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Crasher – miss you

Prolog

Noch nie in ihrem Leben war Clara so glücklich gewesen wie an diesem Tag. Es war ein ungewöhnlich heißer Nachmittag im August, der Sand unter ihren Füßen kitzelte sie sanft, ein Ausflug an den Strand mit ihren Eltern und ihrem großen Bruder Shane. Das Beisammensein war in letzter Zeit zu einer Seltenheit geworden, nicht zuletzt weil es Shane immer häufiger von ihnen weg und zu Mädchen in seinem Alter zog. Die Vorstellung, ihren Bruder Stück für Stück zu verlieren, war ihr unerträglich gewesen. Dabei konnte sie ihn verstehen. Wäre sie so alt wie er – vier Jahre war er älter, schon sechzehn nämlich – und hätte sie die gleichen Freiheiten, sie würde auch auf Partys herumhängen und nachts durch die Clubs ziehen. Mit ihm zusammen.

Beschämt verdrehte Clara die Augen und schielte zu ihrem Bruder hinüber, der ein paar Meter weiter mit einem hübschen Mädchen in einem unerhört knappen Bikini flirtete. Ein kleiner Troll erwachte in ihrer Brust und schnell sah sie wieder weg. Die gute Stimmung war dahin.

Missmutig ließ sie sich in den Sand plumpsen und bemühte sich darum ihre gute Stimmung wiederzufinden. Ein flirtender Shane war kein Grund, Trübsal zu blasen. Wenn es das wäre, würde sie ihre schlechte Laune vermutlich gar nicht mehr loswerden. Doch das war das Gute an ihrem Urlaub: Am Ende des Tages kam er wieder mit ihr, Mama und Papa nach Hause.

Die rote Sonne schien auf Claras Kopf und bleichte ihr ohnehin schon hellblondes Haar. Ihre Haut brannte von den aggressiven UV-Strahlen, also kramte sie aus der Tasche ihrer Mutter einen übergroßen Sonnenhut und eine Flasche von der neusten Violet-Sugar-Corp.-Sonnencreme mit dem Lichtschutzfaktor 250. Violet Sugar Corp. hatte, nachdem die Firma zuvor vor allen Dingen mit haltbaren Lebensmitteln und Medikamenten bekannt geworden war, in den vergangenen Jahren unzählige neue Wundermittel herausgebracht. Sprays, Putzmittel, Cremes und Pflegeprodukte – das alles verbesserte die Lebensqualität und nur ausgewählte Mitarbeiter der Firma kannten die Inhaltsstoffe. Papa arbeitete zwar für Violet Sugar Corp., doch er gehörte nicht zum inneren Kreis. Wäre er einer von ihnen, wäre er stinkreich. Aber immerhin bekamen sie regelmäßig die Produkte geschenkt und inzwischen war er sogar wichtig genug, um einen Familienurlaub auf der firmeneigenen Privatinsel gesponsert zu bekommen. Clara dachte also nicht daran sich zu beklagen.

Während sie sich mit der Sonnencreme einrieb, deren Wirkung zwölf Stunden anhielt und die trotz der in den letzten Jahren angestiegenen Ozonwerte und der glühenden Sonne Hautkrebs praktisch ausschloss, schielte sie entgegen ihres Vorsatzes immer wieder zu Shane und dem Mädchen hinüber. Er trug nur eine Badeshorts und Clara fand, dass er ziemlich gut aussah. Um seinen Hals trug er eine dünne Kugelkette mit einem silbernen Anhänger, der direkt vor seiner nackten Brust baumelte. Ein silbernes Puzzleteil … Das passende Stück hing um ihren Hals. Clara hatte es ihm und sich selbst vor ein paar Monaten geschenkt und war erstaunt, dass er ihn wirklich trug. Auch wenn es gerade die Finger des Mädchens mit den pink lackierten Nägeln waren und nicht ihre, die danach griffen und dabei natürlich rein zufällig seine Haut streiften …

»Hey, Pumpkin, die ganze gute Sonnencreme tropft in den Sand!«

Ertappt blickte Clara auf. Ihre Eltern waren von der Strandbar zurückgekehrt und ihre Mutter balancierte drei Gläser mit bunten Getränken auf einem Tablett zu ihrem Strandkorb. Ihr Vater grinste und deutete mit der freien Hand auf den Boden vor ihren Füßen. In dem gelben Cocktail mit den exotischen Früchten in seiner anderen Hand klirrten die Eiswürfel gegen das dickbauchige Glas.

»Ich schätze, die Erde wird so schnell keinen Sonnenbrand bekommen«, sagte er und lachte. Clara hatte gar nicht bemerkt, dass die Creme von ihrem Arm tropfte, den sie während der Observation ihres Bruders eigentlich hatte einschmieren wollen.

»Tut mir leid«, murmelte sie und gab sich die größte Mühe, nicht noch einmal zu Shane und dem Mädchen zu glotzen.

Ihr Vater stellte seinen Cocktail zu den anderen auf das Tablett, dann begann er seine Tochter einzureiben. »Ist doch nichts passiert, Pumpkin«, tröstete er sie, als er bemerkte, dass sie noch immer betrübt auf den Boden starrte. Es kam ihr vor, als meinte er gar nicht die Sonnencreme, sondern Shane und das Mädchen.

Clara nickte nur und sah ihrer Mutter dabei zu, wie sie das Tablett unfallfrei auf das kleine Ausklapptischchen stellte.

»Fertig!«, rief ihr Vater schließlich, als Arme, Schultern und Rücken eingecremt waren, und drückte Clara die Tube in die Hand. »Und mach dir keine Sorgen wegen der Creme auf der Erde«, sagte er mit einem Zwinkern. Sein Blick huschte zu Shane, dann kämpfte er sich durch den Sand zu seiner Frau und den Cocktails am Standkorb. Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch blickte Clara ihm hinterher. Hatte er wirklich ihren Bruder und das Mädchen gemeint? Ihr wurde schwindelig, so peinlich war ihr das. Also blieb sie lieber sitzen, allein und ein wenig abseits, und cremte zu guter Letzt noch Beine und Füße ein. Lustlos warf sie die Tube in den Sand und es kümmerte sie nicht, dass der Deckel wieder aufsprang und die zähe Flüssigkeit in den Boden sickerte. Dann bekam die Erde eben keinen Sonnenbrand.

Die Sonne brannte und selbst der Hut vermochte es nicht, ihr etwas Erleichterung zu verschaffen. Träge begann Clara ihre Füße im Sand zu vergraben. Die Oberfläche war brennend heiß, doch etwas tiefer unten kam der kühle Sand. Was für eine blöde Idee, an so einem heißen Tag an den Strand zu gehen!

»Alles okay?«

Clara blickte überrascht auf. Shane stand vor ihr und spendete ihr ein wenig Schatten. Sie hatte ihn nicht kommen hören und musste gegen die Sonne über seinem Kopf blinzeln. Seine blonden Haare schienen rötlich zu schimmern und verliehen seinem plötzlichen Erscheinen etwas Magisches. Das halb nackte Mädchen war nirgendwo zu sehen. Clara antwortete nicht und nickte nur verlegen, bevor sie den Blick wieder senkte. Das grelle Licht tat in ihren Augen weh, vielleicht war es aber auch nur schmerzhaft Shane anzusehen. Ihren Bruder Shane mit den wilden blonden Haaren und den großen grauen Augen. Sie und er sahen sich irgendwie ähnlich und doch waren sie völlig unterschiedlich.

Shane ließ sich neben ihr in den Sand plumpsen und fluchte, als er sich den Hintern verbrannte. Clara lachte, es fühlte sich gut an, seine Aufmerksamkeit zu haben. Es machte sie glücklich, dass er ihretwegen den Schmerz in Kauf nahm.

»Wird sie deine neue Freundin werden?«

Shanes Augenbrauen zuckten komisch. »Wer? Das Mädchen eben?« Clara nickte und Shane wog nachdenklich den Kopf hin und her. »Ich glaube eher nicht. Ich fand sie ein bisschen aufdringlich.«

Clara lachte, das eingeengte Gefühl in ihrer Brust löste sich und sie fühlte sich schlagartig befreit. »Ich fand sie auch doof«, gab sie zu.

Er buffte sie mit der Schulter an und seine Haut streifte ihre. Trotz der Hitze bekam sie eine Gänsehaut. Verwegen grinste Shane sie an. »Aber ich werde ohnehin nie ein Mädchen lieber haben als dich!« Clara starrte ihn an und wäre vor Freude am liebsten in Tränen ausgebrochen. Nichts und niemand würde jemals zwischen sie und Shane kommen, denn ein Leben ohne ihn wäre nicht zu ertragen. Es war ihr egal, dass er ihr Bruder war. Vielleicht, in ein paar Jahren, könnten sie zusammen durchbrennen und irgendwo hingehen, wo niemand wusste, dass sie Geschwister waren. Unwillkürlich griff sie an das Puzzleteil, das von der Sonne ganz heiß geworden war und sich in ihre Haut zu brennen schien. Noch nie zuvor war Clara so glücklich gewesen wie an diesem Tag.

»Was ist? Bauen wir eine Sandburg?« Er sprang auf die Füße, fluchte abermals wegen des heißen Sandes, dann half er Clara auf. Mühselig zog sie ihre Füße aus ihrem kühlen Versteck, griff nach seiner Hand und gemeinsam liefen sie bis ans Wasser. Der Wind zerwühlte ihre Haare und erfüllte sie mit Freude und Leben und obwohl die Sonne natürlich auch hier mit ihrer ganzen Kraft schien, war sie ihr jetzt gleichgültig. Das schrille Schreien der Möwen über ihren Köpfen, das Rauschen und Tosen des Meeres, das kühle Nass, das an ihre Beine spritzte, ihre Füße umspielte und sie wie mit flinken Fingern in den Sand gruben, dazu Shane an ihrer Seite, Shane für sie ganz allein und ohne leicht bekleidete Mädchen – Clara konnte kaum glücklicher sein.

Und dann brach ihre Welt auseinander.

Neun Jahre später

Kapitel 1

Als er ohne Vorwarnung in mich eindringt, bin ich noch nicht so weit. Ich bin trocken und er tut mir weh, aber das gehört dazu. Ich schließe die Augen und lasse es über mich ergehen, wie er mich rücksichtslos wund reibt, ignoriere sein Schnaufen und warte darauf, dass er endlich fertig wird. Es ist meine Aufgabe, ihm Entspannung zu verschaffen, ganz egal, wie. Und das mache ich. Aber niemand kann von mir erwarten, dass ich auch noch so tue, als würde es mir gefallen.

Seine Stöße werden heftiger, jedes Mal knalle ich gegen das Kopfteil des Bettes. Ich presse meine Lippen aufeinander, um nicht laut zu fluchen, versuche aber mir zumindest den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Zwischen meinen Beinen brennt es inzwischen, als hätte er seinen Schwanz in Chilisoße getunkt. Ich spreize meine Schenkel und drücke meine Hüfte nach vorn – ich weiß, dass er darauf steht und ihn das schneller kommen lässt. Sein verschlucktes Aufstöhnen bestätigt, dass es gleich so weit ist, und ich überwinde für ein paar letzte Stöße meinen Schmerz, recke mich ihm für ein möglichst tiefes Eindringen entgegen. Als er sich endlich in mir ergießt, könnte ich kotzen. Zum Glück habe ich auch jetzt noch meine Lippen aufeinandergepresst. Trotzdem würde ich am liebsten sofort aufspringen und wegrennen, so weit es nur geht. Ich will sein Zeug nicht in mir haben, ich will nichts von ihm. Doch als hätte ihn jemand von hinten niedergestreckt, bricht er auf mir zusammen und fesselt mich so auf die Matratze – Flucht ausgeschlossen. Ich spüre, wie sein Schwanz in sich zusammenfällt und schließlich aus mir herausflutscht wie ein toter Fisch. Endlich kann ich mich wieder entspannen, doch das Brennen bleibt. Sein Abschiedsgeschenk, damit ich noch an ihn denke, wenn er schon längst Kreaturenfutter ist.

Er braucht ein paar Minuten, um wieder zu Atem zu kommen. Doch dann, als erinnere er sich daran, dass noch jemand anderes an diesem Akt beteiligt gewesen war, rollt er sich von mir runter und steigt aus dem Bett. Ich wickle das einfache Laken um meinen benutzten Körper, setze mich auf und hocke mich hin. Etwas läuft zwischen meinen leicht gespreizten Beinen aus mir heraus. Sein Samen besudelt das zerwühlte Bett, doch das ist mir gleich. Es ist sein Bett, seine Sauerei.

»Du kannst jetzt gehen«, zerreißt seine dunkle Stimme die schwüle Luft seines Zimmers.

Ich wische die Reste seines Spermas im Laken ab, dann schlüpfe ich aus dem Bett. Einzig der verbogene Anhänger, der an einer feinen Kugelkette über meinem Herzen liegt, schmückt meinen Körper. Nacktheit ist mir nicht fremd, doch sie behagt mir nicht. Ich bin nicht schön, nicht kurvig genug und mein Schamgefühl schreit nach Beachtung. Dennoch ziehe ich mich nicht sofort an – ich weiß, dass ich ihn damit provoziere.

»Was denn? Es ist deine letzte Nacht und du schickst mich weg?«

Ich stelle mich vor ihm auf, die Arme vor den nackten Brüsten verschränkt. Sie sind so klein, dass ich sie mit meinen Armen bedecken kann. Haaken hat sich inzwischen eine Hose übergezogen. Er ist gut gebaut, das kann auch ich nicht abstreiten. Unter seiner olivfarbenen Haut treten Sehnen und definierte Muskeln deutlich hervor. Ein paar helle Narben zieren seine Brust und seine Arme – Beweisstücke für das harte Kampftraining im 30. Stock. Sein Blick weicht mir aus natürlich. Ich bin nur das Miststück, in das er seinen Schwanz reinsteckt. Das ihn zusammenflickt, sollte er seine Mission wider Erwarten überleben. Niemand also, den man respektiert.

Arschloch.

»Ich brauche meine Kräfte für morgen. Außerdem will ich dich nicht überfordern.« Er grinst selbstgefällig. »Du musst ganz wund sein.«

Er hat es also gemerkt. Natürlich hat er das! Und trotzdem hat er mich hart rangenommen. Es war ihm schlichtweg egal.

»Und ich dachte, ich bin für dich mehr als nur …« Ich lasse meine Stimme weinerlich klingen und breche ab, drehe mich um und suche meine Klamotten zusammen. Er soll denken, dass ich heule, doch ich bin noch nie gut darin gewesen Gefühle wie diese zu heucheln. Für jemanden wie ihn, jemanden, der noch gefühlsverkrüppelter ist als ich, anscheinend aber gut genug.

»Dann bist du im Kopf echt genauso lahm wie im Bett. Sieh zu, dass du wegkommst. Ich verschwende nicht meine letzten Stunden mit jemandem … wie dir.« Er will mich damit verletzen, doch da ich von ihm kein Mitgefühl erwartet habe, gelingt es ihm nicht. So etwas Abstraktes wie Mitleid ist ihm fremd – und mir auch.

Ich schlüpfe hastig in mein weißes Kleid, BH und Slip knäule ich in meiner Faust zusammen. Ohne einen weiteren Kommentar verlasse ich sein Zimmer, ich kann gar nicht weit genug wegkommen von ihm und meiner verdammten Aufgabe. Denn ich weiß, was er meint.

Jemandem wie dir.

Ich bin ein Roter Engel. Rote Engel heilen Wunden, versorgen Verletzte, behandeln ihre Kämpfer auch schon während der Zeit ihres Trainings und leisten nicht zuletzt seelischen und moralischen Beistand während der schweren Stunden vor ihrer Selbstmordmission. Wir spenden Trost. Wir zerstreuen ihre Furcht.

Das alles ist die geschönte Theorie.

Die Realität, die Praxis, sieht ein bisschen anders aus.

Damals, bevor die Welt auseinandergebrochen ist, gab es für Mädchen wie mich einen anderen Namen. Einen Namen, den heute niemand mehr wagt auszusprechen. Eher würden sich die feinen Herren Oeconomici die Zungen abschneiden, als es offen zuzugeben. Huren.

Wir sind Huren und Gebärmaschinen.

***

Draußen ist es dunkel. Das Wasser ist knapp, dennoch dusche ich. Ich muss seinen Schweiß, seinen Körpersaft von mir waschen, sonst brennt er sich in meine Haut und vergiftet mich von innen. Tötet meine Seele noch ein Stückchen mehr.

Anschließend sitze ich auf dem Bett meines kleinen Zimmers im 23. Stock und kämme mir die feuchten Haare mit meinen Fingern. Mein Zuhause ist die Sonnenuhr, ein ehemaliges Luxushotel der Firma Violet Sugar Corp., ausgesprochen gut ausgestattet und gleichzeitig Lagerplatz für unzählige Violet-Sugar-Lebensmittel. Was uns einst zerstörte, rettet uns nun das Leben. Violet Sugar Seasons Vacation - einst ein architektonisches Meisterwerk inmitten eines Waldes aus Wolkenkratzern. Von den anderen Hochhäusern steht keines mehr, alle sind dem Erdboden gleichgemacht. Sie nennen das Hotel Sonnenuhr, weil es trotz allem noch steht, dem bebenden Planeten und den Kreaturen zum Trotz, immer aufrecht, bis die Sonne verglüht und wir nicht länger den einzigen Schatten in dieser Ödnis aus Trümmern und vertrockneter Erde werfen.

Mühsam stehe ich auf und suche mir ein paar saubere Sachen zusammen. Ich bin noch immer wund, Wasser trocknet mich nur weiter aus, doch ich muss es aushalten. Pflegeprodukte, die mir etwas Erleichterung verschaffen könnten, gibt es schon lange nicht mehr. Immerhin habe ich nun ein bisschen Ruhe von ungewolltem und pflichterfüllendem Sex mit todgeweihten Männern, die mich verachten und mich schwängern wollen. Obwohl sie mich verabscheuen oder zumindest mit Gleichgültigkeit betrachten, wollen sie mich als Behältnis für ihre Saat, um in dieser verkommenen Welt etwas zu hinterlassen. Ich verstehe es nicht, aber das spielt keine Rolle. Ich muss es nicht begreifen, ich muss nur meinen Körper zur Verfügung stellen.

Nun jedenfalls wird erst einmal ein paar Wochen gewartet, um zu sehen, ob ich schwanger bin. Doch das bin ich nicht. Ich bin nie schwanger, und das ist gut so. Erst wenn ein Kind ausgeschlossen ist, werde ich dem nächsten Opferkämpfer zugeteilt, der mich mit rücksichtslosem Egoismus wundficken darf und womöglich darauf hofft, der Eine zu sein, der bei mir, der unempfänglichen Clara, den Unterschied macht. Eigentlich ein Wunder, dass ich noch zugeteilt werde, denn meine Art, meine reizlose Erscheinung und meine Kinderlosigkeit steigern nicht gerade meinen Beliebtheitsgrad.

Ich lausche in die Stille meines Zimmers, die mich zu verschlingen scheint, mich auffrisst und mich dazu bringt, meine Existenz in Frage zu stellen. Denn woher soll ich wissen, ob ich wirklich hier bin, wenn niemand mich sieht, niemand mein Dasein bezeugen kann? Vielleicht verschwinde ich, sobald ich allein bin, löse mich in Luft auf und mein Sitzen auf dem Bett in diesem Moment und all das spielt sich bloß in einem körperlosen Verstand ab. Was würde passieren, wenn ich das Fenster öffne und mich einfach fallen lasse, ohne dabei gesehen zu werden? Würde es einen Unterschied machen?

Es ist das Knurren meines Magens, das mich zurückholt, als säße in meinem Bauch ein hungriger Hund, der mich daran erinnert, dass ich sehr wohl da bin und gefüttert werden muss. Ich gehorche und werfe mir die letzte Pille meiner Tagesration ein – Violet Sugar 500 Kalorien. Es dauert einige Augenblicke, ehe die Tablette sich zu ihrer vollen Größe ausdehnt und meinen Magen mit Volumen, meinen Körper mit Nährstoffen und Vitaminen versorgt. Es ist so einfach. Der Hunger ist verschwunden und auf die Toilette muss ich auch nicht. Dennoch vermisse ich richtiges Essen, den Geschmack auf der Zunge und im Mund, der Emotionen und Sehnsüchte auslösen kann. Dabei erinnere ich mich kaum noch daran. Das letzte richtige Essen hatte ich vor sechs Jahren – ein alter Schokoriegel mit Erdnüssen, der schon so alt und immer wieder geschmolzen war, dass die Schokolade und die Plastikverpackung eins geworden waren und ich sie mitessen musste, um nichts zu verschwenden. Ich versuche mich an den Geschmack der ranzigen Schokolade zu erinnern, der muffigen Erdnüsse, selbst wenn es damals alles andere als eine Offenbarung gewesen war. Ich rufe mir das Gefühl auf meiner Zunge zurück ins Gedächtnis, wie der Riegel dort sämtliche Geschmacksknospen explodieren ließ. Um mich selbst ein bisschen zu quälen. Das kann ich gut.

Als ich die erdrückende Stille meines Zimmers nicht länger ertrage, fahre ich mit dem Fahrstuhl in den 33. Stock. Die Angst von damals, was passiert, wenn alle drei Fahrstühle eines Tages gleichzeitig den Geist aufgeben und keine Ersatzteile mehr vorhanden wären, empfinde ich nicht mehr. Es ist mir egal. Nach der Sache mit meiner Mutter kann mich nichts mehr erschrecken. Von mir aus könnte der Fahrstuhl mich auch jetzt in die Tiefe reißen oder, die Kabine zwischen zwei Etagen verhakt, wie in einer innigen Umarmung eines liebenden Menschen festhalten, bis ich verdurstet bin. Eine seltsame Vorstellung, die ein dumpfes Ziehen in meiner Brust verursacht, wie ein Schatten über dem pulsierenden Muskel, den keiner sehen kann und der doch irgendwie da ist. Dieses Ziehen ist der Grund dafür, weshalb ich beinahe etwas enttäuscht bin, als die Tür sich öffnet und der Fahrstuhl mich auswirft, wie Haaken es vorhin aus seinem Bett getan hat.

Und all die anderen vor ihm.

Die Bar im obersten Stockwerk des ehemaligen Luxushotels ist nur spärlich besucht. Ich verstehe das. Bars hatten vor der Erschütterung einen höheren Stellenwert als heutzutage. Die verbliebenen Reste des kostbaren Alkohols sind ausschließlich den Atemlosen vorbehalten. Atemlose sind künftige Opferkämpfer, sie wurden auserwählt und befinden sich bis zu ihrer Mission im Training. Schon oft habe ich gehört, wie brutal und kräftezehrend das Training ist, habe ihre Narben gesehen. Von daher ist ihre Bezeichnung als Atemlose ausgesprochen passend. Und auch ihr Privileg, sich den bevorstehenden Tod schönzutrinken, ergibt einen gewissen Sinn, auch wenn das für alle anderen Verzweifelten ziemlich scheiße ist. Wenn also nicht, um sich hemmungslos volllaufen zu lassen, warum dann sollte man in einer Cocktailbar abhängen? Sicher nicht für ein romantisches Date in schicker Abendgarderobe.

Dennoch haben sich in dieser frühen Nacht ein paar verlorene Seelen hierher verirrt. Vielleicht suchen sie nach Zerstreuung, so wie ich, fliehen vor der Enge ihrer Zimmer und ihren Erinnerungen. Niemand, der hier in der Sonnenuhr ist, hat gute Erinnerungen. Das sind wir, die Menschen, die übrig sind. Ausgefüllt mit schwarzem Rauch, der durch unsere Körper wabert, unser Blut verfärbt, sich auf unsere Lungen legt und uns das Atmen schwer macht.

Ich setze mich an meinen Stammtisch am Fenster und lasse meinen Blick durch die Bar schweifen. Sechs Späher sind an den Fernrohren positioniert und kundschaften die Umgebung aus. Vielleicht suchen sie nach einer besonders hungrigen Meute Kreaturen, zu der sie Haaken und seinen Kumpan in ein paar Stunden schicken können. Müsste ich darauf wetten, würde ich meinen, dass er ein guter Kämpfer ist. Doch das Brennen zwischen meinen Beinen, das der hohe Barhocker nicht gerade lindert, lässt mich irgendwie hoffen, dass ihn die Kreaturen sofort zerreißen.

Die Luft ist schlecht hier oben, feucht und abgestanden, irgendwie unbeweglich. Es ist still, nur ein paar geflüsterte Worte dringen an mein Ohr. Ich versuche nach draußen zu sehen, doch stattdessen ist da in der Scheibe nur mein eigenes Gesicht, blass und ausdruckslos, so wie jedes andere hier. So sieht man aus, wenn man seit Jahren nicht mehr an der Sonne war, seit Jahren keine Hoffnung mehr im Herzen hat.

Sechs Jahre.

Nur mein Haar hat sich nicht verändert, seit ich hier bin. In den ersten drei Jahren nach der Erschütterung, als die Kreaturen noch nicht so zahlreich waren, als es noch nicht den sicheren Tod bedeutet hat, ins Freie zu treten, sind meine verstörten Eltern und ich wie die meisten anderen Überlebenden in der gleißenden Sonne durch die Steinwüsten und über Ruinen geirrt. Wir haben gebrannt, ohne in Flammen zu stehen, und meine Haare wurden ihrer letzten Farbe beraubt. In einer der unzähligen Notunterkünfte, in denen es stets von Ratten und Kakerlaken wimmelte, habe ich einmal eine alte Packung Haarfärbemittel gefunden. Es war der verzweifelte Wunsch, der hässlichen Realität zu entfliehen, auch wenn es nur mit einer neuen Haarfarbe gewesen wäre. Blauschwarz, stand auf der Packung. Mir war die Farbe egal, Hauptsache nicht mehr weiß. Doch die Tönung überstand die erste Wäsche nicht. Als hätte mein Haar eigenständig entschieden, weiß sein zu wollen. Als erlaube es mir meine Flucht vor dem Schmerz der Leere in meiner Brust nicht. Ich soll meine eigene Erinnerung sein.

An ihn.

Seither sind meine Haare wieder weiß und es bis heute geblieben. An ihnen erkenne ich mich im Spiegel und an meinen grauen Augen, so grau wie seine. Sie haben ihren Glanz verloren, sind stumpf wie ein zwanzig Jahre altes Taschenmesser. Die Brandnarbe in der Form eines Puzzleteils unter dem Anhänger um meinen Hals hingegen ist das Symbol meiner Veränderung, der sichtbare Wendepunkt meines Lebens.

Alles andere hat mit der Person, die ich einmal gewesen bin, nichts mehr gemein. Alles andere, was nicht meine äußere Erscheinung ist, ist mir fremd und ich habe längst erkannt, dass ich diese unbekannte Person in meiner Brust nicht besonders mag. Sie ist gleichgültig und kalt, eine verdorbene Frucht in einer intakten Hülse.

Ich lege meine Stirn an die kalte Fensterscheibe und schließe die Augen. Die kühle Oberfläche tut gut, verschafft mir in der schwülen Hitze der Bar etwas Erleichterung. Doch die geschlossenen Augen … Sie sind ein riskantes Unterfangen, denn wenn ich nicht aufpasse, wenn ich die Kontrolle über meine Gedanken verliere, dann tauchen sie auf. Die Bilder aus meiner Erinnerung. Der letzte Tag am Strand, die Erschütterung. Shane …

Jemand knallt ein Glas auf meinen Tisch und ich schrecke hoch, bevor mich die Bilder gänzlich erfassen. Die namenlose Kellnerin, die immer hier ist, kaum älter als ich, lächelt mich an, als wüsste sie, was in mir vorgeht. Doch das tut sie nicht, sie ist kein Roter Engel. Ohne ihre Geste zu erwidern, wende ich mich von ihr ab und hoffe, dass sie mich in Ruhe lässt. Ich ahne, dass sie sich mit mir unterhalten möchte, womöglich um ihrer eigenen Einsamkeit zu entfliehen, doch ich habe kein Interesse. Alle in diesem verdammten Hochhaus sind einsam, völlig gleichgültig, wie viele Menschen hier leben, wie groß die Gruppe der Überlebenden auch ist. Doch ich bin die Einzige, die sich damit arrangiert hat – zumindest mache ich mir das vor. Ich bin für eine zwanglose Unterhaltung gänzlich ungeeignet.

Abermals versuche ich in der tiefen Dunkelheit außerhalb der Fensterscheiben etwas auszumachen. Gewitterleuchten zuckt immer wieder am Himmel auf, doch der Blitz-Monsun lässt weiter auf sich warten. Als verweigere uns der Planet nun auch noch die überlebensnotwendige Versorgung. In den letzten Jahren haben wir uns stets auf die unwetterartigen Regengewitter verlassen können, zwei Mal im Monat zogen sie über unsere Köpfe hinweg und sicherten unsere Wasserversorgung. Doch seit einiger Zeit herrscht Trockenheit, seit zwei Monaten. Und sollten sich nicht bald die Wolken öffnen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, ehe sie uns das Duschen verbieten. Der nächste Schritt ist dann nicht mehr weit: nicht mehr trinken.

»Hey … ich bin Vicky.«

Ich wende mich der Stimme zu. Die Kellnerin ist noch immer da, ich habe nicht einmal bemerkt, dass sie nicht wieder gegangen ist. »Bist du nicht Haakens Roter Engel?« Ungebeten setzt sie sich zu mir an den Tisch.

Ihre aufdringliche Art irritiert mich. Meine Schlagfertigkeit ist dahin. »Bin ich«, antworte ich, anstatt sie angemessen zum Teufel zu jagen.

Kellnerin Vicky sieht mich zögerlich an. »Solltest du dann nicht jetzt bei ihm sein? In der letzten Nacht, bevor er in eine Mission zieht?«

»Er hat es vorgezogen, sie ohne mich zu verbringen.«

Plötzlich stützt sie die Arme auf den Bistrotisch und beugt sich verschwörerisch nach vorn. »Wie ist er so? Haaken, meine ich.« Sie flüstert fast und ich ahne bereits, wie dieses Gespräch verlaufen wird.

»Du willst wissen, wie er im Bett ist?«, versuche ich den Gesprächsverlauf ein wenig zu beschleunigen.

Kellnerin Vicky hat jetzt rote Bäckchen wie ein Schulmädchen, das gerade ihren ersten Kuss bekommen hat. Sie lacht verlegen. Ich weiche ihrem Blickkontakt aus. Augenkontakt ist bei den Bewohnern der Sonnenuhr eine Seltenheit geworden. Für sie ist es ein Zeichen von Respekt, sich in die Augen zu blicken, und nur wenige Menschen haben noch so etwas wie Respekt für andere übrig. Ich widersetze mich dieser Angewohnheit, wo ich nur kann, doch momentan habe ich keinen Nerv dafür.

»Nein, das meine ich nicht …« Sie lacht viel zu aufgesetzt und ist darum bemüht ihre Aufregung für sich zu behalten. »Also doch, das auch«, gibt sie dann doch zu.

Ich bin unentschlossen, was ich antworten soll. Mir ist es ein Rätsel, was die Leute von Sex erwarten. Sex ist ein schmutziger Vorgang, bei dem stinkende Körperflüssigkeiten vermengt werden, in den seltensten Fällen mit dem christlichen Hintergedanken der Fortpflanzung, stattdessen angetrieben von einer Lust, die in ihrem Höhepunkt ein paar mickrige Sekunden dauert – wenn man ihn überhaupt erreicht. Sex ist hässlich, unbequem und für mich nichts weiter als die Durchführung einer unausgesprochenen Pflicht. Was also sage ich dieser Kellnerin mit ihrer romantisierten Vorstellung von Sex?

»Haaken ist stark und gut gebaut und er weiß genau, wie er bekommt, was er will.« Das trifft es ziemlich gut. Und wieder einmal wird mir das wunde Fleisch zwischen meinen Beinen bewusst. »Darüber hinaus kann ich dir bedauerlicherweise nichts über seine Eigenschaften als Mensch sagen.« Ich kann mir einen verächtlichen Ton nicht verkneifen. Haaken wollte keine Zeit mit mir verbringen. Ich habe es in seinem Gesicht lesen können, wie enttäuscht er war, als er mich als Roten Engel zugeteilt bekommen hat. Mein Körper ist gerade noch gut genug für seine niederen Bedürfnisse, an eine emotionale Bindung oder gar einen Austausch von Höflichkeiten ist nicht zu denken. Nicht mit mir. Und wozu sollte er auch nett zu mir sein? Er und ich wissen beide, dass er meine wohlwollenden Fähigkeiten als Krankenschwester nicht benötigen wird.

Unruhig rutscht Vicky auf ihrem Barhocker umher. »Weißt du«, flüstert sie weiter, »ich möchte ja echt nicht mit dir tauschen und so, aber bei Haaken hätte ich eine Ausnahme gemacht. Ich finde ihn heiß. Ein Jammer, dass er morgen sterben wird.«

Ihre unbedachten Worte lösen in mir eine unerklärliche Antipathie für sie aus. Ein Roter Engel zu sein war einst von Bedeutung, hatte einen hohen Stellenwert in dieser neuen Form der Gesellschaftsstruktur. Etwas, worauf man stolz war. Vicky enttarnte die Tätigkeit der Roten Engel als das, was daraus geworden ist: Etwas, worum man niemanden beneidete. Dass sie über Haakens bevorstehenden Tod spricht wie über das Wetter, stört mich hingegen nicht. Erdbeben und Naturkatastrophen verändern einen Menschen nicht. Sie zeigen ihn nur von seiner hässlichsten Seite.

Ich selbst schließe mich da nicht aus.

»Probier dein Glück«, sage ich grob. »Er ist allein diese Nacht. Vielleicht kommt er später noch in die Bar, um sich zu besaufen. Lass dich von ihm ficken, dann bist du es vielleicht, an die er denkt, während er stirbt.«

Beschämt, vielleicht über meine Worte oder den Vorschlag an sich, senkt sie den Kopf. »O nein, das traue ich mich nicht.«

Genervt verdrehe ich die Augen. »Sind wir dann hier fertig? Kannst du jetzt einfach …«, ich suche nach Worten, die nicht zu verletzend sind, »jemand anderen vollquatschen?«

Entsetzt hebt sie den Blick, ohne meinen Augen zu begegnen, dann springt sie vom Barhocker auf. Als sie beleidigt davoneilt, habe ich den Eindruck, mich bei ihr entschuldigen zu müssen. Doch wer entschuldigt sich jemals bei mir? Dafür, dass die Welt zerbrochen ist, für meine Verluste und für die Taubheit meines Herzen, das Sterben des Mädchens, das ich einmal gewesen bin? Das alles ist nicht Vickys Schuld, aber dass sie sich ungefragt an meinen Tisch gesetzt und mir ein Gespräch aufgezwungen hat, ist auch nicht meine.

Ich kippe das Wasser in einem Zug herunter und stelle mir vor, es wäre Alkohol. Dann habe ich genug von der Bar. Kein Ort in diesem verdammten Gefängnis, das gleichzeitig meine Rettung ist, kann mich in meiner Ruhelosigkeit halten. Also gehe ich zurück. Auch wenn mich die Wände meines Zimmers erdrücken werden und Shane zu mir zurückkommt, ist das immer noch besser, als dem blassen, toten Gesicht in der Fensterscheibe gegenüberzusitzen.

Kapitel 2

Ein Tosen und Beben lässt meine Beine zittern. Die Erde unter meinen Füßen scheut, versucht mich abzuwerfen, mich in die Knie zu zwingen. Die Sonne ist gleißend rot, blendet mich, meine Augen tränen bereits. Auch vor Schmerz. Ich kann nichts sehen, will sie abschirmen, doch ich brauche meine Arme, um das Gleichgewicht zu halten. Ich höre Schreie. Überall Schreie. Hysterie. Todesangst. Das verzweifeltste Kreischen kommt von mir. Ein wildes Gewusel und Getrampel um mich herum versetzt mich in Panik und ich verliere die Orientierung. Ich schreie seinen Namen, doch ich bekomme keine Antwort. Wo ist er? Höre ich ihn unter dem Klagegesang nur einfach nicht? Ich muss zu ihm! Unentschlossenheit lässt mich noch mehr wanken. In meiner Brust wächst der Impuls, mich in Sicherheit zu bringen, vom Strand zu verschwinden, irgendwohin, wo es sicher ist. Bloß weg. Aber wie könnte ich? Ohne ihn? Also bleibe ich, kreische verzweifelt seinen Namen, bis meine Stimme versagt. Hitze brennt auf meiner Haut, bald wird sie Blasen werfen, vielleicht, so fühlt es sich jedenfalls an. Das Puzzleteil ist heiß, so verdammt heiß! Ich will es mir vom Körper reißen und doch tue ich es nicht. Ich rieche mein Fleisch brennen und schreie nur noch mehr.

Eine Hand schießt aus dem grellen Lichtnebel und ich weiß, dass es seine ist. Ich will sie packen, doch sobald ich meinen Arm wankend nach ihr ausstrecke, greife ich ins Nichts. Als würde der Körper, dem die Hand gehört, von irgendwas zurückgezogen. Ich renne ihr hinterher, mir ist es egal, dass ich nicht sehe, wohin ich laufe, ich muss bloß diese Hand erreichen. Der heiße Sand unter meinen Sohlen verschluckt meine Schritte, macht mich langsam. Meine Verzweiflung wächst. Wenn ich seine Hand nicht zu fassen bekomme, ist alles verloren! Dann habe ich meinen Lebenssinn verwirkt. Ich stürze vorwärts, stolpere über Körper, Kinder, Männer und Frauen, und werde einer von ihnen. Ihre leblosen Leiber fangen mich auf und wieder sehe ich seine Hand. Sie wird nun nicht mehr nach hinten gezogen, sondern nach unten. Ich kreische auf, er darf nicht in eine der Spalten fallen! Ich klettere über die Menschenberge, spüre ihre offenen Wunden, überall weit aufgerissene, tote Augen. Ich nehme keine Rücksicht, es tut ihnen nicht mehr weh - aber ihn, Shane … ich muss ihn erreichen!

Und dann sehe ich ihn, den schwarzen Schlund des Risses. Die brachiale Öffnung zieht sich quer über den Strand, ein bösartiges Grinsen der Erde. Das ist nun ihre Rache. Sand rieselt von den Kanten, aber ich wage es nicht, in die Tiefe zu blicken, fürchte mich vor der Dunkelheit, die jeden erwartet, der verschlungen wird. Shanes Hand, es muss seine sein, sie ragt unnatürlich steil aus dem Spalt hervor, als würde er auf einem verborgenen Felsvorsprung stehen und den Arm in die Höhe strecken. Ich schlittere auf dem Bauch weiter, versuche seine Hand zu fassen, ohne selbst verschluckt zu werden. Doch als sich unsere Finger berühren, geht mit einem gehässigen Zischen seine Hand in Flammen auf. Ich verbrenne mich an ihr, zucke zurück, heule wie ein Baby, weil ich doch jeden Schmerz für ihn ertragen hätte und nun versagt habe. Ich rolle mich weinend auf den Rücken, durch einen Schleier erkenne ich die Brandblasen, die sich auf meiner Haut bilden. Die Erde röhrt und gluckst und brüllt, doch ich bin nun bereit ihr zuzuhören. Also lausche ich ihrer wütenden Standpauke und starre in den Himmel, in den blauen, blauen Himmel …

***

Ein aggressives Hämmern reißt mich zurück in den Wachzustand. Plötzlich sitze ich aufrecht in meinem Bett, zittere am ganzen Körper, Schweiß am Rücken und an meiner Brust durchnässt mein T-Shirt. Blind und verwirrt blicke ich mich um, ziehe die Beine an meinen Körper und schlinge die Arme darum. Obwohl ich keinen Ton mehr von mir gebe, dröhnt erneut ein dumpfes Klopfen durch den Raum. Ich muss länger geschrien haben, mein Hals fühlt sich wund an und meine Augen tränen. Vage keimt etwas in meinem pochenden Herzen auf, so etwas wie Sehnsucht nach Fürsorge. Damals gab es sie noch. Vor der Erschütterung. Heute wird wegen der Lärmbelästigung während der Schlafenszeit gegen die Wand gehämmert. Aber ich strapaziere die Nerven der schönen Sahar mit meinen Schreien in fast jeder Nacht.

Wie unverschämt von mir.

Nur langsam finde ich in die Realität zurück, die Eindrücke aus meinem Albtraum haften immer noch an meiner Haut. Wie ein Ölfilm, schmierig und schwer, verstopft er meine Poren, bis mein Körper darunter erstickt. Wenn das doch bloß alles wäre! Denn ich spüre es deutlich. Ich habe die Dämonen aus meinem Traum mit in mein Zimmer gezerrt. Sie lauern in der Dunkelheit, mit einem tiefen Knurren, zum Absprung bereit. Und sie alle tragen sein Gesicht.

Shane.

Also sitze ich da und lasse die Erinnerung jenseits des Nachtmahrs auf mich einprasseln und beginne still zu schluchzen. Ganz von allein zuckt meine Hand zu dem Puzzleteil vor meiner Brust. Meine Finger umschließen das dünne Plättchen, als wäre es ein Rettungsanker, der mich davor bewahrt in die Tiefe zu sinken. Doch vielleicht sollte ich es einfach geschehen lassen. Mich mitziehen lassen von der Strömung der Erinnerung, mich nicht davor scheuen den Meeresboden zu berühren, umschlossen vom schwarzen Nichts des Wassers, mit angsteinflößenden Lebewesen, die um mich herumschwimmen, die ich nicht sehen, aber doch spüren kann. Einfach aufhören zu strampeln, aufhören zu kämpfen um einen verzweifelten Atemzug, der meinen Körper erhält, aber doch kein Leben ausmacht. Die Luft anhalten, bis die Unterwassersterne vor meinen Augen flackern, bis meine Lungen bersten und ich eins werde mit dem Meer, das sonst Leben gibt, aber meins nehmen wird.

Vielleicht sollte ich dankbar sein für den Aufruhr in meiner Brust. Denn auch wenn es Entsetzen ist, das mich Nacht für Nacht durchschüttelt, so sind das die Momente, in denen ich etwas empfinde. Aber das bin ich nicht. Ich will nichts empfinden. Keine Gefühle, keine Gefühle, keine Gefühle. Wie ein Mantra sage ich mir diese zwei simplen Worte.

Keine Gefühle.

Eines Tages werde ich sie besiegen. Vielleicht nicht die Albträume, nicht die Erinnerungen oder das Wissen um alles, was ich falsch gemacht habe. Aber die Gefühle.

***

In diesem einst hochmodernen Wolkenkratzer, ein architektonisches Ungetüm, erbaut von der Firma, deren Name heutzutage mit Wut und Dankbarkeit gleichermaßen behaftet ist, leben 446 Seelen. Mal mehr, meistens weniger. Familien, Witwen und Heranwachsende, verteilt auf den oberen neunzehn Etagen. Das Violet Sugar Seasons Vacation, einst Luxus-Herberge für Entspannung und Erholung, heute Lebensretter und Mörder zugleich. Wir existieren hier, zusammengepfercht, immer die gleichen vor Angst und Sorge verschatteten Gesichter. Ich sollte dankbar sein mit meinen Eltern hierher gefunden zu haben und sicher war ich das auch irgendwann mal. Damals, ich kann mich kaum erinnern. Dennoch … Hier gibt es gute Zimmer, Essen, zwar nicht gut, aber es bewahrt uns vor Hunger. Wasser für Leib und Seele – solange es regelmäßig regnete. Aber vor allen Dingen sind wir hier sicher. Die Kreaturen, die aus dem Mittelpunkt der Erde gekrochen waren, damals, nach der Erschütterung, die sich aus den Rissen und Spalten im Boden an die Oberfläche gekämpft haben – sie fürchten die Höhe. Deshalb ist das rechteckig angelegte Luxushotel mit dem leeren Innenhof nur in den oberen Stockwerken bewohnt. Es sind noch unzählige Zimmer frei in unserem rettenden Turm, doch es wird niemand kommen. Die Kreaturen mit den Gesichtern in der Brust lauern überall, haben unseren Kontinent überschwemmt und nichts als Zerstörung und Tod hinterlassen. Wer nach draußen geht, wird es nicht überleben.

Einige tun es trotzdem. Freiwillig. Opferkämpfer. Ausgebildet, um Kreaturen zu töten. Dabei machen einzelne keinen Unterschied. Im Grunde ist es lächerlich. Einst aus der naiven Hoffnung entstanden, für den Fortbestand der menschlichen Rasse zu kämpfen, ist es nun mehr eine Tradition, ein symbolischer Akt. Eine Ehre, aber eine dumme. Die Kreaturen werden nicht verschwinden und wir werden hier die Stellung halten, bis wir uns gegenseitig ausrotten – ich bin überzeugt davon, dass es so kommen wird. Und ich kann nicht ausschließen, dass auch ich meinen Teil dazu beitragen werde.

Heute ist einer dieser Tage. Die Abschiedszeremonie ist in vollem Gange. Haaken und sein Kumpan, dessen Name mir entfallen ist, werden an diesem Vormittag in den Opfertod ziehen. Wahre Helden töten Kreaturen, so viele ihre kampferprobten Körper schaffen, ehe sie von den Krallen zerrissen, von der Säure aus ihren Mäulern verätzt werden. Haaken und sein Kumpan werden nicht überleben. Sie wissen das, wir wissen das. Wenn sie Glück haben, sind sie bereits bewusstlos, wenn die Kreaturen beginnen an ihnen zu kauen und zu reißen.

Obwohl es Selbstmordmissionen sind, gibt es genug, die danach hungern, sich für ein paar Kreaturen-Kadaver zu opfern. Es ist mir ein Rätsel, was sie dazu treibt, und doch teile ich ihre Sehnsucht danach. Nicht nach dem Ruhm, nicht nach dem Töten.

Aber nach dem Sterben.

Ich befinde mich nicht in einer Position, in der ich über sie urteilen sollte. Auch ich bin auf einer Selbstmordmission ohne Sinn und Verstand, doch ist es nicht mein Körper, sondern meine Seele, die dabei stirbt. Jedes trockene Eindringen gegen meinen Willen und nur aus stumpfsinnigem Pflichtgefühl heraus lässt sie immer mehr in sich zusammenschrumpfen, bis sie eines Tages gänzlich abgestorben ist.

Ich bin Haakens Roter Engel und habe an diesem Vormittag die zweifelhafte Ehre, der Abschiedszeremonie beizuwohnen. Coelestin, einer der zehn Oeconomici, Primus inter pares, hat es dafür aus seiner Luxussuite geschafft. Er hält eine pathetische Rede, während niemand wirklich betroffen scheint. Falscher Stolz liegt in der Luft und ich habe das Gefühl, in diesem Ballsaal mit dem dunklen Stäbchenparkettboden befindet sich niemand, den ich nicht verachte. Es ist eine offene Veranstaltung, jeder, der die Opferkämpfer unterstützt, ist hier. Könnte der Saal 446 Menschen aufnehmen, jede verdammte Seele wäre hier. Nur wir Auserwählten, Rote Engel und Atemlose, werden bei dem späteren Spektakel Fensterplätze haben. Meine Begeisterung ist unendlich.

Jeder weiß, dass ich nicht hierhergehöre. Ich trage meine Rote-Engel-Kluft für offizielle Anlässe – knielanger Rock, Bluse und Blazer, alles weiß, weiß wie die Unschuld, weiß, damit man eventuelle Blutflecke besser sehen kann. Es passt zu meinem weißen Haar, der hellen Haut. Nur meine Augen habe ich schwarz umrandet, ein stiller Protest vielleicht, meine Form der Trauer für den Tod der Zivilisation. Meinen Lebenswillen. Ich stehe an Haakens Seite, die Arme hinter meinem Rücken verschränkt, doch sein Körper scheint mich abzustoßen wie ein anders gepolter Magnet. Ich spüre ihn jetzt noch zwischen meinen Schenkeln, die brennende Schwellung, die sein Schwanz hinterlassen hat. Vielleicht sollte mich seine ablehnende Gleichgültigkeit mehr schmerzen, doch das tut sie nicht. Nur der tief vergrabene, plötzlich aufflackernde Wunsch, ihn nach draußen zu begleiten, nicht seinetwegen, sondern meinetwegen, beschäftigt mich nachhaltig. Dabei ist mir das längst nicht mehr fremd.

Ich höre Coelestin nicht zu. Seine Worte sind mir bekannt, es sind jedes Mal dieselben und ich kann es nicht mehr zählen, wie oft ich sie gehört habe. Wie oft ich dieser völlig verklärten, idealisierten Zeremonie beigewohnt habe. Er spricht von der Ehre, von unserem Kampf um unser Fortbestehen, unserer Dankbarkeit für ihr Opfer, über einen Gott, der uns im Stich gelassen haben muss und über unsere Aufgabe, die Rettung des Planeten nun selbst in die Hand zu nehmen. Seine Worte sind wertlos, hohle Phrasen in einer abgestumpften Gesellschaft – wenn unsere Gruppierung dieses Wort überhaupt verdient hat. Wir leben nicht verknüpft miteinander, unsere Interaktionen sind blind und taub, jeder existiert hier nur für sich. Ob gewollt oder nicht. Mir kommt ein Spruch meines Vaters in den Sinn, immer wieder hatte er ihn gesagt, als wir hier ankamen, völlig traumatisiert und vom Schmerz des Verlusts wie durchsichtig.

Wenn jeder an sich denkt, ist an jeden gedacht.

Damals habe ich es nicht verstanden oder wollte es nicht wahrhaben. Nun weiß ich, dass er Recht hatte. Wie so oft.

Dann ist es endlich soweit. Unter Totenstille werden Haaken und sein Kumpan von Liftwachen zu den Fahrstühlen geleitet. Sie ziehen sich schwarze Sturmmasken über ihre Köpfe, ihre Gesichter, bis nur noch ihre Augen sichtbar sind. Nicht einmal ihre Münder liegen frei. Es ist hitzeabweisendes Nylon, doch vor den Kreaturen wird es sie nicht schützen. Sie setzen Schutzbrillen auf, schwarzes Gestell und schwarze Gläser, und zu guter Letzt den Helm. Er schützt vor Schlägen auf den Kopf, aber was nützt ihnen das, wenn ihnen die Köpfe abgerissen werden? Wie zwei schwarze Schattenmänner sehen sie aus. Ihre Brustkörbe sind gepanzert, ihre Schienbeine und Knie, Ober- und Unterarme. Und doch ist das nicht genug. In ihren Hüfthaltern schaukeln Waffen einsatzbereit hin und her. Scharfkantiges, Spitzes, alles von Bewohnern der Sonnenuhr, Resistenten, eigenhändig angefertigt. In stunden- und tagelanger Arbeit, damit sie innerhalb von wenigen Momenten an Wert verlieren. Alles ist vergänglich. Sogar die Vergänglichkeit selbst.

Es folgen keine weiteren Worte des Abschieds oder des Dankes, es ist alles gesagt. Ich hasse die Stimmung, die mich umgibt, sie fühlt sich schmutzig an auf meiner Haut. Falsch. Unmenschlich. Hier werden Menschen geopfert. Vielleicht dienen sie in Wahrheit bloß als Futter, ist es mir schon mehr als einmal in den Sinn gekommen. Wenn die Kreaturen immer gut gefüllte Mägen haben, halten sie sich vielleicht von der Sonnenuhr fern. Aber das würden die Oeconomici niemals zugeben. Welche Form des Opfers es auch ist, ich möchte mich von der Schuld, meinem Beitrag dazu, lossagen und gleichzeitig ein Teil davon sein.

Meine Muskeln spannen sich an, als sich die Fahrstuhltür öffnet. Kein Zögern, die Männer treten hinein und drehen sich in einstudierter Synchronizität um. Ihr letzter Blick gilt uns, als sich die silbernen Türen schließen und das mechanische Summen die Abfahrt in die Hölle kundtut. Die blutroten Zahlen in der Anzeige rasen hinunter, der Fahrstuhl ist schnell. Ich frage mich, woran Haaken wohl gerade denkt. Ob er sich vor Angst in die Hose macht. Oder ob er wirklich diesen Stolz empfindet, den alle von ihm erwarten.

Ich werde es nicht erfahren.