Einleitung
Vergebung war nie ein Thema für mich. Was hat einer schon zu vergeben, der in den 70er-Jahren in eine stabile, liebende Familie hineingeboren wurde, behütet und behutsam erzogen, im Wohlstand aufgewachsen, inmitten der Freiheit, Liberalität und dem Frieden Mitteleuropas? Mir sind große menschliche Verwerfungen bisher weitgehend erspart geblieben. Mal ein mieser Chef, okay, oder Reibereien mit Kollegen, deren Ehrgeiz sich nicht mit meinem vertrug. In jungen Jahren noch die ein oder andere Beziehung, die nicht gut endete, das ist auch schon alles, was es zu nennen gibt, gleich gefolgt von der Frage: Ist das nennenswert?
Ich habe also nichts zu verzeihen, und das bedeutet: Dieses Buch hat einer geschrieben, der sich dem Thema mit leichtem Gepäck nähert. Dramaturgisch ist das natürlich schwierig. Stellen Sie sich vor, wie wuchtig dieses Buch geworden sein könnte, stammte es von einem Autor, der sich durch das Schreiben mit einem Unglück oder Verbrechen in seinem Leben auseinandersetzt, den wir gewissermaßen live beim Ringen mit seinem Schicksal begleiten dürfen, der uns tief hineinführt in seine verletzte Seele und sich schließlich, im letzten Kapitel, geläutert von seinem Sieg über die Dämonen, bereit zeigt für das Stück Leben, das vor ihm liegt.
Stattdessen jetzt das: Ein unbeschwerter Autor schreibt ein Buch darüber, wie keinesfalls so unbeschwerte Menschen mit dem umgehen, was ihnen das Leben vor die Füße knallt. Ob das gut geht? Ich hoffe, dass es nicht nur gut gegangen ist, sondern dem Buch auch gutgetan hat. Ich habe versucht, den Menschen, die ich für dieses Buch kennengelernt habe, mit der Neugier des Unwissenden zu begegnen, nicht mit dem Bestätigungs- oder Widerlegungsbedürfnis dessen, der seine eigene Geschichte in derjenigen seines Gegenübers gespiegelt finden möchte.
Ich habe keinen autobiografischen Bezug zum Thema dieses Buches. Trotzdem, oder gerade deswegen, will ich erklären, wie ich auf dieses Thema gekommen bin. Nämlich doch durch eigene Erfahrung.
Es war an einem auf feierliche Weise unspektakulären Sonntag. Ich saß in unserer hellen, freundlichen Rokoko-Kirche in München-Thalkirchen, über mir blattgoldveredelte Putten, Heilige aus Gips standen in ihren Talaren, vom Hochaltar schaute die Heilige Maria gütig auf diejenigen herab, für die sie so oft ein gutes Wort einlegen soll. Die Orgel war nicht nur zu hören, sondern auch zu spüren, in den Füßen und am Gesäß, der Weihrauch schärfte den Geruchssinn und schmälerte etwas die Sicht. Es war also während der Sonntagsroutine, die ich seit meinen frühsten Tagen kenne und liebe, als ich tat, was ich gelernt hatte: aufstehen, mitsingen, das Kreuzzeichen machen, beten, setzen, knien und genießen, dass das alles seine feste Ordnung hat und damit seine Richtigkeit. Selbst dem monotonen Leiern der Gebete kann ich etwas abgewinnen: Wohin kämen wir, wenn wir solche absoluten Hammerzeilen wie »Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund« nicht lakonisch und beinahe unbeteiligt, wie es sich gehört, vor uns hin sprechen würden, sondern mit Emphase in der Betonung? Der Gottesdienst müsste aufgrund von Ergriffenheit wiederholt unterbrochen werden.
Die Monotonie gibt mir Halt, weil sie mich in eine Reihe stellt mit Menschen rund um den Erdball, die seit Jahrhunderten diese Worte sprechen, diese Gesten machen und Gesänge hinaufschicken, und in eine Reihe mit Menschen, die das noch in Jahrhunderten tun werden. Der Rhythmus ist mir längst in Fleisch und Blut übergegangen, ich muss mich nicht auf ihn konzentrieren, und weil das so ist, passiert es mir manchmal, dass ich geistig abschweife, während ich spreche, dass ich mich zerstreue, sich mein Geist selbständig macht, herumstreunt, plötzlich kehrtmacht und mich zum Nachdenken bringt über all das, was ihm so aufgefallen ist während seines kurzen Ausflugs.
Wir waren also damals, während ich noch herumschweifte, beim Vaterunser angekommen, »und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« beteten wir in feierlicher, monotoner Ernsthaftigkeit. Plötzlich erinnerte ich mich, wie mich dieses Vaterunser seit jeher begleitet hat, wie ich es früher betete, vorm Schlafengehen, als Kind, und welchen Reim ich mir damals, als vielleicht Sechsjähriger, auf »Vergib uns unsere Schuld« gemacht hatte: Ich habe mal einen Nachbarsjungen mit einem Taschenmesser in den Finger geschnitten. Zum Glück war es nur eine harmlose Schnittverletzung, geheilt mit Desinfektionsspray, Pflaster und gutem Zureden. Für mich aber war es eine ganz große Sache. Kleinlaut war ich zu dem Jungen gegangen, um mich zu entschuldigen. Ich hatte nichts zu vergeben, aber wollte, dass mir vergeben wurde. Ich glaube, das war der Tag meiner Kindheit, an dem ich »Schuld« kennengelernt habe und eben doch »Vergebung«. Und während ich wieder auftauche aus meiner Erinnerung, hakt er plötzlich ein, mein Geist, mit einer kleinen Frage:
Wie geht Vergebung?
Dann war die Kirche aus, ich machte mich auf den Weg zu Fuß nach Hause, vorbei am Antiquitätenladen, über die Straße, das Treppchen hoch und über die Ampel. Ich weiß nicht mehr, woran ich dachte, ans Mittagessen vielleicht, ans Wetter, an meinen neuen Fahrradhelm oder die Fenster, die mal wieder geputzt gehörten.
Mit den Fragen ist es ja so: Die schwersten kommen beiläufig daher, sie brechen nicht herein, nehmen einen nicht in Beschlag, zumindest nicht sofort. Man erkennt sie nicht daran, dass sie sich aufdrängen. Sondern daran, dass sie nicht mehr weggehen. Die riesigen, bisweilen monströsen Fragen, die sich hinter den kleinen verstecken, kommen erst nach und nach zum Vorschein.
An diesem Tag wusste ich noch nicht, dass diese Frage nur scheinbar eine kleine war, dass sie mich jahrelang nicht loslassen würde, dass ich Menschen auf der ganzen Welt treffen würde, um sie zu fragen: Wie geht Vergebung? Mir war nicht klar, wie einfach und kompliziert, vielschichtig und monolithisch die Frage ist, wie individuell die Antworten sind, wie persönlich und mitunter so gegensätzlich, dass man darüber ein ganzes Buch schreiben könnte. Dieses Buch hier.