reise in die wilden Hard-Rock-Zeiten der siebziger und achtziger Jahre – und das bestechende Portrait eines Ausnahmemusikers, dem es gelang, mit einem Paukenschlag die Welt des Rock ‘n Roll zu revolutionieren.

Paul Brannigan

Eddie van Halen

Ein Leben

Aus dem Englischen
von Dieter Fuchs, Harriet Fricke und Stephan Glietsch

Ullstein

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www.ullstein.de

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
Eruption. The Eddie Van Halen Story bei Faber & Faber Limited,
London.

Ullstein extra ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

© 2021 der deutschen Ausgabe:
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© 2021 by Paul Brannigan
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: GettyImages / Fin Costello / Staff
nach einer Vorlage von Faber
Autorenfoto: Privatarchiv Paul Brannigan
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ISBN 9783843725842

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Intro

Eddie Van Halen war viel zu sehr in die Musik vertieft, um die Rufe seiner Frau zu hören. Er hockte auf dem Fußboden des Wohnzimmers und hämmerte das Keyboard-Riff, das er seit fast zwei Jahren im Kopf hatte, immer wieder in den Synthesizer. Erst als er sich die Demoaufnahme der fanfarenartigen Akkordfolge, die man heute auf Anhieb als Intro zur ultimativen Band-Hymne »Jump« erkennt, noch einmal anhörte, nahm Eddie die verzweifelten »Ruhe!«-Schreie aus dem Schlafzimmer wahr.

»Ruhe!«, »Halt die Klappe!«, »Sei still!« – diese und ähnliche Aufforderungen hatte er in seinen ersten Monaten in Amerika ständig gehört – von tyrannischen Lehrern, fremdenfeindlichen Mitschülern und den erschöpften, heimwehkranken Eltern der drei Familien, die sich die kleine Wohnung im Los-Angeles-Vorort Pasadena teilten. Sie hatten dafür gesorgt, dass sich der ehemals unbekümmerte, selbstbewusste niederländische Junge ins Reich der Fantasie zurückzog. Erst als er den Rock’n’Roll und das befreiende Potenzial einer verzerrten E-Gitarre für sich entdeckte, fand der junge Eddie Van Halen eine Möglichkeit, sich auszudrücken und die Welt um sich herum neu zu erfinden. Dieser Prozess setzte kurz nach Erreichen seiner Volljährigkeit ein, als er, unzufrieden mit den massenproduzierten »klassischen« Gitarren, die in der Vorgängergeneration den Rock’n’Roll demokratisiert hatten, ein Hybrid-Instrument mit dem sprechenden Namen »Frankenstrat« baute.


Für diese Klampfenkreuzung schuf er ein völlig neues Vokabular, während er gemeinsam mit seinem älteren Bruder Alex und der Band, die den Familiennamen der beiden trug, seine musikalische Lebensreise antrat. Doch die »Halt die Klappe!«-Rufe verfolgten ihn auch in der gesamten Anfangszeit seiner Karriere – sie kamen von Club-Besitzern, die ihre Gäste mit Popmusik einlullen wollten, oder von Cops, die die völlig überfüllten Gartenpartys sprengten, bei denen Van Halen jedes Wochenende vor Hunderten von Highschool-Schülern auftraten, und immer häufiger auch von dem rampenlichtsüchtigen Sänger an seiner Seite. Doch der Gitarrist wollte nicht länger die Klappe halten.

Als im Februar 1978 Van Halens atemberaubendes, bandbetiteltes Debütalbum erschien, änderte das den Lauf der Rock’n’Roll-Geschichte. Wie die Debüts der Jimi Hendrix Experience, von Led Zeppelin, Black Sabbath, den Ramones, Public Enemy und N. W. A schuf auch Van Halen eine frische, originelle Blaupause für Musik mit Haltung.

Um eins klarzustellen: Obwohl Van Halen in der Zeit von Disco und New Wave das Licht der Welt erblickte, kann man das Album kaum als »Rettung« von Hardrock und Heavy Metal bezeichnen – kein einziger Rockfan, der sich 1978 Powerage oder Live and Dangerous oder Stained Class oder Hemispheres oder Tokyo Tapes anhörte, hielt das Genre für tot, und auch die aufkeimende New Wave of British Heavy Metal, die innerhalb von fünf Jahren Bands wie Iron Maiden und Def Leppard in die amerikanischen Stadien katapultierte, hatte sich nichts bei den Partyrockern aus Pasadena abgeschaut. Aber Eddies innovative, höllenschnelle Spieltechnik entfachte ganz sicher ein neues Feuer unter dem Genrekessel des harten Rock. Und mit »Eruption«, seinem sensationellen 102-Sekunden-Supersolo, bei dem er lasergesteuerte Hammer-ons und Pull-offs, neoklassische Triolen in Überschallgeschwindigkeit, beidhändige Legato-Tappings und fallbeilhafte Einsätze des Vibratohebels miteinander verband, setzte der Dreiundzwanzigjährige die Zeitrechnung für alle anderen Gitarristen auf null zurück. Jeder, der das Solo hörte, stellte sich zwei Fragen: »Scheiße, wie macht der das bloß?« und »Wie kriege ich das auch hin?«. »Eruption« war nicht nur das sensationellste Instrumentalstück, seit Jimi Hendrix in Woodstock das »Star Spangled Banner« zerlegt hatte, es markierte einen Wendepunkt in der Geschichte des Hardrock, der sich fortan in die Phasen »Vor EVH« und »Nach EVH« aufteilen ließ. Es brachte eine ganze Generation von weniger talentierten Technik-Epigonen hervor, aber auch eine neue Subkultur von »alternativen« Gitarrenhelden, die – eingeschüchtert durch Eddies Virtuosität – einen eigenen, eher durch Individualität als technische Versiertheit geprägten Stil verfolgten. Eddie hatte natürlich ebenfalls Vorbilder wie den frühen Eric Clapton, Alvin Lee, Jimmy Page, Pete Townshend, Jeff Beck, Allan Holdsworth und etliche andere. Doch um seine Geisteshaltung und den Modus Operandi, die den Umgang mit seinem Instrument bestimmten, besser verstehen zu können, sollte man ihn gar nicht so sehr in die Nähe des britischen Rockadels rücken, sondern vielmehr mit den kalifornischen Z-Boys-Skateboardern vergleichen, die Mitte der 1970er für Furore sorgten: Tony Alva, Jay Adams, Stacy Peralta, Peggy Oki – furchtlose, tollkühne Athleten, die immer darauf aus waren, Grenzen auszuloten und zu überschreiten. Was für Tony Alva das Holzbrett mit den Polyurethan-Rollen war, das war für Eddie ein Stück Holz mit Metallsaiten – sobald er es in den Händen hielt, stellte sich bei ihm ein Gefühl von absoluter Schwerelosigkeit ein, und er war nicht mehr zu kontrollieren, nicht mehr zu stoppen. Und so wie die Z-Boys sich mit ihren Brettern in leere Schwimmbecken stürzten, sprang auch Eddie bei seinen Gitarrensolos ins Unbekannte, ohne jede Furcht oder einen Gedanken daran, wo und ob er überhaupt landen würde. Die Landschaft, die sich mit all ihren Unebenheiten vor ihm ausbreitete, betrachtete er genau wie die Skateboarder als einen Raum, in dem er sich frei ausdrücken konnte, und was andere als Hindernis empfanden, sah er als Chance. »Edward ist ein Abenteurer«, bemerkte David Lee Roth einmal. »Er springt mit dem Kopf zuerst in den Pool. Ob überhaupt Wasser drin ist, sehen wir später.«

Ich habe Eddie Van Halen nur einmal getroffen, im Frühjahr 1998, in seinem 5150-Studio, das er auf seinem Anwesen in Los Angeles eingerichtet hatte. Der Empfangsraum des Studios sah mit dem doppelsitzigen SEGA-Daytona Racing-Videospielautomaten, dem Twister-Flipper, dem Asteroids-Spielautomaten, dem großen Fernseher und den Regalen voller Videokassetten und CDs im Grunde genau so aus, wie sich ein Teenager das ideale Zuhause eines Erwachsenen vorstellen würde. Doch in der Küche hing ein Foto von dem Haus, in dem Eddie und Alex im niederländischen Nijmegen ihre Kindheit verbracht hatten, gleich neben einer riesigen Hochglanz-Auszeichnung, die die Band der beiden Männer von der Recording Industry Association of America für den Verkauf von 60 Millionen Tonträgern in den USA erhalten hatte – ein beeindruckender Beweis, wie weit es die Jungs von Jan und Eugenia van Halen in der Wahlheimat der Familie gebracht hatten.

Der Besitzer des Studios hätte nicht gastfreundlicher sein können; er versorgte mich erst mal mit einem alkoholfreien Bier, bevor er sich auf der schwarzen Couch neben den neuen Sänger der Band, den ehemaligen Extreme-Frontmann Gary Cherone, setzte, um über Van Halens dritte Inkarnation und das am St. Patrick’s Day veröffentlichte elfte Studioalbum des Quartetts, Van Halen III, zu reden. Beim Gespräch schwärmte er von seinem sechsjährigen Sohn Wolfie, mit dem er am Strand gern nach schönen Steinen suchte, um daraus Plektren zu basteln, und erwähnte auch, wie sehr er es bedauerte, wegen seines Jobs so oft von seiner Frau, der Schauspielerin Valerie Bertinelli, getrennt zu sein. Als er berichtete, dass er sich dringend ein künstliches Hüftgelenk einsetzen lassen müsse und vor Kurzem bei einer Prostata-Untersuchung gewesen sei, fügte er lapidar hinzu: »Ich bin eben auch nur so ein alter Sack wie alle anderen.« Doch als er eine seiner Signature-Gitarren in die Hand nahm und das Riff aus »Drop Dead Legs« tappte, da waren die vergangenen fünfzehn Jahre plötzlich aus seinem Gesicht verschwunden. Und in der darauffolgenden Stunde, in der er Anekdoten aus seinen fünfundzwanzig Jahren im Rock’n’Roll-Business zum Besten gab, legte er die Gitarre nicht ein einziges Mal beiseite. Sie sang, brüllte, kreischte, knurrte, spuckte und schien manchmal sogar laut zu lachen, wenn auch Eddie grinste oder lachte, weil er es offenbar selbst kaum fassen konnte, dass er ihr diese Töne entlockte. Da er Journalisten gegenüber immer misstrauisch war – »Niemand versteht wirklich, was ich sagen möchte«, beschwerte er sich einmal bei Jas Obrecht vom Guitar Player, einem seiner wenigen Vertrauten und gleichzeitig derjenige, dem er 1978 sein erstes großes Interview gegeben hatte –, legte er sein eigenes Diktiergerät vor dem Interview neben meins auf den Tisch. Erst Jahre später, nachdem ich mehr über seine Arbeitsweise gelesen hatte, verstand ich, dass er sein Tonband nicht etwa eingeschaltet hatte, weil er sichergehen wollte, dass er später nicht falsch in einer Zeitschrift zitiert wurde, die er ohnehin niemals lesen würde – er hatte vielmehr die Riffs und Melodien festhalten wollen, die ihm während des Redens unbewusst aus den Fingern flossen, um hinterher zu prüfen, ob darin nicht ein kleines Juwel versteckt war. In einem Gespräch, das er 2015 mit dem amerikanischen Schriftsteller und erklärten Van-Halen-Fan Chuck Klosterman für Billboard führte, gestand Eddie, dass er sich nicht daran erinnern konnte, wie er auf die ikonischen Riffs der größten Hits seiner Band gekommen war, weil er die meisten davon betrunken oder auf Kokain geschrieben hatte. Als er mir anvertraute, dass er mit seinem exzessiven Alkoholkonsum in der Vergangenheit wohl nur die Tatsache überspielen wollte, dass er sich selbst als den »unsichersten Scheißkerl, der dir jemals über den Weg laufen wird«, empfand, fragte ich mich fast zwangsläufig, ob seine Methode, den kreativen Prozess mit Alkohol in Gang zu setzen, vielleicht über die Jahre zu einem lähmenden Hochstaplersyndrom geführt hatte. Van Halen III war, wie er stolz erklärte, das erste Album, das er völlig nüchtern geschrieben hatte. Doch leider war es auch das schlechteste Album, das je unter dem Namen Van Halen veröffentlicht wurde. Und obwohl Eddie an jenem Nachmittag verkündete, »bis zu meinem Tod Musik machen« zu wollen, veröffentlichte er in seinen verbleibenden zweiundzwanzig Lebensjahren kein einziges Album mit neuen Songs; auch Van Halens letztes Album A Different Kind of Truth aus dem Jahr 2012 beinhaltet hauptsächlich bis dahin unveröffentlichte, überarbeitete Demosongs aus den Jahren 1974 bis 1977. In ruhigen Momenten muss die Schmach schwer am Selbstbewusstsein des Maestros genagt haben. »Es gibt einen alten russischen Spruch: Der Bauch dieses Mannes hat keine einzige Falte mehr«, erzählte David Lee Roth im Jahr 2012 bei der Veröffentlichung von A Different Kind of Truth der L. A. Times. »Es bedeutet, dass der Mann alt und fett geworden ist. Eddies Bauch hat noch jede Menge Falten.«

Als Eddie Van Halen am 6. Oktober 2020 im Alter von fünfundsechzig Jahren starb, brachten etliche Musikerkollegen ihre Trauer zum Ausdruck, einige bezeichneten Eddie rückblickend gar als den »Mozart der Gitarre«. »Er war einer der Größten«, sagte Jimmy Page von Led Zeppelin. »Er war der Wegbereiter einer atemberaubenden Gitarrentechnik und spielte mit so viel Gefühl und Verve, dass er für seine Nachahmer immer unerreichbar blieb.« »Eddie war ein Gitarrenwunder, sein Spiel die reinste Hexerei«, sagte Angus Young von AC/DC. »Für die Musikwelt war er ein besonderes Geschenk.«

Brian May von Queen würdigte den verstorbenen Freund als »den vielleicht originellsten und atemberaubendsten Rockgitarristen der Geschichte«. Pete Townshend von The Who – auch er ein Freund – nannte Eddie schlicht »den großen amerikanischen Gitarristen«.

Als ich im Frühjahr 2021, ein halbes Jahr nach Eddies Tod, diesem Buch den letzten Schliff verpasste, grub ich das alte Kerrang!-Heft aus dem Jahr 1998 noch einmal aus, in dem mein Interview mit dem Gitarristen abgedruckt worden war. Der letzte Absatz des Artikels schien nach dem Tod des Helden noch an Würde und Gewicht hinzugewonnen zu haben.

»Musik ist kein Wettbewerb«, sagte er, »und wenn ich mal nicht mehr bin, dann wird etwas von mir hoffentlich bei den Menschen bleiben und sie berühren. Egal, ob es am Ende zehn Millionen oder nur zehn Menschen sein werden. Das ist die Mission, die ich hier zu erfüllen hab.«

In dem Artikel schrieb ich, dass Eddie, wie er selbst zugab, nie versucht hatte, neue Musiktrends zu verfolgen. Er erzählte mir, dass er sich zuletzt Bob Dylans dreißigstes Studioalbum Time Out of Mind von 1997 angehört hatte, die CD aber immer beim dritten Song hängen geblieben war. Aus reiner Neugier schaute ich jetzt nach und stellte fest, dass es sich bei dem Stück um »Standing in the Doorway« handelte, und hörte es mir ebenfalls an. Im Text geht es ums Älterwerden, um vergangene Zeiten, erzählt wird aus der Perspektive eines etwas in die Jahre gekommenen Mannes, der eine »cheap cigar« raucht, seine »gay guitar« spielt und erkennt, dass er die Geister der Vergangenheit, an die er sich kaum noch erinnert, schon bald wiedertreffen wird. Dann singt Dylan: »When the last rays of daylight go down, buddy, you’re old no more«.

Ein überaus passendes Klagelied für Eddie Van Halen, diesen Künstler, der im kollektiven Gedächtnis bis in alle Ewigkeit lächelnd auf einer Bühne stehen und staunend den Sounds seiner selbst gebauten Gitarre lauschen wird, der Peter Pan des Hardrock, ein freier Geist, der nie erwachsen wurde, aber gelernt hat, zu fliegen.

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Little Dreamer

Den Marketingexperten der Holland-America Line war es gelungen, den Passagieren ein Gefühl für den Gleichheitsgedanken des amerikanischen Traums zu vermitteln, bevor diese überhaupt an Bord eines der Flaggschiffe der Reederei in Richtung Neue Welt gingen. Wer eine Fahrkarte für die Touristenklasse der SS Ryndam besaß, durfte sich laut Werbung darauf freuen, während der Atlantikpassage Zugang zu allen Annehmlichkeiten des Schiffes zu erhalten – zu dem Palmensaal auf dem Promenadendeck, dem Casino, der Bibliothek, der American Bar, dem Raucherzimmer und dem Kinderspielzimmer. Niemand musste sich, wie bei anderen Reedereien üblich, mit den spartanisch eingerichteten Räumlichkeiten unter Deck zufriedengeben. Für die europäischen Emigranten, die in den 1950er- und 1960er-Jahren nach New York aufbrachen – diese »geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren«, wie die poetische Inschrift der Freiheitsstatue besagt –, repräsentierte das Schiff das goldene Tor in eine glänzende Zukunft.

In den frühen Morgenstunden des 1. März 1962 schlossen Jan van Halen, seine Frau Eugenia und die beiden Söhne Alex (8) und Edward (7) die Tür ihrer Wohnung in der Rozemarijnstraat 59 in Nijmegen für immer hinter sich und begaben sich zum Bahnhof der Stadt. Ihr Ziel waren der Hafen von Rotterdam, die SS Ryndam und schließlich die fernen Ufer Amerikas.

Ihr Gepäck bestand aus drei großen Koffern, fünfundsiebzig niederländischen Gulden und einem Klavier der Firma Rippen. Als langjähriger Profimusiker, mit einer besonderen Begabung für Klarinette und Saxofon, war Jan van Halen fast sein gesamtes Erwachsenenleben lang auf Achse gewesen, um als Mitglied angesehener Jazz- oder Swingbands und Orchester Menschen mit Musik zu erfreuen. Mit der Reise ins Ungewisse verband er jetzt die Hoffnung, seinen eigenen Traum von Glück zu verwirklichen.

Um seiner Familie die Überfahrt zu finanzieren, zog sich der zweiundvierzigjährige Musiker an jedem Abend der ersten Märzwoche 1962 seinen besten Anzug an, begab sich in den Speisesaal der Ersten Klasse und spielte mit der Schiffskapelle beliebte Standards, Ragtime-Stücke und Swing-Kompositionen als Untermalung für die gedämpften Gespräche und das zarte Schlagen von Silberbesteck an feinem Porzellan. An einem Abend bekamen sogar die Van-Halen-Jungs Gelegenheit, ihr Können auf dem Klavier unter Beweis zu stellen, und erfreuten das Publikum mit einer fehlerfreien Darbietung einiger europäischer Walzer. Der Kapitän war so angetan, dass er die Familie für das nächste Abendessen an seinen Tisch bat. Während die Kellner die jüngsten Ehrengäste der SS Ryndam kulinarisch versorgten, bestaunte Edward van Halen die Pracht des Speisesaals, zupfte dann seinen Vater am Ärmel und fragte schlicht: »Können wir nicht hier wohnen?«


»Ich muss schon sagen, mein Vater hatte echt Eier, dass er mit zweiundvierzig alles verkaufte, seine Koffer packte und auswanderte«, sagte Eddie Van Halen, als er sich 2015 an die Geschichte seiner Familie erinnerte. In Wahrheit hatte allerdings Eugenia van Halen die Entscheidung getroffen, ihre beiden Kinder Anfang der 1960er-Jahre aus den Niederlanden nach Amerika zu verpflanzen. Denn so selbstbewusst und stark ihr Mann auf andere auch wirken mochte, bei wichtigen Fragen hatte immer Eugenia das Sagen. Mit dieser Tatsache wurde Jan zeit seines Lebens gern von guten Freunden oder den beiden Söhnen aufgezogen.

Kennengelernt hatten sich Jan und Eugenia Ende der 1940er-Jahre in Jakarta, das damals noch zur Kolonie Niederländisch-Indien gehörte. Jan van Halen hatte ein sechswöchiges Engagement beim dortigen Radio-Orchester als Chance gesehen, die schmerzhaften Erinnerungen an die Kriegsjahre hinter sich zu lassen: Als Mitglied einer Marschkapelle war er von den deutschen Besatzern seines Heimatlands nicht selten mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen worden, Nazi-Propagandalieder zu spielen. Aus den geplanten sechs Wochen wurden am Ende sechs Jahre, denn van Halen verliebte sich in eine fünf Jahre ältere, aufgeweckte Büroangestellte. Die aus dem ländlichen Rangkasbitung stammende, kluge und besonnene Eugenia van Beers hatte zuerst Vorbehalte, eine Beziehung mit einem leichtsinnigen europäischen Musiker einzugehen. Doch Jan war witzig, charmant und aufmerksam, und so kam es, dass sich die beiden am 11. August 1950 in der indonesischen Hauptstadt das Jawort gaben.

Innenpolitische Umwälzungen in dem Inselstaat brachten aber schon bald viel Ungewissheit für die Zukunft des jungen Paares. Nach dreijähriger Besetzung durch japanische Truppen hatte Indonesien im August 1945, nur achtundvierzig Stunden nach der auf die verheerenden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki erfolgten bedingungslosen Kapitulation des japanischen Kaisers Hirohito, seine Unabhängigkeit erklärt. Doch erst nach einem vier Jahre währenden, erbitterten Guerilla-Krieg, der auf indonesischer Seite fast hundertfünfzigtausend und auf niederländischer Seite an die fünftausend Tote forderte, beugten sich die Niederlande dem internationalen Druck und übertrugen die Souveränität im Jahr 1949 an die indonesische Republik. Obwohl es noch acht Jahre dauern sollte, bis Präsident Sukarno sämtliche niederländischen Betriebe enteignete und vierzigtausend niederländische Bürger aus dem Land vertrieb, spürten Jan und Eugenia schon zu Beginn ihrer Ehe, dass sich der Wind langsam drehte. Die Entscheidung fiel: Sie würden nach Holland ziehen. Und so packten Jan und die hochschwangere Eugenia im Frühjahr 1953 ihre Koffer und begaben sich in Jans Geburtsstadt Amsterdam.

Der Neustart in Holland brachte neue Herausforderungen mit sich. Da die Big-Band-Ära zu Ende ging, gab es kaum noch Engagements für professionelle Jazzmusiker, und die wenigen Betätigungsmöglichkeiten führten Jan van Halen oft für Wochen, wenn nicht sogar Monate von zu Hause weg. Tatsächlich war er gerade unterwegs, als am 8. Mai 1953 der erste Sohn des Paares geboren wurde: Alexander Arthur van Halen. Und Jan war auch nicht zu Hause, als am 26. Januar 1955 der zweite Sohn Edward Lodewijk das Licht der Welt erblickte. Eugenia rieb ihrem Mann diese Versäumnisse bei ihren vielen Streitereien oft und gern unter die Nase.

Da Eugenias Frust über die mangelnde Unterstützung ihres unzuverlässigen Angetrauten wuchs, bestand sie kurz nach der Geburt des zweiten Kindes darauf, von Amsterdam nach Nijmegen, die älteste Stadt der Niederlande in der Provinz Gelderland, zu ziehen, wo Verwandte von Jan wohnten und angeboten hatten, der berufstätigen Mutter bei der Kindererziehung unter die Arme zu greifen. Von Geburt an waren Edward und Alex unzertrennlich, »wie eineiige Zwillinge«, erzählte der Jüngere später. Die Musik des Vaters lieferte den Soundtrack ihrer frühesten Kindheit. Übte Jan Klarinette, saßen die sonst sehr ausgelassenen Jungs ruhig in einer Ecke und lauschten gebannt; wenn schwere schwarze Schellackplatten aufgelegt wurden und das Haus unter dem martialischen Rhythmus eines Militärmarsches erzitterte, stampften die Jungs fröhlich durchs Wohnzimmer und schlugen den Beat auf Pfannen und Töpfen mit. An den Abenden, an denen Eugenia in einem ihrer Aushilfsjobs Nachtschicht hatte – sie sah nicht besonders europäisch aus, also hatte man ihr in den Niederlanden nirgends eine Festanstellung in einem Büro bieten wollen –, nahm Jan die Kinder zu seinen Konzerten mit. Vermutlich hoffte die Mutter, die Anwesenheit der Jungs würde ihren Mann davon abhalten, sich nach den Auftritten stundenlang zu betrinken. Tatsächlich trat der gewünschte Effekt, zu Eugenias wachsender Verärgerung, nicht ein. Vielmehr wurde das Trio dadurch noch enger zusammengeschweißt. Alex und Edward machte es Riesenspaß, ins Paralleluniversum der Musik einzutauchen, und sie reagierten mit Begeisterung auf die Künstlerfreunde ihres Vaters mit ihrer Laissez-faire-Einstellung gegenüber Disziplin, Vorschriften und Pflichten.

Auch wenn sie nie einen Hehl daraus machte, wie sehr ihr der nomadenhafte Lebensstil ihres Mannes missfiel, erkannte Eugenia schon früh, dass die Söhne die Liebe und Leidenschaft für die Musik vom Vater geerbt hatten, und nahm es widerwillig hin. Als Edward fünf und Alex sechs Jahre alt waren, schickte sie die Kinder zu Klavierstunden bei einem russischen Konzertpianisten, der in der Nachbarschaft wohnte. Der schon etwas ältere Maestro galt bei seinen Schülern als strenger Zuchtmeister – »Er schlug mir mit einem Lineal ins Gesicht, sobald ich einen Fehler machte«, erinnerte sich Eddie später –, wurde von Eugenia aber sehr geschätzt. »Wenn ihr in die Fußstapfen eures Vaters treten wollt, dann wenigstens anständig«, impfte sie den Jungs ein. Als Alex es einmal wagte, sich über das stundenlange Üben von Tonleitern zu beschweren, legte Eugenia seine Hände flach auf den Küchentisch und schlug ihm mit einem Holzlöffel auf die Finger. Diese Übung musste er nicht wiederholen.

»Ihr war es sehr wichtig, dass wir uns alle Möglichkeiten offenhielten«, erinnerte sich Alex.

»Sie hatte bei uns in der Familie die Hosen an«, sagte Eddie, der seine Mutter als »die Konservative« und seinen Vater als »den Hallodri« bezeichnete. »Gerne sage ich es nicht, aber ich glaube, mein Vater hätte nicht so viel getrunken, wenn sie anders gewesen wäre. Sie hatte ein Herz aus Gold, aber konnte auch – bitte nicht falsch verstehen – wie Hitler an einem schlechten Tag sein.«

Im Rückblick kann man Eugenias Frust leicht nachvollziehen. Eine halbe Weltreise von ihren Freunden und Verwandten entfernt und von den neuen Nachbarn wegen ihrer indonesischen Herkunft bestenfalls wie eine Bürgerin zweiter Klasse behandelt, musste sie quasi jeden Gelegenheitsjob annehmen, um zum bescheidenen Einkommen ihrer kleinen Familie beizutragen, und erhielt noch dazu von ihrem Musiker-Mann so gut wie keine Unterstützung. Nicht verwunderlich also, dass die Briefe ihrer in Kalifornien lebenden Verwandten, die in höchsten Tönen von Amerika schwärmten, in ihr schon bald den Wunsch nach einem Neuanfang weckten. Als sich immer deutlicher abzeichnete, dass sich die finanzielle Situation der Familie nicht sonderlich verbessern würde, schlug Eugenia ihrem Mann im Sommer 1961 vor, die Zelte in den Niederlanden abzubrechen und in die Vereinigten Staaten von Amerika auszuwandern. Doch so, wie Eugenia es vorbrachte, war das kein Vorschlag, sondern eine längst beschlossene Sache. Und nach zehn Jahren Ehe wusste Jan, dass er seiner Frau besser nicht widersprach.

Wie kein anderer Bundesstaat steht Kalifornien für die Verwirklichung des amerikanischen Traums. Das begann, wenn man so will, im März 1848, als die in San Francisco ansässige Zeitung The Californian von einem Goldfund im Sacramento-Tal berichtete. Im darauffolgenden Jahr brachen Zigtausende von US-Bürgern – ermuntert durch die »Go West, Young Man!«-Aufmacher der Zeitungen – nach Kalifornien auf, in der Hoffnung, dort eine goldene Zukunft zu finden, und lösten so die als »Goldrausch« bekannte Masseneinwanderung in dieses Gebiet aus. Gut hundert Jahre später machte sich auch die Familie van Halen auf der Suche nach einer besseren Zukunft in den Golden State auf. Im Hafen von New York, den sie am 9. März erreichten, ließ Jan van Halen den Nachnamen der Familie in Van Halen ändern, bevor sie die viertägige Zugfahrt zur Westküste antraten. Es war im Prinzip nur eine winzige Geste, die aber mit Bedeutung aufgeladen war, weil sie das Symbol für den Neuanfang darstellte.

Im Scherz hatte Jan den Freunden in Holland erzählt, die Familie würde sich in Beverly Hills niederlassen. In Wahrheit aber hatten Eugenias Verwandte den Neuankömmlingen eine Dreizimmerwohnung in einem kleinen Haus in der South Oakland Avenue 486 in Pasadena organisiert, die sich drei Parteien teilten. Jan mochte es letztendlich egal sein, wo seine Familie untergebracht war – für ihn spielte die Idee von Kalifornien eine weit größere Rolle –, doch verpasste die harsche Realität ihrer neuen Lebensumstände den Erwartungen des Quartetts schnell einen Dämpfer. »Als wir nach Pasadena kamen, war es ziemlich hart für uns«, erzählte Eddie im Februar 2015 bei einer Veranstaltung im National Museum of American History in Washington, D. C., die im Rahmen der »What It Means to Be American«-Reihe des Smithsonian stattfand. »Wir wohnten in einem Zimmer, schliefen in einem Bett. Mein Vater musste drei Meilen zu Fuß gehen, um [im Arcadia Methodist Hospital] Teller zu waschen, außerdem war er Hausmeister im Masonic Temple, bei der Pacific Telephone, und meine Mutter arbeitete als Hausmädchen … Wir suchten die Mülleimer nach Altmetall ab und verkauften es auf dem Schrottplatz.«

»Für meinen Vater war Amerika das Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, erzählte Alex Van Halen. »Doch dann fand er heraus, dass dem nicht so war. Denn auch hier war die Zeit der Big Bands natürlich vorbei.«

Die Van-Halen-Jungs hatten ihre eigenen Schwierigkeiten, sich im neuen Land einzuleben. Bei ihrer Ankunft in den USA kannten Alex und Eddie genau vier englische Wörter – »yes«, »no«, »motorcycle« und »accident« –, und ihre Einführung in die Sitten und Gebräuche des Landes erfolgte schnell und reichlich brutal. Ihre ersten Monate an der Alexander Hamilton Elementary School in der Rose Villa Street waren geprägt von rassistischen Anfeindungen, fiesem Mobbing und gewalttätigen Auseinandersetzungen.

»Ich hatte Angst«, erinnerte sich Eddie, »entsetzliche Angst. Die Schule, auf die wir kamen, war damals noch segregiert, und weil wir kein Englisch sprachen, galten wir als Minderheit. Meine ersten Freunde in Amerika waren schwarz. Die Weißen schikanierten uns nur: Sie zerrissen meine Hausaufgaben, stopften mir auf dem Spielplatz Sand in den Mund. Die schwarzen Kids setzten sich für mich ein.«

An einem Nachmittag spielte Alex gerade im Park, als ihm ein älterer weißer Junge mit einem Baseballschläger über den Weg lief. Weil Alex stolz auf ein neues Wort in seinem begrenzten Vokabular war, zeigte er auf den Schläger und sagte: »Baseball!« Der andere Junge stellte ihm daraufhin eine Frage, die Alex nicht verstand, als stets freundlicher Niederländer aber mit einem Lächeln und Kopfnicken beantwortete. Sekunden später ging er auf die Knie und hielt sich die blutige gebrochene Nase, während der Angreifer lachend davonlief. Offenbar hatte der gefragt: »Soll ich dir mit dem Ding eins auf die Nase geben?« Wie man sich denken kann, schweißten solche Furcht einflößenden Erlebnisse die Van-Halen-Boys noch enger zusammen.

»Wir waren Außenseiter, die die Sprache nicht sprachen und keine Ahnung hatten, wie man sich so verhielt«, erzählte Eddie. »Also wurden wir beste Freunde und machten immer alles zusammen.«

In der turbulenten Eingewöhnungsphase war die Musik für beide eine verlässliche Größe, quasi das Bindeglied zu den gewohnten Verhältnissen in den Niederlanden. Um das magere Einkommen der Familie aufzubessern, spielte Jan mit Musikern, die er aus den Kneipen in seinem Viertel kannte, in Hochzeitsbands oder Volksmusikgruppen, und sobald die Finanzen es zuließen, schickte Eugenia die beiden Jungs wieder zum Klavierunterricht. Ihr Lehrer war der aus Litauen stammende Stasys »Stanley« Kalvaitis, ein Absolvent des Elite-Konservatoriums in Sankt Petersburg, wo er gemeinsam mit dem weltberühmten ukrainischen Komponisten Sergei Prokofjew und dem litauischen Violinenvirtuosen Jascha Heifetz studiert hatte. Kalvaitis erwies sich als strenger Lehrer, der seinen Schülern viel abverlangte, und Eddie begehrte gegen seine Lehrmethoden auf, weil ihn das ewige Auswendiglernen zu Tode langweilte. In einem subtil rebellischen Akt weigerte er sich, die Notenschrift zu lernen, täuschte aber immerhin Aufmerksamkeit vor, während er es sich angewöhnte, auch komplizierte Stücke nach dem Gehör zu spielen. Und falls der Maestro sich hinters Licht geführt fühlte, erkannte er die enorme Begabung seines Schülers dennoch sofort: Als er Eddie für das Southwestern Youth Music Festival im City College von Long Beach anmeldete, das im August 1964 zum dritten Mal stattfand, sagte er Eugenia und Jan, sie sollten sich den Wettbewerb unbedingt ansehen, weil der Junge seiner Familie mit Sicherheit alle Ehre machen würde. Eddie enttäuschte sie nicht und belegte in seiner Kategorie den erwarteten ersten Platz. Seine Gleichgültigkeit der Trophäe gegenüber ließ sich durchaus mit dem Stolz seiner Eltern messen.

»Die war mir scheißegal«, gab Eddie freimütig zu. »Ich bin nicht rumgelaufen und hab geschrien: ›Wow, ich hab gewonnen, ich bin der Beste!‹ Für mich war das kein Ansporn. Der erste Platz hat sich nur insofern auf mich ausgewirkt, als dass ich beim nächsten Mal noch nervöser war. Tatsächlich war ich zwei Jahre hintereinander Erster. Aber ich hasste die ganze Sache.«

In Wahrheit hatte das Wunderkind längst einen neuen, frischen, lebendigen Sound für sich entdeckt, der von der anderen Seite des Atlantiks nach Amerika herübergeschwappt war.

Zu Beginn der 1960er-Jahre hatte die fade, konservative, erzbrave britische Musikszene den amerikanischen Plattenkäufern wenig Interessantes bieten können. Die einzige Sängerin aus Großbritannien, die in den 1950er-Jahren einen Nummer-eins-Hit in den US-Single-Charts landen konnte, war der »Liebling der Streitkräfte« Vera Lynn, während adrette, britische Rock’n’Roller wie Cliff Richard, Adam Faith und Billy Fury als saft- und kraftloser Abklatsch ihrer Gegenspieler von Sun Records verlacht wurden. Obwohl Furys Backingband The Tornados mit dem Instrumental »Telstar« im Dezember 1962 den ersten Billboard-Hot-100-Chart-Topper einer britischen Band ablieferte, blieben Musiker aus dem Vereinigten Königreich im ersten kalifornischen Jahr der Familie Van Halen in den USA nahezu unsichtbar.

Die Beatles sollten das ändern. Obwohl die Band in Amerika nicht auf Anhieb Erfolg hatte – tatsächlich verpassten ihre ersten beiden Nummer-eins-Hits aus den UK-Charts (»Please Please Me« und »From Me to You«) den Einstieg in die US-Hitlisten –, bekam die amerikanische Musikindustrie nach der Veröffentlichung des euphorisierenden »I Want to Hold Your Hand« einen gewaltigen Adrenalinkick. Noch vor dem legendären Auftritt des Liverpooler Quartetts am 9. Februar 1964 in der Ed Sullivan Show des Fernsehsenders CBS, den geschätzte 73 Millionen Menschen am Bildschirm verfolgten, überstieg die Nachfrage nach der Single das Angebot in bisher unbekanntem Ausmaß. Also sah die Plattenfirma Capitol sich gezwungen, die Pressung des Tonträgers teilweise an die Konkurrenten von Columbia und RCA outzusourcen. Am 1. Februar 1964 schoss die Single an die Spitze der Billboard Hot 100, wo sie sich sieben Wochen lang hielt. Und dies war nur der erste von insgesamt sieben Nummer-eins-Hits, die das britische Quartett in dem Kalenderjahr auf den Markt warf. Im März war Meet the Beatles, das erste Album, das die Band bei Capitol herausbrachte, ganze 3,6 Millionen Mal über den Ladentisch gewandert, was die Platte zum bislang bestverkauften Album der Geschichte machte. Der phänomenale Erfolg der Beatles brachte Plattenfirmen und Fans in den USA dazu, sich mit der vorher als todlangweilig verschrienen britischen Musikszene zu beschäftigen. Dies hatte zur Folge, dass zahlreiche UK-Chart-Hits für den US-Markt neu verpackt und auf die Schnelle in die Läden gebracht wurden.

Obwohl sie das Radio dominierten, waren es erstaunlicherweise nicht die Beatles, die Eddie Van Halen auf den Rock’n’Roll-Geschmack brachten, sondern ihre etwas braveren Kollegen von The Dave Clark Five. Im April 1964 – es war die Woche, in der die Beatles die ersten fünf Plätze der US Hot 100 belegten – stieg der Song »Glad All Over« der Londoner Band, der in Großbritannien »I Want to Hold Your Hand« vom Charts-Thron gestürzt hatte, in die Billboard Top 10 ein. Wegen des durchschlagenden Erfolgs der beiden Bands war in Amerika bald die Rede von der »British Invasion«. Und im Sommer 1964 veränderte das wuchtige Whomp-Whomp der Dave Clark Five auch das Leben eines Immigrantenkindes aus den Niederlanden.

»Alex und ich sahen uns im Kino A Hard Day’s Night [die Musikkomödie mit den Beatles aus dem Jahr 1964] an, und die Mädchen kreischten die ganze Zeit«, erinnerte sich Eddie später. »Alex fand das super, ich stand mehr auf ›Glad All Over‹. Bis heute höre ich mir die alten Platten gern an, sie haben etwas Magisches. Das war geiler Scheiß. Jedes Kind hat eine Phase, in der es Modellautos oder so was bastelt. Ich schnappte mir Kartons und Papier und baute mir daraus eine Art Snare Drum und trommelte darauf die Sachen von den Dave Clarke Five mit … Ich hab für mein Leben gern getrommelt.«

In diesem Sommer beschlossen die Van-Halen-Boys, eine eigene Band zu gründen. Die Broken Combs bestanden aus Eddie am Klavier, Alex am Saxofon, Eddies Klassenkamerad Kevan Hill an der Gitarre, Kevans älterem Bruder Brian am Schlagzeug und dem Nachbarsjungen Don Ferris am zweiten Saxofon. Das Quintett überlegte sich zwei eigene Stücke, »Rumpus« und das überaus originell betitelte »Boogie Booger«, die sie neben Hits der British Invasion in der Aula ihrer Schule aufführten. Quasi über Nacht entwickelten sich die beiden Brüder von Außenseitern zu Schulhofhelden, was das Selbstvertrauen der beiden exponentiell anwachsen ließ, obwohl sie gegen ihre früheren Peiniger weiterhin ein gesundes Misstrauen hegten.

Aus Freude darüber, dass auch die Söhne mit Begeisterung Musik machten, schlug Jan Van Halen Eddie vor, das rudimentäre Kartonschlagzeug durch ein robusteres Instrument zu ersetzen und besorgte dem Jungen schon bald ein in Japan produziertes 125-Dollar-Schlagzeug von St. George. Eddie versprach, den Kaufpreis abzustottern, indem er morgens vor der Schule Zeitungen austrug. Nach ein paar Wochen stellte er dann allerdings wutentbrannt fest, dass der ältere Bruder die Früchte seiner harten Arbeit ebenfalls genoss – Alex zeigte wenig Interesse an der Flamencogitarre, die er von seinem Vater bekommen hatte, und trommelte stattdessen jeden Morgen auf dem Schlagzeug herum, bis Eddie erschöpft von seiner Zeitungsbotenrunde zurückkehrte. Noch schlimmer aber war die Tatsache, dass Alex eine größere Begabung für die Drums an den Tag legte: »Er konnte ›Wipe Out‹ [den Instrumentalhit der Surfaris aus dem Jahr 1963] auf dem Schlagzeug spielen, ich nicht«, erzählte Eddie später. »Also dachte ich mir, okay, scheiß drauf. Dann spiel ich eben Gitarre.«

Wie Eddie selbst sagte, fühlte er sich »nicht von Gott berufen«, als er zum ersten Mal eine Gitarre in der Hand hielt. Doch die Herausforderung, die Songs aus seinem Transistorradio zu entschlüsseln und auf die sechs Saiten zu übertragen, machte nicht nur Spaß, sondern auch süchtig. »Ich hab nie überlegt, ob das jetzt schwer ist oder nicht«, sagte er 1985 in einem Interview mit Guitar World. »Ich machte es einfach, um Spaß zu haben. Es war mir egal, ob ich eine Woche brauchte, um einen halben Song nachzuspielen, oder ob ich mir an einem Tag gleich fünf beibrachte. Ich hab es einfach nie so gesehen.

Der erste Song, den ich konnte, war ›Pipeline‹ von den Surfaris. Und ›Wipe Out‹. Dann hörte ich dieses eine Stück im Radio – ›Blues Theme‹ [von Davie Allen & The Arrows] vom Soundtrack zu [Roger Cormans 1966er Kult-Rockerfilm] Die Wilden Engel. Das war die erste verzerrte Gitarre, die ich je gehört hab, und ich dachte nur: ›Gott, was ist das? Scheiß aufs Klavier, ich will nicht die ganze Zeit sitzen – ich will vorne stehen und richtig aufdrehen.«

Um den aggressiv-treibenden, in Hall getränkten Sound seiner Surf-Gitarrenhelden richtig nachspielen zu können, brauchte Eddie jedoch ein neues Instrument. Bei einem Besuch im Kaufhaus Sears besorgte er sich seine erste E-Gitarre, eine in Japan hergestellte Teisco del Rey für hundertzehn Dollar. Wie Eddie später einmal erzählte, hatte er sich das Modell nur ausgesucht, weil es vier Tonabnehmer hatte – und somit einen mehr als alle anderen Gitarren im Laden. Jan besorgte ihm seinen ersten Verstärker, den ein Nachbar selbst gebaut hatte, und Eddie holte sich im Radio Shack noch den passenden Adapter.

»Ich hab mein Gitarrenkabel eingestöpselt und die Kiste voll aufgedreht«, erinnerte er sich. »Die machte jede Menge Krach, und ich fing einfach an, zu spielen. Irgendwann kam Al rein und meinte: ›Klingt gut, was ist das?‹ Das war etwa zu der Zeit, als ›Blues Theme‹ ein Hit war. Al meinte: ›Spiel das noch mal.‹ Es klang genauso. Total verzerrt und dreckig. Wenn man so will, bin ich damals mit diesem dreckigen Sound zum ersten Mal in Berührung gekommen.«

Was den »dreckigen Sound« angeht, sollten die Van-Halen-Brüder schon bald die Qual der Wahl haben. 1967 war das Jahr von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, von The Doors, von The Velvet Underground & Nico, von The Piper at The Gates of Dawn von Pink Floyd, von Their Satanic Majesties Request von den Rolling Stones, von Are You Experienced und Axis: Bold as Love von der Jimi Hendrix Experience. Doch ein Album zog die beiden Brüder besonders in seinen Bann: Disraeli Gears, der zweite Longplayer der britischen Supergroup Cream, der die Virtuosität von Bassist Jack Bruce, Schlagzeuger Ginger Baker und dem zweiundzwanzigjährigen ehemaligen Yardbirds/Bluesbreakers-Mitstreiter Eric Clapton, der bei Kollegen, Kritikern und Fans als spannendster junger Gitarrist der Welt galt, beeindruckend in Szene setzte.

»Sein Stil, sein Gefühl, sein Sound hatten etwas grundlegend Einfaches, das mich sofort ansprach«, erklärte Eddie. »Er stöpselte eine Gibson direkt in einen Marshall, und das war’s. Die Basics. Der Blues.«

»Ich war von seinem Sound und seinem Feeling total angetan. Ich steh auf Phrasierung; deshalb hab ich Clapton immer so gemocht. Er spielt mit viel Gefühl. Bei ihm klingt es, als würde jemand reden, ein Frage-und-Antwort-Spiel.«

Claptons Sound und Phrasierung ließen Eddie an ein Tenorsaxofon denken, und das erzeugte bei ihm, zumindest unterbewusst, nostalgische Erinnerungen an die Zeit mit seinem Vater in den Niederlanden. Und in der Unbefangenheit und Virtuosität von Cream hörte Eddie ein Echo jener spätabendlichen Jazz-Sessions, die Alex und er in ihrer Kindheit miterlebt hatten.

Bei dem britischen Trio klang Musik, wie Eddie der Guitar World später einmal sagte, »auf eine Art aufregend, die vermutlich kein Mensch richtig verstanden hat«.

Man hatte fast den Eindruck, Texte und Songstrukturen wären nur zweitrangig. Nach dem Motto: »Bringen wir den Scheiß hinter uns, damit wir richtige Musik machen können, mal sehen, wo wir heute landen.«

In Anlehnung an ihre britischen Vorbilder gründeten die Van-Halen-Brüder an ihrer neuen Schule, der Jefferson Elementary, ein eigenes »Power Trio«, indem sie sich Eddies Mitschüler Jim Wright als Bassisten dazuholten. Sie nannten die Band The Sounds of Las Vegas – später kurz: The Sounds – und spielten Surfmusik, Hits von den Beatles und Monkees sowie selbstverständlich jeden Cream-Song, den sie in den Griff bekamen.

Dass die aufstrebende Band sehr viel Talent besaß, merkte auch Jan Van Halen, der sich erst Alex und später noch Eddie (als Bassisten) für eigene Auftritte auslieh. »Wir spielten bei Hochzeiten, Bar-Mizwas, Polka-Tanzabenden, den ganzen Scheiß eben«, erinnerte sich Eddie später.

»Wir traten im La Mirada Country Club auf«, erzählte er. »Mein Vater spielte jeden Samstagabend im Continental Club, und wir sprangen ein, wenn andere nicht konnten. Er spielte in so einem Laden namens Alpine Haus, draußen im Valley an der San Fernando Road, und dort mussten wir kurze Lederhosen tragen.«

Gelegentlich gaben die Brüder für den Vater auch die Vorband oder den Pausenfüller, sie waren »die kleine Freakshow«, wie Eddie es nannte. Die Auftritte machten den erst Zwölfjährigen am Anfang reichlich nervös, ein Zustand, gegen den Jan ein recht unkonventionelles Hausmittel wusste.

»Als ich zwölf war, brachte mein Vater mir das Trinken und Rauchen bei«, erzählte Eddie. »Wenn ich Lampenfieber hatte, sagte er: ›Hier, trink ein Glas Wodka.‹ Boom – das Lampenfieber war weg.«

»Al rief mir immer die Akkorde zu, wenn ich keine Ahnung hatte, was ich spielen musste. Er rief nur ›Eins, vier, fünf!‹, also im Grunde die Drei-Akkord-Struktur jedes einfachen Liedes, von Polkas bis hin zu … Hochzeitsliedern, alten Klassikern. Ich hatte kein einziges der Stücke je gehört, also hatte ich keine Ahnung, was ich da tat. Dabei hab ich gelernt, sehr viel zu lächeln!«

In alter Tradition ließ Jan Van Halen zum Abschluss solcher Abende seinen Fedora-Hut herumgehen, damit die Zuhörer ihre Wertschätzung für die Band in greifbarer Form zum Ausdruck bringen konnten. An einem Abend enthielt der Hut zweiundzwanzig Dollar. Jan zählte ein paar Scheine ab und drückte Eddie und Alex jeweils fünf Dollar in die Hand. Auch wenn sich die Jungs damals noch nicht mit amerikanischem Arbeitsrecht auskannten, waren sie längst nicht mehr so grün hinter den Ohren, dass ihnen die ungerechte Verteilung der Einnahmen entgangen wäre. Als sie sich bei ihrem Vater lautstark beschwerten, zuckte der nur mit den Schultern. »Willkommen im Musikbusiness, Jungs«, sagte er mit einem Augenzwinkern.