Carl Sternheim: Berlin oder Juste Milieu
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Ernst Ludwig Kirchner, Porträt von Carl Sternheim, 1916
ISBN 978-3-7437-0669-9
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-0629-3 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-0630-9 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: München, K. Wolff, 1920.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Berlin als des über Frankreich siegreichen deutschen Reichs Hauptstadt war in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts doch nur eine kleinstädtische Angelegenheit.
Nie seit seiner Gründung hatte es zu mehr als einiger politischer Repräsentanz preußisch-brandenburgischer Könige und ihrer Armeen getaugt, weder wirtschaftlich, wissenschaftlich oder gar künstlerisch war dort das Geringe aufgetreten, was Deutschland besonders anging. Denkerischer Anstoß war von Königsberg und Jena, Künstlerisches von Weimar gekommen, und für wirtschaftliches Gedeihen und Geldwirtschaft waren Frankfurt, Hamburg und Leipzig mehr als Berlin maßgebend gewesen.
Was bescheiden sich dort an Geistigkeit ereignete, geschah als auf einer Etappe nach dem großen östlichen Zarenreich. Irgendwo mußte man von Paris nach Warschau, Petersburg oder Moskau unterwegs verschnaufen, Wechsel ziehen und sich bedenken. Da lag auf halbem Weg mit guten Gasthäusern Berlin bequem.
Der Gäste Hauptstrom, der in den kahlen märkisch-niederfränkischen Atem Abwechslung brachte, bestand aus Russen und Juden. Westländer kamen kaum und nur, wenn sie mußten. In Berlin fand der Russe nicht, was er auf Reisen schließlich suchte. Froufrou und galante Frauen. Und beeilte seine Durchreise. Der Jude ahnte manches, das ihn reizte, blieb oft und nahm teil.
Abgesehen von diesen beiden Berlin in etwa befruchtenden fremden Elementen, gab es ein drittes, das in vorigen Jahrhunderts zweiter Hälfte besonders nicht unwirksam war, Familien französischer Einwanderer. Die bildeten eine Kolonie, mit stärkerem Bewußtsein, feineren Sehnsüchten, geschmackvolleren Empfindungen der Offizier- und Beamtenwelt Phantasielosigkeit und Traditionstreue durchsättigend. In ihren Stuben gab es Bücher, Büsten und Bilder, Andenken, bric à bracs auf Tischen. Sie sorgten für Liebesklatsch, Sensationen, chronique scandaleuse und médisance.
Es wurde großes literarisches Ereignis, als einer ihrer Abkömmlinge aus seelischem Abstand Wertvolles bester Preußenfamilien ins Licht rücken und die melancholische Hübschheit der Landschaft um Berlin rühmen konnte: Fontane. Aus seinen Büchern sah Berlin die führenden adeligen Geschlechter in Lebensansprüchen bescheiden, beharrlich im Ruhmesanspruch. Wie sie mit kleinem geistigen Gepäck Hand am Schwert, Wilhelm dem Ersten und Bismarck zu unbedingter Verfügung Gott fürchteten und sonst nichts auf der Welt.
Der Kaiser badete in einer Holzwanne, die Mittwochs und Sonnabends vom Hotel de Rome in sein Palais gerollt wurde, zu Hofbällen der achtziger Jahre fuhr in weißen gestärkten Leinwandhosen und Lackschuhen der Gardeleutnant Pferdebahn; Komtessen und Baronessen in Gummischuhen, die Tourschleppen aufgehoben, kamen zu Fuß über den Opernplatz. Der Reichskanzler lud Parlamentarier und Regierende zu Bierabenden. Bei frugalen Abendbroten sprach man Jagd, Manöver, Armeeverordnungsblatt und uradeliges Taschenbuch. Ein Fünfzigpfennigstück war Trinkgeld der Bedienenden und so.
Gesellschaftsfähig war nicht einmal der Großkaufmann aus westlichen Provinzen. Der lebte zu Haus in Plüschmöbeln und Gipsbüsten mit Hinz und Kunz muffiges Bürgerklischee, und kam er in Geschäften in die Hauptstadt, sah er die kaiserliche Familie und politische Häupter nur ausgestopft in Kastans Panoptikum oder von enger Terrasse der Kranzlerschen Konditorei, auf der seine Damen Schlagsahne aßen, er Portwein oder Kraftbrühe trank; in Siechens Bierhaus, bei Habel oder im Niquetschen Wurstkeller sah er Berühmtheiten bei Fraustädter Würsten und Kulmbacher am Nebentisch.
Seinen Respekt vor herrschenden Geschlechtern zu mehren, war dem Palais des Kronprinzen gegenüber das Zeughaus errichtet, in dem Trophäen aus vielen Jahrhunderten, von Köckeritzen, Itzenplitzen, Rochows und Bredows oder vom Schwertadel erbeutet, aufbewahrt wurden; vor denen er am regnichten Morgen oder im Mausoleum Charlottenburgs am Sarkophag der weiland Königin Luise als Laie staunte und sich rühren ließ; welches Gefühl er vor Menzels Bildern aus Friedrich des Großen Zeiten noch vermehrte. Leben war auf der Straße »Unter den Linden« und um den Gensdarmenmarkt, wo man viel Schiller und selten Heinrich von Kleist gab, der als revolutionär galt, soweit ein Preuße es vertragen konnte.
Bei schönem Wetter machte man in bekränzten Kremsern, in deren Mitte unten zwischen Rädern ein Fäßchen Bier hing, nach Wannsee, Potsdam oder an die Spree nach Treptow und Eierhäuschen Landpartien. An Kartoffeläckern vorbei schlurfte man durch tiefen Sand, und einige föhrenbewachsene Hügel, märkische Schweiz genannt, waren das fernste Wanderziel, an dem man mitgebrachten Kaffee kochte, Berliner Pfannkuchen aß und gegen Abend hinter kaum deckenden Baumstämmen Mädchen küßte.
Bismarck im Kürassierhelm über puppigem und popottigem Alltag war Symbol der Größe und Macht. Neben ihm in Infanterieuniform liebte ein alter Kaiser, der keiner Fliege etwas tat, Blumen, wie es ausdrücklich im Volkslied hieß.
Wohlanständigkeit, die sich bei Wallner und Kroll Theater, Musik in der Singakademie von Bülow und Joachim vormachen ließ, litt Ansätze zu kostspieligerer, großstädtischerer Lustigkeit, die die Söhne der Kriegslieferanten von 1866 und 1870 versuchten, nicht, und diese ohne große Temperamentsausbrüche fügten sich gewünschter Mäßigung.
Im allgemeinen ging also in Berlin nichts als korrekte und bedächtige Ausnutzung reichlich errungener Kriegsvorteile für die herrschende Schicht vor sich, wobei nicht zu vermeiden war, daß es auch der gesamten Bevölkerung einigermaßen gut zu gehen anfing, der man mit einem Stralauer Fischzug, einem Weihnachtsmarkt vor dem Schloß und einer Silversterfeier mit eingetriebenen Zylinderhüten noch ein paarmal im Jahr Zügel schießen ließ.
Im übrigen wurde Außen- und Innenpolitik im Gehrock und der aufkommenden Importzigarre mit Aufwand eines großen Ideologievorrats und ritterlicher Phrasen im Reichstag auch von der Opposition gemacht, die die langsam heraufkommende Sozialdemokratie war, und die nicht minder theoretisch »mit offenem Visier«, »gepanzerter Faust«, für Massen »eine Lanze brach«, die viel zu sehr noch für Sadowa und Sedan schwärmten, als daß sie sich für schwierige Parteiprobleme hätten interessieren können.
Während so die Regierung in Scheinturnieren mit Sozialistenführern, hinter denen noch keine mächtige Gefolgschaft stand, Rasse und Schneidigkeit vor aller Welt bewies, der Arbeiter in allgemeinem Wohlstand fette Jahre hatte, lernte aus Programmen der Genossen und ihren Erläuterungen Marxscher und Engelsscher Imperative fast wider Willen der Arbeitgeber, um was es eigentlich im Sozialismus ging, und wie er unter Vermeidung offensichtlicher Dummheiten die in seine Hand gegebenen Scharen großzügig für viel weitere Zwecke als bisher ausnützen könnte.
Die dem Proletarier mählich aufgedrängte höhere Wichtigkeit, sein Deutlichwerden im Wirtschaftskampf machte an ihm bisher verborgen gebliebene Schwächen und Verlegenheiten dem Herrn kund, der nunmehr ein seit Ewigkeiten verschlammptes patriarchalisches Verhältnis zwischen Brotnehmern und Brotgebern zu einem Nutzen in Ordnung renkte, wogegen die Volksführer geharnischt platonisch aufbegehrten. Welche Proteste der Regierung für ein Sozialistengesetz Vorwände gaben, das sich gewaschen hatte.
Bevor also zwischen arm und reich die Kluft kraß geworden war, machte man sie schon zum Hebel aller politischer Zwecke. Furcht vor Sozialismus wurde nicht nur das Mittel, mit der die Regierung einen lauen Mittelstand zu ihr genehmen Zwecken zwang, sondern auch Vorwand, unter dem eine plötzlich auftauchende energische Schaar Ausbeuter der Regierung immer neue Vorteile für sich gegen den Arbeiter abtrotzte.
Immerhin deckte Ruhm der noch repräsentierenden Generation, Triumph aus drei gewonnenen Feldzügen Berlins sonstige Interessen zu. Wichtiger als ein Arbeitsloser war der Invalide mit Ordensschnalle; erst in Uniform bettelte man mit Erfolg. Hauptsächlich der Stelzfuß und Einarmige drehten Orgeln, und zweifarbiges Tuch ließ auf Tanzböden anders als feschestes Zivil die Mädchenherzen schlagen.
Am historischen Eckfenster unter den Linden war der weißbärtige Kaiser eine Sache, gegen die Ballonmützen nichts über die Phantasie der Berliner vermochten.
Erst mit seinem Tod und Friedrichs III. Thronbesteigung rührten sich in der Gegend des Tiergartens bürgerliche Familien aus ganz anderem als preußischem Stamm zu größerem Geltenwollen.
Denn schon vorher war bekannt geworden, der neue Kaiser kannte für seine Person durchaus keine Abgeschiedenheit gegen andere als offizielle Kreise. Unter dem Einfluß freierer Ideen seiner englischen Frau sollte er mit Häuptern reicher, besonders jüdischer Familien verkehren, die es mit dem allgemeinen Heraufkommen largerer Grundsätze für an der Zeit hielten, sich durchzusetzen. Der Name Mendelssohn tauchte wieder auf; Bleichröder. Man sah den Prinzen Georg von Preußen bei Meyerbeers Nachkommen. Der erste Jude hatte seinen Rennstall.
Doch besaß über Romantik eines traurigen Sterbens des kranken Herrschers noch immer nichts als Teilnahme am Schicksal der Dynastie in der Hauptstadt wirkliche Geltung, und noch weitere drei Monate lebte man nur mit Kaisers prachtvollem Bart liebevoll beschäftigt.
Mit Wilhelm II. junger Person brach wie für das Reich in Berlin mit einem Schlag neue Wirtschaft an.
Die Sozialreform, die unter den verstorbenen Herrschern keinen Sinn gehabt hatte, als den Arbeiter durch Sicherung vor wirtschaftlichen Gefahren, Krankheiten, Betriebsunfällen, Alter und Arbeitsunfähigkeit für den Begriff der Rente als eines bürgerlichen Gedankens empfänglich zu machen, ihn durch kapitalistische Sicherungen besitzender Gesellschaft zu verbinden und ihm am Nationalwohlstand ein dauerndes Teil zu sichern, hatte ihm daher auch nicht ohne einigen Zwang aufgehalst werden können, wovon solches Vorwort für das Gesetz der Krankenversicherung der Arbeiter Zeugnis gibt: