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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-565-0
»Guten Morgen, Herr Dr. Winter«, sagte Felix Schlieberg vergnügt und schwenkte seine Tüte mit den Brötchen. »Ich war heute schneller als Sie – Sie werden mindestens zehn Minuten anstehen müssen.«
»Ja, das scheint mir auch so«, erwiderte Dr. Winter nach einem Blick auf die Schlange vor der Bäckerei. Die Menschen standen tatsächlich auf der Straße. Zum Glück hatte er es nicht eilig, sein Dienst in der Kurfürsten-Klinik begann erst später. »Wie geht’s, Herr Schlieberg? Haben Sie sich gut hier in der Nachbarschaft eingelebt?«
»Ja, danke«, antwortete der andere. Er war ein großer Blonder, den anscheinend die gute Laune nur selten verließ. Meistens sang oder pfiff er vor sich hin, noch nie hatte Adrian ihn mit einem muffeligen Gesichtsausdruck gesehen. Vor einigen Wochen war er in eins der Nachbarhäuser gezogen, seitdem trafen sich die beiden Männer öfter beim Bäcker oder in einem der anderen Geschäfte. »Ich bin ganz verliebt in meine Wohnung. Allerdings muß ich noch schrecklich viel daran machen, aber ich lasse mir Zeit. Sie wohnen schon lange hier in Charlottenburg – oder?«
Adrian nickte. »Schon einige Jahre, ja. Ich fühle mich hier sehr wohl. Man hat alles in der Nähe, was man braucht, und die Nachbarn sind nett.«
»Ja, ich habe auch Glück gehabt«, meinte Felix Schlieberg. »Die Leute in meinem Haus sind alle sehr sympathisch.«
Seine grauen Augen blitzten mutwillig, und Adrian lächelte in sich hinein. Er ahnte, daß Herr Schlieberg dabei besonders an eine bestimmte Nachbarin dachte, eine junge, sehr attraktive: Lara Pullmann. Sie wohnte schon länger in der Nähe. Adrian kannte sie vom Sehen, hatte allerdings keinen näheren Kontakt zu ihr. Sie grüßten einander, wenn sie sich sahen, mehr nicht.
Doch Felix Schlieberg hatte er schon öfter mit der jungen Frau sprechen sehen und wenn ihn nicht alles täuschte, hatte der nette Blonde an Frau Pullmann mehr als nur rein nachbarschaftliches Interesse.
»Ich muß los«, sagte dieser jetzt. »Tschüß, Herr Dr. Winter. Einen angenehmen Arbeitstag.«
»Ihnen auch, Herr Schlieberg.« Adrian rückte ein Stück in der Schlange vor und unterdrückte einen Seufzer. Es würde an diesem Morgen länger als zehn Minuten dauern, das stand jetzt schon fest. Offenbar waren lauter Leute unterwegs, die Brötchen für zehnköpfige Familien kauften…
»Ach, Herr Dr. Winter?«
»Nanu«, sagte Adrian. »Haben Sie etwas vergessen, Herr Schlieberg?«
Der andere grinste verlegen. »Vergessen nicht direkt. Aber ich dachte mir, ich könnte Sie vielleicht fragen – Sie wissen nicht zufällig, was Frau Pullmann beruflich macht?«
Adrian schaffte es, ernst zu bleiben. Er hatte es ja geahnt, da bahnte sich offensichtlich etwas an. »Tut mir leid, nein«, antwortete er. »Ich dachte immer, sie sei Lehrerin, aber das kann ein Irrtum sein.Wir sehen uns zwar öfter, aber länger miteinander gesprochen haben wir noch nie.«
»Nein?« Felix Schlieberg machte ein enttäuschtes Gesicht. »Schade.«
»Warum fragen Sie sie nicht einfach?« erkundigte sich Adrian. »Sie kennen sie, glaube ich, schon besser als ich.«
»Oh, das glaube ich nicht«, wehrte Felix ab. Erneut wandte er sich zum Gehen. »Na ja, Sie haben natürlich Recht, ich kann sie einfach mal fragen. Aber ich will auch nicht den Eindruck erwecken, daß ich zu neugierig bin.«
»Das hat doch mit Neugier nichts zu tun«, meinte Adrian, und schob sich erneut zwei Schritte weiter auf die Ladentheke zu. »Ich würde es berechtigtes Interesse nennen. Übrigens: Was machen Sie denn beruflich? Ich meine, wenn wir schon gerade dabei sein…«
Felix lachte herzlich. »Erwischt«, meinte er. »Ich betreibe mit einem Freund zusammen einen Laden für Computer und Zubehör. Ziemlich klein, läuft aber gut. Nicht weit von hier. Eigentlich wollte ich Lehrer werden, aber ich muß mich unabhängig fühlen. Außerdem brauche ich die Gewißheit, daß ich jederzeit etwas anderes machen kann als bisher, sonst ist mir das zu langweilig, und festgefahren. Bei Ihrem Beruf ist das natürlich anders – da kommt Langeweile sicher niemals auf.«
»Wissen Sie denn, was ich mache?« fragte Adrian überrascht.
»Na, hören Sie mal! Sie sind eine ziemliche Berühmtheit, das wissen Sie doch sicher. Wenn man ›Dr. Winter‹ hört, dann fragt man zuerst mal nach dem Vornamen – und danach gibt es keinen Zweifel mehr.«
Adrian sah sich vorsichtig um, bemerkte aber zu seiner Erleichterung, daß niemand ihrem Gespräch zu folgen schien, das für ihn eine so unerwartete Wendung genommen hatte.
Felix bemerkte seine Besorgnis und senkte die Stimme. »Sie sind der jüngste Chefarzt an der Kurfürsten-Klinik und leiten dort die Notaufnahme. Als Notfallmediziner sind Sie international anerkannt, Sie haben bereits die Paracelsus-Medaille für besondere Verdienste bekommen und…«
»Danke, danke«, sagte Adrian hastig. »Das genügt, Herr Schlieberg. Glauben Sie mir, ich weiß über das, was ich tue, recht gut Bescheid.«
Felix sah einen Augenblick verdutzt aus, dann lachte er. »Sie sind zu bescheiden, Herr Dr. Winter. Also, jetzt gehe ich endgültig. Vielleicht sehen wir uns morgen wieder. Bis dann.«
»Auf Wiedersehen, Herr Schlieberg.«
Kurz darauf war Adrian endlich an der Reihe und kaufte sechs Brötchen. Drei davon waren für seine Nachbarin Carola Senftleben, die frühestens in zwei Stunden aufstehen würde, weil sie eine Nachteule war. Bei Frau Senftleben hatte er, wie so häufig, gestern Abend wieder einmal hervorragend gegessen – das Mindeste, was er für sie tun konnte war, ihr morgens ein paar Brötchen vor die Tür zu legen, wenn sein Dienstplan es zuließ.
Eine halbe Stunde später saß er zufrieden beim Frühstück und las Zeitung.
*
Lara Pullmann betrachtete sich kritisch im Spiegel. Sie trug Jeans und ein dickes, kariertes Holzfällerhemd, das ihr ausgezeichnet stand. Sie war ein sportlicher Typ, und konnte solche lässigen Sachen gut tragen.
»Ein Glück, daß ich nicht in einem Büro sitze und mich in ein Kostüm zwängen muß«, murmelte sie, während sie sich aufmerksam von allen Seiten betrachtete. Nein, sie konnte sich sehen lassen, keine Frage. Und ihr Aufzug war für ihren augenblicklichen Beruf auch genau richtig!
Sie schnappte sich ihre Jacke, schloß die Wohnung ab und rannte nach unten. Ihr Fahrrad stand im Hof, und gleich darauf radelte sie bereits zu ihrem Arbeitsplatz, den sie eine Viertelstunde später erreichte.
Der Laden war bereits geöffnet, ihre Freundin Annette Pflüger war offenbar schon vor einiger Zeit eingetroffen, denn verführerischer Kaffeeduft hing in der Luft. Lara und Annette hatten vor einiger Zeit einen Laden für Fahrräder aufgemacht – mit angeschlossener Reparaturwerkstatt, wo sie zwei junge Leute beschäftigten, die froh waren, endlich Arbeit gefunden zu haben.
Die beiden Freundinnen waren begeisterte Radlerinnen, sie fuhren gelegentlich sogar Rennen. Außerdem kannten sie jedes Teil eines Fahrrads und konnten sämtliche Reparaturen selbst durchführen. Das hatten sie ganz am Anfang auch getan, aber die Arbeit war ihnen bald über den Kopf gewachsen, und jetzt waren sie froh, daß sie zuverlässige Mitarbeiter gefunden hatten.
»Hm, der Kaffee ist schon fertig«, sagte Lara und schnupperte genießerisch. »Bist du schon lange da, Netti?« Sie umarmte ihre zierliche rothaarige Freundin, die mehr als einen Kopf kleiner war als sie.
»Ja, bin ich. Ich konnte nicht mehr schlafen. Mir hat dieses neue Superfahrrad keine Ruhe gelassen – hier, sieh mal.« Sie schob Lara einen aufgeschlagenen Katalog hin. »Die Jungs meinen auch, wir sollen wenigstens mal eins testen.«
›Die Jungs‹ waren Erik Holt und Konrad Wütrich, die beiden Angestellten in der Werkstatt.Sie waren ein paar Jahre jünger als Lara und Annette, die beide sechsundzwanzig waren. Erik war gerade einundzwanzig geworden, Konrad ein Jahr älter. Sie waren beide echte Fahrrad-Verrückte und paßten insofern hervorragend zu den Ladeninhaberinnen.
»Das ist so wahnsinnig teuer, Netti«, murmelte Lara, während sie andächtig den ersten Schluck Kaffee nahm. Sie liebte Kaffee, ganz besonders den von Annette. »Wir haben einen Haufen Schulden, von denen wir so schnell wie möglich runterkommen sollten.«
»Klar, das sehe ich genauso. Aber vielleicht zieht so ein Rad noch andere Leute hinterher als unsere Stammkunden. Es läuft alles gut, Lara, aber wir müssen weg davon, daß wir immer nur von der Hand in den Mund leben. Es muß auch mal richtig was übrig bleiben.«
Lara lachte. »Du meinst, du willst reich werden?« fragte sie liebevoll-spöttisch.
»Nichts dagegen«, antwortete Annette energisch. »Andere werden durchs Spekulieren an der Börse reich – warum sollen wir nicht durch gute Arbeit reich werden?«
»Na, ich weiß nicht«, meinte Lara und vertiefte sich in die Beschreibung des Superfahrrads. Je mehr sie las, desto klarer wurde ihr, daß Annette und die Jungs Recht hatten: Sie mußten das Rad wenigstens testen, keine Frage. »Her damit«, sagte sie seufzend, und schob den Katalog wieder über den Ladentisch.
Annette stieß ein lautes Freudengeheul aus und rannte über den Hof zur Werkstatt, um Erik und Konrad die gute Nachricht zu überbringen.
Lara hatte gerade ihren Kaffee ausgetrunken, als bereits die erste Kundin den Laden betrat. Es war eine ältere Dame mit besorgtem Gesicht. »Ich bin eben vom Rad gefallen«, berichtete sie, »weil sich der Sattel plötzlich gelöst hat. Das ist mir noch nie passiert.«
Lara war schon aufgesprungen. »Wo steht das Rad?«
»Ich hab’s vor der Tür gelassen.«
»Unsere Werkstatt ist hinten«, meinte Lara, »aber ich seh’s mir schnell selbst an. Vielleicht ist es nur eine Kleinigkeit.«
Es war in der Tat eine Kleinigkeit. Lara wechselte eine Schraube aus, weigerte sich, dafür etwas zu berechnen und freute sich an dem dankbaren Lächeln, mit dem ihre Kundin sich gleich darauf erneut aufs Rad schwang und fröhlich winkend verschwand. Dann wandte sie sich der aktuellen Bilanz zu und begann mit gerunzelter Stirn zu rechnen.
*
»Du denkst immer noch an sie!« sagte Simone Hiller und preßte die Lippen fest aufeinander. »Ich sehe es dir an, Norbert! Du kannst sie nicht vergessen!«
»Ich habe mit ihr Schluß gemacht, das weißt du doch!« entgegnete er müde. Nur er wußte, daß er log. Denn nicht er hatte Schluß gemacht, sondern sie…
»Ja, weil ich dich erwischt habe«, erwiderte sie bitter. »Sonst wäre das wahrscheinlich noch ewig so weiter gegangen.«
Es stimmte, daß sie ihn erwischt hatte – aber nur, weil er völlig durcheinander gewesen war. Die Affäre war nämlich bereits beendet gewesen, und dieses Ende hatte ihn so sehr getroffen, daß er nachlässig geworden war, er hatte einfach nicht mehr aufgepaßt. Schließlich hatte er nicht gewollt, daß die Sache zu Ende ging – im Gegenteil.
Von ihm aus hätte die Sache noch lange fortgesetzt werden können. Er durfte gar nicht daran denken. Seine wundervolle junge Geliebte hatte sich von ihm getrennt, mit kühlem, starrem Gesicht. Jeder Versuch, sie umzustimmen, war zum Scheitern verurteilt gewesen. Sie hatte herausgefunden, daß er verheiratet war, was er bis dahin sorgfältig vor ihr verborgen hatte. Eine dumme Panne, daß dieses Bild von ihm und Simone in der Zeitung erschienen war, mit entsprechender Bildunterschrift – und er hatte keine entsprechende Ausrede parat gehabt.