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Barbara Büchner

SHERLOCK HOLMES UND DER HÖLLENBISCHOF

MEISTERDETEKTIVE
Band 7

fabEbooks

In dieser Reihe sind erschienen:

Band 1: SHERLOCK HOLMES UND DAS DRUIDENGRAB, Hrsg. Alisha Bionda

Band 2: SHERLOCK HOLMES TAUCHT AB, Tobias Bachmann & Sören Prescher

Band 3: SHERLOCK HOLMES UND DIE TOCHTER DES HENKERS, Hrsg. Alisha Bionda

Band 4: SHERLOCK HOLMES UND DAS VERSCHWUNDENE DORF, Barbara Büchner

Band 5: SHERLOCK HOLMES UND DIE SELTSAMEN SÄRGE, Barbara Büchner

Band 6: SHERLOCK HOLMES UND DIE LOGE DER WIEDERKEHR, Deisrée Hoese

Band 7: SHERLOCK HOLMES UND DER HÖLLENBISCHOF, Barbara Büchner

Zum Buch:

Das britische Empire droht in die Gewalt des „Höllenbischofs“ zu geraten, und ein alter Feind will den Meisterdetektiv in einen hirnlosen Zombie verwandeln. Sherlock Holmes muss fürchten, dem übermächtigen Gegner zu erliegen. Oder findet sein brillanter Verstand noch einen Ausweg?

Nach den Charakteren „Sherlock Holmes“ und „Doktor John H. Watson“
Geschaffen von Sir Arthur Conan Doyle

Impressum:
Es gelten die Angaben der illustrierten Printausgabe.

© Fabylon Verlag 2017
ISBN 978-3-943570-81-6

Inhalt

ERSTER TEIL
LA BELLE DAME SANS MERCI

ZWEITER TEIL
ZOMBIES CADAVRES

DRITTER TEIL
DER HÖLLENBISCHOF

VIERTER TEIL
DER IMMERWÄHRENDE CLUB

FÜNFTER TEIL
DIE HIEROGLYPHISCHE MONADE

ANMERKUNGEN UND ERLÄUTERUNGEN

Bokor kapab, yo gen pouvoua sekré —
Die Hexer sind zu allem fähig, sie besitzen die geheime Macht.
Sprichwort aus Haiti

ERSTER TEIL
LA BELLE DAME SANS MERCI

1

Es war an einem dieser Novembertage, an denen man in London kaum die Tür zu öffnen wagte, weil sofort eine graugelbe Nebelwolke von der Konsistenz dicker Erbsensuppe hereinquoll und sich mit ihrem feuchten, rußigen Geruch im Haus breitmachte. Auf den Straßen war es kaum besser. Das Licht der Gaslaternen, die den ganzen Tag brannten, blinzelte kümmerlich durch die Nebelschwaden. Die erleuchteten Fenster waren bloße schmierige, bräunlich-gelbe Flecken im Dunkel der Hauswände. Es war das ideale Ambiente für einen Mordanschlag, und ein solcher fand auch tatsächlich statt.

Wie es eigentlich passierte, hätte ich, John Watson MD., im Nachhinein nicht mehr sagen können, so schnell ging alles vonstatten. Wir hatten vergeblich versucht eine Droschke zu bekommen und drängelten uns mit einer Unzahl anderer Passanten durch einen Flaschenhals — eine dieser überwölbten Durchfahrten, in denen garantiert immer irgendein breitarschiges Pferdegespann steht und sich keinen Zoll weit bewegt — als eine unbekannte Person Sherlock Holmes von hinten anrempelte und einen langen, spitzen Gegenstand durch seinen Ärmel rammte. Er stolperte durch den Anprall, seine Deerstalker-Mütze flog davon, und ich wollte eben seinen Arm packen, als er abwehrend aufschrie und sich mit dem Rücken gegen die Mauer stemmte. Vorsichtig, sehr vorsichtig knöpfte er den Mantel auf und ließ den betroffenen Ärmel von der Schulter herabgleiten. Etwas fiel zu Boden, aber noch ehe sich einer von uns danach bücken konnte, hatten die drängelnden Füße der Passanten es weitergeschoben und in einen Gully befördert, wo es mit einem schwachen Aufblitzen verschwand. Ich konnte gerade noch sehen, dass es etwa so lang und dick wie eine Stricknadel war.

„Was Ernstes passiert, Sir?“ Ein aufmerksamer Bobby war an uns herangetreten und hob seine Laterne, um uns in dem Nebel-Zwielicht genauer in Augenschein zu nehmen. „Kommen Sie ein Stück auf die Seite.“ Wir entwichen dem Gedränge, und im Schein einer Gaslampe, unterstützt von der Laterne des Beamten, untersuchte Holmes seinen Mantel. Man konnte deutlich sehen, dass das dünne Instrument unterhalb der Achsel den gesamten Ärmel mitsamt dem Futter durchspießt hatte, mit einer solchen Heftigkeit, dass es in dessen Inneres gerutscht war. Deshalb hatte mein Freund so hastig verhindert, dass ich ihn anfasste, und hatte die Nadel, statt danach zu greifen, vorsichtig aus dem Kleidungsstück gleiten lassen!

Der Konstabler fragte, wobei ein breites Schmunzeln über sein Gesicht zog: „Sie haben nicht vielleicht eine Auseinandersetzung mit einer Dame gehabt, Sir? Das sieht nach einer Hutnadel aus.“

Holmes, der keinerlei Sinn für schlüpfrigen Humor hatte, schon gar nicht unmittelbar nach einem Mordanschlag, schüttelte unwirsch den Kopf. „Nein, mein Herr, gewiss nicht. Da eine Hutnadel dazu dient, den Hut an der Frisur festzustecken, hat sie am stumpfen Ende einen Knauf oder eine Spange, sonst würde sie durch die Haare rutschen. Wenn schon Nadel, dann war das hier eher eine Stricknadel, allerdings von besonderer Art. Zu dumm, dass sie in den Kanal gefallen ist!“ Er spähte durch das massive Gitter und schnaubte enttäuscht, als darunter ein gut zwei Yards tiefer Schacht sichtbar wurde, der in einen strudelnden Schmutzwasserbach mündete. „Nein, dort bekommen wir sie nie wieder heraus. Schreiben wir das Ganze also unter ‚misslungene Mordanschläge’ ab.“

„Mordanschläge, Sir?“, fragte der Beamte überrascht. „Meinen Sie wirklich, die Dame mit ihrer Stricknadel wollte Ihnen ans Leben? Dann müssen wir eine Anzeige aufnehmen.“

„Wozu?“, erwiderte Holmes resigniert. „Der Attentäter, weiblich oder nicht, ist weg, die Mordwaffe ist weg, eventuelle Zeugen sind in der Menge nicht mehr auffindbar … nein, ersparen Sie sich und uns die Mühe einer Anzeige.“ Er zog jedoch, obwohl einen der kalte, klamme Nebel bis ins Mark frösteln ließ, seinen Mantel nicht wieder an, sondern rollte ihn zu einem Bündel zusammen und nahm ihn unter den Arm. „Wenn Sie uns einen Gefallen tun wollen, verschaffen Sie uns eine Droschke, bevor wir hier erfrieren.“

Der Konstabler, will mir scheinen, hielt uns für zwei etwas wunderliche Gesellen, aber ein Pfiff und eine Handbewegung riefen die nächstbeste Droschke zu uns heran, und wir gelangten rasch und unbeschadet in die Baker Street.

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Im Haus war es bei dieser Wetterlage nicht viel angenehmer als im Freien. Zwar war es dort immerhin trocken, aber der Nebel drückte auf die Schornsteine, sodass kein Kamin richtig ziehen wollte und das Feuer verdrießlich vor sich hin schwelte. Statt fröhlicher Flammenteufel spukten dumpfe Rauchgeister im Feuerloch herum. Mit viel Stochern und Schüren gelang es mir endlich, ihm ein wenig Schwung zu verleihen — ich bin stolz darauf, dass ich als alter Soldat auch unter widrigsten Umständen ein ordentliches Feuer zustande bringe — und ein frisches, zundertrockenes Holzscheit machte den Flammen Mut, gegen den Rauch im Kamin anzukämpfen.

Holmes war auf der Stelle in sein Arbeitszimmer geeilt. Obwohl sein Jackett und sein Hemd anscheinend nichts von dem Nadelstoß abbekommen hatten, zog er beides hastig aus und wendete den nackten Oberkörper mit erhobenen Armen vor dem Spiegel hin und her. „Nehmen Sie die Karbidlampe, Watson“, ordnete er an, „und suchen Sie diese Seite mit Ihrem ärztlich geschulten Auge genau ab. Ich will jede Kleinigkeit wissen. Kratzer, Verfärbungen, Einstiche?“

Nach gewissenhafter Untersuchung konnte ich sagen, dass nichts davon zu bemerken war, und er atmete sichtlich auf. „Dann nehmen wir uns jetzt den Mantel vor.“

Er trug den Überzieher, von innen nach außen gewendet, in sein Arbeitskabinett und untersuchte ihn Zoll für Zoll beim hellen Schein der Karbidlampe mit der Lupe, wobei er sich mit Lederhandschuhen und einer Chirurgen-Maske schützte. Mehr als einmal beugte er sich so dicht darüber, dass seine lange Nase beinahe das Futter berührte, und schnüffelte wie ein Jagdhund. Dann pfiff er plötzlich, laut und unmelodisch. „Sehen Sie her! Hier!“

Er drückte mir die Lupe in die Hand. Der Mantel hatte ein hellbeigefarbenes Futter, und so war leicht zu sehen, was er entdeckt hatte und was auf einem dunklen Futter wahrscheinlich völlig verschwunden wäre. Die geringe Menge einer öligen Flüssigkeit, nicht mehr als der Tropfen aus einer Pipette, hatte sich in den Stoff gesogen. „Was halten Sie davon?“

Ich zuckte die Achseln. Bei dem Thema musste ich passen. Als Militärchirurg hatte ich mit den Subtilitäten der Giftkunde naturgemäß wenig zu tun gehabt. Wenn mir Fälle auf diesem Sachgebiet überhaupt untergekommen waren, hatte es sich um die Opfer von selbst gebranntem Alkohol gehandelt.

Holmes griff nach seinem Hemd und der Jacke, die er beiseite geworfen hatte, und untersuchte sie ebenfalls. Auf dem Ärmel des Jacketts war der Abdruck eines Tröpfchens zu sehen, wo die beiden Ärmel aneinandergerieben hatten. „Wenn Sie jetzt so freundlich wären, zu läuten und Misses Hudson zu sagen, sie solle das Dienstmädchen zwei frische Schweinefüße besorgen schicken. Und zwar so rasch wie möglich.“

Keine drei Minuten später sahen wir das Dienstmädchen unserer Vermieterin, dick in seinen Shawl gewickelt und mit saurem Gesichtsausdruck, durch den feuchtkalten Abend zum Metzger laufen. Sie war ziemlich schnell wieder da und brachte einen Teller mit zwei frischen Fleischstücken — „und Misses Hudson will wissen, ob´se die nu zu Suppe kochen oder braten soll?“

„Keines von beiden. Ich will sie vergiften. Danke, Lisbeth.“

Zum Glück war Lisbeth eine von diesen rotbackigen, schwerfälligen, unglaublich beschränkten und dabei unerschütterlichen Landpomeranzen, denen es völlig egal ist, was für seltsame Aufträge man ihnen erteilt, solange nur ein Trinkgeld den Weg in ihre Hand findet. Ich stellte mir vor, wie sie zu Misses Hudson in die Küche polterte und blökte: „Nee, Ma´am, vergiftet willse der Gentleman haben, sagt er.“

Holmes ergriff eine Schweinsklaue vorsichtig am Gelenk und wälzte sie über der Stelle, wo der Öltropfen eingesickert war, hin und her. Mit der zweiten verfuhr er ebenso, nur schälte er zuerst ein Stück der Haut ab, sodass die Flüssigkeit unmittelbar mit dem rohen Fleisch in Berührung kam. Dann legte er beide aufs Fensterbrett und stülpte einen abgedichteten Glassturz darüber, wie er ihn für seine chemischen Experimente benützte. „Geben wir ihnen eine halbe Stunde.“

Ich konnte nicht länger an mich halten. „Sie vermuten eine vergiftete Nadel, Holmes?“

„Das wäre sehr naheliegend, ja“, erwiderte er. „Der sogenannte Stachel des Skorpions ist eine zwar in England wenig übliche, aber in vielen tropischen Ländern sehr beliebte Waffe. Erinnern Sie sich an den Tod des Gutsbesitzers in dem Fall, den Sie ‚Das Zeichen der Vier’ betitelten? An seinen Mörder, den zwergenhaften Eingeborenen von den Andamanen-Inseln, der so geschickt mit seinem Blasrohr die vergifteten Pfeile abfeuerte?“

„Sie meinen, diese Nadel wurde mit einem Blasrohr abgeschossen?“

„Watson, bitte! Wollen Sie nicht einmal, ein einziges Mal, denken, bevor Sie eine Meinung äußern? Erstens war diese Nadel viel zu lang, es hätte ein Blasrohr so groß wie eine Blockflöte gebraucht, und zweitens müsste man schon übermenschliche Lungen haben, um eine Nadel durch einen Wintermantel zu pusten. Sie wurde wie ein Dolch gestoßen, und ich vermute, bei dem Attentäter war die böse Absicht stärker als das technische Geschick. Jedenfalls muss er ein langer Kerl sein.“

Als ich diesem Themenwechsel nicht folgen konnte, drückte er mir einen Bleistift in die Hand. „So, Watson, Sie sind der Mörder. Sie haben sich in einer Menschenmenge hinter mir angeschlichen und versuchen mich zu stechen, wobei Sie möglichst bemüht sind, keine verräterische Bewegung zu machen — also bitte nicht so zustechen!“ Dabei schwang er den Arm über den Kopf wie ein Theaterschurke, der zu einem Dolchstoß ansetzt. „Also los!“

Ich eigne mich einfach nicht zum Mörder, auch wenn ich es nur vorgeben soll. Wenn ich den Arm versteckt unten hielt und mit dem Bleistift pikte, erwischte ich Sherlock Holmes irgendwo zwischen der Hüfte und dem, mit Verlaub gesagt, Allerwertesten, aber auf keinen Fall in der Achselhöhle.

„Gut, das kommt davon, dass Sie eine Spur kleiner sind als ich“, erklärte Holmes. „Jetzt der umgekehrte Versuch. Ich als Meuchelmörder stehe hinter Ihnen und — nein, verflixt! Auch zu niedrig. Holen Sie mir mal den Schemel her. So, ein weiterer Mordversuch aus größerer Höhe! Jetzt passt es! Meine Güte, Watson, der Kerl muss fast sieben Fuß groß gewesen sein!“

„Dann war es keiner von den Andamanen“, scherzte ich. „Die Eingeborenen dort sind kaum fünf Fuß groß. Es sei denn, er lief auf Stelzen.“

Während dieser Unterhaltung war mein neugieriger Blick immer wieder zu den beiden Schweineklauen auf dem Fensterbrett hinübergewandert, und jetzt entschlüpfte mir ein lauter Ausruf. „Da ist eine Veränderung! Auf der Klaue, von der Sie die Haut abgezogen haben!“

„Ah! Das wollen wir uns doch gleich einmal ansehen!“ Holmes nahm die helle Karbidlampe auf und eilte hin. Tatsächlich! Während die andere Klaue nur einen verwischten, missfarbenen Fleck auf der Haut des Kadavers zeigte, war in dem ungeschützten Fleisch eine Blattern ähnliche gelbe Pustel aufgeblüht, glänzend schwarz an den Rändern und von Flecken weißen Grinds umgeben. Das Schlimmste allerdings schien mir, dass das Gift noch blubbernd in dem toten Fleisch arbeitete.

Es war nicht das erste Mal, dass ein Mordanschlag auf Sherlock Holmes unternommen wurde. So ziemlich jeder, dem der große Detektiv das Handwerk gelegt hatte, hatte mit fürchterlicher Vergeltung gedroht, und gerade bei den allerschlimmsten Verbrechern waren das keine leeren Drohungen gewesen. Ich dachte noch mit Schrecken daran, wie eine heimtückisch in einer Spieldose verborgene Sprungfeder ihn mit der „schwarzen Formosa-Fäule“ infizieren sollte, einer in Europa praktisch unbekannten und unheilbaren Krankheit.

Nicht zu reden von all den Attentaten mit Knüppeln, Dolchen, Schusswaffen und Messern, die wir beide schon überlebt hatten. Das schreckliche „getupfte Band“ hatte uns seine Giftzähne gezeigt, zwei Mal war ein auf Gurgelbiss dressierter Hund auf uns gehetzt worden, einmal im Fall des „Hauses bei den Blutbuchen“ und einmal im Dartmoor, und die beiden mörderischen Gutsherren von Reigate hatten Holmes mit bloßen Händen zu erwürgen versucht und wären fast erfolgreich gewesen.

„Wie können Sie das nur ertragen!“, brach es aus mir heraus. „Alle Verbrecher der Welt sind hinter Ihnen her!“

„Irgendwie müssen sie ihrem Grimm ja Luft machen“, antwortete er leichthin. „Dass sie keine Segenswünsche für mich übrig haben, ist zu erwarten. Außerdem sind ziemlich viele von ihnen dank der Effizienz des britischen Justizsystems bereits in ein anderes Dasein hinübergewechselt, und ich habe keine Angst vor Gespenstern.“

Holmes nahm die ständige Gefahr, in der er schwebte, zumindest äußerlich sehr gelassen hin. Er hielt es mit dem deutschen Sprichwort »Viel Feind, viel Ehr«, und als dem treuen Gefährten von Sherlock Holmes mangelte es mir natürlich auch nicht an Feinden, zu denen so formidable Schurken zählten wie Bart Mosley alias Khurat Khan, Weltreisender, Massenmörder und selbst ernannter Nekromant.

„Es gibt immerhin einige, die am Leben und noch nicht hinter Schloss und Riegel sind. Khurat Khan zum Beispiel.“

Letzterem hatte Holmes nachgewiesen, dass er Schuld am Schicksal jener Bergsteigergruppe trug, die in einem Schneesturm am schottischen „Zauberberg“ Ben MacDhui ein ebenso grausames wie bizarres Ende gefunden hatte, und obwohl sich der Mann zum Zeitpunkt dieser Entdeckung irgendwo in den unzugänglichen Gebieten Asiens aufhielt, hatte er von der Lösung des Rätsels erfahren und uns einen Brief geschickt mit dem knappen Inhalt: Mein großer Geist verneigt sich vor dem kleinen Geist, dem es gelungen ist, mich in einer Kleinigkeit zu übertrumpfen. Doch wird auch jener mit dem Tode bestraft, der nur den Saum der Gewänder des Erhabenen beschmutzt. Khurat Khan.

Und damit wir nicht daran zweifelten, dass er es ernst meinte, war das Papier des Briefes mit einer öligen gelben Flüssigkeit getränkt gewesen, sicherlich dem Absud einer der vielen teuflischen Drogen, die dieser Hexenmeister zuzubereiten verstand. Holmes hatte das verdächtige Schriftstück seinerzeit hermetisch in einem Glasbehälter verschlossen und seiner umfangreichen Sammlung ähnlicher Objekte — er nannte sie seine „Mörderabilien“ — hinzugefügt, um sich bei Gelegenheit näher damit zu befassen.

Für mich war der Fall besonders bedrückend, denn ich hatte Bart Mosley gekannt, wenngleich nur sehr flüchtig, wie man eben jemanden kennt, der an derselben Universität ein anderes Fach studiert. Persönlich begegnet war ich ihm, einem begeisterten Alpinisten, nur bei unserem so seltsam missglückten Versuch, den Ben MacDhui zu besteigen. Er war mir jedoch schon damals als einer der ungewöhnlichsten Menschen erschienen, denen ich je begegnet war. Sein Studentenname war nicht umsonst „Greatrix“ gewesen. Überlebensgroß in jeder Beziehung, übertraf er die meisten seiner Mitmenschen an Intelligenz, Kühnheit und Gelehrsamkeit. Er hatte sich schon als Jüngling einen Namen als Schriftsteller gemacht, er war ein beachtlich guter Maler — obwohl ich mir keines seiner Bilder ins Wohnzimmer gehängt hätte —, er sprach ein Dutzend Fremdsprachen, in seinem Kopf waren ganze Bibliotheken zu Hause. Er besaß einen unersättlich forschenden Geist. Auch körperlich ragte er über den Durchschnitt hinaus. Er war groß und athletisch gebaut, muskulös und dabei wendig wie ein Fechter, vor allem aber zeigte er ein Gesicht, das dazu bestimmt schien, einmal in Bronze gegossen zu werden, so hart, klar und kantig waren die Züge, so feurig die dunklen Augen. Schon an der Universität — ich war damals ein freshman von achtzehn Jahren gewesen, er drei Jahre älter — hatte er sich jenen besonderen Ruf geschaffen, der ihm auch später anhängen sollte: eine brisante Mischung aus Bewunderung und Abneigung. Wenn er es darauf anlegte, konnte er Menschen so sehr in seinen Bann schlagen, dass sie ihm geradezu hörig wurden. Alle, selbst die Professoren, staunten über seine Fähigkeiten. Aber so vielseitig begabt wie in den Künsten war er auch im Laster und im Verbrechen. Niemand, nicht einmal seine begeisterten „Jünger“, liebte ihn wirklich, und es gab schon in seiner Studentenzeit Leute, die ihn rundheraus verabscheuten. Die Fäulnis, die sein Herz und sein Hirn zerfraß, ließ sie vor ihm zurückweichen wie vor einer stinkenden Leiche.

„Ach was, Khurat Khan! Der sogenannte Schwarzmagier!“ Holmes ließ sein trockenes Kichern hören. „Wäre er tatsächlich der Nekromant, als der er sich darzustellen beliebt, hätte er uns nicht einen mit Gift präparierten Brief geschickt, sondern gleich einen veritablen Dämon, der uns den Hals umdreht. Das wäre viel praktischer und wirkungsvoller gewesen! Und hat er nicht auch bei seinem Rachefeldzug gegen seine Bergsteiger-Kollegen ein zwar sehr exotisches, aber natürliches Gift verwendet? Er begegnete uns also auf derselben Ebene wie alle anderen Verbrecher, mit denen wir zu tun hatten.“

„Trotzdem bin ich froh, dass er weit weg im Himalaya ist und ich seit mehr als einem Jahr nichts mehr von ihm gehört habe. Glauben Sie, dass er noch lebt?“

„Keine Ahnung, Watson. Allwissend bin ich nun auch wieder nicht. Aber es würde mich nicht wundern, wenn ihn die wackeren Bergbewohner Asiens längst mit ihren Säbeln in Stücke gehackt oder ihn in eine Gletscherspalte gestoßen hätten. Schließlich hatte er ein außergewöhnliches Talent dafür, sich Todfeinde zu schaffen, finden Sie nicht?“ Er angelte nach seiner Pfeife, zündete sie an und legte sie nach den ersten Zügen angewidert weg. „Bei diesem Nebel schmeckt einfach alles nach Ruß, sogar der beste Tabak. Ich sollte mir stattdessen angewöhnen, Lakritz zu kauen.“

„Der schmeckt wahrscheinlich auch um nichts besser. Außerdem ist der höllische Knaster, den Sie rauchen, auf jeden Fall grässlich, mit oder ohne Beimischung von Londoner Erbsensuppe.“

„Mein Geist braucht eben kräftige Stimulantien, lieber Watson! Dem genügen keine lieblichen Veilchenblüten!“

Das war ein kleiner Seitenhieb, weil ich eine Vorliebe für jenen milden, süßlichen orientalischen Tabak habe, der mit einer Beimischung von Veilchen aromatisiert ist. Er ist eigentlich zum Rauchen in einer Wasserpfeife bestimmt, aber die Shisha ist so groß und sperrig, dass ich doch lieber bei der handlichen abendländischen Pfeife bleibe.

„In dem Fall“, antwortete ich schmunzelnd, „können Sie es sicher nicht erwarten, dass wir wieder zu Bischof Thurston eingeladen werden. Dort gibt es die kräftigsten Stimulantien für den Geist, die sich ein scharfer Denker nur wünschen kann — guten alten Port, erstklassigen Whisky, jede Menge Tabak und die wütendsten Kontrahenten!“

Weder Sherlock Holmes noch ich neigten dazu, uns an den gesellschaftlichen Vergnügungen des Londoner Winters zu beteiligen. Tanzen konnte ich mit meinem kriegsversehrten Bein ohnehin nicht, ich hatte auch vorher nie viel Freude daran gehabt, und Holmes langweilte sich zu Tode unter den schnatternden Dämchen, wichtigtuerischen Jünglingen und einer bornierten älteren Generation, die an den Kartentischen herumsaß. Es gab allerdings eine Einladung, der wir jedes Mal mit Vergnügen folgten, und das war die in das Landhaus des katholischen Bischofs Thurston. Zwei bis drei Mal im Jahr veranstaltete er seinen „Wissenschaftlichen Salon“, ein gemütliches, aber auch sehr anregendes Wochenendtreffen, an dem einige der besten Geister Englands teilnahmen. Der emeritierte Bischof war ein reizender alter Herr, und er sorgte dafür, dass es bei seinen Herrenabenden nicht langweilig wurde, indem er mit Vorliebe die bissigsten Skeptiker und die ärgsten Zeloten gemeinsam einlud. Wenn er dann in seinem mit bunten Seidenkissen gepolsterten Stuhl, einem wahrhaftigen Thronsessel, am Feuer saß, erschien er wie die Unschuld in Person, klein und greisenhaft gebeugt, mit seinem grau-weißen Haar, seinen Apfelbäckchen und dem geistlichen Habit. Aber mit welchem Gusto pflegte er die Hahnenkämpfe zu beobachten, die sich aus solch kontroverser Gesellschaft ergaben! Da keine Damen eingeladen wurden, brauchte man nicht so sehr auf Etikette zu achten; niemand wurde abgestraft, weil er einen Schluck zu viel trank, in der Hitze des Gefechts ein unflätiges Wort gebrauchte oder sich den steifen Kragen lockerte, um besser schreien zu können. Ungeschriebenes Gesetz war nur, dass alle Gespräche auf dem höchsten geistigen Niveau stattfinden mussten. Schon ein plumpes Argument, eine sichtbare Wissenslücke konnte dazu führen, dass man nächstes Mal nicht mehr eingeladen wurde.

Der in England so beliebte Okkultismus war schon öfters ein Thema gewesen, und der geneigte Leser kann sich vorstellen, welcher Aufruhr dann in kürzester Zeit in der überheizten, von Tabakrauch dampfenden Bibliothek herrschte. Was wurde da nicht alles debattiert! Der Sitz der Seele, die Funktionen des Gehirns, die grässlichen Fälle von scheintot Begrabenen, das Wiedererwachen von Erfrorenen und Ertrunkenen, bei denen man schon alle Hoffnung aufgegeben hatte, die Mythen von blutsaugenden und „nachzehrenden“ Toten waren nur einige der gelehrten Themen, über die man sich bis in die Morgenstunden ereiferte. Vor allem, wenn sich das Gespräch den sogenannten Materialisationen zuwandte, stand den Skeptikern ebenso der Schaum vorm Mund wie den geistlichen Herren. Von den einen wurden sie als blanker Schwindel abgetan, während andere entgegenhielten, das umstrittene Ektoplasma könne durchaus eine natürliche Substanz sein, die eben nur unter bestimmten Umständen zustande käme, wie es auch bei anderen Naturphänomenen, etwa dem Regenbogen, der Fall sei. Vonseiten der geistlichen Herren (die übrigens verschiedenen christlichen Glaubensgemeinschaften angehörten — der Bischof war da keineswegs engstirnig) kam der Einwand, der Teufel sei bekanntlich ein Meister der Lüge und könne auch Trugbilder toter Menschen erscheinen lassen, wenn es in seine Pläne passte. Die Materialisten und Freigeister höhnten über die zahlreichen als Betrüger entlarvten Medien, die Geistlichen ereiferten sich, dass bei den Séancen Dämonen die Medien ergriffen und die Anwesenheit der toten Verwandten vortäuschten, und eine dritte Partei war der Meinung, eine gefälschte Banknote genüge noch lange nicht, um die Bank von England zu kompromittieren.

Ich hielt mich aus diesen Diskussionen im Allgemeinen heraus, weil ich mich dem vorherrschenden Scharfsinn nicht gewachsen fühlte. Was hätte ich dazu beisteuern sollen? Auf dem Schlachtfeld hatte ich nur jüngst Dahingeschiedene gesehen, zumeist in ihrem Blut schwimmend und in einem körperlichen Zustand, in dem sich nun wirklich keine Frage mehr stellte, ob der Unglückliche tatsächlich tot war. Aber ich genoss das Zuhören genauso wie die leiblichen Genüsse, die der Bischof uns vorsetzen ließ.

2

Plötzlich richtete sich Holmes lauschend auf. „Ha! War das die Türklingel? Ja, tatsächlich! Ein Schwall Nebel und das Aroma von Tabak, den Sie ebenfalls als grässlich zu bezeichnen belieben! Das ist Lestrade! Was treibt ihn bei diesem Wetter in die Baker Street?“

Es war tatsächlich der kleine, schmächtige Beamte mit dem Fuchsgesicht und dem lehmfarbenen Schnurrbart. Vom Nebel durchfeuchtet trat er bei uns ein, umhüllt vom Rauch seiner groben Zigaretten, die wie gerösteter Kameldung rochen. Kaum hatte das Dienstmädchen ihm Mantel, Schirm und seinen steifen Hut abgenommen, huschte er zum Kamin, und während er die Zigarette im Mundwinkel hin und her rollte, rieb er sich die frierenden Hände warm.

„Heißer Tee mit einem Tropfen Rum?“, schlug Holmes gastfreundlich vor.

„Heißer Rum mit einem Tropfen Tee wäre mir lieber!“, nuschelte der Inspektor unter seinem nassen Schnurrbart hervor. „Was für ein Wetter! Egal, ob man eine Droschke nimmt oder zu Fuß geht, man begibt sich in Lebensgefahr. Man sieht ja die Hand vor den Augen nicht! London ist eine Geisterstadt, alle Geräusche gedämpft, nichts zu sehen außer Schatten — zum Fürchten! Und dabei komme ich gerade von einer spiritistischen Sitzung!“

„Tatsächlich?“ Holmes zog die Augenbrauen hoch, bis sich sein Gesicht in eine groteske Grimasse verwandelte. „Sie überraschen mich, Lestrade. Ich hoffe doch, Sie waren in dienstlicher Eigenschaft dort und nicht, um mit den Geistern von Leigham Forest Kontakt aufzunehmen?“

„Dienstlich“, knurrte Lestrade. „Und Sie brauchen sich gar nicht über den Leigham Forest lustig zu machen! Fragen Sie Doktor Watson, wenn Sie mich schon für einen abergläubischen Dummkopf halten!“

Der besagte Wald lag ein paar Hundert Yards abseits eines Ferienhäuschens, das Lestrade gemietet hatte, und war seiner Meinung nach auf eine ebenso seltsame wie bösartige Weise verhext. Ich teilte diese Meinung, nachdem mich ein kaum zweistündiger Spaziergang dort an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte. Aber Holmes wollte natürlich von solchen Dingen nichts wissen. Schon gar nicht, nachdem er einen vermeintlichen Spuk an diesem unheimlichen Ort als einen recht alltäglichen, wenn auch sehr geschickt verschleierten Mord aufgeklärt hatte.

„Und seit wann geht Scotland Yard auf Gespensterjagd?“

„Es sind nicht die Gespenster, die wir jagen, Mister Holmes, sondern das Gesindel, das sich im Umfeld des Spiritismus sein Süppchen kocht. Im Dunkeln ist gut munkeln, sagt man ja — und beispielsweise auch gut stehlen. Wir hatten kürzlich eine Serie von Taschendiebstählen während diverser Séancen, an denen wohlhabende Leute teilnahmen. Und in diesem Zusammenhang habe ich gleich eine Frage an Sie: Ist Ihnen ein hübscher, schmuddeliger Bursche namens Isa Birnstein bekannt?“

„Isa Bernstein“, korrigierte Holmes. „Ja, den kenne ich. Sie verdächtigen ihn doch nicht, ein Taschendieb zu sein?“

Lestrade lachte abschätzig. „Ein bisschen Verstand dürfen Sie mir schon zutrauen! Er saß zwar bei der Séance direkt neben der bestohlenen Dame, aber ich habe mir seine Pfoten angesehen. Lange Fingernägel, spitz gefeilt wie ein Weib, an jedem Finger einen Felsbrocken von einem Ring, ebensolche Manschettenknöpfe. Mit solchen Händen greift man nicht in fremde Taschen. Diebe haben glatte, schmucklose Hände mit kurzen Nägeln, um beim Zugreifen nirgends hängen zu bleiben. Nein, ich wollte mich nur allgemein nach ihm erkundigen, weil er sich darauf berief, dass Sie ihn kennen und wertschätzen.“

„Ich würde mal so sagen: Er ist harmlos, und er ist mir zuweilen sehr nützlich. Wenn er die Hand an der Dame auf dem Nebensitz hatte, dann sicher nicht in ihrer Tasche, sondern auf ihrem Knie. — Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, was Scotland Yard beunruhigt. Einen Mann von Ihrer Bedeutung, Inspektor, schickt man nicht wegen eines Taschendiebstahls los.“

„Gewiss nicht“, bestätigte Lestrade sichtlich geschmeichelt. „Nein, da steckt mehr dahinter, viel mehr. Der Leibarzt der Königin, Sir Ethelred Blascombe, hat es kurz und knapp in die richtigen Worte gefasst: Diese ganze Klopfgeisterei, Wahrsagerei und Geisterbeschwörung ist eine Pest. Und England ist damit durchtränkt wie ein Badeschwamm mit Seifenwasser! Angefangen hat es damit, dass Ihre Majestät Königin Elisabeth diesen Lügner und Betrüger, den sogenannten „Doktor“ John Dee, hätschelte und hofierte, bis er sich als Großmeister aller Zauberer gebärden durfte, und heute sind wir beinahe schon abergläubischer als die Iren! Wenn Sie wüssten, wie viele Verbrechen — und beileibe nicht nur kleine Diebstähle — sich im Schatten der Séancen verbergen! Da sind sowohl Einzeltäter wie organisierte Banden am Werk. Betrug, Erbschleicherei, Erpressung, Familienstreitigkeiten, Selbstmorde — ja, ich sage nicht zu viel, wenn ich vermute, dass da und dort auch ein Mord dabei ist. Und das Ganze spielt sich ja nicht nur in den Hinterzimmern von Kleinbürgern ab, sondern in hohen … in sehr hohen gesellschaftlichen Rängen.“ Mit gedämpfter Stimme setzte er hinzu: „Ich sage nur: James Robert Lees! John Brown!“

„Die königlichen Geisterseher?“

Lestrade winkte ab und beeilte sich, das heikle Thema zu wechseln. „Natürlich müssen wir bei alledem sehr, sehr diskret vorgehen. Mehr möchte ich nicht sagen.“

„Wenn Sie mir nicht mehr sagen, kann ich Ihnen auch keine hilfreichen Antworten geben. Kommen Sie schon, Lestrade, was ist los? Sie sind doch heute nicht zufällig zu uns gekommen, also darf ich Sie wohl rundheraus fragen, inwiefern Doktor Watson und ich Ihnen bei Ihren Nachforschungen behilflich sein können. Und jetzt bitte keine Ausflüchte mehr.“

Der Beamte sah ziemlich unglücklich aus. Er kramte unnötig lange in seiner Tasche, ehe er einen hölzernen Behälter hervorzog, der einem Federpennal oder dem Etui für eine Blockflöte ähnelte. Mit einer Bewegung, der man anmerkte, wie ungern er ihn berührte, schob er ihn Holmes zu. „Das wurde bei einer Séance gefunden … einer Séance, an der die Königin in Person teilnehmen sollte. Zum Glück wurde es entdeckt, ehe sie den Raum betrat. Wenn Sie es aufmachen, rühren Sie das Ding bloß nicht an!“

„Was ist darin?“

„Eine lange Nadel.“

Ich hatte es erwartet, und dennoch erschien es mir unglaublich, als Holmes vorsichtig den Schiebedeckel öffnete und die Schachtel unter die Lampe stellte. Was darin lag, war ein Duplikat jener Nadel, die ich einen Augenblick lang übers Pflaster rutschen gesehen hatte, ehe sie in einem Gully verschwand! Sie war aus Metall und hatte an einem Ende einen schmalen Schlitz, ähnlich wie jene Instrumente, die man zum Aderlass verwendet, ähnlich auch einer dünnen Schreibfeder. In der bei spiritistischen Sitzungen üblichen Dunkelheit wäre es ein Leichtes gewesen, jemand damit zu stechen und das Gift aus dem Schlitz in die Wunde fließen zu lassen.

Wie der Beamte berichtete, waren Nadel und Pennal bei den Vorbereitungen für eine spiritistische Sitzung im sogenannten Blauen Zimmer in Windsor Castle gefunden worden. In diesem Zimmer hatte Prinzgemahl Albert gewohnt, und nach seinem Tod im Jahre 1861 — er starb an Typhus — hatte die untröstlich trauernde Königin angeordnet, es völlig unverändert zu lassen. Es wurde täglich gereinigt, seine Kleider hingen noch in den Schränken, abends wurde sein Nachthemd bereitgelegt, Waschwasser und Handtücher wurden morgens bereitgestellt; vor allem aber hielt die Witwe dort die Séancen mit ihren Medien ab. Da sich der tödliche Behälter auf dem Tischchen befunden hatte, auf dem Schiefertafel, Kreide, Papier und eine Schachtel mit Bleistiften bereitstanden, hatte der Anschlag offenbar dem Medium gegolten, denn nur dieses benutzte die Utensilien. Zwei Männer kamen als potenzielle Opfer in Frage: der Stallknecht John Brown — Victorias Lieblingsmedium — und der kultivierte James Robert Lees, der schon als Knabe durch seine außergewöhnlichen Fähigkeiten von sich reden gemacht hatte. An diesem Abend war Lees der Auserwählte gewesen, der Anschlag hätte aber genauso gut Brown gelten können, denn die Königin folgte bei der Auswahl der Medien ihren rasch wechselnden Eingebungen — weniger vornehm ausgedrückt, ihren Launen.

„Es wurde auf Gift untersucht“, fuhr Lestrade fort, „und zwar von Professor Engelbert Johnson persönlich.“

Mein Herz tat einen harten, doppelten Schlag und drohte dann auszusetzen. Die bloße Nennung des Namens genügte, um mich erschauern zu lassen. Der Toxikologe des Home Office war einer unserer Todfeinde! Dieser Mann, der den Spitznamen „Doktor Hund“ trug, weil er an verdächtigen Substanzen zu schnüffeln, zu kratzen und zu lecken pflegte, war zwar noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten und nach gängigen Begriffen ein Ehrenmann, aber uns hasste er aus tiefster Seele, seit wir ihm seinen „Adoptivsohn“ entrissen hatten. Wie wir es sahen, hatten wir den jungen Doktor Libeskind aus seinen Klauen befreit, bevor er ihn lebenslänglich zu seinem Sklaven machen und obendrein noch an seine widerwärtige Schwester verheiraten konnte. Der Professor hingegen beharrte darauf, wir hätten den einzigen Menschen, den er jemals geliebt habe, gegen ihn aufgehetzt und seine erfolgreiche Flucht bewerkstelligt. Er hatte uns seine Meinung sehr klar und deutlich gesagt, indem er mit einem Schlachtmesser ein riesiges, blutiges Hundeherz an unsere Tür spießte.

„Er stellte fest“, erklärte der Inspektor umständlich, „dass es sich um ein Pfeilgift handelt, das in Europa praktisch unbekannt ist. Es gäbe, sagte er, außer ihm selbst keine drei Fachleute, die schon einmal davon gehört hätten.“

„Ich kann Ihnen einiges mehr sagen als Professor Johnson.“ Holmes hatte sich mit einem Ruck seiner langen Glieder aus dem Sessel erhoben. „Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Kommen Sie mit, es steht in meinem Kabinett.“

Lestrade folgte ihm, neugierig und widerwillig zugleich. Das Kabinett mit seinem Gestank beißender Chemikalien war kein angenehmer Aufenthaltsort, und der Inspektor warf immer erst einen misstrauischen Blick auf den Arbeitstisch mit seinen Destillierkolben und Bunsenbrennern, ob dort nicht irgendetwas brodelte, das vielleicht explodieren mochte. Dann fiel sein Blick auf den Glassturz mit den Schweinsfüßen, der gut sichtbar auf dem Fensterbrett stand, und er riss die Augen auf. „Zum Kuckuck, Holmes, was für grässliche Experimente nehmen Sie jetzt wieder in Angriff?“

„Ich, Inspektor? Ich war dieses Mal nicht der Experimentator, sondern die Zielscheibe eines Experiments! Genauer gesagt eines Mordanschlags.“

„Das ist ja keine Seltenheit bei Ihnen. Aber wer hat Sie mit Schweinefüßen attackiert?“

„Die dienen nur zu Demonstrationszwecken. Das eigentliche Mordinstrument liegt leider tief unten in einem Gully. Aber es hat eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Nadel, die Sie uns soeben zeigten.“

Der Inspektor lauschte interessiert, als Holmes ihm unser Abenteuer schilderte. Dann schüttelte er den Kopf. „Das verstehe, wer will. Dass jemand die beiden Medien aus dem Weg räumen will, verstehe ich nur zu gut, die haben jede Menge Feinde. Aber warum der Anschlag auf Sie?“

„Ich habe auch jede Menge Feinde“, antwortete Holmes achselzuckend.

„Das weiß ich, aber es ist in ganz London bekannt, was für ein scharfer Gegner des Spiritismus Sie sind. Warum hängen diese Attentate also offensichtlich zusammen? Sherlock Holmes, der erklärte Skeptiker und die beiden Dunkelmänner mit ihren Botschaften aus dem Jenseits! Ich überlege …“

„Überlegen Sie später, Lestrade, und beantworten Sie mir kurz eine Frage. War zu dem fraglichen Zeitpunkt jemand im Blauen Zimmer anwesend, der überdurchschnittlich groß war? Ich bin nämlich überzeugt, dass der Meuchelmörder in meinem Fall einen guten Kopf größer als ich gewesen sein müsste.“

Lestrade überlegte, dann schüttelte er den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Nein, da war niemand … Nun ja, niemand außer dem Gardesoldaten, der für gewöhnlich an der Tür Wache hält. Das ist einer von den sogenannten Irish Giants, die als königliche Leibwachen so beliebt sind. Er war sicherlich sieben Fuß groß …“

Holmes unterbrach ihn, indem er ihm die Hand auf den Arm legte. „Knöpfen Sie sich diesen irischen Riesen vor und finden Sie alles über ihn heraus. Dann reden wir weiter. Übrigens — meinen durchstochenen Mantel und die beiden Schweinefüße bitte ich Sie Professor Johnson überbringen zu lassen. Da es sich bei diesem Gift um eine kostbare Rarität handelt, wird er es seiner Sammlung einverleiben wollen. Da soll meine persönliche Aversion kein Hindernis für die wissenschaftliche Forschung darstellen.“