Für meine Kinder und all die Menschen, die in diesem COVID-Jahr unmenschliches für uns alle leisten.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die im Buch genannten Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Zweite, korrigierte Auflage

c: 2020 Bernd Pesch

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Kontaktadresse des Autors: BerndPesch@RavenFox.de

ISBN: 978-3753428963

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Bomben und Fässer

Am Neffelsee bei Zülpich

„Fiep, fiep, fiep. Summm. Fiep, fiep.“

Würde das Gerät in seinen Händen nicht Rauschen und Knacksen, hätte man es durchaus für einem hochmodernen Fußbodenreiniger aus einem dieser TV-Shops halten können. Weder zischte es nervös, noch stieß es fauchend Dampffontänen aus. Ein Mann mittleren Alters pendelte dieses Gerät mit Wischbewegungen etwa zehn Zentimeter oberhalb der Erdoberfläche hin und her, während seine schweren Stiefel zentimetertief im feuchten Grund einsanken.

Gelegentlich mischte sich ein anschwellendes Piepsen oder ein helles Summen zwischen das Gegackere der Graugänse am See. Mit diesen Geräuschen und einem Zeigerausschlag zeigte der Metalldetektor an, dass er einen Gegenstand im Boden aufgespürt hatte. Allein durch das Wechselspiel der verschiedenen Geräusche konnte ein geübter Schatzsucher erkennen, welche Metalle sich im Boden vor ihm verstecken wollten. Der Spürhund war ein Profi. Mit jahrelanger Erfahrung hatte er gelernt, die Sinfonie der verschiedenen Geräusche zu interpretieren. Sollte der Detektor ein Edelmetall anzeigen, lohnte es sich auch mal, in die Knie zu gehen und ein wenig zu graben. Diese Geräusche waren selten und interessierten den Mann nicht. Häufiger und wichtiger waren andere Geräusche, die auf gewöhnliche Metalle hindeuteten. Waren die Geräusche tief und leise, waren die Objekte klein, wie weggeworfene Kronenkorken. Der Schatzsucher wartete auf lautere und höhere Töne. Er suchte nach Objekten, die keiner finden wollte; er eigentlich auch nicht.

In einem reichlich mitgenommenen dunkelblauem VW Bulli wälzte der in vielen Einsätzen ergraute Teamleiter des Kampfmittelräumdienstes Aachen nochmals alte Luftbilder aus den letzten Wochen des letzten großes Krieges. Damals hatten die Alliierten zu Weihnachten 1944 den Zülpicher Bahnhof bombardiert, aber nicht immer getroffen. Zum wiederholten Male glich er die Fotos mit aktuellen Katasterkarten ab. Zwar hatte er dies auch schon im Büro getan und einige Verdachtspunkte markiert, aber hier vor Ort am Neffelsee sah manches anders aus. Dort wo damals Felder waren, klaffte nun ein großes Loch mit liebloser Randbepflanzung. Bis 1969 fraßen sich hier große Braunkohlebagger durch die Börde und fügten der Erde nur langsam heilende Narben zu. Nun, viele Jahre später, zeugten der Zülpicher Wassersportsee und der Neffelsee von dieser Zeit. Nicht alle Narben verheilten unsichtbar. Am Wassersportsee wirkte die Landesgartenschau von 2014 wie ein schlechtsitzendes Pflaster auf dieser Wunde. Der Neffelsee hingegen wurde als Naturschutzsee belassen. Er sollte von Anfang an ein Refugium für Wasservögel werden.

Nach den umfangreichen Erdarbeiten der Braunkohlebagger war die Suche nach Blindgängern eine Herausforderung für den Kampfmittelräumdiest.

Zülpich plante Großes. Während am Wassersportsee das neue Baugebiet Seegärten fast in trockenen Tüchern war, gestalteten sich die Frankengärten südlich des Neffelsee als schwierig. Es war ein Naturschutzgebiet.

»Hier ist nichts«, sprach ein Mittfünfziger im Bulli den Einsatzleiter an. »Wie sollte es auch? Die Braunkohlebagger hätten die Blindgänger alle mit weggebaggert, oder sich selbst gleich gesprengt.«

»Ich hab‘ dennoch ein paar Verdachtsfälle, die wir untersuchen müssen«, entgegnete der Grauhaarige, ohne von seinen historischen Luftbilder und Karten aufzuschauen. »Zudem besteht die Möglichkeit, dass Blindgänger von den Baggern unbemerkt mit hin und her geschoben wurden.«

»Wie sollte er denn einen Fünfhundert- oder Tausendpfünder unbemerkt wegbaggern?«

»Wieso nicht? Diese Braunkohlebagger sind ungleich größer als diese Playmobil-Teile auf den Baustellen. Da sieht man längst nicht alles.«

»Und vieles möchte man wohl auch nicht sehen.«

Der Teamleiter schob die Katasterkarte beiseite und warf einen kurzen Blick auf seine verkratze, uralte Timex-Uhr. »Es wird Zeit für dich, Georg abzulösen.«

Die Männer erhoben sich langsam. Mit schweren Schritten und zugezogenen Kragen stapften sie Georg entgegen, der sich zwischenzeitlich weit vorgearbeitet hatte.

»Überall diese Vogelscheiße! Viel zu viele Graugänse hier«, rümpft er die Nase.

»Und Nilsgänse. Manche Gänse bleiben jetzt sogar schon über Winter«, erwiderte der Assistent.

»Ohne ‚s‘«

»Wie … ohne ‚s‘?«

»Nilgänse schreibt man ohne ‚s‘. Nicht wie der Name Nils. So wie der Fluss in Afrika.«

»Klugscheißer!«, kommentierte Georg.

‚Fiiiiiiiiep!‘

Plötzlich stutzten die Männer. Ein helles und lautes Pfeifen des Metalldetektors ließ sie aufhorchen. Jeder war in der Lage, das Geräusch zu interpretieren. Die Männer schauten sich wissend an. Routiniert versuchte der Spürhund die Grenzen zu erkunden, in denen er das Signal erfassen konnte. Hierzu bewegte er sich in kleinen Kreisen um den Fundort und beobachtete, an welchen Stellen das Pfeifen leiser wurde, bis es letztendlich ganz verstummte.

»Groß. Eisen. Kein Buntmetall. Kein Edelmetall«, interpretierte der Teamleiter die Geräusche. »Vielleicht drei Meter tief.«

»Es könnte ein Fünfhunderpfünder sein.«

Die beiden anderen nickten zustimmend.

Nun lief eine tausendfach erprobte Routine ab, die nie zur Gewohnheit werden durfte. Jede Bombe bot eine andere Herausforderung. Auch wenn tausend Entschärfungen gut gingen, wäre ein einziger Fehler fatal. Einer der Männer ging zurück zum Transporter und holte einige rote Fähnchen, mit denen er den Fundort markierte. Anschließend wurde das Gelände großräumig mit Trassierband abgesperrt. Währenddessen arbeitete der Spürhund in unmittelbarer Umgebung des Fundes weiter, um sich ein Bild von möglichen Trümmerteilen machen zu können.

Erneut piepste der Detektor penetrant. Wieder schauten sich die Männer an. Nun wich das wissende Nicken einem fragenden Stirnrunzeln.

»Noch ein zweiter großer Fund?«

»Ein Trümmerteil, oder?«

»Nein«, bemerkte der Spürhund. »Gleiche Größe, gleiche Tiefe.«

»Zwei Bomben so nah beieinander ist ungewöhnlich. Ein Doppelabwurf streut doch? Zufall?«

»Vielleicht hat die so ein Braunkohlebagger zusammengeschoben.«

»Dann könnte der Baggerführer nun seinen zweiten Geburtstag feiern und wir hätten ein Problem.«

Ein drittes Mal pfiff der Metalldetektor in unmittelbarer Nähe.

»Das ist nun Verarschung, oder?«, fragte der Assistent.

»Unsinn. Du weißt, dass ich bei diesem Job keine Späße mache«, entgegnete Georg. Niemand konnte die Situation richtig einschätzen.

»Also Drei?!«

»Drei irgendetwas!«, bestätigte Georg wortkarg. »Vielleicht Bomben. Oder doch eher irgendetwas anderes.«

Mittlerweile flatterten ein Dutzend Fähnchen munter im Wind.

Es sollte nicht dabeibleiben. Mit jedem weiteren Fund flatterten mehr Fähnchen am Neffelsee. Als gegen Mittag das gesamte Gelände gescannt war, hatte man einunddreißig „Bomben“ im kleinen Umfeld markiert.

»Da hilft nur Baggern. Dann haben wir Gewissheit.«

Am Nachmittag rückte der Städtische Bauhof mit schwerem Gerät an. Ein Bagger fraß sich an einer etwas abseits liegenden Fundstelle vorsichtig in die Erde, ohne über andere Fundstellen hinwegfahren zu müssen. Zunächst schaufelte er etwa einen halben Meter Mutterboden weg, anschließend die gleiche Menge groben Kies. Fortan wurde der Boden fester. Lehmige, schwere Erde, vermengt mit Bauschutt, folgte.

Nachdem sich der Bagger zwei Meter in die Erde hinabgearbeitet hatte, stoppte er und setzte zurück. Der Spürhund stieg in die Grube und sondierte mit seinem Metalldetektor die Lage. So vermied er, kleinere Objekte zu übersehen, die sich in der Nähe des großen Fundes versteckten. Nach weiteren fünfzig Zentimeter änderte sich die Farbe des Erdreichs. Der Anteil an Schutt ließ deutlich nach. Dafür stieß man auf Betonbrocken, die teilweise von Armierungseisen durchzogen waren. Langsam bestätigte sich der Verdacht, eine illegale Müllkippe entdeckt zu haben.

Ein letztes Mal wedelte der Spürhund mit seinem Detektor umher. »Noch etwa dreißig Zentimeter«, rief er dem Baggerführer zu. Ein sonores Grummeln und eine schwarze Wolke deuteten darauf hin, dass der schwere Bagger wieder einsatzbereit war. Der Baggerdompteur löffelte weitere fünfzehn Zentimeter Schutt aus der Grube.

Mittlerweile hatte man den Grundwasserspiegel erreicht und Wasser aus dem See drängte in die Grube. Eine elektrische Pumpe wurde hinabgelassen und ein Schlauch in den See geführt. Das Surren der Pumpe mischte sich mit dem Brummen des Baggers und machte eine Verständigung fast unmöglich.

Man reichte dem Spürhund eine Schaufel in die Grube hinunter. Mit Handarbeit und geübter Vorsicht arbeitete er sich weiter in die Tiefe. Es spielte keine Rolle, ob er einen Bombenfund ausschließen konnte oder nicht. Seine Routine blieb immer gleich. Sie musste immer gleich bleiben, denn es war seine Lebensversicherung. Zehn Minuten später stieß er auf Metall. Der Spürhund arbeitete nun langsamer weiter und legte eine rostig braune Metalloberfläche in kleinen Schritten frei.

»Ein altes Fass.«

Gift

Dunst und Dampf

Mechernich-Firmenich

»Verdammt. Wie oft habe ich dir gesagt, dass das nicht deine Kiste ist.«

Schneider grinste seine Chefin an. »In der Firma bin ich das Maß aller Dinge. Ich führe das Geschäft.«

»Ich bin die Chefin. Schau mal in den GmbH-Vertrag, wem die Hütte gehört.«

»Wir sind Partner, vergessen?«

»Ja, Zwanzig – Zehn – Siebzig.« Juliette ließ Dampf ab. »Ich hab‘ die siebzig Prozent und du lediglich Zwanzig.«

»Na und? Das beeinflusst meinen Fahrstil nicht im Geringsten.« Schneider lehnte sich lässig gegen den Kotflügel des Audi SUV, der als Firmenfahrzeug zugelassen war. »Noch entscheide ich, wie ich hier auf den Hof fahre. Und wenn ich dabei jemanden fast umsäbele, ist das der Beweis, dass unsere Angestellten zu langsam laufen. … und ich nicht gut genug gezielt habe.«

»Die Mitarbeiter sind unser Kapital.«

»Bagger sind Kapital. Mitarbeiter sind Verbrauchsmaterial! Wenn der Baggerchauffeur nicht aufpasst, werde ich demnächst mal über seine Brille fahren, ohne sie ihm vorher vom Gesicht zu reißen.«

So ging es noch eine Zeit lang im Hof der GreenWave Landschaftsbau GmbH hin und her. Willi, der Baggerfahrer hatte sich längst in den Schatten einer Baumaschine zurückgezogen und versuchte unsichtbar zu werden. Thomas, der Auszubildende, und Silvia, die Sekretärin, standen im Eingangsbereich der rückwärtigen Türe des Verwaltungsgebäudes und beobachteten das Duell aus sicherer Entfernung.

Auch am Abend dampfte Juliette noch. Sie führte zu viele solcher Diskussionen mit ihrem Mitgesellschafter Schneider. ‚Da sind Karl und seine zehn Prozent deutlich pflegeleichter als dieser … ach was soll’s‘, ärgerte sie sich. ‚Ich sollte endlich mal wieder entspannen.‘

Überall in ihrer Umgebung dampfte es. Das lag wohl in der Natur eines Dampfbades. Wenn Juliette ihren Arm ausstreckte, konnte sie kaum noch erkennen, wie viele Finger sie hob. Der Dampf war nur einer der Gründe. Als Brillenträgerin hatte sie die Wahl: Ohne Brille nichts sehen, oder mit Brille noch weniger sehen. Sie wollte – musste – entspannen und verordnete sich einfach eine Portion gute Laune. Manchmal genoss sie auch nur die lüsternen Blicke der – zumeist jüngeren – Männer auf ihren kleinen Brüsten, während Frauen die Konkurrenz schon längst neidisch zur Kenntnis genommen hatten und so taten, als würde sie diese ignorieren. Bei Frauen, die nicht neidisch schauten, konnte man Lust aus den Augen strahlen sehen. Dies gab Juliette die fehlende Bestätigung, die sie im privaten Umfeld nie erfahren durfte. Dabei war sie schon neunundvierzig, was man höchsten an den ersten Fältchen unter ihren Augen erkannte.

Schon seit Wochen arbeitete sie wie eine Verrückte für die Realisierung der Frankengärten. Ihre Firma hatte im vergangenen Jahr die Ausschreibungen für die vorbereitenden Erdarbeiten gewonnen. Diese Arbeiten und der damit verbundene Druck standen noch bevor. Da wollte sie auch körperlich fit sein.

Sie atmete einmal mehr tief durch als ihr die feuchte Hitze entgegenschlug. Dann ließ sie sich wohlig auf einer der hölzernen Bänke nieder, um sogleich die Augen zu schließen und die Wärme zu genießen. Während sie döste, nahm sie im Hintergrund verschiedene Gesprächsfetzen wahr. Die Gesprächsthemen der Männer waren Frauen, Autos oder gelegentlich auch Geschäfte. Manche unterhielten sich über Fußball. Jeder wurde dann zum Bundestrainer. Die Frauen unterhielten sich währenddessen lieber über die Sicht der Männer auf Frauen, ihr Verhältnis zu Autos und den Drang der Männer, mehr Geld verdienen zu müssen als der Nachbar. Es war wohl eine der vielen Fehlannahmen der Männer, dass Frauen sich immer nur über Mode unterhielten, sobald zwei oder mehr der Spezies zusammenkamen. Dabei wusste doch jede Frau, die auf eigenen Beinen stand, dass Manolo Blahnik schönere Schuhe zeichnete als Prada. Es war die weibliche Allgemeinbildung, die nicht weiter vertieft werden musste.

So hatte jeder seine eigene Meinung zu einer Situation, die niemand vorher erlebt hatte. Die verschiedenen Worte vermischten sich zu einem nebulösen Brei; zu einem Hintergrundrauschen, welches man gerade noch wahrnahm. Einzelne Worte aufzulösen, war fast unmöglich, aber auch nicht gewollt. Wie das Rauschen der Blätter im Wald.

»Mach mal Zweihundertfünfzigtausend als Spielmasse locker. Du kannst die Summe aus der GmbH rausziehen«, stach auf einmal eine gedämpfte Männerstimme aus der Tiefe der Dampfschwaden hervor. Allein die Zahl weckte Neugierde, welche die Männer sicherlich vermeiden wollten.

‚Spielmasse‘, überlegte Juliette. ‚Bei welchen Projekten benötigt man Spielmasse?‘ Auch das Wort „rausziehen“ kam ihr in diesem Zusammenhang ungewöhnlich vor. Sie musste ungewollt lauschen.

Dann fuhr die gleiche Stimme ebenso leise fort: »Eigentlich sollte das reichen, die Neugierigen vorerst ruhig zu stellen.«

Die Kombination „Zweihundertfünfzigtausend Euro“ und „Ruhig stellen …“ ließ Juliette keine Ruhe. ‚Wer zahlt so viel, um jemanden ruhig zu stellen?‘ Sie fühlte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen. Sie war der Meinung, inmitten eines Mafiafilm zu sitzen. Nur fehlte in diesem Kino das Popcorn.

»Du weißt doch, dass ich keine Chance habe, an das Geld zu kommen. Es gehört der Firma. Und die wird kontrolliert«, jammerte eine andere Stimme.

»Unsinn«, brauste der erste auf. »Wir brauchen das Geld und deine Aufgabe ist es, die Scheine zu besorgen. Keine Bange. Die werden alle schweigen. Ansonsten wird unser Partner andere Mittel anwenden müssen.«

Noch andere Mittel …“ Langsam fügte Juliette die Puzzleteile zusammen. Sie hatte schon immer gewusst, dass es eine Wirtschaftsmafia in der Eifel gab. Was in Köln der Kölsche Klüngel war, gab es in der eher beschaulichen Umgebung des Eifler Vorlandes im Besonderen, oft unterschätzten, Maß.

»Zuckerbrot und Peitsche. Ich verstehe. Und ich soll das Zuckerbrot beibringen?« jammerte der Zweite.

Juliette wagte es nicht, die Augen zu öffnen und in die Richtung der Männer zu schauen. Zwar war die Verlockung groß, aber ihre Angst war ungleich größer.

Als dann noch der Begriff „Frankengärten“ an Juliettes Ohr drang, wurde es ihr mulmig. Sie spürte, dass sie nun auch involviert sein könnte … beim Ruhigstellen.

‚Ich muss hier raus!‘ Überhastet und verwirrt stand sie auf. Schnelle Bewegungen waren im Dampfbad unüblich und verursachten sofort Aufmerksamkeit. So folgten zwei wachsame Augenpaare ihrer Flucht und in den zugehörigen Köpfen wurde die Beobachtung unter dem Stichwort „Alarm!“ abgespeichert.

Gutachten und Rathaus

Zülpich

Bürgermeister Bernhard Kleinschmidt stand mit den auf dem Rücken verschränkten Armen ratlos am Fenster seines großzügigen Büros im Zülpicher Rathaus. Rauchen durfte er seit diesem unsäglichen Nichtrauchererlass nicht mehr in seinem Rathaus. Nach seiner Meinung wäre dem Erlass genüge getan, wenn man sich zum Rauchen aus dem Fenster lehnte.

»Das wurde mir vorgestern zu heiß im Dampfbad. Hier können wir ungestört reden. Warum ein Gutachten, wenn alles in Ordnung ist?«, fragte der Bürgermeister, ohne sich umzudrehen. »Eigentlich habe ich andere Sorgen. Der Innenminister hat die Kommunen aufgefordert, ihre Pandemiepläne zu aktualisieren. Ich musste erst nachfragen, ob wir so etwas haben und was das überhaupt ist. Die in Euskirchen, in der Kreisverwaltung, haben wohl so einen Plan. Gegen Grippe und so.«

Dieter Ostendorf, Geschäftsführer der Frankengärten GmbH, der städtischen Gesellschaft zur Planung und Stadtentwicklung, nickte nur. Dass der Bürgermeister diese Geste nicht sehen konnte war ihm bewusst, aber egal.

»Dennoch müssen wir uns über das andere Thema unterhalten.«

Kleinschmidt drehte sich zu Ostendorf um und wiederholte schneidend seine Frage: »Warum das Gutachten?«

»Es war wohl notwendig. Es stammt vom Chemischen Institut Dr. Schröder in Bad Neuenahr.« Ostendorf rutschte nervös auf seinem viel zu kleinen Stuhl hin und her. Seine Finger zeichneten kleine Kreise auf einer abgegriffenen Gittermappe, wobei sie feuchte Spuren hinterließen.

»Wer hat das Gutachten beauftragt? Warum weiß ich nichts davon?« Nichts war für Kleinschmidt schlimmer, als darüber uninformiert zu sein, was in seinem Rathaus vorging. Schließlich trug er die politische Verantwortung für einfach alles in seiner Gemeinde; auch für das Versagen anderer. Er drehte sich theatralisch um und versuchte, noch größer zu erscheinen. Hierbei musste er die Arme vom Rücken nehmen und benötigte diese zum Auspendeln seiner ungelenken Bewegung. »Warum war vorgestern noch keine Rede davon? Die Hälfte des Geländes gehört meiner Familie. Quasi bin ich der Eigentümer … und habe keine Ahnung, dass da Bombentypen auf meinem Acker rumlaufen?«

Ostendorf fühlte sich unwohl und antwortete leise, ohne so recht zu wissen, welche der Fragen er zuerst beantworten sollte. So blieb er lieber still. Er war ein Mitläufer; jemand der eigentlich keine Verantwortung übernehmen wollte und konnte. Und genau aus diesem Grund war sich Kleinschmidt sicher, dass sein alter Kumpel Ostendorf der richtige Mann an der Spitze der Frankengärten GmbH war. Ostendorf ließ selten einen eigenen Willen erkennen und war so einfach fernsteuerbar. Das war schon damals so, als beide gemeinsam in Euenheim Handball vornehmlich auf dem Sportplatz an der Kommerner Straße gespielt hatten. Der Dieter – man nannte ihn damals schon ‚der Bär‘ – räumte am Kreis die Gegner reihenweise weg. Damals spielte man noch oft Handball draußen auf unebenen Grasspielflächen, bevor der Sport in die Halle verlagert wurde.

Bernhard Kleinschmidt machte hingegen in den Folgejahren Schritt für Schritt Karriere und wurde bald bekannt dafür, über Leichen zu gehen. Nicht nur im Handball, wo er bald in der Regional- und dann Landesliga spielte, während Ostendorf mit Euenheim in der Kreisklasse blieb. Kleinschmidt machte auch über seine Parteifreunde bis zum Bürgermeisteramt politische Karriere. Aber leider nur in einer Kleinstadt. In Zülpich! Das war weder das Rheinland, noch war es die Eifel. Zülpich lag im Nirgendwo. Allerdings fühlte er sich hier als König.

Dieter Ostendorf blieb beim Handball unauffällig, wurde irgendwann Assistenztrainer der Jugendmannschaften, übernahm später selbst die C-Jugend und hielt engen Kontakt zu den Jungen in den Mannschaften. Mädchen interessierten ihn scheinbar weniger. Nicht nur beim Handball. Beruflich entwickelte er sich als gelernter Kaufmann zunächst bei einem Discounter als Filialleiter weiter, bevor seine Karriere sich bei einem Logistikdienstleister festfraß.

Gerne hätte Kleinschmidt die GmbH selbst geleitet, aber wie sollte der Bürgermeister zugleich Geschäftsführer einer städtischen Gesellschaft sein? So hatte er sich an seinen alten Kumpel aus Euenheimer Zeiten erinnert, nach ihm recherchiert und ihn zum Geschäftsführer-Strohmann gemacht. Ostendorf hatte lange nicht begriffen, wie es zu dieser Entscheidung kam. Da er seine Fähigkeiten bei aller Tollpatschigkeit und beschränkten Möglichkeiten schon immer überschätzte, sah er diesen Schritt mit der Zeit als folgerichtig an. Ostendorf fühlte sich als der richtige Mann am richtigen Ort.

Kleinschmidt kam schnell wieder in der Realität an: »Wie? Automatisch? Gutachten werden beauftragt. Insbesondere, weil sie nicht zum Nulltarif zu haben sind.«

»Die Frankengärten GmbH hat das Gutachten beauftragt. Es floss kein städtisches Geld.«

»Wenigsten wissen die Säcke im Stadtrat von nichts. … wenigsten etwas. Das Gelände ist noch gar nicht als Bauland ausgewiesen.« Kleinschmidt zog ein letztes Mal tief an seiner Zigarette, bevor er den Stummel, ohne vorher auszudrücken, über den Rücken hinweg aus dem Fenster schnippte. »Natürlich fließt städtisches Geld. Schließlich gehören 51 Prozent deiner GmbH der Stadt.« Kleinschmidt legte eine kurze Pause ein und wendete sich nun seinem Gesprächspartner zu.

»Also, wie kam es zu dieser Beauftragung?«

»Vor jeder Neunutzung …«

»Neunutzung?« Kleinschmidt unterbrach Ostendorf. »Offiziell entwickeln wir doch gerade erst ein Konzept. Wieso wissen die schon von der Nutzung?«

Ostendorf fuhr unbeirrt, aber unwohl fort: »Vor jeder Neunutzung eines Geländes rückt der Kampfmittelräumdienst aus und prüft das Gebiet auf Blindgänger aus dem Weltkrieg. Wir als Entwicklungsgesellschaft haben das frühzeitig veranlasst. Wer konnte denn ahnen, dass die wirklich etwas finden? Das war doch pro forma.«

»Und nun Bomben auf meinem Familienacker?« Der Bürgermeister suchte automatisch nach einer neuen Zigarette. »Ich habe doch die Unbedenklichkeitsbescheinigung des Kampfmittelräumdienstes hier. Immer noch besser als Feldhamster. Bomben kann man ohne Gegenwehr und Demonstrationen räumen. Beim Feldhamster rebelliert der Naturschutz.«

»Mag ja sein. Die Unbedenklichkeit gilt lediglich für Bomben und sie sagt aus, es gibt keine, aber …«

»Wieso aber? Du sagtest doch gerade... Ist der Hamster etwa wieder da?«

»Nun ja. Alte Fässer.« Dieter Ostendorf legte eine kurze Pause ein. »Mehrere.«

Ich hab’s also mit alten Fässern und Blindgängern auf zwei Beinen zu tun.« Kleinschmidt konnte sich nur mühsam beherrschen und sein ohnehin schon rotes Gesicht färbte sich kräftiger. »Wieso sollen mich ein paar alte Fässer belasten? Fässer! Wenn ich könnte, würde ich den Kampfmittelräumdienst mal durchs Rathaus schicken. Dann wäre ich wohl die Hälfte aller Rohrkrepierer los. Kontrollierte Sprengung nennt man diese Art des Aufräumens.«

Ostendorf tat so, als würde er diesen Kommentar überhören; so wie er es immer tat. Kleinschmidt gab noch entsprechend pragmatische Tipps, bei denen man sich nie sicher sein konnte, inwiefern diese ernst zu nehmen waren: »roll die Fässer einfach in den See. ‚Watt fott es, es fott‘, würde der Kölner nun sagen.« Kleinschmidt benötigte eine Sekunde zum Durchröcheln. »Nein, noch besser: Dieter, nimm dir einen Laster und schaff die Fässer weg. Versenk‘ die im Gürzenicher See. Dann hat die Stadt Düren das Problem, nicht wir. Muss ich jetzt auch noch für dich mitdenken?«

Mit dem „Fässer versenken“ meinte es Kleinschmidt ernst. Einerseits würde er sich auf elegante Art und Weise einem Problem entledigen und andererseits könnte er mal wieder seiner liebsten Nachbargemeinde eins auswischen.

»So einfach ist das leider nicht mehr.«

»Dann sieh‘ zu, dass es wieder einfach wird. Mach es nachts! Oder such eine andere Lösung. Du bist für die Frankengärten verantwortlich.«

Kleinschmidt trug die politische Verantwortung solange alles im Lot war. Nun jedoch gab es Probleme und ein Schuldiger musste her. Ostendorf war das perfekte Opfer.

Für Ostendorf war das Gespräch eine Tortur. »Die Fässer müssen wohl schon seit ein paar Jahren in der Erde gelegen haben. Wir haben nicht alle gesehen, wissen aber, dass wohl viele durchgerostet sind. Der Boden ist durchgängig mit Altöl und sonstigem Zeug belastet.«

»Welches sonstige Zeug?« Auch wenn Kleinschmidt nachfragte, interessierte es ihn eigentlich nicht wirklich. Es reichte, vom Öl im Boden zu wissen. Und dies war schon zu viel Detailwissen.

»Steht in dem Bodengutachten aus Bad Neuenahr.«

»Ich habe nicht die Zeit, mich mit Fakten zu beschäftigen. Was redet man?«

»Alkalische Bleichmittel und Schwermetallverbindungen, vornehmlich Quecksilber … zusammen mit dem Öl eine Teufelsbrühe.«

»Und wir haben gedacht, beim illegalen Grillen kippen die immer mal was in den See. «

Mittlerweile schnippe der Bürgermeister bereits den dritten Zigarettenstummel aus dem Fenster, um die Hände frei zu bekommen, damit er sogleich die vierte Fluppe anzünden konnte. »Wem muss ich den Kopf abreißen? Wer kommt als Verursacher in Frage?«

»Hier haben wir noch keine Hinweise. Ich habe Fotos angefertigt. Wirklich gute Ansätze sehe ich keine.«

Man konnte sehen, wie Kleinschmidt versuchte, einer Klärung näherzukommen, was in der Praxis bedeutete, dass irgendjemand bezahlen würde. »Wenn wir den Verursacher dingfest machen könnten, hilft uns das auch nicht viel weiter.«

»Inwiefern? Der zahlt doch, … oder zumindest dessen Haftpflichtversicherung.«

»Dieter, stell dich nicht dümmer als du bist! Seit wann bezahlt denn eine Haftpflichtversicherung bei mutwilligen Gesetzesverstößen?« Kleinschmidt ließ die Zigarette zwischen den Fingern hin und her wandern. »Und wenn er denn überhaupt zahlen kann, … dann bezahlt er höchstens die offiziellen Schäden.«

»Offiziell?«

»Meinst du denn wirklich, irgendjemand würde für unsere Verluste aufkommen? Das könnte uns den Verkauf der Grundstücke kosten. Die Hälfte des Landes ist … Ich brauche das Projekt.«, erläuterte Kleinschmidt überflüssigerweise den Ernst der Lage.

»Verdammt, Dieter! Sei nicht so kurzsichtig. Das sind unsere Investitionen. Unser mögliches Bauland. Unsere Bauerschließungsmaßnahmen. Unsere Vermarktung.« Kleinschmidt redete sich immer mehr in Rage. Er bezog bewusst Ostendorf mit ein, wenn es um die Verteilung der Schuld ging. Er sollte wissen, dass auch er verlieren würde, wenn diese Investition scheitern würde. Insgeheim dachte Kleinschmidt aber nicht „uns“, sondern „ich“. »Wen interessieren schon diese blöden Konservendosen?«

Kleinschmidt sammelte nochmals Energie und schrie seinen Frust hinaus: »Verstehst du nicht, oder willst du nicht verstehen? Wir bereiten bereits die Vermarktung eines Naturschutzgebietes als Bauland vor, bevor es überhaupt als solches ausgewiesen ist. Der Rat muss erst noch zustimmen. Die Sitzung ist erst im kommenden Monat. Dann erst haben wir Bauland. Erst dann! Bis dahin muss Ruhe herrschen. Die Ökos dürfen das nicht mitbekommen. Zumindest nicht vor der Sitzung. Danach sind mir auch deine scheiß Fässer egal.«

»Alles wird ruhig bleiben«, entgegnete Ostendorf, der sich nun erstmalig in diesem Gespräch entspannt zurücklehnt, weil er vermutete, mal einen Punkt erzielt zu haben. So wie damals, wenn er mal vom Kreis aus das Handballtor traf. Ostendorf erinnerte sich an jedes seiner Tore. Schließlich hatte er nur dreimal getroffen. Einmal gegen Kuchenheim und sogar zweimal gegen Palmersheim im gleichen Spiel. Damals hatte Dieter Ostendorf gefeiert. Sein TV Euenheim hatte damals das Spiel sogar dank seiner Tore gewonnen.

Kleinschmidt schaute Ostendorf längere Zeit nachdenklich an. »Du meinst …?«

»So lange wie möglich unter Verschluss halten. Wenn das Ergebnis erst nach dem Verkauf des Baulandes bekannt würde …«

Euskirchen

Jonas Retzler saß missmutig an seinem Schreibtisch. Sein Kaffeebecher war leer. Dafür war der Schreibtisch umso voller. Jonas erkannte diese umgekehrte Proportionalität. Er hatte das Gefühl, dass die Papiere klamm von der feuchten Winterluft waren und einfach auf seinem Schreibtisch kleben bleiben wollten. Je mehr er erledigte, desto mehr Blätter kamen hinzu. Er nannte dies „Papiermagnetismus“. Für eine kurze Zeit beobachtete er den Sekundenzeiger seiner Uhr. In fünfzehn Minuten würde Redaktionsschluss in der Euskirchener Lokalredaktion des Stadt-Anzeigers sein und er hat noch immer keine Story. Die großen Geschichten lieferten mal wieder die anderen. Die Coronakrise und wer alles dazu etwas sagen wollte, beherrschten langsam die Medien. Mittlerweile begann man sogar, extra Seiten für das Thema zu reservieren. Zugleich wollte man den Journalismus vor Ort runterfahren, um Ressourcen zu sparen. ‚Wen interessiert denn Corona?‘, dachte Jonas. ‚Das Thema wird sich bald von selbst erledigt haben.‘

Jonas blätterte durch seine elektronischen Notizen: „Übergabe eines neuen Rüstfahrzeugs an die freiwillige Feuerwehr irgendwo in Zülpich“, „Hygienemangel in einer Eifelklinik“, „Verkehrschaos bei den Ritterfestspielen“, „Heino besucht das Altenheim Marienborn“, …

»Widerlich«, meinte er zu sich selbst. »Wer soll denn so was lesen?« Er musste sich immer wieder zusammenreißen und unter Gewaltandrohung gegen sich selbst daran erinnern, dass das Durchschnittsalter seiner Leser über Fünfzig lag. ‚Die wollen so was lesen. Vielleicht dann doch lieber den Heino? Und ein paar Bilder, wie Hannelore im Altersheim ein Dutzend Rollatoren stiftet.‘

Seine Miene erhellte sich auch nicht unbedingt, als er den halbfertigen Artikel über Kleinschmidts ersten Spatenstich zur Pflanzung einer Baumreihe an der neuen Allee zwischen Neffelsee und Juntersdorfer Weiher fand. Er schaute sich die Bilder mit Kleinschmidts Trump-Teflon-Grinsen im Kreise verschiedener „Sponsoren“ auf den Bildern an. ‚Wer weiß, ob die Sponsoren nur die Bäume bezahlt haben oder den Bürgermeister gleich mit‘, fragte er sich, ohne Anhaltspunkte hierfür zu haben. Jonas lag mit seiner Vermutung gar nicht so falsch. Es hätte ihn auch nicht gewundert, wenn der Bürgermeister diverse Sponsoren-Aufnäher auf seinem Brioni-Anzug tragen würde. Ganz so, wie er es immer wieder bei Fußballtrainern sah.

Dann recherchierte Jonas über „Krisenvorsorge“, der geschlossenen Eifelklinik und manch andere Themen, die noch etwas Zeit benötigten, bevor er hieraus Nachrichten machen konnte. ‚Interviews wären als Aufhänger nicht schlecht. Da habe ich gerade nichts.‘

Jonas legte sich fest. »Besser Kleinschmidt als gar keine Nachricht. Und Heino ist keine Meldung mehr.« Zudem würde er durch diese Auswahl noch einen Pluspunkt beim Chefredakteur erzielen. Die Promotion der Frankengärten war Chefsache. Schnell und routiniert schrieb Jonas noch einige Zeilen zu den Bildern und stellte fest, dass die Uhr keine drei Minuten fortgeschritten war.

Er hatte noch immer zehn Minuten. Immer wenn der Beruf wenig Befriedigendes zu bieten hatte, suchte er Abwechslung in privaten Fotoshootings. Er schloss auf seinem Notebook die Redaktionsnotizen und begann im Internet nach neuen Models in der Community zu suchen. In nur wenigen Minuten flog er über verschiedene Gesichter, um frustriert festzustellen, dass seine Community ihm nichts Neues bieten konnten.

Noch ein letzter Blick, noch einen Schluck kalter Kaffee; dann klappte er sein Notebook wieder zu und ging zur Redaktionskonferenz.

Melancholie und Profil

Zülpich-Ülpenich

Zu Hause in Ülpenich machte sich wieder Melancholie breit. In solchen Momenten blätterte Juliette manchmal durch alte Fotoalben. ‚Was nützt der schönste Seeblick, wenn ihn niemand mit mir genießen kann?‘, dachte sie. Seite um Seite fuhren ihre Finger über die verschiedenen Fotos ihrer ersten neunundvierzig Jahre. Irgendwie brachte sie das Schwelgen in Erinnerungen nicht weiter. Im Gegenteil! Sie stand auf, ging zum Wohnzimmerschrank, nahm eine Flasche Primitivo und ein Glas heraus, entkorkte die Flasche und den Tresor ihrer Gefühle, füllte das Glas, ließ den Gefühlen freien Lauf und ging zurück zu dem breiten beigefarbenen Sofa am Fenster.

Auf dem kleinen Couchtisch aus altem, knorrigem Olivenholz glimmte ein Stück Kohle mit verschiedenen Harzen in einer alten Venusmuschel. Langsam mischte sich das Bouquet aus Olibanum, Copal und Sandelholz mit den hartnäckigen Gerüchen frisch geklebter Tapeten und Latexfarbe zur Duftkulisse des neuen Hauses.

Gedankenverloren ließ Juliette die Seiten der Alben durch ihre Finger gleiten und stellte fest, dass die Serie ihrer Bilder vor einigen Jahren ein abruptes Ende genommen hatte. ‚Warum eigentlich?‘, fragte sie sich. Bis dato hatte sie als Hobbymodel doch so viel Spaß am Posing vor der Kamera. Jedes Shooting war ein Akt der Selbstbestätigung. Juliette ließ die vergangenen Monate Revue passieren. Sie hatte fast nur noch für die Firma geschuftet und zwischenzeitlich noch diesen Bungalow bauen lassen, in dem sie nun allein saß. »Es wird mal wieder Zeit für aktuelle Fotos«, meinte sie zu sich selbst.

Juliette erhob sich langsam und merkte, dass der Rotwein erste Wirkung zeigte. Sie ging mit dem Glas in der Hand in die Diele, schaltete das Licht an und betrachtete sich im großen Spiegel. Kritisch musterte sie ihr Spiegelbild. Sie konnte noch immer kein Gramm Fett entdecken, wo es nicht hingehörte. Im Gegenteil. Sie fand sich zu dünn. Bei einer Größe von 1,79 Meter brachte sie gerade mal fünfzig Kilo auf die Waage. Natürlich fand sie einige Fältchen unter den Augen. Was sollte sie machen? Die Fältchen gehörten einfach dazu. Fältchen machten sie nur reifer, nicht hässlich. Manch ein Mann hatte ihr das bestätigt. Und manche Frau.

»Und sonst?«, fragte sie sich laut. Langsam knöpfte Juliette ihre Bluse auf, beließ sie aber auf den Schultern. Sie griff an ihre Hüften und zog den Reißverschluss ihres dunkelblauen Businessrocks auf. Widerspenstig glitt der eng geschnittene Rock über ihre Hüftknochen, obwohl ihr Becken nicht besonders ausgeprägt war. Dem Wetter geschuldet trug sie eine blickdichte, schwarze Strumpfhose.

Juliette lächelte nicht. Sie blickte eher kritisch auf ihr Spiegelbild. Schließlich glitt auch ihre Bluse von den Schultern. In BH, Höschen und Strumpfhose stand sie vor dem Spiegel und betrachtete die Frau, die ihr mit ernstem Gesicht aus dem Spiegel entgegensah. »Soll ich dich mögen?«, fragte Juliette die Frau im Spiegel. »Sicher!«, antwortete die andere Frau. »Du musst. Ich bin du!«

»Wir sind so anders?«

»Du siehst mich nur anders.«

Sie haderte. Es war nicht das erste Selbstgespräch vor dem Spiegel. Es würde nicht das letzte sein.

Juliette war kritisch, zufrieden und unzufrieden zugleich. Sie hatte sich immer mehr Busen gewünscht. Rundere Hüften. Beides war ihr nicht gegeben. Andererseits zog sie die Blicke auf sich. Ihre eigene Sicht passte nicht mit der Wahrnehmung anderer zusammen.

Sie nickte dem Glas Rotwein zu, kicherte und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie zog nochmals eine Schublade des geölten Olivenholzschranks auf und suchte ihre kleine Kompaktkamera. Juliette prüfte den Ladezustand des Akkus. ‚Für ein paar Bilder sollte es reichen‘, dachte sie und ging zurück zum Spiegel in der Diele. Anschließend entstand ein Dutzend dieser typischen Fotos mit Rotweinglas und Kamera in der Hand, die zeigten, dass diese Bilder aus einer Alkohollaune heraus entstanden.

Später, an ihrem Notebook, stöpselte sie das Verbindungskabel ein und lud die Bilder von der Kamera. Als sie die ersten, leicht verschwommenen Bilder mit überstrahlendem Blitz sah, musste sie über sich selbst lachen. »Die schwarze Strumpfhose geht gar nicht«, meinte sie. »Und das Rotweinglas in der Hand erst recht nicht.«

Juliette leerte das Glas mit einem Zug. »Also noch mal. Diesmal ohne Glas.«

Mittlerweile entfaltete der Wein seine Wirkung. Juliette nahm die Kamera erneut in die Hand und trat mit entschlossener Miene ihrem Ebenbild gegenüber. Sie rückte noch ein großes Gesteck aus künstlichen Blumen und Efeu zurecht, damit auch der Hintergrund halbwegs ordentlich erschien. Juliette drückte ein paar Mal auf den Auslöser, während sie in Strumpfhose und BH posierte. ‚Irgendwie nicht erotisch‘, betrachtete sie sich selbstkritisch im Spiegel. Nun musste auch die Strumpfhose fallen. Die nächsten Bilder entstanden schließlich in Höschen und BH.

»Das sieht doch gleich besser aus«, freute sie sich. Nach einem weiteren Dutzend Bilder zeigte das Display „Low Bat“ und ein gelbes Batteriesymbol. Eine halbe Stunde später konnte man ein neues Modelprofil in der ModelKartei finden:

„WildCat71“.

Erdbewegungen und Erschütterungen

Euskirchen

Aus dem Mittwoch wurde ein Donnerstag. Jonas Retzler durfte wieder nicht schlafen. Er hatte Nachtdienst in der Lokalredaktion. In den meisten Fällen blieb die Nacht ruhig, sofern nicht gerade irgendwo eine Scheune abbrannte, oder sich ein Rennfahrer bei einem illegalen Rennen auf der nahen A1 zerlegte.

Nichts war mehr normal. Gerade erst gestern hatte sich die Kanzlerin an die „verehrten Mitbürgerinnen und Mitbürger“ gewandt. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass abgesehen von den Weihnachtsansprachen, Mutti sich ans Volk gewandt hatte. Die Welt fing an, verrückt zu werden. Ein Virus schien nicht nur die Lungen zu befallen, sondern zugleich das Hirn vieler Facebooknutzer und Verschwörungstheoretiker. Jonas wurde bereits mehrfach gefragt, warum gerade jetzt ein ganzes Krankenhaus in der Eifel geschlossen wurde, obwohl der halbe Kreis vom Siechtum bedroht war. Er musste es doch wissen. Er wäre ja von der „Lügenpresse“.

Ein Zeitungsleser fragte im Leserbrief, den man dann doch nicht veröffentlichte, wieso man nun der Bill-Gates-Verschwörung so bereitwillig folgte. Und ein Veganer-Koch aus Berlin wittert eine Verschwörung von Juden, Soros und Reptiloiden.

Nichts war mehr normal.

Der amerikanische Präsident lief mal wieder auf Twitter Amok. Das war wenigstens normal. Hass ist alltäglich geworden.

Gedankenverloren schaute Jonas aus dem Fenster auf die regennasse Straße hinaus. Auf dem nassen Asphalt spiegelten sich die Leuchten der wenigen vorbeifahrenden Autos in Weiß und Rot. Oder wie der Kölner sagen würde, in „Ruud un‘ Wieß“. Ab und zu versuchte ein nervöses Blinken in Dortmund-Gelb anderen Verkehrsteilnehmern anzuzeigen, dass man abbiegen wollte. Nur die wenigsten Autofahrer nutzten hier in der Voreifel diese geheimen Signale. Als dann noch ein Schalke-Blaues Blinklicht versuchte, gegen das Borussia-gelbe Blinken anzustinken, sammelte Jonas wieder seine Gedanken und ging zum Schreibtisch zurück.

Die nächste Stunde verbrachte er vor seinem Computer in der Redaktion und surfte ziellos durchs Internet, anstatt wie vorgesehen die Zeit für Recherchen zu nutzen. ‚Vielleicht mal ein paar Chuck Norris Witze zur Abwechslung‘, dachte er und gab bei Google „Chuck Norris“ als Suchbegriff ein. Selbst Google schien ihn in dieser Nacht nicht zu mögen. Anstatt Links zu den diversen Witzseiten zu erhalten, erhielt er folgenden Text:

„Niemand sucht nach Chuck Norris.

Er wird dich finden, wenn er will.“

»Dann eben nicht«, meinte er noch und erinnerte sich, dass er noch immer kein Model für seine nächste Shooting-Idee gefunden hatte. Just in diesem Moment erhielt er per eMail eine Systemnachricht von der ModelKartei.

Entsprechend ihrer Systemeinstellungen erhalten sie die Nachricht, dass sich ein neues Model in ihrer Nähe in unsere Datenbank eingetragen hat: „WildCat71“.

Am Neffelsee

Die Männer von der GreenWave Landschaftsbau GmbH rieben sich die Augen, als sie mit ihren Baggern am Neffelsee eintrafen.

»Hier hat doch bereits jemand gegraben«, stellte Thomas, Auszubildender zum Landschaftsgärtner im dritten Lehrjahr, fest, als er den Erdaushub im Bereich des Strandbades sah.

»Da wollte wohl irgendwer unsere Arbeit machen«, kommentierte Karl Weber das Bild, das sich den Männern bot und schüttelte den Kopf. Weber war eigentlich Gärtnermeister, half bei den Großaufträgen auch im Landschaftsbau aus.

»Es hilft alles nichts. So oder so werden wir beginnen.«

Kurze Zeit später war die Baustelle eingerichtet und Baumaschinen zeigten weithin an, dass Maßnahmen im Naturschutzgebiet durchgeführt wurden. Später würden die Lokalnachrichten darüber berichten, dass lediglich ein Regenwasserrückhaltebecken am Neffelsee gebaut würde. Interessieren würde es keinen, solange es den Feldhamster nicht betrifft.

Kleinschmidt begrüßte die Situation. ‚Wenn die Lügenpresse über den Hamster berichtete, hat sie keine Seiten für die Baumaßnahmen frei. Die Zeit ist günstig.‘ Die Zeitung berichtete, dass man nun auch in Zülpich begonnen hatte, Masken zu nähen. Möge es helfen. Kritisch würde es erst dann werden, wenn die Bebauungspläne und die Änderung des Flächennutzungsplans öffentlich ausgelegt werden müssen. Bis dahin muss alles ruhig bleiben.

Beinahe ging das »Scheiße!« zwischen dem Lärm der Maschinen unter. Flüche waren auf einer Baustelle nichts Außergewöhnliches. Ein festgefahrener Bagger bedeutete eine ungewollte Verzögerung. Thomas sprang zur Hilfe und sank sogleich knöcheltief im weichen Erdreich ein.

»Das Zeug klebt!« Thomas bückte sich und stellte überrascht fest, dass das Erdreich ihm regenbogenbunt entgegenschillerte.

»Weber, dein scheiß Bagger verliert Öl!«, rief er seinem Meister zu.

»Kann nicht sein. Der kommt frisch vom Service.«

»Dann haben die wohl geschlampt.«

»Möglich«, grummelt Weber, obwohl er nicht an die Variante glaubte. Er fing an, das Gefährt zu inspizieren. Die Hydraulikschläuche waren alle neu. Anschließend schaute er nach dem Motor. Blitzeblank glänzte er unter der Motorhaube. Der Motor war trocken.

»Da ist kein Öl«, stellte er nach der kurzen Inspektion fest. »Du musst dich geirrt haben.«

»Meister, schau mal auf meine Stiefel.« Er deutete hinunter. »Das ist doch ganz eindeutig Öl.«

Langsam kam Karl Weber auf Thomas zu. Da sich die beiden immer wieder neckten und auch mal vor derben Späßen nicht zurückschreckten, war Karl vorsichtig. »Ey, das ist doch Margarine von deinem Butterbrot.«

»Wir haben schon Nachmittag.« Thomas grinste. »Ich hab‘ doch aufgegessen.«

»Dann vielleicht Fett aus diesem Mittags-Döner …«

»Nein. Wenn ich es dir sage, Meister...«

Zusammen umrundeten die beiden Männer den eingesunkenen Bagger. Karl ging in die Hocke und verrieb etwas Erde zwischen seinen Fingern. Er roch an der braunen Masse, grübelte und nahm an einer anderen Stelle wieder etwas Erde auf. Karl wiederholte die Prozedur. Gelegentlich drehte er sich um und suchte weitere Anzeichen dafür, dass hier vielleicht nicht alles in Ordnung wäre. Thomas schaute seinem Meister hinterher und wartete auf eine Erklärung. Nach einigen Minuten brach Karl Weber das Schweigen. »Das ist Öl. Der Boden klebt.«

»Verdammt, wat hat ´er met mengem Bagger jemaht?« Willi, der originäre Baggerfahrer der Firma, schäumte vor Wut. »Weber, dat es et letzte Mol. Ich sach et dir. Un‘ ich soll de Schlamassel wedder ufröme? Zo nüs zo jebruche.«1

Ein halbes Dutzend Männer standen ratlos beisammen. Anstatt anzupacken, versuchte jeder mehr oder minder sinnvolle Vorschläge einzubringen, wie man den Bagger wieder flottbekommen konnte. So trafen die Chefin, Juliette van Damme, und ihr stellvertretender Geschäftsführer Erwin Schneider auf eine Traube nicht arbeitender Arbeiter, als sie den See erreichten.

Sogleich legte Schneider los, als er „seinen“ Audi verließ: »Was soll das hier? So wie ihr arbeitet, möchte ich mal Urlaub machen.«

Seine Laune war sogleich ebenerdig tief. Oder tiefer. Seine Lederschuhe sanken bis zu den Schnürsenkeln im Dreck ein.

»Ruhig, ruhig, Erwin«, rief Juliette in zur Ruhe, aber Erwin war sichtlich bestrebt, das Heft in der Hand zu behalten und mit kräftiger, fast hysterischer Stimme befahl er: »Also Männer. Wieder an die Arbeit!« Und zu Weber gewandt meinte er mit unverändertem Tonfall: »Karl, du bleibst! Renitenz können wir hier nicht gebrauchen. Auch nicht, wenn dir zehn Prozent von der Firma gehören.«

Karl schaute nur auf Schneiders Schuhe und grinste. „Deine zwanzig Prozent versinken gerade im Schlamm“, dachte er.

Während sich die anderen Männer daran erinnerten, dass sie noch mehr oder minder sinnvolle Tätigkeiten zu erledigen hatten, blieben Juliette, Karl und Erwin zurück.

Karl Weber kochte. Es war nicht das erste Mal, dass er mit Erwin Schneider aneinander geriet. Weber fraß meistens Schneiders Kommentare in sich herein und lehnte sich nur selten auf, denn er hatte längst erkannt, dass man mehr erreichen konnte, wenn man ihn einfach reden ließ und anschließend auskonterte.

»Das hat nichts zu bedeuten«, winkte Schneider verärgert ab, der den wahren Grund der Verschmutzung schon längst von Ostendorf erfahren hatte. So wusste er sehr wohl, was sich unter der losen Erde befand. Ihm war klar, dass sich hier und jetzt entscheiden würde, ob die Pläne des Triumvirats zum Scheitern verurteilt waren, oder ordentlich abkassiert werden könnte.

»Verdichten sie das Erdreich und halten sie den Mund.«

»Ich bin Gärtner, kein Tiefbauer«, entgegnete Karl patzig.

»Sie machen das, wie ich es sage«, entgegnete Schneider. »Sie können Bagger fahren. Also können sie auch diese scheiß Erde zusammenschieben.«

»Damit ist es nicht getan«, entgegnet Weber. »Das muss ein Fachmann machen.«

»Verdammt nochmal!«, entgegnet Schneider. »Unsinnige Belehrungen lasse ich mir weder von einem frustrierten Studienrat noch von einem Hobbygeranienzüchter gefallen.«

»Stopp! Stopp! Nun mal ruhig«, griff Juliette ein, die sogleich einen weiteren Mitarbeiter herbeiwinkte. Wilhelm, den alle nur „Willi“ nannten, war ein Tiefbauer mit vielen Jahren Erfahrung. Normalerweise fuhr er die schweren Maschinen in der Firma. Juliette wendete sich an ihn und fragte: »Willi, was ist hier notwendig, um den Boden für die Seeterrassen zu verdichten?«

Willi fühlte sich immer geschmeichelt, wenn er gebraucht wurde. Dies waren nun seine Minuten. Skeptisch betrachtete er das lose Erdreich und den festgefahrenen Bagger. »Hier es tief jebuddelt worde«, stellte er fest.

»Wie wollen sie das wissen?«, blaffte Schneider ihn an.

Wenn Willi derart angegangen wurde, schaltete er sein Betriebssystem in den Modus „Eifler Sturkopf“. Das ist so, als würde man mit einer alte Buche im Kermeter Forst diskutieren. Man konnte reden. Man konnte sogar viel reden. Es würde die Buche nicht jucken.

Willi hatte nichts mehr zu verlieren, war unkündbar und würde in wenigen Jahren in Rente gehen. Hier war er der Fachmann und er spielte sein Fachwissen genüsslich aus. »Mer han he all, wat de dir Dräume kanns‘. Sand, Kiss, Lehm un‘ Kohle. All der Schlamassel op enge Hoofe. Dat kütt von deef us d‘r Ääd.«2

Erwin Schneider und Juliette van Damme folgten Willis Erklärungen und Gesten. Beide hatten im Laufe der Jahre gelernt, seinen Dialekt halbwegs zu interpretieren.

»Wie tief wurde gegraben?«, fragte Juliette.

»Das kann doch keiner sagen«, meinte Schneider.

»Mindestens Einsfuffzig«, korrigierte Willi. »Eher mieh denn winniger.«3

»Dann haben wir hier Mehrarbeit vor uns«, ärgerte sich Juliette und zog ihren Trenchcoat zu.

»Wir schmeißen einfach noch einen Laster Kies rein, schieben dem Rüttler drüber und es sollte reichen«, war jedoch Schneiders Meinung.

»Nach em System: Wat fott es, es fott?«4 bemerkte Willi verärgert. »Un‘ wenn der Schlamassel nit hält, wenn de Jonge met ´em Betong drüvverwolle?«5

Willis Siedepunkt war weit überschritten. Auch Schneider kochte auf gleicher Temperatur: »Scheren sie sich fort, wenn sie noch ihre Rente erleben wollen!«

Willi ließ sich dies nicht zwei Mal sagen und sah zu, dass er aus Schneiders Dunstkreis verschwand. »Et hät schlemmer kumme könne«6, grummelte er, als er sich umdrehte und von Dannen schlich.

Schneider wendete sich Karl Weber zu und schnauzte ihn im gleichen Tonfall an: »Und sie auch. Verschwinden sie endlich!«

Als Schneider mit Juliette allein am kleinen Erdhügel stand, musste er die Situation noch kommentieren: »Jetzt sind die Idioten schon zu zweit und ich muss noch immer für die denken.«

»Ausgerechnet du und denken! Wirklich konstruktiv war das nicht.«

»Was nun? Wir machen einfach weiter. Morgen ist die Sache erledigt.« Erwin blicke sich auf der Suche nach weiteren Opfern um und sah, dass noch überall Männer die Situation beobachteten, anstatt zu arbeiten. Schneider schrie ihnen entgegen: »Wir machen jetzt den Helikopter. Ich mach Krach und ihr fangt an zu rotieren. Dann will ich Staub aufwirbeln sehen!«

»Sei froh, dass der Weber überhaupt Bagger fährt«, versuchte Juliette ihren Partner wieder auf den Boden zurückzubringen. »Sonst kämen wir hier überhaupt nicht weiter. Er stand schon immer mal kurz davor zu kündigen und sich auszahlen zu lassen.«

»Sklaven werden verkauft oder erschossen. Kündigen können die nicht. Dieser braungebrannte Schönling ohne Hirn soll mir wegbleiben. Nein. Arbeiten soll der, bis er keucht.«