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Sibylle Narberhaus

Syltwind

Kriminalroman

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Zum Buch

Aufbrausend Mit ihren akrobatischen Sprüngen und waghalsigen Manövern ziehen die Kitesufer jedes Jahr während des Kitesurf-Cups zahlreiche Besucher auf die Insel Sylt. Doch nicht nur den Sportlern werden Höchstleistungen abverlangt, auch die Polizei ist gefordert, als die Leiche eines Mannes im Hörnumer Hafenbecken gefunden wird. Kurz darauf überschattet ein schweres Unglück das sportliche Großereignis. War es ein Unfall oder handelt es sich sogar um einen Anschlag auf den neuen Stern am Kitesurf-Himmel? Das Team um Annas Mann Nick und dessen Chef Uwe Wilmsen nimmt die polizeilichen Ermittlungen auf. Allen Warnungen ihres Mannes zum Trotz steckt Anna ihre Nase in die Ermittlungsarbeit und gerät prompt in Lebensgefahr, denn hinter den Kulissen der Sportwelt weht ein scharfer Wind.

Sibylle Narberhaus wurde in Frankfurt am Main geboren. Nach einigen Jahren in Frankfurt und Stuttgart zog sie schließlich in die Nähe von Hannover. Dort lebt sie seitdem mit ihrem Mann und ihrem Hund. Als gelernte Fremdsprachenkorrespondentin und Versicherungsfachwirtin arbeitet sie bei einem großen Versicherungskonzern und widmet sich in ihrer Freizeit dem Schreiben. Schon in ihrer frühen Jugend entwickelte sich ihre Liebe zu der Insel Sylt. So oft es die Zeit zulässt, stattet sie diesem herrlichen Fleckchen Erde einen Besuch ab. Dabei entstehen immer wieder Ideen für neue Geschichten rund um die Insel.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt

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Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © YesPhotographers / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6604-5

Kapitel 1

Er torkelte durch die Kneipentür hinaus in die Fußgängerzone, in der zu dieser Zeit kaum eine Menschenseele unterwegs war. Im Freien schlug ihm die würzig frische Nordseeluft entgegen und flutete seine Lungen. Für einen Moment blieb er stehen und stützte sich an einem Mauervorsprung ab, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen und sich zu orientieren, bevor er mitten in der Nacht den Heimweg antrat. Der Wirt wollte ihm ein Taxi bestellen, was er vehement abgelehnt hatte. Das Geld dafür hätte er ohnehin nicht mehr aufbringen können. Er wusste, dass er nicht mehr in der Lage war zu fahren, aber immerhin hätte er für die nächsten Stunden ein Dach über dem Kopf gehabt. Doch wo hatte er seinen Wagen am Abend zuvor abgestellt? Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was weniger einer schwachen Gedächtnisleistung als der Menge Alkohol zuzuschreiben war, die er in den letzten Stunden konsumiert hatte. Mit ein paar Bieren und Schnäpsen intus ließen sich die Sorgen seines jämmerlichen Daseins viel leichter ertragen, selbst wenn die Wirkung am darauffolgenden Tag verpufft war und nichts weiter als dröhnende Kopfschmerzen zurückblieben. Immer wieder aufs Neue nahm er sich vor, für alle Zeiten damit aufzuhören, doch es gelang ihm nicht. Dafür war der Schmerz einfach zu übermächtig. Da die Temperatur relativ angenehm und es trocken war, beschloss er, seinen Rausch in einem der Strandkörbe auszuschlafen, und machte sich in leichten Schlangenlinien auf den Weg zum Strand.

Als die letzten lärmenden Nachtschwärmer die Promenade und den Strand verlassen hatten, blieb nur noch das beruhigende Geräusch der stetig an den Flutsaum schwappenden Wellen. Das Meer schien sich zur Ruhe gelegt zu haben, um am nächsten Morgen die Wellen mit neu gewonnener Energie an den Strand rollen zu lassen. Selbst die Möwen, die Stunden zuvor über den rötlich gefärbten Abendhimmel geschwebt waren wie auf einer kitschig schönen Postkarte, hatten sich längst zu ihren Schlafplätzen zurückgezogen. Draußen auf dem Wasser blitzten in regelmäßigen Abständen Lichter auf, die unheimlich wirkten, jedoch zu den Seezeichen gehörten, die Schiffe davon abhalten sollten, sich zu weit dem Ufer zu nähern. Die Fahnen, die tagsüber überall an der Westerländer Promenade als fröhlich bunte Farbtupfer im Wind knatterten, hingen schlaff herunter, als schöpften sie ebenfalls Kraft für ihren nächsten Auftritt. Für einige Stunden kehrte Stille ein, bevor ein neuer Tag erwachte und das Leben auf Deutschlands beliebter Insel erneut zu pulsieren begann. Dieses Zeitfenster musste er sich zunutze machen. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die spärlichen Lichtverhältnisse. Obwohl er sicher war, dass sich außer ihm niemand in unmittelbarer Nähe befand, wagte er nicht, die mitgebrachte Taschenlampe einzuschalten. Der helle Lichtschein könnte ihn verraten, falls doch überraschend jemand auftauchen sollte, was zu dieser Uhrzeit eher unwahrscheinlich war. Aber Vorsicht war bekanntlich die Mutter der Porzellankiste, sagte er sich. Der Himmel war wolkenlos und ließ Millionen von Sternen funkeln, ein atemberaubender Anblick. Zudem schien der Mond in dieser Nacht hell genug, um in ausreichendem Maße Licht zu spenden, genau so viel, wie er für sein Vorhaben benötigte. Daher legte er die Taschenlampe zur Seite und ließ die Tür lediglich einen Spalt angelehnt. Das Aufbrechen des Schlosses hatte einem Kinderspiel geglichen und ihn weniger Mühe gekostet, als er zunächst angenommen hatte. Wie konnte man derart leichtsinnig sein, teures Equipment lediglich mit einem simplen Vorhängeschloss zu sichern, fragte er sich währenddessen. Doch dies sollte nicht sein Problem sein – im Gegenteil. Für ihn erwies sich diese Nachlässigkeit als willkommene Arbeitserleichterung. Während er sich seiner eigentlichen Aufgabe widmete, drang plötzlich ein Geräusch an sein Ohr. Mitten in der Bewegung hielt er inne, drehte den Kopf in Richtung der Tür und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Menschliche Stimmen näherten sich und schwollen zu einem lauten Geräuschpegel an. Eine Personengruppe wanderte die Promenade entlang und steuerte geradewegs auf ihn zu. Jemand lachte lauthals, gleich darauf ertönte Gesang, wenn man diese schiefen Töne so bezeichnen mochte. Sofort zog er sorgsam die Tür ran und verharrte daneben, bis sich die Gruppe entfernt hatte. Nichts weiter als ein paar Nachtschwärmer, die vermutlich ein Gläschen zu viel getrunken hatten, sagte er sich – kein Grund zur Beunruhigung. Trotzdem wartete er vorsichtshalber eine Weile ab und öffnete dann erneut die Tür ein kleines Stück. In engen Räumen bekam er schnell Platzangst, erst recht in unbeleuchteten. Mit dem Licht drängte sich zusätzlich ein Schwall frische Nordseeluft durch den Spalt. Ohne unnötig Zeit zu verlieren, machte er sich auf die Suche nach seinem Ziel. Kaum hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte, hörte er draußen abermals Schritte. Sie kamen schlurfend näher. Direkt vor der Tür verharrten sie, und er konnte jemanden schwerfällig atmen hören. Unmittelbar darauf ertönte eine tiefe Männerstimme. »Hallo? Ist hier jemand?«

Augenblicklich brach ihm der Schweiß aus, und er wagte sich nicht vom Fleck, sondern starrte gebannt zur Tür.

»Hallo?«, drang es neuerlich von draußen an sein Ohr.

Wer war dieser Mann, und was hatte er mitten in der Nacht hier zu suchen? Handelte es sich wohlmöglich um einen Wachmann oder etwas in der Art? Er verhielt sich weiterhin ruhig. Unter keinen Umständen wollte er riskieren, dass man ihn entdeckte. Auf Zehenspitzen und mit klopfendem Herzen bewegte er sich Zentimeter für Zentimeter dem Ausgang entgegen, stets darauf bedacht, nicht das kleinste Geräusch von sich zu geben. Durch den schmalen Türspalt konnte er erkennen, wie sich der Unbekannte schwerfällig nach etwas bückte und es aufhob. Dann wanderte sein Blick zur Tür, auf die er nun leicht wankend zusteuerte. Ihm wurde schlagartig heiß, sein Puls raste. Nur wenige Schritte trennten sie, und der Unbekannte stünde ihm direkt gegenüber. Seine einzige Fluchtmöglichkeit war der Weg durch die Tür. Er saß buchstäblich in der Falle. Mit wachsender Panik sah er sich nach einem Versteck um, jedoch ergebnislos. Als der nächtliche Besucher unmittelbar vor dem Eingang angekommen war, konnte er seinem Fluchtimpuls nicht länger widerstehen und stürmte los. Dabei wurde der vollkommen ahnungslose Mann von der Wucht der auffliegenden Tür aus dem Gleichgewicht gebracht und fiel nach dem verzweifelten Versuch, irgendwo Halt zu finden, mit einem lauten Aufschrei zu Boden. Er selbst stolperte, kam dabei ins Straucheln und schlitterte ein Stück auf dem Asphalt entlang. Obwohl bei dem Sturz ein brennender Schmerz seinen rechten Unterarm durchzog, rappelte er sich blitzschnell auf und rannte die Westerländer Promenade in Richtung Innenstadt weiter, ohne dem Mann Beachtung zu schenken, der reglos neben der Tür auf dem Beton lag.

Kapitel 2

»Worüber amüsierst du dich so königlich?«

Nick stand mit dem Rücken gegen den Kühlschrank gelehnt und beobachtete mich mit einem Grinsen im Gesicht, wie ich den Geschirrspüler ausräumte. In einer Hand hielt er trotz der späten Stunde einen Kaffeebecher, die andere steckte in der Hosentasche seiner Jeans.

»Du läufst seit einer halben Stunde wie ein aufgescheuchtes Huhn hin und her.« Er setzte den Becher an die Lippen und trank einen Schluck.

»Ich habe eben viel zu erledigen«, gab ich zurück. »Und außerdem …«

»Außerdem?« Er sah mich mit prüfendem Blick von der Seite an.

»Meinst du, es wird alles problemlos laufen?«

»Ach, Anna.« Nick stellte seine Tasse ab. Dann nahm er mir die Plastikschüssel, die ich fest umklammert in der Hand hielt, ab und stellte sie zur Seite.

»Mach dir nicht so viele Sorgen, Sweety!« Er zog mich an sich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Christopher wird es hervorragend gehen, und ihm wird es an nichts fehlen, davon bin ich überzeugt. Deine Eltern freuen sich seit Wochen auf diesen Urlaub mit ihrem Enkel. Gönn’ ihnen den Spaß! In zehn Tagen sind sie zurück.«

»Du hast ja recht, und Amrum liegt auch nur einen Katzensprung von Sylt entfernt. Trotz allem, es ist das erste Mal, dass er für so lange Zeit von uns getrennt ist. Vermisst du ihn denn gar nicht?«

»Natürlich vermisse ich ihn. Was denkst du denn?« Eine gehörige Portion Empörung schwang in seiner Stimme mit. »Ich bin sicher, unser Kleiner wird viel Spaß haben.«

»Hoffentlich wird es meiner Mutter nicht zu viel. Sie ist ein Kleinkind um sich herum nicht mehr gewohnt.«

»Zu viel?« Nick lachte. »Da kennst du deine Mom aber schlecht. Sie wird in ihrer Rolle als Oma zur Höchstform auflaufen. Daran bestehen keinerlei Zweifel, den stolzen Opa nicht zu vergessen!«

»Wahrscheinlich hast du recht«, gab ich mit einem Seufzer zurück. Es bestand tatsächlich nicht der geringste Grund, mir den Kopf zu zerbrechen.

»Bestimmt sogar. Und jetzt komm, lass uns vor dem Schlafengehen eine Runde mit Pepper drehen«, forderte er mich auf und reichte mir seine Hand.

Etwas Kaltes kitzelte mich am Fuß. Reflexartig zog ich ihn unter die Bettdecke. Dann öffnete ich die Augen und blinzelte ins helle Sonnenlicht, das unser Schlafzimmer flutete. Winzige Staubpartikel tanzten im Licht wie Mücken über dem Wasser. Gleich darauf entdeckte ich Pepper neben mir, der mir mit einem Schwanzwedeln und seinem treuen Blick einen guten Morgen wünschte. Ich kraulte ihn hinterm Ohr, was er mit einem wohligen Grunzen, schief gelegtem Kopf und halb geschlossenen Augen honorierte. Nach der Streicheleinheit trottete er zufrieden davon. Aus dem angrenzenden Badezimmer konnte ich das Rauschen des Wassers in der Dusche hören. Nick war bereits auf den Beinen, was für einen Frühaufsteher wie ihn nicht verwunderlich war. In dieser Hinsicht hätten wir nicht gegensätzlicher sein können, denn ich schlief für mein Leben gerne lang. Seit Christopher jedoch auf der Welt war, konnte ich die Tage, an denen ich ausgiebig ausschlafen konnte, an einer Hand abzählen. Schweren Herzens schälte ich mich aus meinem warmen Nest und schlurfte ins Badezimmer.

»Guten Morgen, Sweety! Gut geschlafen?«, wurde ich von Nick begrüßt, der mit einem Handtuch um die Hüften gewickelt vor dem großen Spiegel stand und sich rasierte.

»Wie ein Stein«, bestätigte ich mit einem Gähnen und schmiegte mich an ihn. Seine Haut war warm und roch verführerisch nach seinem Duschgel. Hier und da auf seiner Haut schimmerten vereinzelt Wasserperlen in der Morgensonne.

»Frühstücken wir gleich zusammen?«, fragte er.

»Ja, sollten wir nicht?«, erwiderte ich überrascht über seine Frage und löste mich von ihm.

»Ich hatte angenommen, du seist in Eile, da um 8.30 Uhr dein Segelkurs beginnt. Das steht jedenfalls auf unserem Kalender in der Küche.«

»Mist! Das ist ja heute! Das habe ich vollkommen vergessen«, fiel es mir siedend heiß ein.

»Ich habe mich ein bisschen gewundert, dass du dir gestern nicht den Wecker gestellt hast. Dann gib mal Gas!«

In Windeseile machte ich mich fertig und griff beim Verlassen des Hauses nach dem Thermobecher mit Tee, den mir Nick freundlicherweise reichte.

»Viel Spaß und fahr vorsichtig!«, rief er mir nach. »Auf fünf Minuten früher oder später kommt es nicht an.«

»Ja, danke! Bis später!«

Ich sprang in meinen Wagen und fuhr auf schnellstem Weg nach Hörnum zum Hafen, wo sich auch vor Ort der Segelclub befand. Meine Eltern hatten mir zu meinem letzten Geburtstag auf Initiative meiner Mutter hin einen Segel-Schnupperkurs geschenkt, da sie der Ansicht waren, dass es in Anbetracht der Tatsache, dass ich auf einer Insel lebte, zwingend notwendig sei, sich im Notfall auch auf dem Wasser bewegen zu können. Dieser Kurs umfasste neben einer kurzen theoretischen Einführung einen praktischen Teil, einen kleinen Törn auf dem Meer, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Ehrlicherweise musste ich gestehen, dass ich selbst nie auf die Idee gekommen wäre, einen entsprechenden Kurs zu belegen, und es nicht für überlebensnotwendig hielt, dennoch wollte ich meine Eltern nicht enttäuschen. Meine beste Freundin Britta, die seit vielen Jahren auf Sylt lebte, hatte zum zehnten Hochzeitstag von ihrem Mann Jan ein Segelboot geschenkt bekommen und zählte von nun an zur Gruppe der begeisterten Segler. Bei mir war diesbezüglich bis jetzt kein Funke übergesprungen, ich bevorzugte eher festen Boden unter den Füßen.

In Hörnum angekommen, parkte ich meinen Wagen auf dem großen Parkplatz direkt am Hafen. Von dort aus trennten mich nur wenige Gehminuten vom Segelclub. Obwohl sich das Wetter von seiner besten Seite zeigte, waren bislang wenige Urlauber rund um den Hafen auf den Beinen. Um diese Zeit saßen die meisten von ihnen noch beim Frühstück, mutmaßte ich. Mein Ziel befand sich am hinteren Ende des Hafens in unmittelbarer Nachbarschaft zum Golfplatz »Budersand« und dem gleichnamigen Luxushotel. Nach einem kurzen Fußmarsch erreichte ich das graue Gebäude des Sylter Yachtclubs, das als Treffpunkt genannt wurde. Bereits von Weitem erkannte ich eine wartende Gruppe Personen, die offensichtlich dasselbe Ziel hatte wie ich.

»Moin«, grüßte ich in die Runde und erntete ein mehr oder weniger freundlich gemurmeltes »Guten Morgen«.

Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ein sportlicher, junger Mann mit kurz geschnittenem blonden Haar, in dem eine Sonnenbrille steckte, kam auf uns zu. In seinem sonnengebräunten Gesicht blitzte neben zwei blauen Augen eine Reihe strahlend weißer Zähne. Mir blieb das leise Raunen der vornehmlich weiblichen Anwesenden nicht verborgen.

»Moin und herzlich willkommen! Mein Name ist Bastian.« Er strahlte in die Runde. »Ich bin Segellehrer und führe euch heute durch den Segel-Schnupperkurs.« Dann begann er, die Teilnehmerliste durchzugehen und rief jeden namentlich auf. Im Anschluss schilderte Bastian den geplanten Ablauf des ersten Tages im Detail.

»Okay, das wär’s fürs Erste. Wenn für den Moment von eurer Seite keine weiteren Fragen bestehen, würde ich euch gern als Erstes den Bootsanleger zeigen und euch mit den geltenden Sicherheitsbestimmungen auf dem Gelände vertraut machen. Wenn ich bitten darf!«

Er machte eine ausholende Handbewegung, und wir folgten ihm die Stufen hinunter zu den Stegen, an denen die Boote angelegt hatten.

»Machst du Urlaub auf der Insel?«, fragte er mich auf dem Weg dorthin.

»Nein, ich habe das Glück, hier zu wohnen und zu arbeiten, bin jedoch keine echte Sylterin«, stellte ich klar.

»Das sind mittlerweile die wenigsten. Das ist erst mein zweiter Sommer auf Sylt, aber mir gefällt es ausgesprochen gut hier. Unsere Segelschule hat übrigens auch Einzelstunden im Angebot, falls du Interesse haben solltest«, ließ er mich mit einem schelmischen Grinsen wissen.

»Was du nicht sagst«, erwiderte ich amüsiert über diesen offensichtlichen Flirtversuch.

»Gerade für Berufstätige wie dich kann das durchaus von Vorteil sein. Ich kann im Anschluss gern nach einem Termin sehen, wenn du magst«, legte er nach.

»Sehr entgegenkommend.« Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, denn mit seinem Verhalten war exakt das eingetreten, was Britta prophezeit und ich als überholtes Klischee abgetan hatte. Der Punkt ging eindeutig an meine Freundin. Gedanklich sah ich sie bereits vor mir mit zufriedener Miene und Siegerfaust.

»Bastian, fahren wir heute noch mit dem Boot raus?«, erkundigte sich eine Teilnehmerin und sah ihn verzückt an.

»Nein, das steht erst morgen auf dem Stundenplan. Heute machen wir nur Trockenübungen an Land.« Er zwinkerte ihr zu, was augenblicklich eine Gesichtsrötung bei ihr auslöste.

Wir folgten im Gänsemarsch unserem charmanten Segellehrer den schmalen Weg direkt am Wasser entlang. Dabei war zu erkennen, dass jede der Anlegestellen über einen kleinen Steg, der ein Stück ins Wasser reichte, verfügte und mit einer Nummer versehen war. Schließlich blieb Bastian an einem Boot stehen und wandte sich an die Gruppe.

»So, ich erkläre euch kurz, was ihr im Vorfeld wissen müsst, wenn ihr euch an Bord eines Bootes begebt. Bei Fragen meldet euch bitte.«

Während ich Bastians Ausführungen lauschte, wanderte mein Blick immer wieder zwischen den vertäuten Booten hin und her. Das Wasser schwappte in mehr oder weniger gleichmäßigen Bewegungen gegen den Rumpf eines der Segelboote unmittelbar neben mir. Allein bei dem Anblick des schaukelnden Gefährts bekam ich ein flaues Gefühl im Magen. Sofort erwachte die Erinnerung an einen Mallorca-Urlaub mit meinen Eltern, bei dem ich auf der Luftmatratze seekrank geworden war, und fragte mich, ob die Teilnahme an einem Segelkurs tatsächlich eine gute Idee war.

»Gibt es hierzu Fragen?« Bastians Stimme holte mich schlagartig zurück in die Gegenwart.

»Wo sind denn hier die Toiletten, junger Mann?«, erkundigte sich eine Mittfünfzigerin mit ausgeprägt hessischem Dialekt.

»Im Clubhaus. Durch den Haupteingang, dann ist es ausgeschildert«, erklärte Bastian und deutete zu dem grauen Holzbau. »Wenn keine weiteren Fragen bestehen, schlage ich vor, wenden wir uns dem theoretischen Teil zu. Dazu folgt mir bitte alle nach drinnen ins Clubhaus.«

Auf dem Weg dorthin sah ich aus dem Augenwinkel etwas im Wasser liegen. Ich blieb stehen und lehnte mich neugierig ein Stück nach vorne, um besser sehen zu können, als beinahe mein Herzschlag aussetzte.

»Pass auf, Anna! Sonst fällst du womöglich ins Wasser, und ich muss dich gleich retten, was ich natürlich gern tue«, witzelte Bastian neben mir.

»Wir müssen sofort die Polizei rufen«, sprach ich so leise, dass die anderen mich nicht hören konnten.

»Hey, war nur Spaß, deswegen …« Er sprach nicht weiter, sondern starrte auf die Stelle im Wasser, auf die ich deutete.

»Scheiße!«, presste er leise hervor.

Neben dem Segelboot trieb eine leblose Person im Wasser.

»Was ist denn los?«, erkundigte sich ein Mann aus der Gruppe und reckte neugierig den Kopf.

»Nichts weiter, geht schon mal alle vor, wir kommen gleich nach«, versuchte Bastian, weitere Gruppenmitglieder davon abzuhalten, von unserer Entdeckung Kenntnis zu erlangen. Doch es war zu spät. Der spitze Aufschrei einer Teilnehmerin ließ den Rest der Gruppe aufhorchen. In Windeseile scharten sie sich um die Fundstelle am Steg. Bastian hatte alle Hände voll zu tun, seine Segelschüler zum Gehen zu bewegen.

»Bitte geht zum Clubhaus! Wir werden umgehend die Polizei verständigen, sie wird sich um alles kümmern«, versuchte er dem drohenden Chaos Herr zu werden und schenkte mir einen verzweifelten Blick.

»Bastian hat recht. Wir sollten dort warten und keine eventuell wichtigen Spuren vernichten«, versuchte ich mich in Überzeugungsarbeit.

Während sich die Gruppe tatsächlich zurückzog, holte ich mein Handy aus der Tasche und wählte Nicks Nummer. Es dauerte nicht lange, bis er abnahm.

»Sweety, bist du in Seenot geraten und brauchst Hilfe?«, scherzte er, bevor ich etwas sagen konnte.

»Nein. Ich fürchte, in diesem Fall kommt ohnehin jede Hilfe zu spät.«

Kurze Zeit später hatte sich ein Großaufgebot der Polizei am Hörnumer Hafen eingefunden, und der Fundort der Leiche war großräumig abgesperrt worden. In der Zwischenzeit hatte sich zudem eine größere Ansammlung Schaulustiger gebildet, die das Geschehen mit neugierigen Blicken und gereckten Hälsen interessiert verfolgte. Der Tote war aus dem Wasser geborgen worden und lag nunmehr auf einem der Stege. Ein Notarzt beugte sich gerade über ihn. Ich stand in unmittelbarer Nähe und wartete auf Nick, während Uwe und er mit dem Arzt sprachen.

»Der Mann ist tot, da kann ich nichts mehr machen«, hörte ich den Notarzt in sachlichem Ton sagen und konnte erkennen, dass er im Begriff war, seine Sachen zusammenzupacken.

»Das ist unschwer zu erkennen«, brummte Uwe missmutig vor sich hin, den Blick auf den Toten gerichtet.

»Vermutlich«, fuhr der Notarzt ungefragt fort, »ist er ins Wasser gefallen und ertrunken. Ich habe keine auffälligen Wunden feststellen können. Die Schramme im Gesicht stammt vermutlich von dem Sturz ins Wasser. Bestimmt hat er heute Nacht ordentlich gefeiert und ist anschließend betrunken dort drüben ins Hafenbecken gefallen.« Er deutete in südliche Richtung. »Die Strömung hat den Leichnam dann bis hierher getrieben. Das wäre nicht das erste Mal, dass solche Missgeschicke vorkommen. Die Leute sind einfach zu leichtsinnig im Umgang mit Alkohol. Das erleben wir während der Saison öfter, als uns lieb ist.« Die Verbitterung in seiner Stimme war unverkennbar.

»Die Obduktion wird eine eindeutige Klärung ergeben«, überging Nick den Einwand des Arztes.

»Er könnte ebenso vollkommen nüchtern gewesen sein und ist versehentlich gefallen. Vielleicht ist er aber auch absichtlich gestoßen worden?«, stellte ich zur Diskussion.

Der Arzt fixierte mich einen kurzen Augenblick lang mit seinem bohrenden Blick, doch dann winkte er resigniert ab. »Sie lesen zu viele Krimis, junge Frau«, konterte er. »Was meinen Sie, was ich in meiner Laufbahn alles schon erlebt habe. Ich könnte ein Buch darüber schreiben.« Dann zog er mit einem Ruck den Reißverschluss seiner Tasche zu und richtete sich schwerfällig auf. Sein linkes Knie machte ihm beim Aufstehen erkennbar zu schaffen. »So, ich glaube, meine Anwesenheit ist nicht länger erforderlich. Ich widme meine Zeit lieber lebendigen Patienten. Viel Erfolg bei der Ursachenforschung!« Mit diesen Worten trottete er zu seinem Wagen, wobei er das linke Bein leicht schonte, was ein humpelndes Gangbild vermittelte.

»Komischer Kauz«, bemerkte Uwe und blickte ihm mit gerunzelter Stirn nach. »Wie beurteilst du die Situation, Nick? Haben wir es mit einem Verbrechen zu tun?« Er sah seinen Freund und Kollegen erwartungsvoll an.

»Auf Anhieb schwer zu sagen. Siehst du die Verletzung an der Schläfe?«

Ich hatte mich auf einer Treppenstufe niedergelassen, da meine Knie sich anfühlten, als seien sie aus Pudding. Der Mann war zwar nicht der erste Tote, den ich in natura gesehen hatte, trotz allem konnte und wollte ich mich nicht an derartige Anblicke gewöhnen müssen. Ich war Landschaftsarchitektin und keine Kripobeamtin. Wie auch bei meinem letzten Kontakt mit einem Toten – damals hatte Pepper eine Leiche buchstäblich ausgegraben – verspürte ich zunehmend ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend aufsteigen.

»Du hast recht, die Verletzung ließe sich auf einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand zurückführen«, mutmaßte Uwe und kratzte sich nachdenklich den Vollbart.

»Die Tatwaffe zu finden, könnte sich als schwierig erweisen«, stellte Nick fest.

»Da stimme ich dir vollkommen zu. Sieh dir das Hafengelände an!« Er machte eine ausholende Armbewegung. »Hier wimmelt es förmlich von potenziellen Tatwaffen, wenn ich mich so umsehe. Das gleicht einer Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen.«

»Die Verletzung könnte ebenso beim Sturz ins Wasser entstanden sein. Vielleicht ist er gegen einen harten Gegenstand gestoßen, den Steg vielleicht, daraufhin ist er ohnmächtig geworden, ins Wasser gefallen und schließlich ertrunken. Oder er war bereits tot, als er ins Wasser geworfen wurde«, meldete ich mich zu Wort.

»Willst du für uns die Ermittlungen übernehmen?«, fragte Uwe und legte den Kopf leicht schief.

Ich merkte, wie mir augenblicklich die Röte ins Gesicht schoss. »Entschuldigt bitte, ich wollte mich nicht einmischen.« Hilfe suchend sah ich zu Nick, dessen Mundwinkel amüsiert zuckten.

»Das war nicht böse gemeint, Anna. Dieselben Fragen stellen wir uns natürlich auch«, zeigte sich Uwe versöhnlich.

»Über den genauen Tathergang wird uns letztendlich der Rechtsmediziner aufklären«, fügte Nick hinzu. »Wichtiger wäre momentan zu wissen, um wen es sich bei dem Toten handelt.«

»Ansgar!«, rief Uwe einen der uniformierten Polizisten zu uns herüber.

»Moin, zusammen. Uwe, was gibt’s?«

»Habt ihr mittlerweile etwas über die Identität des Toten herausfinden können? Kennt ihn zufällig jemand auf dem Hafengelände?«

»Fehlanzeige. Von den Befragten vor Ort kennt ihn niemand. Papiere hatte er nicht bei sich, jedenfalls haben wir nichts dergleichen gefunden. Die können natürlich irgendwo auf dem Meeresgrund liegen«, überlegte er.

»Schade, das hätte uns einiges an Arbeit erspart.« Uwe strich sich resigniert über den Bart.

»Tut mir leid, dass ich dir nicht mehr bieten kann. Vielleicht ist er draußen vor der Küste von einem der Schiffe über Bord gegangen. Wäre immerhin ein Szenario. Ich kann mich bei den Reedereien umhören, ob ein Passagier oder ein Besatzungsmitglied seit Kurzem vermisst wird«, schlug Ansgar vor.

»Wie ein Fischer oder Hafenarbeiter sieht er seinem Kleidungsstil nach zu urteilen nicht unbedingt aus. Tja, wer weiß. Ich wäre dir jedenfalls dankbar, wenn du das übernehmen könntest. Danke, Ansgar.« Dann wandte sich Uwe seinem Kollegen Nick zu, der den Toten nachdenklich betrachtete und sich den Nacken rieb. »Was geht dir durch den Kopf?«

»Seinem Zustand nach zu urteilen, liegt er noch nicht allzu lange im Wasser«, vermutete Nick.

»Ich bin gespannt, was Dr. Luhrmaier und sein Team herausfinden werden«, warf Uwe ein.

»Das ist der Rechtsmediziner, den ich im Fall des ermordeten Bauunternehmers kennengelernt habe, oder?«, fragte ich nach.

»Ja, er ist ein Genie auf seinem Gebiet, menschlich gesehen kann er allerdings verdammt anstrengend sein«, erwiderte Uwe und zog eine vielsagende Grimasse.

»Dann will ich euch nicht länger aufhalten«, beschloss ich, verabschiedete mich von den beiden Männern und brach auf zu meinem Auto.

Aufgrund des Leichenfundes und der damit einhergehenden Maßnahmen wie Spurensicherungen und Zeugenbefragungen war der heutige Segelkurs abgesagt und auf einen späteren Zeitpunkt verschoben worden. Als ich mich dem Parkplatz näherte, blieb mein Blick an einem dunkelblauen Golf hängen, vor dessen Fahrertür etwas Längliches auf dem Boden lag. Neugierig ging ich darauf zu und erkannte im Näherkommen, dass es sich um eine Parkscheibe handelte. Vermutlich befand sie sich im Ablagefach der Tür und war dem Fahrer beim Aussteigen herausgefallen. Ich hob sie auf und bemerkte dabei, dass die Tür nicht fest verschlossen war. Daraufhin warf ich einen Blick ins Innere des Wagens und erkannte im Fußraum und auf dem Beifahrersitz unzählige leere Getränkeflaschen aus Kunststoff, die alle fein säuberlich in Einkaufsbeuteln aus Baumwolle verpackt waren. Ansonsten befand sich der Wagen innen wie außen in einem sehr gepflegten Zustand. Kurzerhand umfasste ich den Türgriff der Fahrertür, die sich ohne Weiteres öffnen ließ. Als ich gerade die Parkscheibe auf den Fahrersitz legen wollte, bemerkte ich, dass der Schlüssel im Zündschloss steckte, und fragte mich, warum jemand sein Fahrzeug unverschlossen auf einem großen Parkplatz inmitten des belebten Hafenviertels abstellte. Der Besitzer musste doch befürchten, sein Wagen könnte gestohlen oder zumindest beschädigt werden. Ich sah mich nach dem Fahrer um, konnte jedoch niemanden weit und breit entdecken, der sich dem Fahrzeug zugehörig fühlte. Die Situation erschien mir zusehends suspekter, und plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.

Kapitel 3

»Moin«, brummte Steen, als er die Küche betrat und sich auf einen der Stühle am Küchentisch fallen ließ. Er wirkte unausgeschlafen, sein Haar war vom Duschen noch feucht.

»Moin, mein Junge! Du bist früh dran heute.« Onno Larsen schraubte den Deckel der Thermoskanne auf und ließ Kaffee in die bereitgestellte Tasse laufen. »Trink erst mal einen ordentlichen Schluck, der weckt die müden Lebensgeister. Und dann iss!«

»Mir bleibt nicht viel Zeit zum Frühstücken, ich muss zum Training«, gab der junge Mann zurück und setzte den dampfenden Becher vorsichtig an die Lippen, während er mit der anderen Hand in den Brotkorb griff.

»Hier wird ordentlich gegessen. Schließlich brauchst du Kraft und Energie, wenn du den feinen Pinkeln vom Festland Paroli bieten willst!«

»Lass gut sein, Opa! Ich verhungere schon nicht. Außerdem nehme ich an einem Wettbewerb teil und ziehe nicht in den Krieg«, erwiderte Steen und legte eine Scheibe Käse zwischen die beiden Hälften des Brötchens, bevor er es zuklappte und hineinbiss.

»Wie du meinst. Ich will nur dein Bestes.«

Eine Weile saßen sich die beiden Männer über ihre Teller gebeugt gegenüber, ohne ein Wort miteinander zu wechseln.

»Was ist denn mit dir passiert?« Steen hatte den Kopf gehoben und seinen Großvater zum ersten Mal an diesem Morgen richtig ins Antlitz gesehen. Nun ruhte sein Blick auf dessen Gesicht, in dem eine erhebliche Schramme zu erkennen war. Schorf hatte sich an der Stelle gebildet, umgeben von einer blauvioletten Verfärbung.

Doch Onno Larsen winkte ab. »Keine große Sache, ich habe mich unglücklich gestoßen.«

»Wobei?«, hakte Steen nach.

»Wie gesagt, kein Drama«, wich sein Großvater der Frage aus.

»Verdammt!« Steen schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, sodass das Geschirr klapperte und sein Großvater erschrak. »Hör endlich auf damit! Du machst alles nur schlimmer. Oma wird nicht wieder lebendig, sieh das doch endlich ein!« Mit diesen Worten sprang er abrupt auf, schnappte sich den letzten Bissen Brötchen und verließ hastig die Küche.

»Steen! Junge! Warte!«, versuchte Onno Larsen, seinen Enkel aufzuhalten, aber der junge Mann hatte das Haus bereits verlassen, was durch die lautstark ins Schloss krachende Haustür bestätigt wurde. Onno Larsen stieß einen lang gezogenen Seufzer aus und begann, den Frühstückstisch abzuräumen. Wenn sich nicht bald etwas änderte, würde er auch noch seinen Enkel verlieren, das war ihm bewusst. Das zu verhindern, lag allein in seiner Hand.

Auf der Westerländer Promenade knatterten bunte Fahnen im Wind und zerrten an ihrer Befestigung, als wollten sie sich mit aller Macht von ihren Fesseln befreien. Musik dröhnte vielerorts aus den aufgestellten Lautsprechern. Überall entlang der Eventmeile waren Zelte und Buden aufgestellt, in denen neben Speisen und Getränken auch Bekleidung und Surfzubehör angeboten wurden – eine abwechslungsreiche Mischung mit Festivalcharakter und Urlaubsfeeling. Neugierig drängten sich Besucherströme durch die enge Gasse. Der diesjährige Kitesurf-Cup stand unmittelbar vor der Eröffnung. Hier und dort wurde noch bis zur letzten Minute Hand angelegt, damit alles passte. Außerdem wurde für ausreichend Lebensmittel und Getränke für den starken Besucheransturm der nächsten Zeit gesorgt. Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite, vom strahlend blauen Himmel schien die Sonne, und der Wind wehte kräftig aus Westen. Wenn man den Meteorologen Glauben schenken durfte, sollte diese Wetterlage auch in den nächsten Tagen Bestand haben. Somit konnten sich sowohl Teilnehmer als auch Zuschauer auf optimale Voraussetzungen für einen spannenden und erstklassigen Wettkampf freuen.

»Moin, Steen!«

»Moin, Leonie! Hey, Emma! Was ist passiert? Warum ist die Polizei hier?«

»Hast du es nicht gehört? In den Container von Kilian wurde eingebrochen. Jemand hat das Schloss geknackt«, erklärte die junge Frau aufgeregt.

»Wurde etwas geklaut?«, wollte Steen wissen und reckte seinen Kopf in die Richtung der Menschenansammlung. Neben der Polizei hatten sich Schaulustige um den Tatort herum versammelt.

»Das weiß ich nicht. Ich habe Kilian bislang nicht gesprochen. Da hinten ist er!«

Steen war gerade im Begriff, sein Fahrrad abzuschließen, als ein junger Mann wütend auf ihn zustürmte.

»Hey, Larsen! Was hast du dir dabei gedacht?«, schleuderte er ihm aufgebracht entgegen.

»Beruhig dich! Wovon genau sprichst du?«, gab Steen unbeeindruckt zurück.

»Tu nicht so scheinheilig! Wenn du glaubst, mich mit der Nummer ausbremsen zu können, um dir einen Vorteil zu verschaffen, hast du dich gewaltig geschnitten. Da musst du schon andere Geschütze auffahren, Larsen!« Am liebsten hätte er seinen Kontrahenten am Kragen gepackt, doch in Anbetracht der Polizeipräsenz in der Nähe gab er seinem Impuls nicht nach.

»Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Und jetzt lass mich in Ruhe.« Mit diesen Worten drehte Steen ihm den Rücken und verschwand im Inneren des Surfclubs.

Kilian wollte zu einer Antwort ansetzen, entschied sich jedoch im letzten Moment dagegen und begab sich zurück zum Strand.

»Glaubt Kilian ernsthaft, du hättest mit dem Einbruch zu tun?«, fragte Leonie, die Steen wie ein Schatten gefolgt war. »Warum solltest du so etwas machen? Ihr seid zwar Konkurrenten beim Kiten, aber keine Feinde.«

Steen zuckte lediglich die Schultern. »Frag ihn!«

»Außerdem bekommt er sowieso eine neue Ausrüstung von seinem Sponsor zur Verfügung gestellt für den Fall, dass tatsächlich etwas gestohlen sein sollte. Wozu dann eben dieses Theater?«, überlegte sie weiter, wobei sich auf ihrer Stirn mehrere Falten bildeten. »Emma und ich finden es ohnehin eine Frechheit, dass die Firma ›Kitetex‹ ihn unterstützt und nicht dich. Schließlich stammst du von der Insel, und Sylter Unternehmen sollten in erster Linie ihre eigenen Talente fördern und nicht irgendwelche fremden Sportler. Findest du nicht auch? Das ist total ungerecht! Ich an deiner Stelle würde mir das von diesem aufgeblasenen Schröder nicht bieten lassen. Emma sieht das genauso und einige andere auch«, ereiferte sie sich. Ihre Freundin nickte zustimmend.

»Ach ja? Und was sollte ich eurer Meinung nach bitteschön tun?«

Leonie wartete kurz, bevor sie antwortete. »Na ja. So genau weiß ich das auch nicht, aber wenigstens würde ich …«

»Lass gut sein, Leonie! Das ist nett gemeint, dass du mir helfen willst, aber du brauchst dir wirklich nicht meinen Kopf zerbrechen. Ich komme gut allein klar«, gab Steen der jungen Frau deutlich zu verstehen, dass er nicht gewillt war, das Thema weiter zu vertiefen. Stattdessen schnappte er sich seinen Neoprenanzug und ging sich umziehen.

Die Tür öffnete sich derart schwungvoll, dass sich Uwe vor Schreck gehörig an seinem Salamibaguette verschluckte und augenblicklich einen Hustenanfall bekam.

»Guten Morgen, Herr Wilmsen! Habe ich Sie etwa erschreckt? Dann tut es mir leid. Das war ganz und gar nicht meine Absicht«, entschuldigte sich Staatsanwalt Matthias Achtermann.

Ein kurzes Anklopfen wäre nett gewesen, dachte Uwe, behielt den Gedanken jedoch für sich. »Geht schon wieder«, presste er stattdessen hervor. Mit dem Handrücken wischte er sich die letzten Tränen aus den Augen und erhob sich anschließend, um seinem Besucher zur Begrüßung die Hand zu reichen.

»Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn Ihnen meinetwegen etwas zustoßen würde. Sie sind einer meiner wichtigsten Mitarbeiter«, säuselte er.

Uwe rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Herr Achtermann?« Seine Stimme klang noch eine Spur rau.

Der Blick des Staatsanwaltes richtete sich zu der Kaffeemaschine auf der Fensterbank, der man deutlich ansah, dass sie schon einige Dienstjahre auf dem Buckel hatte.

»Nein, haben Sie vielen Dank. Ich habe vorhin ausgiebig gefrühstückt. Von zu viel Kaffee bekomme ich Sodbrennen. Meines Erachtens ist es allerdings höchste Zeit, sich über die Anschaffung einer neuen Maschine Gedanken zu machen. Diese dürfte mittlerweile ein nicht zu unterschätzendes Sicherheitsrisiko darstellen.« Er deutete mit skeptischer Miene zu dem Haushaltsgerät.

»Ich kann Ihre Bedenken gern weitergeben«, bot Uwe an.

»Ich werde mich persönlich für eine Neuanschaffung einsetzen. Melden Sie sich, falls es diesbezüglich Schwierigkeiten geben sollte, ich werde das regeln«, versprach Achtermann und sah äußerst zufrieden aus.

»Hm«, brummte Uwe vor sich hin. Achtermann hätte den Raum kaum verlassen, da würde er sein großzügiges Versprechen längst vergessen haben, davon war er überzeugt.

»Wie mir mitgeteilt wurde, ist heute Morgen ein Toter gefunden worden? Wo war das noch mal genau?«

»In Hörnum im Hafenbecken.«

»Richtig, in der Nähe des Golfplatzes. Sie gehen mittlerweile von einem Gewaltverbrechen aus?«

»Wir können es jedenfalls nicht völlig ausschließen. Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht eindeutig sagen. Die Leiche weist Verletzungen auf, die sowohl von dem Sturz ins Wasser als auch durch äußere Gewalteinwirkung durch Dritte herrühren können. Sobald Dr. Luhrmaier die Obduktion abgeschlossen hat, können wir sicher sagen, ob es sich um einen Unfall oder tatsächlich um Fremdverschulden handelt«, erklärte Uwe.

»Bitte halten Sie mich in jedem Fall auf dem Laufenden.«

»Selbstverständlich, Herr Achtermann. Wie immer.«

»Schön, ich hatte nichts anderes erwartet. Ursprünglich bin ich aus einem völlig anderen Grund hergekommen«, wechselte der Staatsanwalt das Thema.

»Das dachte ich mir, dass Sie nicht wegen des Toten gekommen sind. Wo ist sie denn nun?«, hakte Uwe neugierig nach. »Ich hatte angenommen, Sie brächten die junge Dame, von der Sie neulich am Telefon gesprochen haben, gleich mit.« Insgeheim keimte Hoffnung in Uwe auf, dass der Kelch vielleicht an ihm vorbeiging, obwohl er bereits ein Gästezimmer für die junge Frau organisiert hatte. Wenn er ehrlich war, hatte er weder Zeit noch Lust, den Babysitter für die Tochter eines Bekannten von Achtermann zu spielen. Tagsüber würde sie ihrem Praktikumsjob nachgehen, aber nach Feierabend oder abends würde er ein Auge auf sie haben müssen. Ausgerechnet jetzt war Tina nicht da. Seine Frau war derzeit zur Kur in Bad Salzuflen, sodass er für die nächsten vier Wochen auf sich allein gestellt war. In dieser Zeit hatte er sich viel vorgenommen und eigens eine Liste zusammengestellt mit Dingen, die er erledigen wollte, bevor Tina nach Hause kam. Und nun kam ihm dieser Todesfall dazwischen, dessen Ausmaß aus ermittlungstechnischer Sicht in keiner Weise abzusehen war. Er stöhnte innerlich.

»Doch, doch«, bekräftigte Achtermann und riss sein Gegenüber aus seinen Gedanken. »Ich habe sie im Hotel abgesetzt. Anschließend wollte Juna sich zunächst die Westerländer Innenstadt ansehen, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen«, fuhr er mit seinen Ausführungen fort. »Sie war noch nie auf Sylt. Ich habe mir überlegt, sie beide heute bei einem gemeinsamen Abendessen miteinander bekannt zu machen. Was halten Sie von dem Vorschlag? Grandiose Idee, nicht wahr?«

»Hervorragend«, bestätigte Uwe. »Aber wieso wohnt sie im Hotel? Ich habe mich um ein Zimmer für sie gekümmert. Darum hatten Sie mich ausdrücklich gebeten«, erinnerte ihn Uwe, und leichter Ärger stieg in ihm auf.

»Ein Zimmer?« Nun war es Matthias Achtermann, der überrascht wirkte. »Ich glaube, da habe ich mich im Vorfeld missverständlich ausgedrückt. Bei der jungen Dame handelt es sich um die Tochter von Anders Skjellberg.« Uwe sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an. »Der Generalstaatsanwalt Skjellberg. Daher kann sie unmöglich in einem einfachen Zimmer untergebracht werden. Hatte ich das in unserem Gespräch unerwähnt gelassen?«

»Sieht ganz danach aus«, erwiderte Uwe mit zerknirschter Miene. In diesem Fall gab er sich keine Mühe, mit seiner Verärgerung hinter dem Berg zu halten. Offensichtlich war das von ihm ausgewählte Quartier nicht gut genug für die Dame. Uwe konnte sich glücklich schätzen, überhaupt eine Unterkunft über einen längeren Zeitraum ergattert zu haben, schließlich befanden sie sich mitten in der Hauptsaison und sämtliche Unterkünfte waren restlos ausgebucht.

»Oh, dann habe ich das wohl vergessen. Auf jeden Fall bewohnt Juna einige Tage ein Hotelzimmer, bis die Ferienwohnung frei ist, die ihr Vater für sie organisiert hat«, ließ Staatsanwalt Achtermann ihn wissen. »Für heute Abend habe ich einen Tisch für uns bestellt, dann können Sie sie kennenlernen. Ich dachte, das wäre mal wieder eine perfekte Gelegenheit, die hervorragende Sylter Küche zu genießen. Oder Herr Wilmsen?« Er bekam einen hochzufriedenen Gesichtsausdruck.

»Super«, knurrte Uwe, als sein Telefon klingelte und ihn somit vorerst vor weiteren phänomenalen Ideen des Staatsanwaltes bewahrte. »Da muss ich rangehen, das ist der Kollege Scarren«, setzte er eine entschuldigende Miene auf und griff dankbar nach dem Hörer, ohne eine Antwort abzuwarten.