Über den Autor
 
AndreasUnger
 
Andreas Unger, geb. 1977, ist Journalist und lebt in München. Studium der Diplom-Journalistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Internationalen Beziehungen an der Georgetown University in Washington D.C. Absolvent der Deutschen Journalistenschule, mit zahlreichen Auszeichnungen: Recherchestipendium des Fachverbands Konfessionelle Presse im VDZ, Journalistenpreis des Weißen Rings, n-ost-Reportagepreis und die Auszeichnung »Journalistisch Wertvoll« der Deutschen Bischofskonferenz.
 

Andreas Unger
Vergebung
Eine Spurensuche
 
 
 
 
 
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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de 
 
Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv: © Christoph Pittner (Pittner-Design) 
Autorenfoto: © Kathrin Harms 
E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen
 
ISBN E-Book  978-3-451-81436-5
ISBN Print    978-3-451-37664-1
Inhalt
 
Einleitung
 1 Die Suche beginnt
 2 »Weil die Wärme tot war in mir«
 3 Warum? Warum? Warum?
 4 »Ein Auto oder ein Haus kann man reparieren oder neu bauen, aber keinen Menschen«
 5 »Das wichtigste Wort ist Versöhnung«
 6 »Ich nehme das Leben, wie es ist« – oder: »Soll ich wirklich?«
 7 »Der Satz hat mich drei Meter größer werden lassen«
 8 »So lange du auch nur einem Menschen nicht verzeihst, bist du nicht frei«
 9 Der Mythos vom Abschließen
10 Vergib uns unsere Schuld
11 Schluss
Über den Autor
Einleitung
 
Vergebung war nie ein Thema für mich. Was hat einer schon zu vergeben, der in den 70er-Jahren in eine stabile, liebende Familie hineingeboren wurde, behütet und be­hutsam erzogen, im Wohlstand aufgewachsen, inmitten der Freiheit, Liberalität und dem Frieden Mitteleuropas? Mir sind große menschliche Verwerfungen bisher weit­gehend erspart geblieben. Mal ein mieser Chef, okay, oder Reibereien mit Kollegen, deren Ehrgeiz sich nicht mit meinem vertrug. In jungen Jahren noch die ein oder andere Beziehung, die nicht gut endete, das ist auch schon alles, was es zu nennen gibt, gleich gefolgt von der Frage: Ist das nennenswert?
Ich habe also nichts zu verzeihen, und das bedeutet: Dieses Buch hat einer geschrieben, der sich dem Thema mit leichtem Gepäck nähert. Dramaturgisch ist das natürlich schwierig. Stellen Sie sich vor, wie wuchtig dieses Buch geworden sein könnte, stammte es von einem Autor, der sich durch das Schreiben mit einem Unglück oder Verbrechen in seinem Leben auseinandersetzt, den wir gewissermaßen live beim Ringen mit seinem Schicksal begleiten dürfen, der uns tief hineinführt in seine verletzte Seele und sich schließlich, im letzten Kapitel, geläutert von seinem Sieg über die Dämonen, bereit zeigt für das Stück Leben, das vor ihm liegt.  
Stattdessen jetzt das: Ein unbeschwerter Autor schreibt ein Buch darüber, wie keinesfalls so unbeschwerte Menschen mit dem umgehen, was ihnen das Leben vor die Füße knallt. Ob das gut geht? Ich hoffe, dass es nicht nur gut gegangen ist, sondern dem Buch auch gutgetan hat. Ich habe versucht, den Menschen, die ich für dieses Buch kennengelernt habe, mit der Neugier des Unwissenden zu begegnen, nicht mit dem Bestätigungs- oder Wider­legungs­bedürfnis dessen, der seine eigene Geschichte in derjenigen seines Gegenübers gespiegelt finden möchte.  
Ich habe keinen autobiografischen Bezug zum Thema dieses Buches. Trotzdem, oder gerade deswegen, will ich erklären, wie ich auf dieses Thema gekommen bin. Nämlich doch durch eigene Erfahrung.  
Es war an einem auf feierliche Weise unspektakulären Sonntag. Ich saß in unserer hellen, freundlichen Rokoko-Kirche in München-Thalkirchen, über mir blattgoldveredelte Putten, Heilige aus Gips standen in ihren Talaren, vom Hochaltar schaute die Heilige Maria gütig auf diejenigen herab, für die sie so oft ein gutes Wort einlegen soll. Die Orgel war nicht nur zu hören, sondern auch zu spüren, in den Füßen und am Gesäß, der Weihrauch schärfte den Geruchssinn und schmälerte etwas die Sicht. Es war also während der Sonntagsroutine, die ich seit meinen frühsten Tagen kenne und liebe, als ich tat, was ich gelernt hatte: aufstehen, mitsingen, das Kreuzzeichen machen, beten, setzen, knien und genießen, dass das alles seine feste Ordnung hat und damit seine Richtigkeit. Selbst dem monotonen Leiern der Gebete kann ich etwas abgewinnen: Wohin kämen wir, wenn wir solche absoluten Hammerzeilen wie »Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund« nicht lakonisch und beinahe unbeteiligt, wie es sich gehört, vor uns hin sprechen würden, sondern mit Emphase in der Betonung? Der Gottesdienst müsste aufgrund von Ergriffenheit wiederholt unterbrochen werden.
Die Monotonie gibt mir Halt, weil sie mich in eine Reihe stellt mit Menschen rund um den Erdball, die seit Jahrhunderten diese Worte sprechen, diese Gesten ma­chen und Gesänge hinaufschicken, und in eine Reihe mit Menschen, die das noch in Jahrhunderten tun werden. Der Rhythmus ist mir längst in Fleisch und Blut übergegangen, ich muss mich nicht auf ihn konzentrieren, und weil das so ist, passiert es mir manchmal, dass ich geistig abschweife, während ich spreche, dass ich mich zerstreue, sich mein Geist selbständig macht, herumstreunt, plötzlich kehrtmacht und mich zum Nachdenken bringt über all das, was ihm so aufgefallen ist während seines kurzen Ausflugs.
Wir waren also damals, während ich noch herumschweifte, beim Vaterunser angekommen, »und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« beteten wir in feierlicher, monotoner Ernsthaf­tig­keit. Plötzlich erinnerte ich mich, wie mich dieses Vaterunser seit jeher begleitet hat, wie ich es früher betete, vorm Schlafengehen, als Kind, und welchen Reim ich mir damals, als vielleicht Sechsjähriger, auf »Vergib uns unsere Schuld« gemacht hatte: Ich habe mal einen Nachbarsjungen mit einem Taschenmesser in den Finger ge­schnitten. Zum Glück war es nur eine harmlose Schnittverletzung, geheilt mit Desinfektionsspray, Pflaster und gutem Zureden. Für mich aber war es eine ganz große Sache. Kleinlaut war ich zu dem Jungen gegangen, um mich zu entschuldigen. Ich hatte nichts zu vergeben, aber wollte, dass mir vergeben wurde. Ich glaube, das war der Tag meiner Kindheit, an dem ich »Schuld« kennengelernt habe und eben doch »Vergebung«. Und während ich wieder auftauche aus meiner Erinnerung, hakt er plötzlich ein, mein Geist, mit einer kleinen Frage:
Wie geht Vergebung?
Dann war die Kirche aus, ich machte mich auf den Weg zu Fuß nach Hause, vorbei am Antiquitätenladen, über die Straße, das Treppchen hoch und über die Ampel. Ich weiß nicht mehr, woran ich dachte, ans Mittagessen vielleicht, ans Wetter, an meinen neuen Fahrradhelm oder die Fenster, die mal wieder geputzt gehörten.  
Mit den Fragen ist es ja so: Die schwersten kommen beiläufig daher, sie brechen nicht herein, nehmen einen nicht in Beschlag, zumindest nicht sofort. Man erkennt sie nicht daran, dass sie sich aufdrängen. Sondern daran, dass sie nicht mehr weggehen. Die riesigen, bisweilen monströsen Fragen, die sich hinter den kleinen verstecken, kommen erst nach und nach zum Vorschein.
An diesem Tag wusste ich noch nicht, dass diese Frage nur scheinbar eine kleine war, dass sie mich jahrelang nicht loslassen würde, dass ich Menschen auf der ganzen Welt treffen würde, um sie zu fragen: Wie geht Vergebung? Mir war nicht klar, wie einfach und kompliziert, vielschichtig und monolithisch die Frage ist, wie individuell die Antworten sind, wie persönlich und mitunter so gegensätzlich, dass man darüber ein ganzes Buch schreiben könnte. Dieses Buch hier.  
1
Die Suche beginnt
Die großen Fragen, die hinter der kleinen stecken, kommen zum Vorschein. Am Computer in meinem Büro sitzend suche ich nach relevanten Einträgen im Internet. Zu den Suchbegriffen, die ich auf Deutsch und Englisch eingebe, zählen: vergeben, verzeihen, entschuldigen, nach­­tra­gen, Rache, Vergeltung, Einsicht, Nachsicht, Vergessen, Versöhnen, Loslassen, Täter, Opfer. Hinter jedem dieser Wörter stehen Gedankengebäude, Glaubensfragen, Geschichten, Gefühle, Lebensläufe. Schon allein die Zahl der Suchbegriffe, die mir wichtig erscheinen, lässt mich ahnen: Das Thema könnte größer sein, als ich dachte.
Fast zu groß, so sperrig und pathetisch wie das Wort daherkommt: Vergebung. Prediger sagen es. Angeklagte bitten darum, wenn sie vor Gericht stehend gesenkten Hauptes Reue zeigen. Und Schauspieler am Ende kitschiger Filme, damit auch der letzte Zuschauer kapiert: Obacht, jetzt wird’s sentimental.
Vergebung beziehungsweise die Bitte darum, das scheint den ganz Großen vorbehalten sein: Willy Brandt, wie er in Warschau auf die Knie fällt. Nelson Mandela, wie er nach über einem Vierteljahrhundert in den Gefängnissen der Buren die Aussöhnung mit ihnen einleitet. Oder Papst Franziskus, der Gott um Vergebung für die bittet, die afrikanische Flüchtlinge vor Lampedusa ertrinken lassen.  
Doch so ist es nicht. Je mehr ich nach der Vergebung suche, desto mehr erscheint sie mir genau so außer­gewöhnlich wie alltäglich zu sein. Sie steckt im »Ego te ­absolvo«, mit dem der Priester den Beichtenden von seinen Sünden losspricht, und im saloppen »Schon okay« der Tochter, deren Papa sie mal wieder zu spät vom Kindergarten abholt. Sie ist im Spiel, wenn sich der gefoulte Fußballer, der sich eben noch im Gras wand, an der hingestreckten Hand seines Gegenspielers hochzieht. Verzeihen passiert beim Bier, das zwei ehemals beste Freunde nach zehn Jahren der Funkstille miteinander trinken, nachdem der eine dem anderen die Freundin ausgespannt hat. Oder unterm Weihnachtsbaum der alt gewordenen Eltern, wenn die Erinnerung an die gemeinsame Kindheit zwei Schwestern einen alten Streit vergessen lässt. Es kann in einem langen Brief geschehen, durch einen knappen Handschlag oder gar in aller Heimlichkeit, es kann das glückliche Ende eines jahrelangen Ringens bedeuten oder eher nebenbei passieren.
Im Netz finde ich platte Hinweise des Inhalts, Ver­zeihen sei wirklich wichtig. Ich finde fromme Schriften, Streitschriften, Bekenntnisschriften. Esoterische Bücher mit ­Titeln wie »Versöhnung mit den Ahnen: Mit der 7-Generationen-Aufstellung zu ungeahnter Kraft«; der Arzt-Roman Nr. 141 mit dem Titel »Wir müssen vergessen – und verzeihen«; eine Handy-Schutzhülle mit der Aufschrift »Fight Less – Forgive More«; die CD »Verlieben, verloren, vergessen, verzeihen« des Schlagerstars Wolfgang Petry mit dem Hinweis »Tanzbar!«; Stieg Larssons Roman »Vergebung«; und jede Menge Do-It-Yourself-Ratgeber-Literatur mit hundertprozentigen Problemlösungsvorschlägen, zum Beispiel: »Radical Forgiveness: A Revolutionary Five-Stage Process to Heal Relationships, Let Go of Anger and Blame, Find Peace in Any Situation«. Einmal Blanko-Vergebung bitte – danke auch.  
Immerhin werden die Fragen präziser, die sich stellen: Welche Rolle spielt die Schwere der Tat? Ist es wichtig, dass der Täter bereut? Dass er sich entschuldigt? Ist es leichter, eine Fahrlässigkeit zu verzeihen als eine Affekttat oder ein vorsätzliches Verbrechen? Welche seelischen Voraussetzungen bringen Menschen mit, die vergeben?
Ist Verzeihenkönnen eine Gnade, eine Tugend, eine Errungenschaft? Aus welchem Material ist Vergebung: aus einem rationalen Beschluss, einem Kalkül, einem Gefühl? Was sind ihre Voraussetzungen, und wie schafft man sie? Was ist das Gegenteil von Vergeben? Ignorieren? Nicht vergeben? Rache nehmen? Kann auch die Genugtuung, die aus Rache stammt, Wunden heilen? Was macht das Verzeihen mit den Opfern? Was mit den Tätern? Was bedeutet das Nicht-Verzeihen? Und was ist der Unterschied zwischen Vergeben und Verzeihen?
Ich bin unzufrieden. Was im Netz steht, bringt mich kaum weiter. Ich will mich nicht über ein Phänomen informieren, will mich nicht schlau machen, will zu nichts aufgefordert, von nichts überzeugt und zu nichts bekehrt werden. Was also will ich? Ich bin ziemlich überfordert, ganz allein. Also suche ich Partner für meine Recherche. Die Fotografin Silke Wernet lässt sich auf das Thema ein. Gemeinsam ergattern wir ein Recherche-Stipendium des Fachverbands Konfessionelle Presse im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger. Anschließend gewinnen wir das Magazin stern dafür, für eine umfangreiche Recherche ein Budget einzurichten. Redakteur Dominik Stawski betreut unser Stück redaktionell. Ihnen allen ein herzliches Dankeschön!  
Ich weiß noch nicht, was ich in der Welt der Vergebung und des Verzeihens genau suche. Aber ich weiß, wie ich vorgehen will: Ich will mit Menschen reden. Auf einer Reise quer durch Deutschland, weiter nach Polen, Israel, Palästina und in die USA, auf einer Reise in die immer wiederkehrende Ratlosigkeit und wieder zurück. Ich tue nicht so, als verstünde ich alles. Dem, was einigen meiner Gesprächspartner widerfahren ist, kann man nicht mit Sätzen begegnen wie »Ich weiß, was Sie meinen.« Ich weiß es nämlich nicht, oder besser: Ich weiß es allenfalls nur bis zu der Wegmarke, ab der einen nicht mehr Analyse und Empathie, sondern nur noch eigenes Erleben weiterführen. Diese Wegmarke wollte ich gerne erreichen. So habe ich mich von Frage zu Frage gehangelt, von Ratlosigkeit zu Ratlosigkeit, Begegnung zu Begegnung. So habe ich eine Reise getan hin zu den Quellen der Vergebung. Auf diese Reise nehme ich Sie, liebe Leser, mit.