Sylvia Sabrowski
Zechenkiller
Kriminalroman
Gift im Schacht Mit der Zechenschließung in Bottrop droht ein Umweltskandal: Das durch die Flutung der Stollen ansteigende Grubenwasser ist mit krebserregendem PCB belastet. Vorwürfe gegen die Bergbaubetreibenden werden laut. Bei einem als Verkehrsunfall getarnten Mord verbrennt ein bergbaukritischer Umweltaktivist bis zur Unkenntlichkeit. Das Opfer ist Felix Sprockmann, Gründer und Vorsitzender der Bürgerinitiative „Bottrop bleibt sauber“. Ein protziger Versicherungs- und Immobilienhändler, der nicht in die Ökoszene zu passen scheint. Vor seinem Tod erhielt Sprockmann Drohungen vom „Zechenkiller“. Doch wer steckt hinter dem Pseudonym? Liesa Kwatkowiak, clever, selbstironisch und mit einem ausgeprägten Einfühlungsvermögen, gerät zusammen mit Computernerd Timo Goretzka zwischen die Fronten eines Ruhrgebiets im Umbruch. Schließlich wird Liesa selbst bedroht – es folgt ein Kampf auf Leben und Tod.
Sylvia Sabrowski, in Bottrop aufgewachsen und nach dem Studium der Psychologie und Pädagogik als Freiberuflerin tätig, lebt mit Mann, Kindern und anderthalb Katzen im Ruhrgebiet. Sie stammt selbst aus einer Bergarbeiterfamilie, hat noch Kohleöfen – mitunter auch die Küchentapete – brennen sehen, das Geräusch vom Kohlenscheppen im Ohr, die Arbeitskleidung der Bergleute auf den Wäscheleinen vor Augen und die Eigenheiten der Ruhrgebietler tief in ihrem Herzen. Einige ihrer Kurzgeschichten und Gedichte wurden in Anthologien veröffentlicht. „Zechenkiller“ ist der zweite Kriminalroman der Autorin im Gmeiner-Verlag. www.sylviasabrowski.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Teresa Storkenmaier
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Udo / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6656-4
Nach der Schließung der letzten Steinkohlenzeche Prosper-Haniel in Bottrop wird das Grubenwasser nicht mehr abgepumpt. Bis auf eine Tiefe von 600 Metern unter dem Meeresspiegel soll es ansteigen. »Eine Vermischung mit dem Grund- und Trinkwasser ist dabei unbedingt zu vermeiden«, so Felix Sprockmann, ehemaliger Bergmann auf Prosper-Haniel, Begründer und erster Vorsitzender der Bürgerinitiative »Bottrop bleibt sauber« (BIB). »Denn das Grubenwasser ist mit Schwermetallen, Salzen und mit hochgiftigem PCB belastet.« Es liegen im Ruhrgebiet noch etwa 12.500 Tonnen der krebserregenden Chemikalie in den Stollen. Welche weiteren Gefahren sind mit dem Fluten verbunden? »Für ein derartiges Vorgehen gibt es bisher keine Erfahrungswerte. Das hat noch niemand vorher gemacht. Wir rechnen mit Bergsenkungen, Erdhebungen und Schäden an den Gebäuden. Da werden wir uns alle noch umgucken. Das wird ungeahnte Folgen haben.« Und wie schätzt Sprockmann die PCB-Gefahr ein? »Wir sitzen auf einer tickenden Zeitbombe.«
(Bürgerreporterin Karin Palmowski, Stadt-Anzeiger Bottrop, März 2019)
Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Er stand auf der Autobahnbrücke über der A 2, links unter ihm lag die Raststätte Bottrop-Süd mit den schräg parkenden, wie Fischgräten angeordneten 40-Tonnern, rechts ragte der Förderturm von Prosper-Haniel zwischen Bäumen hervor. Hinter dem Doppelbock mit den vier Seilscheiben erhob sich die Halde Haniel wie ein begrünter, abgeflachter Berg. In der Ferne konnte er neben dem Doppelbock auf einem Plateau das Haldenkreuz erkennen. Beide schauten auf ihn herab und er musste lächeln bei dem Gedanken, dass der Pütt ihm zusehen und dabei auch noch das Kreuz des Passionsweges hochhalten würde. Heiliger Bimbam, dachte er. Geiler Tag für das, was jetzt kommt. Er zog den Rotz hoch, spuckte aus und grinste. Was für ein toffter Tag für das Jüngste Gericht.
Er brauchte mehr Übersicht, überquerte die Brücke und positionierte sich neu. Von hier aus überblickte er etwa drei- bis vierhundert Meter Autobahnstrecke. Perfekt für sein Vorhaben. Jetzt hab ich es in der Hand. Er konnte das Lachen nicht unterdrücken und brachte ein Röcheln hervor, das von dem Lärm der Autobahn verschluckt wurde. Sichtbar für alle stand er da, doch niemand konnte auch nur ahnen, was er gerade tat. Wozu er imstande war. Welche Macht er hatte.
*
Ihr Herz hämmerte. Sie kniff die Augen zusammen und hielt das Lenkrad fest, krallte sich geradezu in die schwarze Kunststoffhülle und überlegte, ob sie anhalten sollte. Sie spürte den Schweiß an ihrem Rücken, im Nacken, auf den Armen, an den Handinnenflächen. Sie war kurz davor, aufzugeben. Es geht gleich vorbei, redete sie sich ein.
*
Ein Blick auf die Armbanduhr. Es musste jeden Moment so weit sein. Seine Augen verengten sich. Die Apparatur lag in seiner rechten Hand, er umschloss sie und tastete mit dem Daumen nach der erhabenen Rundung. Er umspielte sie fast zärtlich und sah in der Ferne, wie der Wagen mit der auffälligen Lackierung angerast kam. Pünktlich war er und idiotisch zuverlässig. Er selbst hatte seine Knochen lange genug hingehalten. Heute ist Zahltag, Arschloch. Heute wird abgerechnet. Hier steht das Jüngste Gericht. Burn, Baby. Burn. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Dann tat er es. Er löste aus.
*
Plötzlich sah Liesa verschwommen, die Fahrbahn verengte sich, der rechte Rand rückte immer näher auf sie zu und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie gegen etwas krachte. Verdammt, dachte sie, es geht doch nicht. Ich werde die Kontrolle verlieren, einen Unfall verursachen, dann ist alles vorbei. Sie bereitete sich auf einen heftigen Aufprall vor.
*
Das Fahrzeug kam von der Fahrbahn ab, geriet in die Leitplanke, rutschte auf ihr entlang, bis es außer Sichtweite war, und überschlug sich mehrfach.
Der Mann auf der Brücke packte in aller Seelenruhe ein Kaugummi aus, steckte es sich in den Mund und schlenderte in Richtung der Zeche, bog rechts ab, stieg die unkrautbewachsene Steintreppe hinab und verschwand im Grün neben der Autobahn. Das Kreischen von Metall auf Metall erzeugte in ihm einen wohligen Schauer.
Eine Explosion. Flammen schlugen aus den geborstenen Fenstern. Zwei Männer hielten an, um zu helfen, aber sie hatten keine Chance. Innerhalb kürzester Zeit stand das Fahrzeug im Vollbrand. Es blieb den Männern nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen. Sie wandten sich ab von dem Grauen, das sich im Inneren des Fahrzeugs abspielte.
*
Bevor die Angst sie völlig überfluten konnte, stoppte Liesa das Auto abrupt. Sie stellte den Motor ab und zog die Handbremse so fest, dass sie dabei aufstöhnte. Die plötzliche Ruhe irritierte sie. Durchatmen, dachte Liesa. Sie atmete tief ein und aus, sah die Kreuzung klar und übersichtlich vor sich. Du Scheißangst, dachte sie. Ich hab dich in der Hand und nicht du mich. Arschlochangst. Und während sie ihre Angst weiterhin in Gedanken beschimpfte, schwenkte ihr Blick über die Hinweisschilder an der Kreuzung. »Westfriedhof«, stand auf einem Schild, das geradeaus wies. Es traf sie bis ins Mark.
*
Alles flog auseinander, weil nichts es zusammenhielt. Er hatte es ausgelöst, das Inferno. Er hatte etwas Schlimmes getan und einen kurzen Augenblick empfand er Scham. Es war unumkehrbar, verboten, höllisch grausam. Doch dann erfüllte ihn das Gefühl der Macht, der lustvollen Erfüllung. Es durchströmte ihn von Kopf bis Fuß, elektrisierte ihn und befriedigte jede Faser seines Körpers. Ich habe es vollbracht, dachte er. Ich habe ihn zerstört. Endlich. Fahr zur Hölle, Kumpel.
*
Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, geradeaus zu fahren, zum Friedhof. Aber was würde sie dort tun? Was würde sie dort erwarten? Sie war noch nicht bereit dafür. Dass sie den Motor startete und abbog, war nicht ihre Entscheidung, das erledigte ihr Körper. Gar nichts habe ich im Griff, dachte Liesa. So kann das nicht weitergehen. Ich muss es endlich anpacken und mir Hilfe holen. Jetzt sofort.
*
Immer in die Fresse rein. Bis die Tränen kommen, mein Freund. Aber heute reicht das nicht, dass du weinst. Heute wirst du kochen. Dein dämliches Blut verkocht, Arschloch. Er nestelte an sich herum, fuhr dann durch die Siedlung und ließ den Förderturm samt Passionskreuz hinter sich.
*
Liesa stellte ihr Auto ab, überquerte die Straße, ging im Schatten der teils heruntergekommenen Häuser auf ein Schaufenster zu, das in Blaugrau gehalten war, und dann doch daran vorbei. Das Treffen der Trauergruppe hatte bereits begonnen. Im Vorbeigehen las sie: »Begegnung«. Vor dieser hatte sie sich gerade prima gedrückt. Es folgte ein Hauseingang mit skurril beklebten Briefkästen und gleich danach das Wilke-Wettbüro, das mit Pferden, Reitern und Fußballspielern auf überdimensionalen Werbefolien für Sportwetten warb. Entweder gehe ich jetzt in die Trauergruppe oder ins Wettbüro. Ich hab die Wahl, dachte Liesa und grinste schief. Sie blieb am letzten Wettbüroschaufenster stehen, blickte auf die Straße und wünschte sich, Timo wäre jetzt bei ihr. Aber Timo war ein Thema für sich. Zunächst musste sie zurück, zum Auto und zu allem anderen. Also kehrte sie um.
Auf dem Rückweg blieb Liesa neben der geöffneten Bürotür der Hospiz- und Trauergruppe stehen, schaute auf einen Aushang und tat, als ob sie las. Sie konnte sich nicht auf den Inhalt konzentrieren und in ihr wirbelten die Wörter durcheinander. Stimmen drangen aus den Räumen, laut und aufgebracht. Als Liesa durch das Schaufenster blickte, sah sie zwei Frauen, die gerade im Begriff waren, den Raum zu verlassen.
»Die haben den Markus umgebracht!« Die Frau war außer sich. »Versteht ihr denn nicht?« Eine andere Frau versuchte, sie zu beruhigen. Doch sie wurde nur noch lauter, rastete förmlich aus und kreischte: »Die Zeche hat den vergiftet! Aber davon will ja keiner was wissen. Ihr seid alle blind und taub. Oder habt ihr Angst vor denen? Die Zeche ist jetzt dicht, aber die haben unsere Männer vergiftet mit dem Scheiß-PCB, elendig krepieren lassen!« Mit einem »Ach, ihr könnt mich doch alle mal« lief sie hinaus und rannte Liesa geradewegs in die Arme.
»Das war ein verdammter Mord!«, bemerkte die Frau, guckte Liesa direkt an, wischte sich die Tränen weg und sagte: »Ist doch wahr, oder?«
Gute Frage, dachte Liesa. Wenn das wahr ist, dann brennt hier der Baum. Dann sitzen wir auf einem Pulverfass. Wollen wir wetten?
Und während auf der A 2 der Fahrer des verunglückten Fahrzeugs bis zur Unkenntlichkeit verbrannte, klangen die Worte in Liesa nach. Sie spürte den Schrei der Frau wie einen Faustschlag in der Magengrube. »Das war Mord!«
Liesa stellte den Wagen vor dem Zechenhaus ihrer Oma in Bottrop-Batenbrock ab, wischte sich den Schweiß aus dem Nacken und atmete tief durch. Meine Güte, das waren heftige Anschuldigungen. Mord, mit PCB vergiftet, krepieren lassen … Von PCB, einer krebserregenden Chemikalie, hatte Liesa schon etwas gehört. Aber nicht im Zusammenhang mit dem Bergbau. War die Frau, die so aufgebracht aus dem Büro der Hospiz- und Trauergruppe gestürmt war, psychisch labil? Hatte sie nach dem Tod ihres Mannes eine Psychose entwickelt? Oder zeigte sich hier eine Form der weitverbreiteten Verschwörungstheorien? Glaubte sie auch an Chemtrails und tapezierte ihre Wohnung mit Alufolie aus Angst vor Strahlen? Liesa grinste.
Jetzt mal nicht überheblich werden, ermahnte sie sich. Was so etwas mit einem machen konnte, wusste sie schließlich aus eigener Erfahrung. Immerhin war sie wieder mit ihrem Auto unterwegs und mobil, das hatte sie schon hinbekommen. Aber bis zu ihrer Uni würde sie es noch nicht schaffen. Dafür war das Fahren auf der Autobahn notwendig, für sie momentan eine unüberwindbare Hürde. Sollte sie dabei eine dieser Angstattacken erwischen – allein bei dem Gedanken schlug ihr Herz schneller. Also atmete Liesa bewusst, zählte mit, beruhigte ihren Körper wieder und schüttelte über sich selbst den Kopf. Eine tolle Psychologiestudentin bist du, dachte sie. Hast ja volle Fachkompetenz auf niedrigstem Aktivitäts- und Handlungskompetenz-Niveau. Theoretisch super, praktisch eine Null. Vielleicht etwas über null, gestand sie sich zu, also null Komma irgendwas. Immerhin. Ihre Oma würde jetzt sagen: besser als nix. Liesa lächelte. Ihre Oma war schlicht die Beste. Also nix wie hin zu ihr.
Oma Kwatkowiak wohnte in einem Vierspänner, einem zweigeschossigen Haus aus Bergwerksziegeln und mit einem Satteldach, das am Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden war, als die Steinkohlenzechen Tausende von Arbeitern aus Bergwerksregionen und ländlichen Gebieten anzogen. Diese Zuwanderung hatte Bottrop zu einer Großstadt wachsen lassen, die in mancher Hinsicht dörflich geblieben war.
Liesa ging an dem Seiteneingang der Hellmanns vorbei und überquerte den Hof. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter in Richtung des Nachbarhauses auf der anderen Seite der Durchfahrt, in dem die Goretzkas wohnten. Liesa spürte, wie ihr Puls anstieg, aber von Timo war keine Spur. Somit war die Luft rein – wenn man von den schwarzen Rauchschwaden absah, die über den Hof quollen und bis zu den Gärten hinter dem Schuppen waberten. Der Schuppen war vormals Stallgebäude gewesen für Ziegen, Schweine, Hühner und was die Bergmannsfamilien vor einigen Jahrzehnten sonst noch an Getier für die Selbstversorgung gehalten hatten. Liesa kniff die Augen zusammen und machte den Ursprung des beißenden Qualms neben dem Hauseingang ihrer Oma aus. Dort stocherte ein Mittfünfziger in einem überdimensionalen Holzkohlegrill herum. Sein Feinrippunterhemd war einmal weiß gewesen, seine Hose hing ihm unter dem Bauch.
Oma Kwatkowiaks Stimme unterbrach die Smoker-Idylle. »Hömma, Willi, jetz’ is’ aber mal gut mit der Qualmerei. Sonst haben wir bald die ganze Siedlung eingeräuchert.« Sie schloss das Küchenfenster und winkte, als sie Liesa entdeckte, freudig durch die Scheibe. Der Angesprochene grunzte in den Grill hinein, fächerte weiter an und wurde von den Rauchschwaden nahezu verschluckt.
»Na, alles klar?«, begrüßte Liesa ihren Onkel in Richtung des Grills, hörte ein »Jo, muss« und nahm ihrer Oma, die gerade zur Tür heraustrat, eine der beiden großen Salatschüsseln ab.
In dem Bereich des Hofes, der zu Omas Hausanteil gehörte, stand ein weißer Gartentisch aus Kunststoff, daran vier Hochlehner mit gemusterten Auflagen. Der Hof war eine Art Terrasse, an drei Seiten befand sich die Rückseite des Zechenhauses mit dem gemauerten Aufgang zur Haustür und dem Küchenfenster daneben, gegenüber das Stallgebäude, das aussah wie ein Zechenhaus in Miniaturformat, aus Bergwerksziegeln mit Spitzdach und zwei einfachen Holztüren. Eine weiß verputzte Mauer verband Stall und Haus, sodass sich eine hufeisenförmige Umrandung ergab. Die offene Seite des Hofes zeigte zu den Häusern, die sich die Auffahrt teilten, wie auch das Haus der Goretzkas. Der Tisch war weitgehend gedeckt und Liesa stellte die Salatschüssel dazu. Oma hatte eine ihrer besten Wachstuchtischdecken aufgelegt, die mit den unscharf aufgedruckten roten Rosen in Kombination mit Lavendelsträußchen. Liesa mochte beides, aber der verschwommene Druck machte sie einen Moment lang schwindelig.
»Nicht, datt der Willi noch die Eierkohlen drauflegt, oder ein paar von den Briketts.« Gertrude Kwatkowiak lachte ein etwas heiseres Lachen. Ihre Augen funkelten klug und Liesa wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als sie für immer behalten zu dürfen.
»Das sollte er lassen«, kommentierte Liesa und lächelte. »Sonst wird aus dem schönen Grillgut ein krebserregender Sondermüll.«
»Ach, bist du jetzt auch so ein Öko?«, fragte Willi gereizt und legte mit einer Grillzange Würstchen und Koteletts auf den Rost. »Dann kannste ja datt Grünzeug essen, bleibt mehr Fleisch für mich.« Er grinste ein kleines fieses Grinsen und Liesa hob eine Augenbraue. Öko? Welche Laus war dem denn über die Leber gelaufen?
»Die Liesa ist kein Öko«, meinte Oma. »Die ist nur vernünftig.«
Liesa war baff. Gab es einen Widerspruch zwischen »Öko« und »Vernunft«? Es machte ihr ein mulmiges Gefühl. War sie hier in einen Grabenkrieg geraten? Musste sie sich rechtfertigen, dass sie nicht etwa auf einer anderen Seite stand?
»Datt mit dem Hausbrand ist ja jetzt vorbei«, bemerkte Oma, während sie Besteck verteilte. Onkel Willi quittierte dies mit einem weiteren Grunzen. Oma hatte ihren Schwiegersohn nach der Trennung von seiner Frau aufgenommen und sozusagen eine Zweck-WG gegründet. So verlotterte Willi nicht und er konnte ihr zur Hand gehen, auch wenn seine aufbrausende Art ihn nicht zu einem Vorzeige-WG-Genossen machte. Als Frührentner in der Anpassung hatte er Ende 2018 noch Anspruch auf Deputatkohle und dreieinhalb Tonnen Anthrazitkohle aus Ibbenbüren in Omas Keller eingelagert, obwohl sie längst über eine Gasheizung verfügte. »Watte hast, datt haste«, hatte er gesagt, und: »Für schlechte Zeiten.« Man wusste ja nie, wohin die Energiewende führen würde. Gab es überhaupt eine? Wer wendete was wohin, drehte und änderte sich oder andere oder etwas? Es sind Zeiten der Veränderung, dachte Liesa. Strukturwandel nannte man das. Welche Strukturen wandelten sich eigentlich und wie, in welcher Form, was war das Ziel?
Das ist ja jetzt vorbei, wiederholte Liesa in Gedanken. Mit der Schließung der letzten deutschen Steinkohlenzeche im vergangenen Dezember war, so sagte man, eine Ära zu Ende gegangen. Ein schmerzliches Ende. Liesa hatte es hautnah miterlebt. Vielleicht war die Zeche an jenem 21. Dezember vergangenen Jahres gestorben, aber die Bergleute lebten noch und die Gebäude und Hinterlassenschaften waren ebenfalls weiterhin vorhanden. Sie wusste, dass das Rauben, die Aufräumarbeiten unter Tage, noch andauern würde. Dann würden die Strecken geflutet werden, indem das Grubenwasser bis zu einer bestimmten Höhe nicht mehr abgepumpt wurde. Nach mir die Sintflut, kam ihr in den Sinn. Wie wird eigentlich eine Zeche abgebaut, abgewickelt, ganz oder teilweise abgerissen? Was bleibt, über und unter Tage?
Die haben unsere Männer vergiftet mit dem Scheiß-PCB, elendig krepieren lassen. Was hatte es damit auf sich? Was ist da wirklich unter Tage passiert? Was befindet sich in den Körpern der Bergleute? Verursacht es Krebs? Bringt es sie um?
»Du bist mit dem Auto da, hab ich gesehen«, bemerkte Oma.
»Watt denn, die olle Kasperkiste fährt noch?« Onkel Willis Lachen wurde zu einem Husten.
»Kleinwagen«, korrigierte Liesa. »Sicher fährt er, und wie.« Nur leider nicht automatisch und fahrerlos, dachte sie. Das Problem ist in diesem Fall der Mensch, nicht die Maschine.
»Wann fängt eigentlich deine Uni wieder an?«
Liesa riss die Frage ihrer Oma aus den Gedanken. Volltreffer. »Ach Omma …« Sie friemelte an einer geblümten Papierserviette herum, wurde von Omas Verhörblick regelrecht verfolgt und gab sich schließlich geschlagen. »Am 1. April geht es wieder los.« Genauer gesagt in sechzehneinhalb grauenvollen Tagen und siebzehn schlaflosen Nächten, hätte Liesa ergänzen können. Aber das Thema wollte sie nicht näher vertiefen.
»Aha«, machte Oma, nickte und mischte den Kartoffelsalat kräftig durch.
»Sag mal, Onkel Willi«, begann Liesa, bevor Oma Kwatkowiak ihr Verhör fortsetzen konnte. »Was hast du eigentlich genau auf der Zeche gearbeitet?«
Onkel Willi stellte zwei gut gehäufte Grillfleischteller auf den Tisch, einen direkt vor sich auf seinen Platz, den zweiten in die Mitte. »Ach, datt is’ doch schon so lange her.« Er klemmte sich zwischen Hochlehner und Tisch. »Gibste mal den Senf?«
Liesa reichte ihm das Senfglas und stellte fest, dass Oma mit drei gespülten Exemplaren als Trinkgläser aufgewartet hatte. Senfkristall nannte man das hier. Gertrude Kwatkowiak war eben patent, nachhaltig, unprätentiös, bescheiden und uneitel, aber genauso skrupellos. Willi strich sich ausgiebig Senf auf seinen Teller, die beiden Würstchen, das Nackenkotelett und das Bauchfleisch, benutzte das Messer dabei gewandt wie eine Maurerkelle und machte keine Anstalten, auf Liesas aufmunternden Blick zu reagieren.
»Hattest du was mit PCB zu tun?«, hakte Liesa nach und ließ ihren Onkel nicht aus den Augen. »Das wurde doch unter Tage verwendet, oder?«
Willi seufzte, legte das Besteck zur Seite, wischte sich mit dem Handrücken Fett vom Mund und sah auf. »Warum willste datt denn wissen?«
»Ich hab da was gehört. Stimmt es, dass ihr mit PCB Kontakt hattet?«
Willi seufzte. »Datt war in dem Öl drin, im Blauen Engel.«
Liesa horchte auf.
»In blauen Fässern war datt drin. Und blau war datt Zeug selber auch, deshalb der Name.«
»Wofür wurde das eingesetzt?«
»Hydrauliköl. Weißte, wir haben datt regelmäßig an der EHB gewechselt, der Einschienenhängebahn. Datt Zeug ist übergeflossen, aufe Klamotten, aufen Boden. Wir haben uns mit dem Hydrauliköl quasi komplett eingesaut.« Er grinste. »Damit konnteste echt jeden Dreck abkriegen. Hinterher warste sauber und glatt wie ein Babypopo.« Er schaute Liesa an und wurde ernst. »Dann war da plötzlich ein Warnschild an den Fässern, und die haben uns gesagt, datt wir neue Sicherheitsvorgaben haben. Muss man sich mal vorstellen. Ich bin vorher mit dem ganzen Arm in datt Fass, die Kumpel auch, dann war datt plötzlich hochgiftig, von einem Tag auf den anderen. Jetzt brauchste dies und dann machste das, haben die gesagt, nur noch mit Handschuhen und so. Strenge Sicherheitsmaßnahmen. So war datt.« Er schnitt ein großes Stück von seinem Kotelett ab. »Jetz’ weißte Bescheid.«
»Das Zeug ist krebserregend. Haben die euch das auch gesagt?«
»Ab dem Tag war datt ja klar.«
Vorher nicht, dachte Liesa. »Und haben die euch über PCB informiert? Gab es Untersuchungen oder so etwas?«
Willi schüttelte den Kopf und schob sich das Fleischstück in den Mund. »Wenn du überlegst«, meinte er schmatzend, »wie viel wir von dem Zeug einfach unter Tage weggekippt haben. Literweise. Ach, datt müssen über die Jahre Tausende Liter gewesen sein. Hat ja da unten keinen interessiert.«
Heute könnte der Fall anders liegen, dachte Liesa. »Und wenn das Grubenwasser steigt, was passiert dann wohl mit dem PCB-Öl?«
»Sind die nicht gerade am Rauben?«, klinkte sich Oma ein. »In der Zeitung steht, datt die bald fertig sind damit und dann die Schächte verfüllen.«
»Die Frage ist«, wandte Liesa ein, »was überhaupt geraubt wird. Was holen die raus aus den Zechen, was bleibt unter Tage und wird dann überflutet? Und was ist, wenn das ganze PCB-Zeug durch das Fluten hochkommt? Wenn nicht alles funktioniert, wie geplant?«
»Boah, ey, da kommt mir ja alles hoch«, polterte Willi los. »Hömma, datt is’ doch blödes Ökogequatsche. Watt soll denn da schiefgehen? Die wissen schon, watt die da machen.«
»Vielleicht wissen die sogar ganz genau, was sie da machen«, überlegte Liesa laut.
Oma nickte.
»Und weißte, datt mit dem Krebs, ne?«, setzte Willi fort. »Datt geht mir sowatt von am Arsch vorbei. Von irgendwatt nippelste sowieso ab, da machste nix.«
Mit Letzterem hatte er recht, dessen war sich Liesa schmerzlich bewusst.
»An unserer Grillwurst ist auch krebserregendes Zeug, na und?« Willi schwenkte mit einem aufgespießten Wurststück vor Liesas Nase herum.
»Aber da ist doch kein PCB dran?«
Willi schaute Liesa an. Oma hob die Schultern.
Wir haben einfach keine Ahnung, dachte Liesa. Das nenn ich mal Wissenslücke. Groß wie ein Stolleneingang, ein riesiges Mundloch, aufrecht begehbar, mit Helm und dicken Arbeitsstiefeln. Aber ihre Neugier war geweckt. Was ist PCB überhaupt? Was ist wirklich dran an der angeblichen PCB-Gefahr? Was macht das mit den Bergleuten, die mit dem PCB-haltigen Öl gearbeitet haben, und mit uns allen, wenn die Zechen geflutet werden?
»Die grünen Ökospacken haben alle keine Ahnung«, schimpfte Willi. »Waren nie auf der Zeche und verbreiten nur Dünnpfiff.«
»Das ist die Frage«, überlegte Liesa laut. »Entweder spinnt jemand herum und verbreitet Gerüchte, oder man weiß mehr über diese blauen Fässer, als uns im Moment lieb ist.«
Oma Kwatkowiak wandte sich Liesa zu und schob sich die Ärmel ihres Pullis hoch. »Sieht so aus, als wäre da was zu klären, Liesa-Schätzken. Du hast doch grad nix Besseres zu tun, ne?«
Liesa überkam das seltsam vertraute und doch kribbelig-aufregende Gefühl eines Déjà-vu. Sie erinnerte sich an die Aufklärung eines Vermissten- und Todesfalls im letzten Jahr, der sie in Lebensgefahr gebracht und sie ins Epizentrum des Zechentods hatte vordringen lassen. Dabei dachte sie gern an die Bergleute zurück, die sie tatkräftig unterstützt hatten. Aber was würden die nun von Umweltgiften und Zechenmord halten? So etwas kam bei denen gar nicht gut an, das wusste Liesa. Bergleute hielten zusammen und waren stolz auf ihren Berufsstand, auch auf ihren Arbeitgeber, komme, was wolle. Sie fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Lass dich bloß nicht darauf ein, mahnte eine Stimme in ihr. Deine Oma will dich wieder in was reinquatschen. Ach komm, säuselte eine andere Stimme. Miss Moppel ist doch mehr als bereit für ein weiteres Abenteuer.
»Ich bleib dran«, erklärte Liesa, und in diesem Moment war Oma sichtlich Feuer und Flamme und auch für sie selbst gab es kein Zurück.
Dann holte Oma unverhohlen zum Schlag aus: »Wollte Timo nicht übers Wochenende nach Hause kommen? Ich meine, seine Mutter«, Oma nickte in Richtung des Goretzkahauses, »hätte sowas gesagt.«
Doppeltreffer, dachte Liesa und steckte sich ein großes Stück Bratwurst in den Mund, schaufelte eine Portion Kartoffelsalat nach Gertrudes Art hinterher, setzte ihr Glas aus feinstem Ruhrpott-Senfkristall an den Mund und starrte ihre Oma an. Aus mir kriegst du keinen Ton mehr heraus, funkte sie telepathisch. Jetzt noch mein Spezialthema und Oma schafft einen Hattrick, dachte sie. So etwas wie: »Weißt du, Liesa. Es ist gut, dass du nicht aufgibst. Ich weiß doch, wie schwer das alles für dich war und wie schwer das jetzt mit dem Studium ist und mit dem Timo, und das mit deiner Mutter und dem Krebs, das ist ja alles noch nicht so lange her und auch nicht leicht durchzustehen …« Aber dazu kam es gar nicht.
»Du schaffst datt schon«, sagte Oma und in ihrem Blick lag Wärme.
Liesa nickte überrascht. Ich arbeite daran, dachte sie. Und ich habe auch schon viel erreicht. Das Abi gemacht trotz der Scheidung der Eltern, den Studienplatz ergattert, eine eigene Wohnung bezogen. Jetzt musste es aber weitergehen. Der Koeffizientenwert liegt im Moment bei null Komma irgendwas, dass ich auch den Rest schaffe. Besser als nix, aber auch nicht mehr.
Nun erst einmal zu etwas ganz anderem. Gehn’se mal ermitteln, Madame Poirot. Datt schreit nach Gift, Mord und einer Umweltsauerei. Wollen wir wetten?
*
Seine Wut war stärker als zuvor. Wie konnte das sein? Warum verschwand sie nicht? Der Hass loderte schmerzhaft in ihm, drohte ihn innerlich zu verbrennen. Keiner hatte so etwas mit ihm tun dürfen. Keiner! Verarscht hat der mich, dieses blöde Schwein. Ey komm, mein Kumpel, hatte der gesagt. Vornherum den Netten gespielt, hintenrum hat der mich derbe verarscht. Da war nix mit Kumpel, gar nix. Warum ging die Wut nicht weg? Was musste er noch tun, damit dieses Arschloch endlich aus seinem Kopf verschwand?
Liesa schaute auf das Display. Wieder keine Nachricht von Timo. Sie legte das Smartphone beiseite, stellte sich ans Fenster und ließ ihren Blick schweifen. Die Dachgeschosswohnung in einem Mehrfamilienhaus am Ostring war nur einen Katzensprung von Omas Zechenhaus entfernt. Es war ihr Nest und sie mochte den Weit- und Überblick. Noch trugen die Bäume wenig Laub, sodass sie bis zum Tetraeder sehen konnte. Die Landmarke leuchtete auf einer Halde in Batenbrock geometrisch und lückenhaft über Bottrop. Liesa schaute hinunter auf den Garagenhof, wo sie ihr Auto abgestellt hatte. Der Bereich hinter dem Haus wurde dürftig beleuchtet, sodass sie ihren Wagen gerade noch erkennen konnte. Ich muss da nachhaken, dachte Liesa. PCB löst Krebs bei Ex-Bergleuten aus? Wenn da was dran ist … Gab es Studien, Zeitungsartikel, bestand überhaupt ein Zusammenhang? Da waren so viele Fragen offen. Sie klappte den Laptop auf, schaltete ihn ein und nahm die Fährte auf. »PCB« tippte sie in die Suchmaschine ein. Die Ergebnisse ordnete sie nach »sachlich-zuverlässig« und »spekulativ-fraglich« ein. Zunächst zu den Fakten: PCB ist eines der zwölf Ultra-Gifte, auch als »dreckiges Dutzend« bekannt. Die Chemikalie ist krebserregend und seit 2001 weltweit verboten. Sie befindet sich als Weichmacher in Kunststoffen, in Fugendichtungen und Hydraulikölen, auch im Bergbau. Da haben wir’s ja, dachte Liesa. Das Hydrauliköl besteht oft zu 100 Prozent aus PCB. Meine Güte. Wann hatten Willi und seine Kollegen wohl Kontakt damit gehabt und wie lange? 1978 wurde PCB als Weichmacher in offenen Verwendungen verboten. Die Herstellung von PCB wurde 1983 in Deutschland eingestellt. Erst im Februar 1989 wurde auch die Verwendung von PCB in Deutschland verboten. Galt das genauso für den Bergbau? Ab wann hat man es dort nicht mehr eingesetzt? Liesa las weiter. Bis in die 1980er-Jahre hinein wurde das PCB-haltige Hydrauliköl im Bergbau eingesetzt. Wenn es für die Raumluft streng verboten war, warum dann erst Jahre später für den direkten Körperkontakt unter Tage? Das klang nach Fahrlässigkeit. Was machte es überhaupt, wenn es nicht in den blauen Fässern blieb? PCB verteilt sich in der Umwelt und reichert sich beständig in der Nahrungskette an, wurde bereits in der Muttermilch und im menschlichen Fettgewebe nachgewiesen. Na prima. Es verseucht Böden, Flüsse, Fische und Menschen. PCB ist nahezu geruchsneutral und biologisch so gut wie nicht abbaubar. Liesa blickte auf. Dieses Gift ist ein verdammter lautloser Killer.
Aber was macht PCB genau mit den Menschen? Der Stoff wird per Hautkontakt aufgenommen oder über die Nahrung, lagert sich im Fettgewebe an und kann im Blut nachgewiesen werden. Von einer chronischen Giftigkeit ist schon bei geringen Mengen auszugehen. Dann wäre das Hantieren ohne Handschuhe schon ein Hammer, dachte Liesa. Ein Griff ins Giftfass. Was für eine drastische Gefährdung, der Super-GAU. Sie las weiter. Folgen für die Gesundheit können hormonelle Veränderungen sein, Unfruchtbarkeit bei Jungen und Männern, Ausschlag, Haarausfall, Bluthochdruck, Leberschäden, Fehlbildungen bei Embryonen. Das Immunsystem wird geschädigt, Fälle von Leber-, Prostata- und schwarzem Hautkrebs sind bekannt. Liesa wandte sich vom Bildschirm ab und schloss die Augen. Immer wieder dieser Scheißkrebs. War es in ihrem Fall auch PCB gewesen? Hatte das ihre Mutter krank gemacht? Sie getötet? Nein, versuchte sie sich zurückzuhalten und sachlich zu bleiben. Das war zu weit hergeholt. Ihre Mutter hatte vermutlich keinen Kontakt mit PCB gehabt. Wirklich? Und was war mit den Weichmachern und den Fugen in Gebäuden? PCB befand sich bereits in der Umwelt und in vielen Häusern, die vor den 1990er-Jahren gebaut wurden. Vermutlich auch in dem Mehrfamilienhaus, in dem ihre Mutter zuletzt nach der Scheidung gelebt hatte. Natürlich hatte es Kontakte mit Umweltgiften gegeben, das war ja unvermeidbar. Liesa wurde schlecht bei dem Gedanken. Aber es war doch jetzt unvernünftig, ausgerechnet PCB dafür verantwortlich zu machen, dass sie ihre Mutter durch den Krebstod verloren hatte. Die Zeche hat unsere Männer vergiftet. Da musste sie ansetzen. Das war ein konkreter Vorwurf. Sie stellte sich ihren Onkel Willi vor, wie er bis zur Schulter in einem Fass mit Hydrauliköl herumfischte, das vermutlich zu 100 Prozent aus PCB bestand.
Bis Mitte der 1980er-Jahre wurde das Zeug also im Bergbau eingesetzt. Viel Zeit für viel Kontakt. Und jetzt, einige Jahre später, wo die Zechen in diesen Wochen verfüllt und geflutet werden sollen, was war nun mit dem PCB? Liesa konnte es kaum glauben. Etwa 12.500 Tonnen der krebserregenden Chemikalie sollen im Ruhrgebiet noch unter Tage in den Bergwerken liegen. Konnte das denn sein? Mehrere seriöse Quellen bestätigten das, der Bergwerksbetreiber deutete dies ebenfalls an. Warum erfuhr man nichts davon? Wenn die Chemikalie größtenteils im Boden versickert war, konnte man sie überhaupt entsorgen? Mit dem Fluten, dem Anstieg des Grubenwassers, würden die PCB-Öle also womöglich aufgeschwemmt werden. Laut dem Bergwerkskonzern habe man aber alles im Griff, man würde kontrolliert fluten und die Werte seien alle gar nicht so hoch. Ja klar. Liesa zog die Stirn kraus. Wie es war, etwas im Griff und die Kontrolle zu haben oder nicht, das wusste sie selbst nur zu genau. Ich muss da nachbohren, dachte sie. Das klingt nach einem Risiko, das für uns alle heftige und langanhaltende Folgen haben könnte.
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Er hatte ihn doch zerstört, abgefackelt. Auf seinen verkohlten Resten würde er herumspringen, ihn pulverisieren, wenn er nur könnte. Zappenduster war es in ihm. Nur die Wut war da. Streng dich an, ging es ihm durch den Kopf. Denk nach. Er grinste. Jetzt verstand er. Sein Werk war noch nicht vollendet. Zünde ein Licht an bei der Nacht, wie unter Tage. Wie damals im Streb. Wie in der verdammten Hölle.
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Ein weiterer Blick auf das Smartphone. Es war offensichtlich, niemand hatte das Bedürfnis, mit Liesa Kontakt aufzunehmen. Niemand vermisste sie gerade. Auch ein bestimmter Niemand nicht. Na toll.
Liesa wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Wurde alles unter den Teppich gekehrt? Gab es Beispiele, vergleichbare Fälle? Sie stieß auf einen Umweltskandal im östlichen Ruhrgebiet, der kürzlich zu einer Anklage geführt hatte. Der Chef einer Entsorgungsfirma hatte seine Mitarbeiter Kondensatoren mit PCB-Ölen aus dem Ausland zerlegen und ausspülen lassen, allerdings nahezu ohne Schutzmaßnahmen und in privater Kleidung. Die Männer hatten teilweise bis zu den Knöcheln im PCB-Schlamm gestanden, die krebserregende Chemikalie mit ihrer Arbeitskleidung zu ihren Familien nach Hause getragen, ihre Frauen, die die Wäsche wuschen, und ihre Kinder damit kontaminiert. Es gab nachweisbare Krankheitsfälle. Liesas Wut wurde immer größer. Wie war so etwas überhaupt möglich? Der Chef machte Profite, die Behörden hatten nicht genau hingeschaut. Kopfschütteln. Das Verfahren lief noch, man rechnete aber nicht mit gravierenden Strafen. Der Erdboden musste aufwendig abgetragen und als Sondermüll entsorgt werden. Man machte aus wenig ganz viel Sondermüll, wie unschlau. Wie verfuhr man mit dem PCB-Müll? Eine Untertage-Endlagerung ist seit 2007 EU-weit verboten. Organisches PCB-kontaminiertes Material wird in wenigen spezialisierten Sondermüllverbrennungsanlagen vernichtet. Sicher ein teures Vergnügen, aufwendig allemal. Wer zahlt die notwendige Entsorgung? Sind die jetzt insolvent und der Staat kommt dafür auf? Der Geschäftsführer hat wieder einen hochdotierten Job, las Liesa, erneut in der Entsorgungsbranche. Offenbar war der Skandal in seiner Branche überhaupt nicht problematisch. Möglicherweise hatte seine Perfidität den Herrn sogar aufgewertet? Höchste Fachkompetenz, ein netzwerkender Problemlöser. Herzlichen Glückwunsch. Wo landet der Dreck eigentlich? Wie ist man der Firma auf die Schliche gekommen? Haben die Mitarbeiter etwas herausgefunden und ihren Arbeitgeber angezeigt? Wie kann man dem das nachweisen? Wie sind die Arbeiter mit dem Wissen um das Gesundheits- und Krebsrisiko umgegangen?
Liesa klappte den Laptop zu und seufzte. Da hingen so viele Menschen drin, Industriesparten, Behörden, Umweltverbände. Was sollte sie denn bewirken? Ausgerechnet sie, eine Studentin mit Angstsymptomen, eine Schisserin vor dem Herrn? Was ging sie das überhaupt an? Sie sollte sich um ihre eigenen Probleme kümmern.
Das kleine Lämpchen an ihrem Smartphone blinkte. Endlich, eine Nachricht von Timo. Ihr Herz schlug schneller. Sie vermisste diesen Kerl, dem sie erst vor wenigen Monaten nähergekommen war. Timo war der jüngere Bruder ihrer ehemaligen Schulfreundin, früher ein nerviger Junge, heute ein gut aussehender Typ, der ihr von innen wie von außen gefiel. Okay, er war auch ein Computernerd und einer, der die eine oder andere Fahrstunde entfernt von hier studierte und sich viel zu lange einfach nicht bei ihr gemeldet hatte. Aber jetzt war es endlich so weit. Timo war wieder in ihrer Nähe. Liesa griff nach dem Smartphone, ließ es beinahe aus der Hand flutschen, schnappte noch rechtzeitig danach und schaute auf das Display. »Keine Zeit heute, sorry«, stand da nur. Das gibt’s doch nicht. Nach so langer Funkstille. Liesa funkelte das Display böse an. Sie widerstand dem Impuls, gleich zu reagieren. Na warte, diesmal drehen wir den Spieß um. Sie würde ihm erst morgen antworten, oder sogar noch später. Das würde reichen. Herr Timo Goretzka hatte mal eben zwei Wochen nichts von sich hören lassen. Studium hin oder her, der hatte einen Knall. Liesa wollte einfach nur ins Bett, ihren kuscheligen Lieblingsschlafanzug anziehen, sich mit einem Buch unter der Decke einrollen und den Kontakt zur Außenwelt vorerst abbrechen. Das Smartphone stellte sie auf nicht stören.
Aber da waren wieder diese Fragen. Sie ließen sich nicht abschalten, wühlten sie geradezu auf und so setzte sie sich im Schlafanzug wieder an den Schreibtisch. Sie tippte »Bergleute« und »PCB« in die Suchmaschine und stieß auf einen aktuellen Zeitungsartikel. Kürzlich wurde eine Studie durchgeführt, dabei das Blut von Bergleuten untersucht. Die Studie hatten die Bergwerksbetreiber in Auftrag gegeben, also ihre Arbeitgeber respektive ehemaligen Arbeitgeber. Es hatten nur wenige der angeschriebenen potenziell betroffenen Bergleute mitgemacht. Warum? Was kam heraus? Was bedeutet das für die Gesundheit der Bergleute? Werden sie medizinisch untersucht, betreut? Was macht diese Bedrohung mit ihnen? Wie gehen sie mit dem Thema um, mit der Angst vor Krebs?
Liesa fand sich unvermittelt auf der Intensivstation wieder. Der Geruch von Desinfektionsmitteln drängte sich auf und ihr wurde übel. Sie konnte nicht verstehen, wie sie da plötzlich hingekommen war. Angst überflutete sie. Die Art von Verzweiflung und Traurigkeit, die einen erfüllt, wenn man in den Abgrund schaut. Sie bestand nur noch aus Angst und Traurigkeit. Das vorletzte Gesicht ihrer Mutter hatte sie gesehen. Den Schmerz, das nahende Ende. Und sie hatte das letzte Gesicht ihrer Mutter gesehen, das ganz anders war. Wie sie da lag in dem Krankenhausbett. Eine Hülle, bis zum Hals in ein Laken gewickelt. Darunter waren die Schläuche, das sah sie. Der Pfleger hatte nur die am Kopf entfernt. Mehr Zeit hatte er nicht gehabt, denn Liesa war gerade in dem Moment auf der Intensivstation angekommen, als ihre Mutter starb. Durch die Glasscheibe zwischen Vorraum und Station hatte sie Krankenschwestern über den Flur eilen sehen, dann die Ärztin. Nach einer Weile waren die Schwestern über den Flur geschlendert, gelöst, lachend. Als sie Liesa durch die Scheibe sahen, senkten sie den Blick. Liesa erstarrte. Die Ärztin kam auf sie zu, durch die Tür in den Vorraum. »Sie sind die Tochter von Frau …? Es tut mir leid.« Der Zustand dauerte an und entließ sie in einen Film aus immer wiederkehrenden Rückblenden. Sie fühlte sich dem hilflos ausgesetzt, hin- und hergeworfen in ihrer Erinnerungswelt. Ich bin da gar nicht, dachte sie. Das ist ein Flashback. Ich muss zu meinem Ankerort. Da bin ich sicher. Liesa stellte sich vor, wie sie aktiv einen anderen Ort aufsuchte. Es gelang ihr und sie stand dort vor der Tür. Aber warum war die Tür verschlossen? Hey, das ist gegen die Regeln. Das gehört nicht zum Spiel. Ihr Puls hämmerte, das Atmen fiel ihr schwer.
Plötzlich schellte es. Liesa fand sich an ihrem Schreibtisch wieder und verstand zunächst nichts. Dann setzte sich ihr Hier und Jetzt langsam wieder zusammen wie Puzzleteile zu einem Bild. Türklingel, hier, bei mir. Jemand musste unten vor der Haustür stehen. Sie hatte eine Ahnung, wer das sein könnte. Es kribbelte im Bauch, und sie wusste nicht, ob vor Freude oder Wut, ob das ein wohliges Bauchkribbeln war oder der Rest des abklingenden Flashbacks. Du kannst jetzt schön hier sitzen bleiben, sagte sie der Angst. Ich habe Besseres zu tun. Liesa stand auf, sah aus dem Fenster zur Straße herunter und erblickte Timos schwarzen Wagen. Sie flitzte zur Tür und ärgerte sich im selben Moment darüber, dass sie den Türöffner so schnell betätigt hatte. Du bist durchschaubar wie Omas gespülte Senfgläser, warf sie sich vor. Timo war schneller in der dritten Etage angekommen, als Liesa sich eine distanziertere Taktik überlegen oder alternativ »Senfkristall« sagen konnte.
Da stand er nun, sah gut aus mit seinem charmanten Jungenlächeln, hatte einen Rucksack mit seinem Notebook über die Schulter geworfen und guckte sie erwartungsfroh an. »Überrascht? Hast du schon geschlafen?«
Liesa wurde sich ihres Anblicks im Schlafanzug gewahr, der ihre Rundungen schonungslos detailliert abzeichnete. Mopsig, dachte sie. Aber das war Ansichtssache. Im besten Fall war ihr Körper wohlproportioniert. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und versuchte, wütend zu sein. Nach einer ganzen Weile musste sie doch lächeln. »Du hast also keine Zeit heute?«
Timo grinste breiter und er blinzelte sie an.
»Blödmann.«
Die Umarmung fiel kurz aus, reichte aber, um Liesa an vorherige zu erinnern und den Wunsch nach mehr zu wecken. Dieses Kribbeln hatte eine eindeutig zwischenmenschliche Ursache und keine traumatologische.
»Es ist Freitagabend«, bemerkte Timo beim Hineintreten in die Wohnung. »Wie ich sehe, hast du dich schon in Schale geworfen.«
Liesa sah an sich herunter und erfasste den Aufdruck auf ihrem Schlafanzugoberteil. Ein Schildkrötenbaby mit Schalenresten auf dem Kopf. »Turtle Adventure«, stand darunter. »Hübsch«, kommentierte Timo. »Und, bist du bereit für ein Abenteuer? Also für mich?«
»Immer, Scherzkeks. Sieht man doch.« Sie mussten beide lachen.
Jetzt hat er mich wieder, dieser doofe liebenswerte Typ, dachte Liesa. Und er roch unverschämt gut. Aber warum hatte er sich so lange nicht gemeldet? So einfach war das dann doch nicht, hier hereinzuschneien und alles war wieder in Ordnung. Da war einiges zu klären.