titel1.tif

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Stephen Jones

Illustriert von Les Edwards

Aus dem Englischen von Usch Kiausch

Festa-epub.tif

Impressum

Die britische Originalausgabe

Curious Warnings. The Great Ghost Stories of M. R. James

erschien 2012 im Verlag Jo Fletcher Books.

Für diese deutsche Ausgabe

wurde das Buch in zwei Bände aufgeteilt.

Copyright © dieser Auswahl und des Zusatzmaterials 2012, 2016 by Stephen Jones

Deutsche Erstausgabe

Copyright © dieser Ausgabe 2016 by Festa Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-483-6

www.Festa-Verlag.de

Festa-epub.tif

frontis_sw.tif

Für

Rosemary Pardoe

David Rowlands

Steve Duffy

und

Nicholas Rhodes James,

weil sie sich immer noch für das Werk von

Montague Rhodes James einsetzen.

Besonderer Dank an meinen britischen Verleger Jo Fletcher, Val und Les Edwards, Nicola Budd, Lindsay Nash, Peter Gibbs, Colin Murray, Hugh Lamb, Neil Gaiman, Johnny Mains, Robert Lloyd Parry, Reggie Oliver, Jim Bryant, Simon Ball, Nicholas Rhodes James, Richard Dalby, Michael Cox und Rosemary Pardoe für ihre Hilfe und Unterstützung.

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Gespenster – geht behutsam mit ihnen um!

Gespenstergeschichten

Die Sammlung des Domherren Alberic

Eine Herzenssache

Die Esche

Graf Magnus

Die Mezzotinto-Radierung

Nummer 13

»Pfeif nur, dann eil ich zu dir, mein Freund!«

Der Schatz des Abtes Thomas

Das Chorgestühl der Kathedrale von Barchester

Die Macht der Runen

Die endlose Liebe der Ann Clark

Die sonderbare Erbschaft des Mr. Humphreys

Der Rosengarten

Eine Schulgeschichte

Der Traktat Middoth

Jemand verschwindet, jemand erscheint

Die Ruhestätte der Lamia

Das Tagebuch des Mr. Poynter

Die Stiftsresidenz in Whitminster

Quellenverzeichnis

bothways.TIF

Vorwort des Herausgebers

M. R. James war ein wunderbarer Geschichtenerzähler, zeichnete sich jedoch nicht gerade durch einen hervorragenden Stil aus. Nun ja, natürlich hatte er einen persönlichen Stil, aber der war ungewöhnlich und wirkte sehr eigentümlich.

Das Wunderbare an der Sprache ist, dass sie sich ständig verändert. Und die Art und Weise, wie man Geschichten zu den Zeiten von M. R. James schrieb – manche aus seiner Feder sind mittlerweile ja schon mehr als 100 Jahre alt –, unterscheidet sich sehr davon, wie Erzählliteratur heutzutage ihren Leserinnen und Lesern dargeboten wird.

Dieser Unterschied betrifft nicht nur Wörter oder Redewendungen, sondern auch die Art der Rechtschreibung und Zeichensetzung.

Während ich die klassischen, vom Übernatürlichen handelnden Geschichten bei der Vorbereitung der vorliegenden Anthologie nochmals las, kam mir der Gedanke, dass James’ Werk vielleicht noch niemals in angemessener Bearbeitung herausgegeben worden ist. Da der Autor anfangs bekanntlich dagegen war, überhaupt eine Sammlung seiner Geschichten in Buchform erscheinen zu lassen, basierten die Erstveröffentlichungen vermutlich weitgehend auf den »Rohmanuskripten«, die James für seine alljährlichen Weihnachtslesungen vor einem ausgewählten Publikum verfasst hatte.

Wie jeder weiß, der an öffentliches Reden gewöhnt ist, kann ein mündlich vorgetragenes Manuskript stark von einem gedruckten Prosatext abweichen – der »Rhythmus« und die Klangfarbe sind oft anders als in einem sorgfältig konstruierten, zur Veröffentlichung bestimmten Text.

Typisch für den Autor M. R. James sind Absätze, deren Inhalte zum Teil bunt zusammengewürfelt sind, außerdem unterschiedliche Erzählperspektiven, direkt aufeinanderfolgende Wortwechsel, Geschichten innerhalb von Geschichten und die, ehrlich gesagt, höchst eigenwillige Zeichensetzung und Grammatik. All das verdeutlichte mir, dass diese Geschichten für den mündlichen Vortrag konzipiert waren und sich dafür auch eignen mochten, aber nicht unbedingt so gestaltet waren, dass sie als gedruckter Text die Leserschaft bestmöglich ansprachen. Doch genau so – in der unbearbeiteten Form des mündlichen Vortrags – wurden sie vom Ende des 19. Jahrhunderts an veröffentlicht.

Deshalb habe ich mich nach Beratung mit zahlreichen literarischen Experten dafür entschieden, bei dieser neuen Edition des Werkes von M. R. James einer modernen Leserschaft zuliebe Grammatik und Zeichensetzung zeitgemäßen Gepflogenheiten anzupassen. Mir ist klar, dass diese Entscheidung bei Literaturbegeisterten heftige Kontroversen auslösen kann, aber dahinter steckt die ausdrückliche Absicht, heutige Leserinnen und Leser mit klassischen Werken bekannt zu machen. Es ging mir darum, den Zugang zu den Geschichten des Autors M. R. James zu erleichtern, ohne auch nur ein einziges Wort der Urfassungen zu streichen. Ich kann nur hoffen, dass diese wunderbaren Gespenstergeschichten noch 100 und mehr Jahre lang fortleben und bei vielen weiteren Generationen von Leserinnen und Lesern eine Gänsehaut erzeugen.

Denjenigen, die mir vielleicht vorhalten werden, ich hätte einen heiligen Text geschändet, kann ich nur entgegnen, dass ich einige Erfahrung mit der Herausgabe von Horrorliteratur habe. Meiner Ansicht nach rücken diese geringfügigen von mir vorgenommenen Änderungen die eigentliche Stärke der schriftstellerischen Arbeit des Autors in den Vordergrund. Seine oft außergewöhnlichen und aufwühlenden Bilder, sein scharfsinniger Witz, seine Gelehrsamkeit und seine Kunst, Angst und Schrecken so darzustellen, dass einem beim Lesen ein wohliger Schauer über den Rücken läuft, gehen in dem Wust von nicht umgebrochenen Bleiwüsten, komplizierten Satzstrukturen und überlangen Textpassagen ohne Absätze nun nicht mehr unter. Briefe, zitierte Manuskripte und Inschriften heben sich jetzt deutlich vom Haupttext der erzählten Geschichte ab. Das schafft einfach mehr Klarheit in dem komplexen Gefüge und den wechselnden Erzählsträngen, die viele der Geschichten aufweisen.

Die kleinen Änderungen, die ich vorgenommen habe, bedeuten nicht, dass in diesem Prozess der Korrekturen meine Hochachtung vor M. R. James als wunderbarem und wahrhaft richtungsweisendem Schriftsteller gesunken ist. Im Gegenteil, sie ist dabei sogar noch gewachsen. Ich kann nur hoffen, dass ich das an die Leserinnen und Leser weitergeben kann.

Für diejenigen, die die ursprünglichen Fassungen lesen möchten – genau so wie sie erstmals veröffentlicht wurden (doch wohl nicht unbedingt so, wie vom Autor beabsichtigt, hätte er gründlicher darüber nachgedacht) –, gibt es jede Menge unterschiedlicher Original-Werkausgaben, die genau das enthalten.

Ich setze aber darauf, dass die Leserinnen und Leser, die vielleicht erneut entdecken möchten, was für ein bemerkenswerter und, wie ich zu meiner Freude sagen kann, für die Horrorliteratur immer noch wichtiger Autor M. R. James ist, dieser neuen Werkausgabe zumindest eine Chance geben.

Selbstverständlich sind alle Mängel nicht dem Autor, sondern mir als dem Herausgeber anzulasten.

Stephen Jones

London, England

September 2011

endpapers1_sw.tif

bothways.TIF

Gespenster – geht behutsam mit ihnen um!

Ihr berühmtester Schöpfer erklärt, wie man das Beste aus ihnen herausholt

Was hat als Erstes mein Interesse an Gespenstern geweckt? Diese Frage kann ich sehr genau beantworten. Irgendwann entdeckte ich als kleiner Junge eher zufällig ein Kasperletheater, dessen Figuren aus Pappe hergestellt waren, und eine davon war »das Gespenst«. Die hochgewachsene Gestalt war in ein weißes Gewand gehüllt, hatte einen von weißem Haar umkränzten unnatürlich langen und schmalen Schädel und ein trübseliges Gesicht. Diese Pappfigur prägte meine Vorstellungen von einem Gespenst und suchte mich jahrelang in meinen Träumen heim.

Andere Fragen – etwa »Warum mögen Sie Gespenstergeschichten?«, »Welche halten Sie für die besten, und warum?« oder auch »Haben Sie ein Rezept dafür, wie man solche Geschichten schreibt?« – konnte ich niemals so eindeutig beantworten.

Doch zweifellos kommen Gespenstergeschichten bei den Lesern gut an. In den letzten Jahren hat das Interesse daran wieder deutlich zugenommen. Natürlich hat das auch mit der wachsenden Popularität von Kriminalgeschichten zu tun.

Die Gespenstergeschichte kann auf ihre Weise hervorragend sein oder auch erbärmlich ausfallen. Genau wie andere Vorhaben kann sie an Übertreibungen, aber auch an mangelnder Ausarbeitung scheitern. Bram Stokers Roman Dracula enthält sehr gute Ideen, aber der Autor hat, umgangssprachlich ausgedrückt, allzu dick aufgetragen, und das ist die Schwäche dieses Buches. Ein Beispiel für die mangelhafte Ausarbeitung einer Gespenstergeschichte zu geben, fällt mir schwer, denn in dieser Hinsicht unzulängliche Texte bleiben nicht im Gedächtnis haften.

Ich beziehe mich hier auf die literarische Gattung Gespenstergeschichte. Ganz anders verhält es sich mit den Geschichten, die der 1882 in London gegründete Verein zur Erforschung parapsychologischer Phänomene als »wahrheitsgetreu« bezeichnen würde. Eine solche Gespenstergeschichte ist in der Regel eher kurz und lässt sich einer von mehreren Kategorien zuordnen. Und das leuchtet auch ein, denn wenn es tatsächlich Gespenster gibt (was ich durchaus für möglich halte), veranschaulicht die wahrheitsgetreue Gespenstergeschichte ja lediglich die »normalen« (wenn man so sagen darf) Verhaltensweisen dieser Wesen. Folglich enthalten diese Geschichten dann oft genauso viel Würze wie Milch.

Im Unterschied dazu muss das von einem Autor erschaffene Gespenst seine Existenz dadurch rechtfertigen, dass es Angst und Schrecken verbreitet. Tut es das nicht, muss man es zumindest mit einer Vergangenheit ausstatten, die nach Erlösung schreit, denn nur so kann es zum Handlungsträger werden.

Da Gespenstern bei ihren Handlungen nur wenige Möglichkeiten offenstehen – beispielsweise können sie Menschen in den Wahnsinn oder Tod treiben und Geheimnisse aufdecken –, halte ich die Szenerie für das Wichtigste einer Geschichte, denn hier hat der Autor die größten Gestaltungsmöglichkeiten.

Schon der Schauplatz des Geschehens und die ersten Vorboten übernatürlicher Erscheinungen müssen kommende Schrecken andeuten. Allerdings müssen und dürfen wir dabei nicht gleich alle Farben aus dem Tuschkasten auftragen.

Als die literarische Kunst, Gespenstergeschichten zu erzählen, noch in den Kinderschuhen steckte, mussten die Autoren noch auf Spukschlösser, vorzugsweise auf einsamen Felsvorsprüngen gelegen, zurückgreifen, um ihren Lesern den angemessenen Handlungsrahmen vorzugeben. Und der Hang dazu ist auch heute noch nicht ausgestorben. Jüngst habe ich eine Geschichte gelesen, deren Schauplatz ein geheimnisvolles Herrenhaus in Cornwall ist, das abgeschieden auf einem Hügel thront. Darin praktiziert ein edler Herr Magie der schlimmsten Sorte. Ach ja, wie oft schon hat man mir verfallene alte Gebäude als optimale Schauplätze für Gruselgeschichten beschrieben oder auch persönlich gezeigt. »Haben Sie nicht geradezu vor Augen, wie dort irgendein alter Mönch oder Ordensbruder in den langen Gängen herumspukt?« Nein, habe ich nicht, tut mir leid.

Da geht es mir völlig anders als William Harrison Ainsworth. In seinem Roman The Lancashire Witches wimmelt es von Zisterziensermönchen und Bräuten Jesu in zerschlissenen Gewändern, die ohne einleuchtenden Grund durch Gänge schleichen. Doch diese Gestalten sind wenig beeindruckend. Dennoch habe auch ich eine Schwäche für The Lancashire Witches, denn so albern vieles in diesem Roman sein mag, hat er, soweit es die erzählte Handlung betrifft, auch seine starken Seiten.

Eines kann man gar nicht genug betonen: Je weiter (in zeitlicher Hinsicht) das Gespenst der Gegenwart entrückt ist, das heißt, je länger sein irdisches Dasein zurückliegt, desto schwieriger wird es, dieses Gespenst mit bestimmten Wirkungskräften auszustatten – vorausgesetzt, es handelt sich um den Geist eines verstorbenen Menschen. Das gilt natürlich nicht für Erd-, Wasser-, Wind- oder Feuergeister oder ähnliche mythologische Größen.

Grob gesagt sollte das Gespenst ein Zeitgenosse derjenigen sein, die es wahrnehmen. So verhält es sich etwa mit dem Geist von Hamlets Vater, der nicht lange nach seinem Ableben dem Königssohn erscheint. Und auch in »A Christmas Carol« von Charles Dickens ist es der verstorbene Teilhaber Jacob Marley, der seinem Geschäftspartner, dem Geizhals Ebenezer Scrooge, am Weihnachtsabend ins Gewissen redet. Dieses Beispiel führe ich hier aus voller Überzeugung und trotz aller Verrisse dieses Werkes an. Egal, was man gegen einige Stellen einwenden kann: Die Eingangsszene mit der Ankunft des Jacob Marley halte ich für unbestreitbar gelungen und außerordentlich wirkungsvoll.

An dieser Stelle will ich noch anmerken, dass die Szenerie in beiden klassischen Beispielen eine zeitgenössische, sogar recht gewöhnliche ist. Die Festungsmauern des dänischen Schlosses Kronborg und die Zimmer des Ebenezer Scrooge sind für die Menschen, die hier verkehren, ein alltäglicher Anblick.

Doch keine Regel ohne Ausnahme: Man kann eine uralte Heimsuchung angsteinflößend gestalten und mit aktuellen Bezügen ausstatten. Es verlangt jedoch viel Geschick, die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf überzeugende Weise herzustellen. In jedem Fall braucht man als Gegengewicht einen modernen, nüchtern denkenden Menschen – im Fall Hamlets ist das dessen Freund Horatio. Genauso muss ein Detektiv wie Sherlock Holmes einen Watson und ein Hercule Poirot einen Arthur Hastings an seiner Seite haben. Diese loyalen Freunde und Helfer übernehmen jeweils die Rolle des laienhaften Beobachters.

Aus all dem folgt, dass man die Szenerie oder das Umfeld als wesentlich betrachten muss. Je genauer der normale Leser dieses Umfeld einschätzen kann, desto besser. Wesentlich ist darüber hinaus, dass sich unser Gespenst erst nach und nach bemerkbar machen sollte, und zwar durch gewisse Vorgänge, die eine Atmosphäre des Unbehagens und der bösen Vorahnung schaffen. Man darf also nicht gleich alle Geschütze des Horrors auffahren.

Muss denn unbedingt Horror im Spiel sein? Ich glaube schon. Meines Wissens gibt es nur zwei Beispiele guter Gespenstergeschichten in englischer Sprache, in denen Elemente der Schönheit und des Mitgefühls Angst und Schrecken in die Schranken verweisen: Lanoe Falconers »Cecilia de Noël« und Mrs. Oliphants »The Open Door«. Beide Geschichten enthalten Momente des Horrors, aber bei beiden seufzen wir am Ende, genau wie Hamlet: »Ach, armer Geist.«

Vielleicht bin ich zu streng, wenn ich hier nur diese beiden Geschichten anführe. Aber die genannten sind bei Weitem die besten ihrer Art – daran habe ich keinerlei Zweifel.

Verallgemeinernd würde ich behaupten, dass man auf Horror und Heimtücke in Gespenstergeschichten nicht verzichten kann, jedoch genauso wenig auf Zurückhaltung bei Verwendung dieser Elemente.

Es gibt eine Anthologie-Reihe von Horrorgeschichten (wohl zumeist amerikanischen Ursprungs), die in den 1920er- und 1930er-Jahren unter dem übergreifenden Titel Not at Night mit diversen Untertiteln veröffentlicht wurde.1 Ich habe diese Reihe gelesen und dabei festgestellt, dass die hier versammelten Geschichten in vielerlei Hinsicht gegen die von mir genannten Regeln verstoßen. Sie zielen nämlich darauf ab, beim Leser die unstillbare Gier zu wecken, mehr und mehr von diesem (Lese-)Futter zu verschlingen, so wie Little Fat Joe in Charles Dickens’ erstem Roman The Pickwick Papers den Bauch nie voll genug kriegen konnte.

Selbstverständlich möchten alle Verfasser von Gespenstergeschichten bei Leserin und Leser eine Gänsehaut erzeugen. Aber die in den Anthologien vertretenen Autoren versuchen das auf schamlose Weise. Ihre Geschichten sind unglaublich plump und wirr erzählt und suhlen sich geradezu im Dreck. Wenn es etwas gibt, das man aus Gespenstergeschichten unbedingt heraushalten sollte, dann sind es Leichenhäuser – und Sex. Womit ich nicht sagen will, dass die Reihe Not at Night einzig um diese Themen kreist, wohl aber andere Horrorgeschichten neueren Datums – eine Schande für das ganze Genre.

Aber ich will an dieser Stelle nach den negativen Beispielen auch die positiven hervorheben. Welche Autoren haben die literarischen Möglichkeiten, die Gespenstergeschichten bieten, am besten ausgeschöpft? Ohne zu zögern nenne ich hier an erster Stelle Joseph Sheridan Le Fanu. Der Band In a Glass Darkly enthält vier hervorragende Geschichten: »Green Tea«, »The Familiar«, »Mr. Justice Harbottle« und »Carmilla«. Alle vier entsprechen den von mir genannten Anforderungen. Die Schauplätze sind sehr unterschiedlich, aber alle hat der Autor sehr genau vor Augen. Das Übernatürliche wird, fein abgestuft, nach und nach eingeführt, der jeweilige Höhepunkt angemessen herbeigeführt und dargestellt. Le Fanu war ein Gelehrter und Dichter, und das zeigt sich in diesen Geschichten. Obwohl er schon vor vielen Jahren, 1873, starb, wirkt kaum etwas an seiner Erzählweise altmodisch.

Es widerstrebt mir ein wenig, mich zu noch lebenden Autoren zu äußern. Aber müsste ich eine Liste der Besten zusammenstellen, würde man dort auf jeden Fall die Namen Edward Frederic Benson, Algernon Blackwood, Alfred McLelland Burrage, Walter de la Mare und Herbert Russell Wakefield finden.

So faszinierend dieses literarische Thema auch ist: Ich sehe keinen Sinn darin, päpstliche Edikte dazu zu erlassen. Gespenstergeschichten sollen uns Vergnügen machen und unterhalten. Wenn ihnen das gelingt – wunderbar! Und wenn nicht, sollten wir sie auf das oberste Brett des Bücherregals verbannen und sie nicht weiter erwähnen.

M. R. James

1 Zusammengestellt und herausgegeben von der britischen Autorin Christine Campbell Thomson (1897–1985) beim Verlag Selwyn & Blount. Sie übernahm dabei circa 100 Horror-Geschichten aus dem amerikanischen Pulp-Magazin Weird Tales, darunter auch einige von H. P. Lovecraft, Anm. d. Ü.

bothways.TIF

Gespenstergeschichten

I

Jeder von uns, glaube ich, hegt von Geburt an eine Liebe zum Übernatürlichen. Wir alle können uns an eine Zeit erinnern, in der wir in unserem Zimmer vor dem Schlafengehen hinter jeden Vorhang spähten und die dunklen Winkel durchstöberten. Und dabei beherrschte uns eine nicht ganz unangenehme Ungewissheit, ob nicht doch irgendwo ein Skelett mit weit aufgerissenen Augen oder ein fressgieriger Dämon lauerte.

Auch ich habe jede Menge Erfahrungen mit diesem Ritual. Selbstverständlich wissen wir alle, dass es solche lebenden Knochenmänner oder Dämonen gar nicht gibt. Aber es könnte ja sein, dass uns jemand einen Streich spielen will, und da geht man lieber auf Nummer sicher.

Und Menschen erzählen sich ja auch wirklich äußerst sonderbare Geschichten. Auf solche laufen jedenfalls die meisten Äußerungen zu Gespenstern während einer Unterhaltung oder Diskussion hinaus. Diese Diskussionen zerfallen in der Regel in zwei Teile: Jemand, der an Gespenster glaubt, eröffnet die Debatte, und danach erzählt jeder, was er (oder sie) in dieser Hinsicht schon erlebt hat. Bis ein einziger mutiger Erdenbürger all dem widerspricht – selten sind es mehrere. Wenn sich diese tollkühne Person dann zurück auf die Couch flüchtet, hat sie mein Mitgefühl.

Bei manchen Gespenstergeschichten fällt es einem, ganz im Ernst, ja auch wirklich schwer, ihnen nicht zu glauben. Die mit den bösen Vorzeichen, Familienlegenden und frühzeitigen Warnungen fallen in diese Kategorie.

Hier folgt eine solche, »noch niemals veröffentlichte« Geschichte, wie der alte Mann beteuerte, der sie mir erzählte. Er sei damals selbst »vor Ort gewesen«. Namen will ich hier nicht nennen.

Anfang letzten Jahrhunderts fuhr die Ehefrau eines Gutsherrn – sie wollte zu einem Ball in der Grafschaft – durch den Park rings um ihr Anwesen. Wie es sich für eine Gespenstergeschichte gehört, war es ein trüber, nebliger Abend. Als sie aus dem Fenster der Kutsche blickte, »sah sie plötzlich etwas«, wie der Alte sich ausdrückte. Doch darüber, was dieses »Etwas« gewesen war, wollte er sich nicht weiter auslassen. Ich konnte mir allerdings zusammenreimen, dass es sich um eine Doppelgängerin der Dame handelte.

Gleich darauf brach das eine der beiden Pferde aus, während das andere geradewegs zum Gutshaus zurückgaloppierte. Die Dame verließ Heim und Herd erst wieder, als sie im Sarg hinausgetragen wurde. (Eindrucksvolle Kunstpause.) Natürlich habe er solche Dinge nie geglaubt, versicherte mein Informant, aber so sei es nun mal gewesen.

Hier noch eine wirklich authentische Geschichte, die sehr viele Leser leider wohl schon kennen werden – dann lege ich meinen hin und her zappelnden Schreibstift zur Seite.

Kurz gesagt hatte der preußische Generalfeldmarschall Gebhard Leberecht von Blücher das Pech, ohne jede Begleitung aus dem Krieg heimzukehren. Als er sein Haus betrat und ins Wohnzimmer ging, sah er seine längst verstorbenen Eltern in seltsamer Haltung am Kamin hocken, und auch seine Schwestern saßen dort herum. Er begrüßte sie, doch erhielt keine Antwort. Allerdings stand eine der Schwestern auf und berührte ihn. Daraufhin verlor er das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, war er allein. Einige Tage lang befand er sich im Fieberwahn, doch als er kurzzeitig wieder bei Sinnen war, spürte er, dass er dem Tode nah war. Deshalb ließ er nach seinem Landesherren schicken und klärte ihn über das Geschehen auf. Er sagte, seine Schwester habe ihm prophezeit, dass er an eben diesem Tag sterben würde. Nach dieser Mitteilung hauchte er sein Leben aus.

(Der Anblick meines gemütlichen Mobiliars ist gerade so verlockend, dass ich an dieser Stelle wirklich abbrechen muss.)

II

Mir ist schmerzlich bewusst, dass mein jüngster Versuch, mich über das Thema Gespenstergeschichte auszulassen, außerordentlich dürftig und bruchstückhaft ausgefallen ist. Aber das wird wohl jeder, der sich die Mühe gemacht hat, den Text zu lesen, selbst gemerkt haben.

Nach Durchsicht und Lektüre mehrerer Bücher, die Geschichten über außersinnliche Wahrnehmungen enthalten, fällt mir auf, dass eigentlich noch keine angemessene Anthologie dazu erschienen ist. Jedenfalls keine, die, wie es nötig wäre, sowohl die besten literarischen Bearbeitungen des Themas als auch die besten Geschichten aus dem wahren Leben umfasst. Ein solches Buch zusammenzustellen, ist vermutlich fast so schwierig, wie ein brauchbares Kirchengesangbuch zu schaffen.

Als Erstes muss der Bearbeiter eine überaus sorgfältige Auswahl treffen, denn die zahllosen, »als authentisch verbürgten« Gespenstergeschichten, auf die man in den üblichen Anthologien stößt, ähneln einander stets in gewissen Aspekten, wie man nach einiger Zeit merkt.

Wir alle kennen Geschichten wie die folgende: Im Jahr 18.. sitzt Mrs. C., eine ehrenwerte Dame, die in der Kleinstadt D. wohnt, eines Tages am offenen Fenster und blickt auf ihren kleinen Vorgarten hinaus. Plötzlich sieht sie, wie ihr Neffe, der zurzeit in Indien Dienst tut, auf dem Schotterweg auf die Haustür zugeht. »Meine Güte, das ist ja Johnny!«, ruft sie aus, aber im selben Moment ist er auch schon wieder verschwunden. Doch mit der nächsten Post erhält sie Nachricht von Johnnys Tod. Er ist genau in der Minute verschieden, in der er ihr erschienen ist.

Soweit zum Muster der am häufigsten erzählten »wahren Geschichte«.

Ein weiterer Hinweis: Der Verfasser einer Gespenstergeschichte sollte stets den Ton eines Erzählers anschlagen, der das, was er vermittelt, tatsächlich für wahr hält. (Übrigens habe ich wohl schon häufig gegen diese von mir selbst aufgestellte Regel verstoßen, wie ich leider bekennen muss.)

Gelegentlich sollte sich der Autor jedoch auch in die Niederungen des Unglaublichen begeben. Damit meine ich die Art von Gespenstergeschichte, in der Blut, Gerippe und in flatternde Gewänder gehüllte Geister und andere Erscheinungen eine wichtige Rolle spielen – wandelnde Werbemittel für die Dienste von Leichenbestattern.

Allerdings fällt die folgende Geschichte nicht in diese Kategorie des »Unglaublichen«, denn für deren Wahrheitsgehalt kann ich die Hand ins Feuer legen. Schließlich sind mir die Quellen bestens bekannt, und ich kann mich für »die Vertrauenswürdigkeit des darin Geschilderten ausnahmslos verbürgen«, wie es oft so schön heißt.

Ein Wanderer, der zu vorgerückter Stunde noch unterwegs war, kam so spät in einem Bauerndorf an, dass er dort kein Nachtquartier mehr fand. Da es Sommer war und die Nacht mild, beschloss er, im Freien zu schlafen, und schlug sein Lager aus einer unerklärlichen Eingebung heraus auf dem Friedhof auf. An der Nordseite der Kirche legte er sich unter einen Gewölbepfeiler und schlief in seliger Unwissenheit auch schnell ein. Ihm war nämlich nicht bekannt, dass sich rings um seinen Schlafplatz die Gräber von Mördern und Selbstmördern befanden (die man vorzugsweise nördlich von der Kirche bestattete).

Nach einer Weile wachte er mit dem unguten Gefühl auf, dass etwas oder jemand an seiner Kleidung zerrte. Erschrocken fuhr er hoch und schaute sich um.

Der Mond schien voll und erhellte auch die hohen Fenster des Kirchturms, in denen sich deutlich die Glocken abzeichneten. Jenseits des Friedhofs konnte der Mann Hügel und Wälder erkennen und im Tal einen still ruhenden kleinen See, in dessen Wasser sich das Mondlicht spiegelte.

Nachdem er einige Minuten lang die Aussicht genossen hatte, wollte er sich wieder schlafen legen. Doch in diesem Moment fiel das Mondlicht auf ein Gebilde ganz in seiner Nähe, fast zu seinen Füßen, und ließ es funkeln.

Es handelte sich um nichts Geringeres als zwei glasige Augen. Sie gehörten zu einer Gestalt, die im hohen Gras kauerte, in ein fleckiges, zerfetztes Gewand gehüllt, das offenbar ein Totenhemd war. Schwach konnte er die langen, spindeldürren Finger erkennen, die so zu Klauen gekrümmt waren, als wollte sich die Gestalt an etwas festklammern.

Weitere Besonderheiten fand der Mann nicht so interessant, dass er sich damit aufgehalten hätte. Wenn man behauptet, er sei gleich darauf »aufgebrochen«, »weggerannt« oder habe sich »aus dem Staub gemacht«, wird man kaum der Geschwindigkeit gerecht, mit der er Abstand zwischen sich und den Friedhof legte.

Hier möge der Hinweis genügen, dass er das Weite suchte.

Ursprünglich hatte ich vor, in diesem Beitrag mehrere wirklich mitreißende Geschichten nachzuerzählen, doch dazu reicht der vorgegebene Platz nicht aus. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mich für den irreführenden Titel und den zusammengewürfelten Inhalt des Textes zu entschuldigen und ihn auf der Stelle abzuschließen.