Brügge erlebte unter den großen Burgunder Herzögen Philipp und Karl eine kulturelle und wirtschaftliche Blütezeit.
Die Brügger Gesellschaft sonnte sich in diesem Glanz, und die Kaufmannschaft buhlte um die damit verbundenen Profitmöglichkeiten. Mit an vorderster Stelle standen die beiden Kaufmannsfamilien Cornelis van der Weyden und Johann de Worde.
Cornelis van der Weyden hatte das Glück für sich gepachtet, bis seine Frau Mareike ihr Leben für das Überleben zweier Knaben im Kindbett ließ.
Die Zwillinge Jan und Pieter wuchsen danach ungeliebt mit einem Vater auf, der nun nur noch dem Gott Mammon frönte.
Mit höchst unterschiedlichen Charakteren sorgten Vater und Söhne für dramatische Turbulenzen.
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ISBN 978-3-7392-6740-1
Windmühlenland
Satte Wiesen und Strand
Schafsherden und gescheckte Rinder
Schreiende Möwen, blonde Kinder
Wolkenberge als einzige Gipfel
Jeder Baum mit windschiefem Wipfel
Reißt der Westwind die Wolken entzwei
Wird der Blick bis zum Horizont frei
Oh Flandernland bleib’ so erhalten
Mit all deinen Naturgewalten!
Man schrieb das Jahr 1438. Der Westwind pfiff wie fast immer über das platte Land. Alles war grün und eben, soweit das Auge reichte. Aus dem Frühnebel tauchten die Türme und Giebel von Brügge auf, ein stolzes Bild aus gemauertem Stein. Über der Stadt spielten Wolken wie Schafe. Sie waren weiß, grau und schwarz. Der mächtige Belfried weckte mit seinen siebenundvierzig Glocken den neuen Tag. Von seinen Zinnen überblickten die Turmwachen die Stadt und ihre Umgebung. Durch eine Steinmauer geschützt lag Brügge in einer Ebene, in der sich im Morgenlicht die Felder ausbreiteten, wie zum trocknen ausgelegte Tücher. Windmühlen drehten gemächlich ihre Kreise. Im Stadtinneren glänzten ordentlich gepflasterte Straßen mit grauschwarzem Kopfstein. Venedig ähnlich, durchzogen viele Kanäle und Brücken das Zentrum. Mit den Schlägen der Turmglocken erwachten die Bürger aus ihrer Nachtruhe.
Die reiche Flandernstadt blickte auf harte Jahre zurück, hatte sie doch beim Kampf um ihre Selbstständigkeit den Kürzeren gezogen. Während sich England einem Frieden mit Frankreich verweigerte, hatte der Burgunderherzog Philipp der Gute einen einseitigen Frieden mit Frankreich geschlossen. Der Gute hatte sich auch um England bemüht. Er hatte für die englische Delegation ein pompöses Bankett gegeben, von dem man noch lange sprach. Doch seine Bemühungen blieben vergebens. Auch Frankreich wurde kein echter Freund. Zu hart waren die Bedingungen des Vertrages, den Philipp dem französischen König aufzwang. Karl VII. musste für die Ermordung von Philipps Vater Johann ohne Furcht büßen und gewaltige Sühneleistungen erbringen. Auxerre, das Auxerrois, Bar-sur-Seine, Luxeuile, die Sommestädte, das Ponthieu und Boulogne-sur-Mer trat er wohl oder übel an den Burgunder ab. Der Friedensschluss rief in England Empörung hervor. Dort hatte man gemeinsam mit Philipp Frankreich ein für alle Mal in die Knie zwingen wollen. Nun hatte der Herzog auch noch England zum Feind! Dessen König Heinrich VI. schäumte vor Wut, und das britannische Volk zeigte lauthals auf der Straße seinen Unmut. Flämische Schiffe wurden auf dem Meer aufgebracht und schon bald verwüsteten Engländer die Ufer des Zwin. Philipp musste von Brügge, wie von allen anderen flämischen Städten, Gefolgschaft gegen die marodierenden Briten einfordern. In der satten Stadt sah man jedoch keinen Sinn darin, England, seinen wichtigsten Wolllieferanten, zu bekämpfen. Man wünschte sich stattdessen weitere Verhandlungen mit der britischen Insel. Doch der Herzog zeigte sich entschlossen und unnachgiebig. Er erschien mit einem Heer von 3000 Mann vor den Toren der Stadt, um ihr gewaltsam seinen Willen aufzuzwingen. Der Herzog unterschätzte den Mut der Brügger Stadtmilizen. Die kämpften verbissen. Viele Soldaten Philipps kamen ums Leben, darunter auch sein Freund, der Ratsherr, Kapitän und Ritter vom goldenen Vlies Jehan de Villiers. Das war für den Herzog ein herber Verlust. Brügge triumphierte fürs erste! Auf dem großen Markt wurden in der Trunkenheit des Sieges zweiundzwanzig gefangen genommene Angreifer zur Schau gestellt und hingerichtet. Philipp blieb nur ein schmählicher Abzug. Der Triumph der Stadt währte jedoch nicht lange. Dem Herzog gelang es mit frischen Truppen, die Stadt von der Außenwelt zu isolieren. Der Zugang zum Zwin und dem Hafen der Stadt in Sluis wurden blockiert und damit der wichtigste Lebensnerv getroffen. Philipp dachte nach der erlittenen Schmach nur noch an blutige Rache. Er wollte Brügge ein für allemal zerstören. Hungersnot und eine Pestepidemie erleichterten ihm, die aufmüpfige Stadt in die Knie zu zwingen. Brügge blieb nur die bedingungslose Kapitulation.Der Herzogin, der Geistlichkeit und den mächtigen Händlervereinigungen war es zu verdanken, dass doch noch eine halbwegs unblutige Lösung gefunden wurde: Privilegien wurden gestrichen, und hohe Bußgelder für den Ungehorsam festgelegt. Als sichtbares Zeichen für Brügges Unterwerfung wurde am Rande des großen Marktes ein weiteres Steuerhäuschen errichtet. Dort musste von nun an ein neuer Zwangszoll auf Getreide erhoben werden. Tagelang zogen burgundische Landsknechte durch die Stadt und nahmen sich alles, was ihnen wertvoll erschien. Ihre Taschen waren bald mit geraubten Gütern bis zum Platzen gefüllt. Die Soldaten marodierten meist betrunken und quälten die Einwohner mit ihrer Willkür bis aufs Blut. Der Hass der stolzen Bürger auf sie brodelte, wenn auch aus Todesangst nur im Verborgenen. Die Stadt hatte zum Glück Reserven. Trotz der drastischen Strafen stand keiner der Bewohner wirklich vor dem Nichts. Ende April erhängten die Sieger die zehn Rädelsführer des Widerstandes auf dem Marktplatz. Ihre Köpfe wurden aufgespießt und zur Abschreckung an den Stadttoren genagelt. Nach dieser Strafaktion kehrte endlich wieder Ruhe ein. Die gebeutelte Bevölkerung hoffte nun inbrünstig auf ein Ende des Schreckens und auf Frieden …
Die kopfsteingepflasterten, engen Straßen waren noch menschenleer. Die Welt der reichen Pfeffersäcke und Adeligen sowie der fast vierzigtausend sonstigen Bürger erwachte nur langsam. Einige wenige Bedienstete eilten schon durch den nasskalten Morgen, um am Vorabend erteilte Befehle der Herrschaft auszuführen. Die Wachen auf den Stadttürmen sehnten den Wachwechsel herbei und freuten sich auf ihre warmen Kammern zuhause. Sie wollten die Köpfe der Hingerichteten endlich nicht mehr sehen müssen.
Der Tuchhändler Cornelis van der Weyden war ebenfalls schon aufgestanden. Er wohnte, wie viele reiche Kaufleute, in der Wollestraat, die direkt auf den Marktplatz zulief. Sein stattlicher Haushalt zählte immerhin 17 Münder. Der dreißigjährige Mann stand in seinem Schlafgemach und kleidete sich an. Der Raum war mit dunklem Holz getäfelt und seine Decke bunt bemalt. In der Ecke zur Straßenfront stand ein großes, gepolstertes Bett. In der Mitte befand sich ein mächtiger Tisch mit gedrechselten Beinen. Seine Platte war mit kunstvollen italienischen Intarsien verziert. Silberne Teller, getriebene Becher, daneben prächtige Pokale aus Kölner Schlangenglas mit eingelegten Opalen waren auf Wandborden ausgestellt und ließen den Wohlstand des Hauses erahnen. Cornelis musterte sich mit kritischem Blick im mannshohen Spiegel. Über einem Wams aus blau schimmernder Taftseide trug er einen auf der rechten Schulter leicht drapierten dunkleren Samtumhang gleicher Farbe. Seine kräftigen Beine steckten in dunkelgrauen Strümpfen. Die Füße zierte feines Schuhwerk mit großen Silberschnallen. Auf seinem Haupt trug er eine schräg sitzende nachtblaue Tellermütze mit großem Smaragd.
Heute musste alles sitzen und von gleichem Aussehen sein, wie das letzte Mal. Meister Jan van Eyck hatte sich für den Morgen angesagt. Cornelis wollte ihm für ein Portrait in Positur sitzen. Mit einem Ölbild gedachte er, eine alte Familientradition fortzusetzen. Cornelis gut geschnittenes männliches Gesicht zeigte Zufriedenheit mit dem, was er sah. Der Künstler konnte kommen!
Der Kaufmann hatte schweren Herzens entschieden, an diesem Morgen nicht zu frühstücken. Er wollte heute um keinen Preis sein kostbares Gewand mit Bratentunke besudeln, was ihm sonst leider allzu oft passierte. Er besah sich noch einmal im Spiegel und gab sich mit seinem Aussehen zufrieden. Nun machte er sich auf den Weg, die Stiege hinab in das Turmzimmer, wo das begonnene Porträt auf einer hölzernen Staffelei stand und auf seine Vollendung wartete. Cornelis musterte es kritisch und empfand große Ähnlichkeit. Es zeigte ihn als gestandenen Kaufmann. Seine blitzenden blauen Augen gefielen ihm. Durch das vergitterte Rundfenster fiel fahle Helligkeit auf die Leinwand und betonte eindrucksvoll Licht und Schatten im Bild. Doch musste Meister Jan die kleinen geplatzten Äderchen in seinem Angesicht wirklich so getreulich zeigen? Cornelis mochte das gar nicht. Er wusste zwar, wie sehr der Künstler auf Genauigkeit Wert legte, aber wegen dieser unschönen Hautunreinheiten wollte er ihn heute zur Rede stellen! Er warf einen weiteren Blick auf das Gemälde und war schon wieder halb versöhnt. Die Eycksche Detailgenauigkeit war eben einfach bewundernswert. Wer konnte die Oberfläche eines Gewebes, das Haar, die Kleidung, die geäderte Marmorplatte an der Wand oder auch den Lichteinfall durch das Fenster so kunstvoll darstellen wie Meister Jan? Cornelis wollte die Äderchen in der Haut nur behutsam ansprechen, um den Künstler nur ja nicht zu vergrätzen. Er wusste, wie viele Bürger ungeduldig darauf warteten, von ihm ebenfalls porträtiert zu werden.
Die Tür zum Zimmer öffnete sich, und Maria führte den Maler herein. Er trug einen hohen schwarzen Hut, tief in die Stirn gezogen. Seine Züge waren männlich hart, doch das beginnende Altern sorgte schon für einige weiche Rundungen. Van Eycks Augen blickten hell und wässerig um sich. Sie hatten das strahlende Blau der jungen Jahre verloren. Der Künstler zählte mittlerweile achtundvierzig Lenze, war also im fortgeschrittenen Alter. Mit seiner gediegenen Kleidung zeigte er stolz den Erfolg seines Schaffens. Sein Überwurf war aus schwerem, schwarzem Tuch, in das die Stoffwirker mit dicken Goldfäden Eichenblätter eingewoben hatten. Halsausschnitt und Armlöcher waren mit rötlichem Pelz verbrämt. Auf dem Ringfinger seiner kräftigen Rechten trug der Maler einen großen gelbgoldenen Ring. Jan war erst 1433 nach Brügge gezogen, hatte hier seine Frau Margarete geheiratet und ein Haus im Hof- und Botschaftsviertel der Stadt erworben. Anno 1435 wurde sein Glücksjahr. Er vollendete im Auftrage von Jodocus Vyds in der Genter Kathedrale den Altar seines berühmten Bruders Hubrecht und steigerte damit seinen eigenen Ruhm enorm. Schon bald wurde es in der Stadt gute Sitte, sich von ihm malen zu lassen. Der Künstler war in der Folgezeit sehr rührig: Für den Kanzler Nicolas Rolin schuf er eine Anbetungsszene der Muttergottes. Für die Stadt entwarf er sechs vergoldete Statuen als Zierde für die Fassade des Rathauses. Er tat sich mit ausgefallenen Entwürfen höfischer Kleidung hervor, die am prunksüchtigen, burgundischen Hof gerne nachgefragt wurden. Er traf dabei aufs trefflichste den Geschmack der Mächtigen. Schmuck für Zeremonien, Festlichkeiten und Turniere gehörten zu seinem Repertoire genauso wie Vorlagen für die bekannten Brügger Wandteppiche.
Van Eyck genoss als einer der wenigen Brügger Bürger die besondere Huld des Herzogs. Er übernahm für ihn mit seiner Kunst sogar diplomatische Aufgaben am spanischen Hof.
Dort malte er ein Bild der spanischen Prinzessin Isabella und brachte es mit nach Flandern. Philipp war von dem Portrait so angetan, dass er sich entschloss, um Isabellas Hand anzuhalten. Sein Werben wurde von Erfolg gekrönt. So verdankte er dem Künstler sein drittes Weib! Der Fürst übernahm als Zeichen seiner Dankbarkeit dafür die Patenschaft für beide Kinder des Malers. Meister Jan war ein gemachter Mann!
Die Männer grüßten sich mit freundlichem Handschlag vor der Staffelei. Am frühen Morgen war es mit der Beredsamkeit des Künstlers noch nicht weit her. Aber Cornelis gelang es doch, ihn mit einigen präzisen Fragen aus der Reserve zu locken: »Wird nun endlich Frieden und Vergebung einkehren, was hörtet Ihr am Hof?« »Nun ja, Philipp scheint seine Strafaktion wirklich abschließen zu wollen. Der Palast ist schon bis auf wenige Soldaten verwaist. Der Herzog hat mit seinem Gefolge die ungeliebte Stadt wieder verlassen und ist bereits auf dem Weg nach Gent. Er glaubt, ihm drohe keine Gefahr mehr von Brügge. Ganz in schwarz gewandet zog er ab.« »Wohl nicht aus Trauer um unser Leid, wohl eher um seine Juwelen besser zur Geltung zu bringen!«, erwiderte der Kaufmann bitter. »Musste sein Auszug aus Brügge mit einem solchen Blutzoll einhergehen?«, schob er einen sarkastischen Einwurf nach. »Brügges Bürger haben größere Schritte gewagt, als ihre kurzen Beine zuließen. Der Herzog musste nach meiner Überzeugung ein so deutliches Zeichen setzen.«
»Zeichen, wie aufgespießte Köpfe an den Toren, schüren nur neue Lust auf Rache. Das musste nach meiner Überzeugung wirklich nicht sein«, widersprach der Kaufmann. »Philipp sah wohl keinen Ausweg. Er soll gesagt haben: »Ich habe noch keinen Adler gesehen, der sich in eine Taube verwandelte. Die Anführer mussten weg«, suchte van Eyck nochmals nach einer Entschuldigung für die Grausamkeit des Regenten. Cornelis seufzte tief, voll Trauer, bewunderte aber im Stillen die scharfe Analyse des Künstlers. »Mal sehen was der sausende Webstuhl der Zeit bringen wird«, fuhr er fort. »Wir müssen nun alle fleißig in die Hände spucken, arbeiten, arbeiten, schon um die hohen Strafzölle zu zahlen, die uns der Herzog auferlegt hat«, seufzte er erneut. »Ja, ja die Zeit«, stöhnte nun auch Meister Jan. »Sie saust vorbei und macht uns müde. Ich fühle es in den Knochen. Todesahnung lässt mich immer öfter zur Grabstätte meines Bruders nach Gent reisen. An seinem Grabe halte ich Zwiesprache mit ihm. Die Inschrift seiner Grabstatt hat es mir angetan. Sie enthält so viel Weisheit:
Erblickt in mir, die ihr auf mich tretet, euer Spiegelbild.
Ich war wie ihr, jetzt bin ich drunter.
Begraben und tot wie es dem Auge scheint.
Mir halfen weder Verstand, Kunst noch Medizin.
Kunst, Ehre, Weisheit, Reichtum, Macht helfen nichts,
wenn der Tod kommt.
Van Eyck wurde ich genannt, jetzt Speise der Würmer,
ehemals bekannt als Maler hoch geehrt.
Ja, Ja das Greisenalter, das alle zu erreichen wünschen, klagen alle an, wenn sie es erreicht haben«, schloss er.
»Mit der Vergänglichkeit habt Ihr Recht, doch Ihr seid noch ein rüstiger Mann«, erwiderte ihm Cornelis aufmunternd.
Ohne die Reaktion des Meisters abzuwarten, fuhr er fort:
»Gefahren drohen auch in jungen Jahren. Ihr wisst, mein Weib ist schwanger. Marguérite, die tüchtige Begine und Hebamme, die uns zur Seite steht, schürt fast täglich meine Ängste über Mareikes Zustand. Meine Frau erwartet Zwillinge und einer davon liegt verquer. Gerade gestern hatte Mareike wieder einen Schwächeanfall. Wir mussten den Arzt holen. Nachdem er sie untersucht hatte, erklärte er einen sofortigen Aderlass für nötig. Er band ihren Arm ab, bis dass eine Ader hervortrat, schnitt sie an und ließ das Blut nur so fließen. Der Armen schwanden die Kräfte und sie verlor die Besinnung. Doch der Doktor meinte zum Trost, der Schlaf würde ihr die Kräfte wiedergeben. Nun sorge ich mich um genügend Ruhe im Haus.« »Das tut mir leid«, antwortete Jan mitfühlend. »Hoffentlich ändert sich die Position des Ungeborenen noch zum Guten. Dann war unsere Entscheidung wohl weise, es zunächst bei Skizzen bewenden und Frau Mareike in ihrem Zustand nicht weiter Positur sitzen zu lassen«, fuhr er fort. Cornelis nickte. Der Kaufmann hatte sich inzwischen zu Recht gesetzt und van Eyck verfeinerte sein Werk, während sie so miteinander plauderten. Über die tiefschürfenden Probleme, die sie diskutierten, vergaß Cornelis ganz, seine Kritik an den kleinen Äderchen im Gesicht zum Ausdruck zu bringen. Nach zwei ausgefüllten Stunden gingen sie auseinander. Cornelis hatte es eilig, in sein Kontor zu kommen. Die Arbeit wurde nicht weniger, wenn man sie nicht anpackte!
Mareike fühlte sich heute besser. Sie hatte lang genug im Bett gelegen und nun einen triftigen Grund, wieder aufzustehen: Cornelis’ Geburtstag stand bevor! Als echtes Glückskind war er 40 Tage nach Ostern, an Christi Himmelfahrt, geboren. Sein Geburtstag fiel auch in diesem Jahr auf den hohen Tag. An ihm beging die Stadt alljährlich ihren höchsten Feiertag.
Dietrich, Graf von Flandern, hatte vor vielen Jahrzehnten einige Tropfen des Blutes Christi von einem Kreuzzug mitgebracht und der Stadt geschenkt. Die Reliquie wurde seither in wöchentlichen Gottesdiensten zum Gegenstand der Verehrung. Zu ihrer besonderen Lobpreisung beging man an Himmelfahrt die Heiligblutprozession. Cornelis brauchte sich dieses Mal an seinem Wiegenfest um Gäste nicht zu sorgen. Durch die Aufrufe der städtischen Herolde, die im Auftrag der Obrigkeit das gesamte Land durchquerten und das Kirchenfest ankündigten, würde der Zulauf in Brügge, und damit auch zu seiner Feier, besonders groß.
Mareike wollte es sich, trotz aller Ermahnungen ihrer Hebamme, nicht nehmen lassen, die wichtigsten Einkäufe für das Fest selbst zu erledigen. Ihre Einkaufsliste für den Markt hatte sie schon auf dem Krankenlager geschrieben. Die Festtafel sollte sich unter erlesenen Köstlichkeiten nur so biegen: An Fleisch wollte sie einen ganzen Deichochsen auftischen, Wildschwein, Hirsch, Hase und Lamm. An Geflügel waren Fasane, Rebhühner, Krammetsvögel, Gänse und gemästete Kapaunen vorgesehen. Bei Fisch dachte sie an Forellen, Lachs, Hecht, Karpfen, Butt, Aal, Wels, Austern und Muscheln. Eier, Schmalz, Brot und Butter, Marzipan und Konfekt, Gewürze und Süßwein und vieles mehr war vonnöten. An alles hatte sie gedacht.
In dieser von Mauern umfangenen Stadt führten alle Wege zum Markt. Dort richteten die Gilden und Zünfte über ihre Mitglieder. Der Stadtrat tagte im Belfried, der alles überragte. Nicht nur zur vollen Stunde war die Luft vom Klang der Glocken erfüllt. Vom Haus der van der Weydens in der Wollestraat war es nur ein Katzensprung bis zum Markt. Der lockte die Schwangere mit seinen vielen appetitlichen Gerüchen, und die Vorfreude auf die Käufe trieb sie zur Eile an. Zwischen den Ständen herrschten Leben und Lärm. Da wurde gefeilscht und lamentiert.
Herrliches Gemüse, abgehangenes Fleisch und frischer Fisch schauten Mareike einladend an. Frisches Brot türmte sich auf den Tischen. Köstlich riechende Bierfässer rumpelten über das Pflaster in die nahen Gasthöfe.
Viele Kaufmannsfrauen waren wie Mareike unterwegs. Mit ihren zweihornigen weißen Hauben, den mächtigen Hinterteilen und den großen Brüsten sahen sie wie die stämmigen Kühe auf den Polderwiesen aus. Ich kann mich da bestens einreihen, dachte die werdende Mutter selbstkritisch und sah auf ihren Bauch, der sich bedrohlich vor ihr wölbte.
Mareike brauchte fast den ganzen Vormittag, um ihre Bestellungen zu tätigen. Als endlich alles erledigt war, quälte sie sich schwerfällig und müde nachhause zurück. Nun merkte sie die Anstrengung aber wirklich! Den Nachmittag wollte sie sich pflegen und ein bisschen ruhen.
Schließlich kam der Festtag heran. Die Bediensteten hatten seit Tagen Vorbereitung für Cornelis’ Geburtstagsmahl getroffen. Deshalb durften sie sich nun größtenteils den Herzenswunsch erfüllen, der denkwürdigen Prozession beizuwohnen.
Das Geburtstagskind und seine schöne Frau brachen, von vielen Freunden und Verwandten umringt, noch vor ihnen zur Festlichkeit auf. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Um den großen Markt standen bereits die Gilden mit ihren Waffen mehrreihig vor den schmucken Häusern. Die Weber beherrschten die Straße zum Eiermarkt hin. Die Fleischhauergilde wartete an der Steenstraat.
Cornelis hatte auf der großen Tribüne am Fuße des Belfrieds Sitzplätze gekauft. Dort, in erhöhter Position, sah man den Zug besonders gut. Der Kaufmann hielt Maria, seine kleine Nichte aus Gent, an der Hand gefasst und erklärte ihr leutselig den Belfried: »Der Turm ist schon sehr alt. Er wurde vor fast zweihundert Jahren erbaut. Dreihundertsechsundsechzig Stufen führen hinauf zur Schatzkammer, wo ein Großteil unseres städtischen Reichtums aufbewahrt wird. Im Turm hängen siebenundvierzig Glocken, die mehrmals am Tag mit einem Glockenspiel aufspielen. Von oben hat man einen herrlichen Ausblick auf die Stadt und noch weit darüber hinaus.«
»Kannst du das Glockenspiel für mich läuten lassen, Onkel? Gehst du mit mir auf den Turm?« Cornelis lachte, aber musste der Kleinen einen Korb geben. Der heilige Umzug begann nämlich pünktlich. Es blieb keine Zeit mehr für eine solche Exkursion. »Auf der Erde lebt es sich sicherer als auf dem hohen Turm«, tröstete er die Kleine.
Die Prozession nahm an der Heiligblutkapelle ihren Anfang. Die Kapelle lag an der Südecke des Burgplatzes. Sie bestand eigentlich aus zwei übereinanderliegenden Gotteshäusern. Die unten liegende St. Blasius Kapelle war schon Mitte des 12. Jahrhunderts erbaut worden. Die darüberliegende gotische Basilika beherbergte sonst die berühmte Reliquie, um die sich an diesem Tag alles drehte.
Der Zug kam in dichten Reihen auf den Marktplatz zu. Über 2000 Menschenkinder gingen in ihm mit. Unter den Klängen der Musiker und Chöre näherten sie sich der Tribüne, auf der Cornelis mit seiner Familie saß.
Zünfte und Gilden, Schützen, Ratsherren und natürlich auch die Geistlichkeit nahmen mit Prunk, Pracht und Stolz am Umzug teil.
Im ersten Abschnitt stellten die Teilnehmer farbenprächtige Mysterienspiele zur Schau. Sie zeigten mit Adam und Eva die Schöpfungsgeschichte. Es folgten die Vertreibung der beiden aus dem Paradies und der Brudermord Kains an Abel. Die Geschichte Abrahams, und wie sein Lieblingssohn Joseph von seinen Brüdern verkauft wurde, zog ebenfalls in beeindruckenden Bildern vorbei. Die kleine Maria konnte sich daran nicht sattsehen und stieß immer wieder helle Schreie des Entzückens und Staunens aus. Auch die Erwachsenen waren von der festlichen Stimmung gefangen. Die Propheten des Alten Testaments erinnerten zum Abschluss des ersten Teiles mit beschwörenden Worten an Gottes Gebote.
Im zweiten Abschnitt des Zuges zeigten die Gläubigen den Lebensweg Jesus’: Seine Geburt im ärmlichen Stall von Bethlehem, die Anbetung der Könige und seine vielen vollbrachten Wunder. Besonders das Bild, in dem er die Kinder segnete, berührte die Herzen der Zuschauer. Schließlich folgte Jesus Leidensweg. Ein Wehklagen kam auf, als der Heiland unter der Last des Kreuzes immer wieder stürzte.
Pompös war die Szene, in der ein Reitersmann als Graf Dietrich mit der Reliquie einritt. Angeführt von Herolden, Fahnenschwenkern und Musikanten zeigte er sich mit seinem Gefolge. Die Prozession näherte sich damit ihrem Höhepunkt. Profane Darstellung mit Riesen, dem Pferd Biaart und den vier Heemskindern leiteten ganz zum Schluss auf die Freuden des Jahrmarktes über, der für die nächsten Tagen Vergnügen bieten sollte. Man sah einen rot-grün gewandeten Narren auf einer fetten Sau reiten. Auf dem Kopf trug er eine gleichfarbige Kappe mit zwei Eselsohren. Sein Kamerad führte ein Pferd am Schweif und lief ziemlich hilflos hinter ihm her im Vertrauen darauf, dass es freiwillig dem Zug der anderen folge. Ein dritter Narr hielt immer wieder sein Ohr an den Hintern seines Esels und zählte mit seinen Fingern dessen vermeintliche Fürze.
Herzog Philipps Lieblingsgestalten, der Riese Hans und die Zwergin Madame d’or, waren, trotz seiner Abwesenheit, natürlich auch dabei. Das Volk johlte vor Vergnügen und kam richtig auf seine Kosten.
Es wurde schon langsam dunkel, als der Geistliche vor der Burg noch einmal die knienden Menschen mit der Reliquie segnete. Einige der Hochwohlgeborenen zog es nun in die Kirche, um der neuen Komposition des berühmten Brügger Musikers Obrecht zu lauschen. »O preciosissime sanguis« hatte er sie zu Ehren des Heiligen Blutes genannt.
Viele der Gläubigen hatte die Prozession schon so bewegt, dass sie beschlossen, auf eine ausgiebige Wallfahrt zu gehen. Die Pilgermuschel aus Santiago di Compostela heim zu bringen, wurde für viele von ihnen zum Ziel.
Erschöpft, hungrig und durstig kehrten Cornelis und die Seinen ins prächtige Haus des Kaufmanns zurück. Alle freuten sich auf die köstlichen Überraschungen. Sie lechzten nach Speis’ und Trank sowie nach guten Gesprächen, Scherzen und unbeschwerter Freude.
Mareike fühlte sich sehr müde. Die Ungeborenen in ihrem Leib tobten besonders kräftig und bereiteten ihr Schmerzen. Das wäre eine Überraschung, wenn ich Cornelis die Kinder noch zum Geburtstag schenken könnte!, dachte sie nicht ganz ohne Selbstzweck. Eine baldige Geburt wäre für sie eine Erlösung. Ein bisschen Angst beschlich sie bei dem Gedanken aber schon, denn die Gefahren der Geburt waren ihr bewusst.
Die Wehen setzten wirklich an der Festtafel ein. Mareikes Leib durchfuhren Stiche und trafen sie wie glühende Nadelspitzen. Die Schwangere wurde schneeweiß, Schweiß trat auf ihre Stirn, und sie sackte stöhnend in ihrem Stuhl zusammen.
Als Cornelis die Leiden seiner Gemahlin neben sich gerade erst wahrnahm, setzten die Wehen schon wieder ein. Dieses Mal stieß Mareike spitze, kleine Schreie aus und rief Hilfe heischend seinen Namen. Sämtliches Reden, Lachen und Scherzen verstummte. Cornelis stand wie gelähmt vor seinem leidenden Weib und wusste nicht, was er tun sollte. Als Erste reagierte Marguérite, die Begine. Sie eilte von ihrem Platz am unteren Ende der Tafel herbei und griff der stöhnenden Frau unter die Arme. »Es ist so weit«, wandte sie sich an den Kaufherrn. »Mareike kann nicht hier im Haus gebären«, sagte sie bestimmt. »Das ist viel zu gefährlich und könnte sie das Leben kosten. Wir müssen sie sofort ins Jans-Spital bringen. Sie braucht bei der Niederkunft ärztliche Hilfe.«
Das Spital, im 12. Jahrhundert erbaut, war das größte und renommierteste Krankenhaus Brügges. Es hatte mehrere Krankensäle und sogar eine eigene Apotheke. Seine Ärzte galten als die besten der Stadt, genau richtig für die schwangere Kaufmannsfrau.
Cornelis erwachte aus der Erstarrung und befolgte Marguérites Befehle. Er beauftragte den Hausknecht, ein Pferd zu satteln, und befahl ihm, als Melder vorauszureiten. Zwei weiteren Bediensteten trug er auf, die große Kutsche anzuspannen und mit weichen Decken auszulegen. Als alles nach seinem Willen geschehen war, half er selbst, Mareike in das Gefährt zu tragen. Die Arme ließ den schwierigen Transport willenlos mit sich geschehen. Sie stöhnte nur noch leise. Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Cornelis saß an ihrer Seite und versuchte ihre Hand zu halten, was ihm jedoch nicht gelang, denn die Gebärende schlug vor Schmerzen immer wieder mit den Händen um sich. Es sah sogar danach aus, als versuche sie, nach ihm zu schlagen. Bald näherte sich die Kutsche im gemäßigten Tempo dem Siechenhaus. Dem Kaufmann ging alles viel zu langsam. Doch die Begine machte ihm klar, dass er mit seinem Weib in ihrem Zustand nicht unbedacht über das Kopfsteinpflaster rasen dürfe. Zähneknirschend und völlig verzweifelt fügte er sich wohl oder übel in diese Zwänge.
Vor dem Spital wurden sie bereits erwartet. Zwei kräftige Schwestern betteten Mareike auf eine Trage um und brachten sie im Eiltempo in einen der Krankensäle. Cornelis verboten sie resolut, ihnen zu folgen. »Geht in die Kapelle und betet für Euer Weib«, rief ihm eine der Frauen zu, bevor sie flink mit der wertvollen Last um die Ecke verschwand. Cornelis folgte ihrem Rat. Seine Frau konnte seine Gebete sicher gebrauchen! Er ging durch das Portal der Kapelle. Es enthielt im Giebel ein Tympanum mit dem Tod und der Krönung der Muttergottes. Ist das Bild des Todes ein schlechtes Omen? Oder ist es ein gutes Omen, dass die Kapelle nach meinem Namenspatron Corneliuskapelle heißt?, dachte er verunsichert. Im friedlichen Licht der Kerzen und mit dem Duft von Weihrauch umweht kehrte wieder etwas Ruhe in ihm ein. Er kniete sich auf die harten Holzbohlen der Kirchenbank und sandte einen Schwall flehentlicher Bitten gen Himmel.
Die beiden Schwestern hatten Mareike auf einen reinlichen Krankentisch gebettet. Da die Schwangere nicht ruhig zu halten war, banden sie ihre Arme an den Tischseiten fest und drückten ihre Beine flach auf die Tischplatte. Neben dem Tisch häuften sie weiße Tücher auf. In einem Kessel dampfte bald abgekochtes Wasser. Allerlei medizinisches Gerät lag bereit. Nach der Meldung des reitenden Boten hatte man sich sorgfältig auf eine schwere Geburt eingestellt.
Marguérite war den Schwestern in den Krankenraum gefolgt und versuchte, die Schwangere mit ihrer Stimme zu beruhigen. Dabei schob sie deren Röcke empor und entblößte ihren Unterleib. Nach einigen Augenblicken kam der Medikus ins Zimmer gestürmt. Mareikes bloßer Leib wand sich unter Krämpfen. Der Arzt tastete die bedrohlich gewölbte Bauchkugel mit seinen Händen ab und wiegte bedenklich den Kopf hin und her. »Das kann nur mit Gottes Hilfe gelingen«, sagte er leise. Mareike reagierte unter dem Druck seiner Hände unbeherrscht und begann laut und anhaltend zu schreien. Die eine der beiden Schwestern wusste sich keinen anderen Rat, als ihr ein Beißholz zwischen die Lippen zu schieben. Es wurde ruhig im Zimmer, doch immer stärker werdende Wehen erschütterten den Körper der Armen. Mit beruhigender Stimme forderte Marguérite ihren Schützling auf, mit der Atmung den Pressvorgang zu unterstützen. Die gequälte Schwangere hörte nicht auf sie.
Der Arzt fettete gründlich seine Hände ein. Dann führte er sie vorsichtig in den halbgeöffneten Muttermund und versuchte eines der Ungeborenen zu erspüren. Nach einem Moment sagte er mit leichter Hoffnung in der Stimme: »Ich fühle ein behaartes Köpfchen. Das Kind liegt gut und ist für die Geburt bereit.« Er zog seine feingliedrigen Finger wieder zurück. Und wirklich, mit der nächsten Wehe schaute bereits ein kleines Stückchen Schädel aus Mareikes Leib hervor. Alles wird gut, dachte die Begine und ein plötzliches Glücksgefühl durchströmte sie.
Mit einem Schwall blutiger Flüssigkeit rutschte der erste Säugling in die Welt. Es war ein Knabe, und er brauchte nicht einmal den üblichen Klaps auf den Po, um den ersten Schrei auszustoßen. Marguérite nahm ihn an sich und versorgte ihn.
Wer nun dachte, die Mutter sei erlöst, hatte weit gefehlt. Das zweite kleine Wesen in ihrem Leib war dem ersten nachgerückt und hatte sich quer vor den Muttermund gelegt. Das ging für Mareike nicht ohne Schmerzen einher. In einem Moment der Unachtsamkeit der Schwestern spuckte diese das Beißholz aus und begann wieder laut zu schreien. Alle im Raum litten mit ihr. Die Hände des Arztes suchten noch einmal den Weg in das Innere des Mutterleibes, aber dort stießen sie auf eine unüberwindliche Barriere.
Die Wehen hielten ununterbrochen an und drückten den Embryo in Querlage immer fester gegen den Muttermund, ohne dass er dort einen Ausgang fand. Es war schon viel Zeit verstrichen und noch immer zeichnete sich keine Änderung zum Guten ab. Mareike durchlitt Höllenqualen. Lange zögerte der Arzt, die notwendige Entscheidung zu treffen. Doch dann sagte er leise: »Wenn ich ihr den Leib nicht aufschneide, sind Mutter und Kind verloren. So könnte wenigstens das Kind gerettet werden.«
Marguérite traten Tränen in die Augen. Sie wusste, dass der Doktor recht hatte. Sie widersprach seiner Diagnose nicht und ließ ihn gewähren, obwohl sein Vorhaben einem Todesurteil für Mareike gleichkam.
Bald war alles für den Eingriff vorbereitet. Mit einem kräftigen Schnitt öffnete der Arzt die Bauchdecke. Durch den Innendruck klappten die Bauchlappen weit auseinander, und aus den vielen durchtrennten Adern strömte unaufhaltsam Blut in die Laken. Marguérite gelang es, das Kind herauszuheben. Es lebte! Mareike hatte derweilen das Bewusstsein verloren und lag da wie tot. Dem verzweifelten Doktor gelang es trotz allem Bemühen nicht, die Blutungen zu stillen. So wurde der todesähnliche Schein bald zur Wahrheit: Mareike verblutete im Kindbett.
Die Verzweiflung im Raum war groß. Selbst die leisen Lebenszeichen der beiden Säuglinge brachten keinen Trost. Erst jetzt fanden die drei Frauen und der Arzt Zeit, sich gegenseitig anzuschauen. Sie waren erschöpft und sahen schrecklich aus. Ihre Kittel waren völlig mit Blut besudelt.
Marguérite fiel als Erste ein, dass der arme Cornelis in der Kapelle betend auf Nachricht wartete. Wer sollte ihm die Hiobsbotschaft überbringen? Sie und der Arzt machten sich schweren Herzens gemeinsam auf den Weg. Sie trafen den Kaufmann im Gebet versunken an. Immer wieder flüsterte er: »God sta mij bij«, und wollte damit eigentlich um Schutz für Mareike beten.
Cornelis wurde der beiden erst gewahr, als der Medikus mit seinem Fuß versehentlich an eine Kirchenbank stieß. Der Kaufmann schaute verstört hoch und wusste für einen Moment gar nicht, wo er sich befand.