Über das Buch

Die 13-jährige Lea fällt aus allen Wolken, als sie entdeckt, dass ihre Mutter eine heimliche Pferdenärrin ist. Ausgerechnet Pferde! Für die hatte Lea noch nie etwas übrig. Und dann lässt sie sich auch noch zu einem Mutter-Tochter-Reitkurs überreden. Schon bald stellt sie jedoch fest, dass Reiten wirklich Spaß machen kann, und sie hat nur noch ein Ziel: ihr Traumpferd Joker! Aber erst nach dem Besuch einiger unseriöser Reitschulen kann Lea ihre Mutter überreden, dass sie ein eigenes Pferd braucht. Dumm nur, dass Joker so teuer ist ...

Über die Autorin

Christine Gohl, Jahrgang 1958, war nach einem Pädagogik- und Psychologiestudium zunächst als Werbetexterin und Reiseleiterin tätig, dann als Journalistin und Fachautorin zum Thema Pferde und Reitsport. Nach vielen Erfolgen im Sach- und Jugendbuchbereich ist »Indalo« ihr erster großer historischer Roman. Die Autorin lebt seit einigen Jahren in Mojácar, Andalusien.

Christiane Gohl

Lea und Joker

Zwei Herzen im Wind

BASTEI ENTERTAINMENT

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Das Glück der Erde

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Die Chance meines Lebens

Es geschah aus heiterem Himmel. Oder eigentlich doch nicht. Wenn ich richtig darüber nachdenke, gab es von Anfang an Warnsignale. Ich hatte sie nur ignoriert. Als Dreijährige zum Beispiel wünschte ich mir ein Bobbycar. Was aber kaufte meine Mutter? Ein Schaukelpferd. Und während die anderen Kinder in schnittigen roten oder blauen Kleinwagen herumflitzten, musste ich sehen, wie ich dieses sperrige Teil irgendwie vorwärtskriegte. Die Schleifspuren auf dem Parkett in unserem Wohnzimmer sind bis heute zu besichtigen.

Später bekam ich dann ein Barbiepferd und eine ganze Anzahl seltsamer Gummimonster mit pinken und hellblauen Locken, die unter der Bezeichnung »Mein süßes Pony« zum Kämmen, Föhnen und Einlegen der »Mähne« einladen sollten. Leider zeigte ich keine Friseurambitionen, und als ich dem ersten die Haare einfach abschnitt, endete diese Episode. Nicht aber die unauffällige Manipulation Richtung Pferd. Als ich mich für Dinosaurier interessierte, erhielt ich ein Buch über frühe Säugetiere: »Guck mal, und das war das Urpferdchen! War das nicht süß?«

Wie gesagt, ich hätte gewarnt sein sollen. Aber im entscheidenden Augenblick gelang es meiner Mom dann doch, mich vollständig zu überraschen. Es war an einem Montagabend, und ich schaute harmlos ein bisschen fern, als sie hereinkam und beiläufig eine Zeitung auf den Tisch legte.

»Interessiert dich das?«, fragte sie und wies auf die Quizsendung im Fernsehen.

Ich zuckte die Achseln. Natürlich konnte ich mir Prickelnderes vorstellen. Zum Beispiel eine ausführliche Reportage über meine Lieblingsband: »Tierpension«. Nicht dass ich deren Entwicklung von der musikalischen Früherziehung bis zur Bambi-Verleihung nicht schon in jeder Einzelheit kannte. Aber ich konnte ihnen nicht nur stundenlang zuhören, sondern sie auch endlos ansehen. Vor allem Nico Chico, den Leadsänger … und Bombo, den Drummer … Aber ich schweife ab. Wenn ich jetzt anfange, von »Tierpension« zu schwärmen, bin ich morgen früh noch nicht beim Thema Pferd. Doch an diesem Montag hoffte ich auf Nico Chicos Auftritt in der Show – und tat mir deshalb auch die schwachsinnigen Quizteile an.

Jedenfalls protestierte ich nicht, als Mom jetzt entschlossen den Ton abdrehte. »Ich mache mir manchmal ein bisschen Sorgen um dich …«, verfiel sie plötzlich in einen ernsthaften Tonfall.

Das war mir bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht aufgefallen. Eigentlich bin ich kein Problemkind. Ich habe halbwegs gute Noten und spiele brav ein bisschen Klavier oder lieber Keyboard – schließlich will ich mich ja über irgendwas mit Nico unterhalten können, falls ich ihn mal treffe. Ich habe Freunde, Hobbys, eigentlich bin ich völlig normal.

»Dieses dauernde Herumhängen vor der Glotze zum Beispiel«, führte meine Mutter aus. »Das ist nicht gesund.«

Ich sah verwirrt auf die Uhr. »Was soll ich denn sonst machen?«, erkundigte ich mich. »Es ist halb zehn. In einer halben Stunde schickst du mich ins Bett.«

»Ich meine ja nicht jetzt«, schränkte Mom ein. »Sondern ganz allgemein. Außerdem: Findest du nicht, dass wir beide in der letzten Zeit ein bisschen wenig zusammen unternehmen?«

Ich runzelte die Stirn. Am Samstag waren wir mit der ganzen Familie im Kino gewesen. So ein witziger Film mit Computeranimation. Hatte sogar meinem kleinen Bruder gefallen. Und gestern hatten Mom und ich gemeinsam gekocht. Noch mehr Familie an einem Wochenende hätte ich echt ungesund gefunden!

»Weißt du, was ich denke?«, fragte Mom betont fröhlich. »Wir beide brauchen ein Hobby!«

»Haben wir doch«, bemerkte ich und drehte den Ton lauter. Vielleicht kam jetzt ja »Tierpension«. »Kochen zum Beispiel.«

Meine Mutter und ich kochen regelmäßig gemeinsam. Nicht einfach so »Spiegelei vorwärts und rückwärts«, sondern richtig anspruchsvoll.

»Gerade die Kocherei …«, meine Mutter spielte mit der Zeitung, »… beunruhigt mich. Findest du nicht, dass wir in der letzten Zeit ein bisschen … äh … dick werden?«

Jetzt drehte sie völlig durch. Meine Mutter ist dünn wie eine Bohnenstange, sie hat früher sogar mal als Model gearbeitet. Und was mich angeht: Ich würde mir fast ein paar Rundungen mehr wünschen. Im Brustbereich zum Beispiel. Da ist bei mir Flachland.

»Jedenfalls dachte ich an einen Sport!«, preschte Mom jetzt vor. »Hier, was hältst du davon?«

Begeisterung heischend hielt sie mir die Zeitung hin.

»Sie träumen von Pferden? Sie wollten immer schon Reiten lernen, aber es bot sich einfach keine Möglichkeit? Und jetzt fragt Ihre Tochter nach Reitstunden? Ergreifen Sie Ihre Chance! Unser ›Mutter-Tochter-Arrangement‹ bietet den idealen Einstieg in den Reitsport. Reiterverein Wienberg, Hohenrehburg, Am Wäldchen.«

Den Reitstall kannte ich. Ein paar Mädchen aus meiner Klasse verbrachten da ihre ganze Freizeit, um sich von Pferden im Kreis herumtragen zu lassen und im Mist zu wühlen. Aber mich zog es ehrlich gesagt nie in die Nähe von Tieren, die größer waren als ein Dackel.

»Hab ich nach Reitstunden gefragt?«, erkundigte ich mich misstrauisch.

Man liest ja schon mal von »multiplen Persönlichkeiten«. Vielleicht bin auch ich ein wenig gespalten? Oder sollte ich schlafwandeln?

»Ach komm, Lea, alle Mädchen lieben Pferde!«

»Ich liebe Nico Chico«, erklärte ich mit verklärtem Lächeln.

»Tierpension« erschien eben auf der Mattscheibe, und Nico begann mit seinem Song »Engelshaar«. Darin schwärmte er von einem Mädchen mit langem, weichem, lockigem Blondhaar. Meins war leider kurz, dunkelrotbraun und struppig. Aber es war ja nur ein Lied. Sicher hatte ihm irgendjemand anders den Text aufgedrückt, und in Wirklichkeit träumte er von einem Mädchen mit rundem Gesicht und Pickeln, ohne Busen, dafür mit Spargelbeinen. Gut, das war unwahrscheinlich. Aber er war ein ernsthafter Junge. Und ich hatte innere Werte.

»Das ist keine Liebe, das ist Schwärmerei!«, entschied meine Mutter, während Nico Chico über die Bühne tobte.

Zwischendurch zeigten sie Bombo in Großaufnahme – was hatte er da für ein süßes Tattoo über der rechten Augenbraue! War das ein Einhorn? Und bei Nico Chico galoppierte es über die Nasenwurzel. Cool! Aber bestimmt nicht eintätowiert, sondern aufgeklebt. Ob es die Dinger wohl irgendwo zu kaufen gab?

»Ein Pferdetattoo!«, bemerkte meine Mutter. »Niedlich!«

Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu. Bisher gehörte der Gedanke, ich könnte mich tätowieren lassen, eher zu ihren Albträumen.

»Du, wenn es die Dinger irgendwo zu kaufen gibt, kleben wir uns vor der ersten Reitstunde beide eins an!«

So langsam fand ich die Sache bedenklich.

»Du meinst das ernst?«, erkundigte ich mich, als sich »Tierpension« unter dem Gekreische der beneidenswerten Mädchen im Fernsehstudio zurückzog und der Quizmaster wieder den Bildschirm übernahm. »Du willst wirklich reiten?«

Mami nickte.

»Warum machst du’s dann nicht einfach?«, fragte ich. »Ich meine … wozu brauchst du mich dafür?«

Meine Mutter kaute auf ihrer Unterlippe herum. So verlegen hatte ich sie selten erlebt. Dies war wirklich ein Abend der Überraschungen.

»Na ja, weil … es sieht doch ein bisschen komisch aus … in meinem Alter in der Reitschule … die anderen Anfänger sind schließlich alle höchstens dreizehn …«

Die meisten waren noch jünger. Die Pferdeverrückten in meiner Klasse waren durchweg bereits seit zwei oder drei Jahren dabei und gänzlich abgedreht. Die wachten mit dem Gedanken an Pferde auf und gingen damit schlafen – und statt einem Poster von Nico Chico hingen irgendwelche Bilder von wilden Hengsten über ihren Betten.

»Gibt’s nicht so was wie Seniorenreitstunden?«, überlegte ich – und trat damit voll ins Fettnäpfchen. Meine Mutter blitzte mich empört an.

»Soooo alt bin ich nun auch wieder nicht. Im Grunde ist es genau wie in der Anzeige beschrieben … ich habe immer von Pferden geträumt, und nun …«

»Nun hast du eine Tochter, der die Viecher herzlich egal sind. Mein Beileid. Vielleicht kannst du mich ja noch umtauschen.«

Ich war jetzt auch etwas knatschig. »Jedenfalls setze ich mich garantiert nicht deinetwegen auf so ein lebensgefährliches Tier. Ich habe Höhenangst, ich brauche Bodenhaftung.«

Von meiner Seite aus war die Sache damit erledigt. Aber meine Mutter lächelte sadistisch. »Wetten, dass du gleich anders darüber denkst«, bemerkte sie mit einem Gesicht wie unsere Katze, wenn sich der Dosenöffner in die Whiskasdose gräbt. »Schließlich bist du doch … äh … ›tierlieb‹. Und die hier kann ich durchaus noch umtauschen.«

Theatralisch zog sie zwei Konzertkarten aus der Hosentasche. Mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. »Tierpension«! Nächste Woche in Düsseldorf.

»Und das ist nicht alles«, fügte Mom hinzu. »Ich hab mit der Konzertveranstalterin gesprochen. Dein Nico Chico empfängt ein paar Mädchen backstage. Die Siegerinnen von so einem Preisausschreiben. Zwei mehr würden da gar nicht auffallen …«

Meine Mutter arbeitet in einem Reisebüro, das auch Konzertkarten vertreibt. Wahrscheinlich hatte sie die kostbaren Tickets umsonst oder doch stark verbilligt bekommen. Und jetzt nutzte sie das, um mich zu erpressen. Sie hat einen schlechten Charakter.

Ich besann mich ebenfalls auf fragwürdige Erbanlagen und begann zu handeln. »Also gut. Wie viele Reitstunden?«

»Zehn für die Karten«, erklärte meine Mutter. »Und zwanzig für Nico Chico von Angesicht zu Angesicht.«

»Dreißig Stunden? Bist du verrückt? Bei einer Stunde pro Woche sind das siebeneinhalb Monate!« Ich war entsetzt.

»Stimmt, das ergibt eine ungerade Zahl«, meinte Mom ungerührt. »Sagen wir 32 Stunden. Dann sind es insgesamt acht Monate. Bis dahin liebst du Pferde!«

Mir fehlten die Worte, was selten vorkommt. Aber mit diesem Deal musste ich erst mal fertigwerden. Das Treffen mit Nico konnte höchstens eine Viertelstunde dauern. Und dafür sollte ich mich acht Monate schinden? War es das wert?

Natürlich war es das wert! Es war schließlich die Chance meines Lebens. Wenn sich Nico in mich verliebte … Wenn »der Himmel Feuer spie« wie in seinem Lied, als er das Mädchen zum ersten Mal sah … Dann würde sich sowieso alles ändern. Vielleicht würde ich ihn demnächst auf Tournee begleiten – irgendwas machen … wobei mir auf Anhieb nicht allzu viel einfiel. Als Kostümbildnerin falle ich aus. Sobald ich eine Nadel anfasse, fließt Blut. Gitarren stimmen kann ich auch nicht – mein Musiklehrer bestätigt mir immer wieder das Gegenteil des absoluten Gehörs, aber das diagnostiziert er bei allen Fans von »Tierpension«. Und eine Köchin wäre an die Jungs verschwendet. Nico Chico ernährt sich von Hamburgern und Schokoriegeln … Aber letztlich waren das müßige Überlegungen. Wenn er sich in mich verliebte, würde sich schon ein Platz für mich finden. Ich musste nur an ihn rankommen!

»Achtzehn Stunden für den Backstage-Besuch. Also insgesamt sieben Monate«, machte ich meinen Gegenvorschlag. »Komm, Mommi, ich backe dem Gaul auch ’ne Möhrentorte!«

Letzteres schien sie zu überzeugen. Tortenbacken ist schließlich ein Liebesbeweis.

Mom nickte. »In Ordnung. Nächsten Dienstag geht’s los … Drei Uhr, um halb fahren wir los. Wird dir bestimmt Spaß machen!«

Ich fuhr auf. »Aber das Konzert ist erst am Freitag!«, protestierte ich. »Können wir nicht nächste Woche …?«

Meine Mutter schüttelte energisch den Kopf. »So was nennt man Vorkasse!«, erklärte sie. »Außerdem habe ich uns schon angemeldet. Gib dir keine Mühe, Lea, da kommst du nicht mehr raus!«

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Hoch zu Presslufthammer

»Den Teufel werde ich tun und das hier anziehen! Warum kann ich nicht einfach in Jeans reiten? Und Turnschuhen? Ich hab seit dieser Wattwanderung keine Gummistiefel mehr getragen. Gummistiefel sind uncool!«

Es war Dienstag, und ich starrte voller Entsetzen auf die Klamotten, die meine Mutter mir für die erste Reitstunde herausgesucht hatte.

Keine Ahnung, wo sie diese himmelblauen Leggins aufgetrieben hatte. Ob so was in ihrer Jugend vielleicht mal in war und sie die aus sentimentalen Gründen nicht weggeschmissen hatte? Hatte sie vielleicht ihren ersten Kuss in diesem Teil bekommen? Nein. Unmöglich. Niemand küsste ein Wesen in babyblauen Leggins mit zartgelben Tupfen.

Und dann diese Gummistiefel. Letztes Jahr waren wir auf Klassenfahrt in Norddeich, und unsere Lehrer bestanden auf eine Wattwanderung. Insofern hatten sich sogar die coolsten Mädchen in solche Teile gequält – selbst Jenny Rohde, die schon zweimal einen Freund hatte. Wobei Jenny allerdings hochhackige Gummistiefel aufgetrieben hatte, weiß der Himmel, wo. Sie waren ein voller Erfolg, bis sie sich damit im Schlick auf die Klappe legte … Aber an spektakuläre Stürze wollte ich heute besser gar nicht denken.

»Also schön, Jeans. Aber Gummistiefel! Reiten in Turnschuhen ist gefährlich!« Meine Mutter war gut gelaunt und insofern kompromissbereit. Außerdem trug sie selbst enge Jeans, anscheinend hatten sich keine Liebestöter in ihrer Größe gefunden. Dazu führte sie echte Reitstiefel spazieren. Auch aus Gummi, aber längst nicht so uncool wie meine Treter.

»Sie waren ganz billig …«, meinte Mom verlegen. Mir schwante Schreckliches. Sie musste es ernst meinen. Gewöhnlich investiert sie kein Geld in unsichere Sachen, und Reitstiefel kann man nun wirklich zu nichts anderem als zum Reiten gebrauchen.

»Hier, die hab ich auch nicht vergessen!« Fast verlegen zog sie ein Heftchen mit Klebe-Tattoos aus der Tasche – und rettete mir damit den Tag! Auf der Packung prangte ein Bild von Nico Chico mit Einhorn.

»Die sind ja süß!«, begeisterte ich mich. »Lizenziert von ›Tierpension‹! Aber sie sind noch gar nicht auf der Fan-Seite, und …«

»Ich hab halt Beziehungen«, meinte Mom geheimnisvoll. »Und nun mach, kleb dir eins auf und dann geht’s los!«

Sie selbst schien nun doch auf das Tattoo verzichten zu wollen. Mir sollte das recht sein. An Müttern wirkt so was ja eher peinlich. Außerdem hatte ich so mehr für Glory und mich. Glory ist meine beste Freundin. Ich würde sie mit zum Konzert nehmen, und als kleines Dankeschön hatte sie mir gestern zwei Pferdebücher mitgebracht. Ihre Schwester reitet und besitzt eine halbe Bibliothek zum Thema Pferd. Zuerst hielt ich das ja für einen ziemlich schlechten Scherz, aber Glory meinte, ich solle nicht komplett unvorbereitet an die Sache herangehen. Pferde seien schließlich gefährlich, sie könnten vorn beißen und hinten ausschlagen. Darüber war ich dann fast ein bisschen gerührt. Wenigstens eine sorgte sich um mich, wenn meine eigene Mutter mich schon fahrlässig der Tiergefahr aussetzte. Aber wahrscheinlich hatte Glory auch nur eigensüchtige Gründe. Wenn die Gäule mich am Dienstag umbrachten, musste sie am Freitag zu meiner Beerdigung, und das Konzert fiele ins Wasser.

Letztendlich hatte ich ein niedliches Einhorn über meiner Augenbraue platziert und war mit meiner Erscheinung einigermaßen zufrieden. Die zartgrüne Glitzerwolke, auf der das Einhorn dahingaloppierte, passte zu meinen grünbraunen Augen und dem grünen Lidschatten, den ich sicherheitshalber aufgetragen hatte. Schließlich weiß man nie, wo einem der Traumboy begegnet. Meine rotbraunen Haare hatte ich mit etwas Gel bearbeitet und in zwei neckischen Büscheln hochgebunden. Die standen nun vergnügt vom Kopf ab, und ich sah den braven Dressurreiterinnen auf den Fotos in dem Buch von Glorys Schwester nicht ein winziges bisschen ähnlich. Das baute mich auf. Niemals wollte ich in einem derart traurigen, schwarz-weißen Outfit mit Oma-Haarknoten durch die Gegend reiten – wobei die Mädels auch nicht aussahen, als machte das Spaß. Stattdessen guckten sie ernst bis hochnäsig. Garantiert würde ich in den folgenden Monaten nicht zu einem solchen Wesen mutieren, das stand fest!

In Jeans, Sweatshirt und Schlick-Tretern folgte ich meiner Mutter schließlich unwillig zum Auto. Es war nicht weit bis zur Reitschule. Glorys Schwester pflegte den Weg mit dem Fahrrad zurückzulegen. Täglich. Und oft sogar zweimal. Wenn sie ausmisten durfte, war sie im siebten Himmel. Ich war fest entschlossen, dass mir so etwas nicht passieren würde. Ich war normal. Ich mochte keine Pferde. Ich mochte Jungs.

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Allerdings gibt es auch unter männlichen Wesen echte Flops. Einer davon stieg gerade mit seinem Papi aus dem Auto, als meine Mutter auf den Hof des Reitstalls fuhr. Und wenn alle Typen hier so aussahen, verstand ich plötzlich, warum die Mädels Pferde vorzogen! Der Junge war rundlich – na ja, nicht fett, eher so kompakt –, ein bisschen wie Bombo von »Tierpension«. Aber nichts von dessen Bärchen-Charme oder gar von coolem Outfit! Der Typ trug eine Trainingshose, die an den Knien verbeult war und auch im hinteren Bereich erfolgreich den Eindruck erweckte, als verstecke er darunter eine volle Windel. Dazu führte er ähnlich grässliche Gummistiefel spazieren wie ich, aber seine waren obendrein schwarz-gelb kariert. Meine waren nur rosa. Der Junge warf einen Blick darauf und schaute mich anschließend fast mitleidig an. Meine Mutter grüßte seinen Vater. Ganz eifrig, anscheinend fand sie ihn attraktiv. Tatsächlich war er ein gänzlich anderer Typ als sein Sprössling. Groß, sportlich und muskulös. Nur das blonde Wuschelhaar und die graublauen Augen verrieten die Verwandtschaft. Ich bemühte mich, Vater und Sohn zu ignorieren.

Der Reitstall lag hübsch im Grünen, und das Wetter meinte es auch gut. Man brauchte keine Jacke. Ein Sweatshirt reichte, um nicht zu frieren. Vor meinem geistigen Auge erschien ein Prinz auf einem Schimmel. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, über Sommerwiesen zu galoppieren – und Pferde auf grünen Weiden fand ich durchaus dekorativ. Was das anging, sah es hier aber mau aus. Viel Grün, doch keine Hottehüs.

»Wo sind denn wohl die Pferde?«, fragte meine Mutter ziemlich enttäuscht, worauf ich auch keine Antwort geben konnte.

»Im Stall wahrscheinlich«, meinte der Vater des peinlichen Jungen eher desinteressiert.

Hoffentlich freundeten die zwei sich nicht an! Wenn wir da jetzt hineingingen, stießen wir garantiert auf mindestens hundert Mädchen aus meiner Schule. Wenn die glaubten, der Typ gehöre zu mir, nur weil Mom mit seinem Dad flirtete …

»Ich hab gelesen, dass man sie in Reitschulen selten rauslässt. Dabei wäre das viel besser. ›Artgerechter‹, sagt man, glaub ich«, sinnierte meine Mutter.

Der Vater des Horrortypen blickte sie ungnädig an. »Aber dies sind Turnierpferde«, bemerkte er.

Ich ging entschlossen auf die Stalltür zu. Ein riesiges Scheunentor – und daneben eine normale Tür für Menschen ohne Pferd. Drinnen war es verhältnismäßig dunkel, nach dem Frühlingssonnenlicht draußen musste ich erst mal blinzeln, bevor ich etwas erkannte. Dann sah ich auf eine breite Stallgasse, mit Pferdewohnabteilen rechts und links. Sah ein bisschen aus wie Hühner-Massenhaltung, und die Geräuschkulisse passte auch. Mindestens zehn Mädchen gurrten und säuselten auf ein paar riesige Pferde ein, die sie vor ihren Ställen angebunden hatten. Zwischendurch tauschten sie sich in einer Art Fremdsprache mit ihren Freundinnen aus.

»Ich hasse ja das Martingal. Aber er pullt dann weniger.«

»Ja, gerade beim Springen. Man muss ihn sonst derart runterriegeln …«

Von meiner Mutter und mir nahmen die Mädchen keine Notiz, wahrscheinlich hatten sie alle mal mit rosa Gummistiefeln angefangen. Jetzt steckten sie allerdings durchweg in knallengen Reithosen und hohen schwarzen Stiefeln. Als der Knabe in den Schlabberhosen durch den Stall stolperte, folgten ihm dafür umso mehr Blicke. Klar, ein Junge war hier ein Exot, egal, wie er aussah. Einige Mädchen kicherten, andere verdrehten die Augen, aber dann gingen sie wieder zur Tagesordnung über.

Leider machte der Daddy des Typen die Sache schlimmer.

»Wo geht’s denn hier zum Mutter-Kind-Kurs?«, erkundigte er sich bei einem der Mädchen.

Es klang, als handle es sich um eine Art Schwangerschaftsberatung. Das blonde, sehr schlanke Mädchen grinste entsprechend breit. Der Junge schien im Boden versinken zu wollen.

»Ich glaube, das macht Frau Witt im alten Stall. Da müssen sie noch mal über den Hof, das gleiche Gebäude wie die Reithalle. Jedenfalls haben wir da schon zwei Mädchen hingeschickt.«

Immerhin gab die Blonde höflich Auskunft. Sie sah auch sonst ziemlich brav aus, ihr Haar hatte sie zu einem artigen Zopf im Nacken geflochten.

Ich überlegte, ob die beiden Mädchen wohl ohne Mütter gekommen waren oder ob Erwachsene hier einfach übersehen wurden.

Letzteres schien der Fall zu sein, denn »im alten Stall« warteten bereits zwei Frauen und ihre etwa zwölf- bis dreizehnjährigen Töchter. Die Mädchen schienen sich zu kennen. Sie strichen begehrlich um ein gesatteltes Holzpferd herum, das hier in einem Vorraum der Halle auf Reiter zu warten schien. Vorher hatten wir einen weiteren Hühnerstall mit Pferden durchquert, noch dunkler als der vorige. Ob das einschläfernd auf die Vierbeiner wirkte? So wie das Tuch über dem Papageienkäfig? Irgendeinen Grund musste es jedenfalls haben, dass die Fenster hier winzig und in luftiger Höhe von mindestens 2 Meter 50 angebracht waren.

Die Frauen grüßten, als wir hinzukamen, wobei sie besonders den einzigen Mann in der Runde einer interessierten Musterung unterzogen.

Ich dagegen checkte eher das Outfit der anderen Mädchen. Beide trugen Jeans, eine Gummistiefel, die andere Turnschuhe. So gesehen lag ich richtig. Allerdings hatten sich die beiden sonst bemüht, dem Erscheinungsbild der Reiterinnen in den Büchern möglichst nahezukommen. Sie trugen traurige schwarze Pullis, und eine hatte sogar versucht, ihre blonden Haare zum Knoten hochzustecken. Die andere hatte kurzes braunes Haar und war rundlicher als ihre Freundin.

Ich beschloss, in die Offensive zu gehen, bevor sie den Eindruck bekamen, der Junge gehöre zu mir.

»Hi, ich bin Lea.«

Die Mädchen lächelten.

»Marie«, stellte sich die Blonde vor. Sie schien die Aktivere zu sein – hyperaktiv, wie sich später herausstellte. Marie konnte keine Minute still stehen und hörte eigentlich nie auf zu reden – es sei denn, ihre ebenso gesprächige Mutter beschallte die Gemeinde. »Und das ist Anna, meine Freundin.«

Anna war ruhiger. Maries Dauergequassel ließ sie an sich ablaufen wie Wasser am Friesennerz.

»Du hast ein lustiges Tattoo«, bemerkte sie. »Tierpension?«

Anna und ich schienen Gemeinsamkeiten zu haben. Ich fing an, von meiner Audienz bei Nico Chico zu berichten, wozu wir etwas von den Erwachsenen abrückten. Auch den Jungen übersahen wir demonstrativ.

Der ließ sich jedoch nicht abschrecken.

»Ich bin Thorsten«, sagte er kurz.

Bevor das darauffolgende Schweigen allzu peinlich wurde, erschien eine junge Frau in Reithosen. Sie hatte ein rundes Gesicht und kurzes braunes Haar, hielt sich sehr gerade, wie Sportlehrerinnen das immer tun, und lächelte breit.

»Also, hier haben wir unsere Teilnehmer für den Mutter – äh … Tochter-Reitkurs …« Die junge Frau blickte etwas irritiert auf Thorsten. »Oder Vater-Sohn-Reitkurs in diesem Fall …«, verbesserte sie sich ungeschickt mit Blick auf Thorsten und seinen Erzeuger. »Ich bin Helen Witt. Reitlehrerin. Ich leite den Kurs. Aber Sie wollen bestimmt eher die Pferde sehen!«

Frau Witt strahlte, ebenso Marie und Anna. Die beiden schienen es wirklich kaum erwarten zu können. Auch meine Mutter nahm Startposition ein, als gelte es, möglichst als Erste in den Sattel zu kommen.

Frau Witt hielt sie aber noch etwas zurück.

»Ich werde sie Ihnen – und euch – gleich vorstellen. Aber vorher wollen wir uns doch untereinander noch ein bisschen näher kennenlernen …«

Frau Witt forderte uns alle auf, kurz zu erklären, wie wir auf die Idee gekommen waren, diesen Kurs zu belegen.

Anna und Marie preschten sofort vor. Die Initiative war ganz offensichtlich von ihnen ausgegangen, und sie hätten sich bestimmt auch ohne Mamis wohlgefühlt. Ihre Mütter machten allerdings beide den Eindruck, als wären sie ein bisschen »overprotective«. Ich kannte diesen Typ, meine Freundin Glory schlägt sich auch mit so was herum. Daher der Fachausdruck. Glory hat ihn aus dem Internet. Mütter dieser Art lassen ihre Kinder keine drei Sekunden aus den Klauen. Sie begleiten sie vom Kindergarten bis zum Konzertbesuch bei »Tierpension«, wobei sie nicht davor zurückschrecken, auch noch die Nacht vor der Halle zu verbringen, um vielleicht ein Autogramm für ihre Tochter zu ergattern. Je nach Typ leiden sie dabei stumm oder heucheln Begeisterung.

Maries Mutter war zum Beispiel der »Kumpeltyp«.

»Wir sind viel mehr Freundinnen als Mutter und Tochter, nicht, Marie?«, flötete sie bei der Vorstellung. »Und als Marie nun reiten wollte, dachte ich: Warum nicht auch mal so eine Erfahrung machen?«

Annas Mutter sah sich dagegen mehr als Opfer.

»Anna ist sooo unsportlich! Und jetzt diese großen Pferde. Aber man will sie ja auch nicht entmutigen. Da hab ich einfach gesagt: Anna, ich mach da mit!«

Anna und Marie guckten gleichermaßen peinlich berührt.

Das war aber noch gar nichts gegen Thorsten. Ein Junge im Mutter-Tochter-Reitkurs ist schließlich von vorneherein der Gipfel der Peinlichkeiten.

Aber nun setzte sein Daddy noch eins drauf: »Thorsten braucht einfach Bewegung!«, erklärte er kurz. »Er neigt zu Übergewicht.«

Anna und Marie kicherten. Ich konnte mich gerade noch beherrschen.

»Und er benötigt Motivation. Wenn man ihn allein wursteln lässt, bringt er die nicht auf. Also mache ich mit. Die Sportart – also Reiten – war Thorstens Idee.«

Daddys Gesichtsausdruck sprach Bände. Man sah genau, was er davon hielt.

Thorsten schluckte. Er begann, mir ernstlich leidzutun. Überhaupt schwante mir Schlimmes: eine Mutter übermotiviert, zwei überängstlich und ein Gefängniswärter. Wir würden uns zweifellos großartig amüsieren.

»Warum hast du dich denn gerade fürs Reiten entschieden?«, wandte sich Frau Witt an Thorsten. Äußerst feinfühlig.

Aber Thorsten ließ sich nicht unterkriegen. Er grinste. »Im Kugelstoßen gab es keinen Mutter-Kind-Kurs«, gab er gelassen von sich.

Ich prustete los. Thorstens Vater schaute verärgert. Aber jetzt waren wir dran. Meine Mutter berichtete mit leuchtenden Augen von ihrer bislang im Verborgenen glimmenden Pferdebegeisterung. »Ich wollte schon als Kind reiten. Leider war kein Geld da, und es gab keine Möglichkeiten. Aber jetzt, da Lea in dem Alter ist … Die Mädchen interessieren sich ja alle für Pferde …«

Mom baute mir immerhin goldene Brücken. Ich brauchte eigentlich nur noch zu nicken. Frau Witt musste mich jetzt für schüchtern halten, aber das war besser als Lügen.

»Nettes Tattoo«, meinte sie, aber ich meinte, eher leichten Tadel in ihrer Stimme mitschwingen zu hören. »Aber vor dem Reiten solltest du es abnehmen. Du verlierst es, wenn du schwitzt. Und deine Zöpfchen musst du auch aufmachen. So passt da keine Kappe drüber.«

An eine Reitkappe hatte ich keine Sekunde gedacht. Aber sicher, die Dinger dienten ja nicht nur der Dekoration, sondern sollten einem im Zweifelsfall das Leben retten. Ich seufzte. Wenn ich meine gegelten Haare jetzt unter so einen Helm zwängte, würde ich hinterher aussehen wie eine nasse Katze. Vielleicht riskierte ich doch lieber den Schädelbruch?

Marie und Anna schienen schadenfroh zu zwinkern, Thorsten zog eine Augenbraue hoch. Verachtung oder Mitleid? Ich beschloss, dass ich hier einfach ein dickes Fell brauchte.

Also lächelte ich Frau Witt an und fummelte gehorsam die Spangen aus meinem Haar. Ich tat einfach so, als hätte ich die Kritik nicht herausgehört.

Ziemlich dickes Fell hatten auch die Pferde, die Frau Witt uns jetzt zuteilte.

»Einige haben noch ein bisschen Winterwolle, ihr müsst kräftig putzen«, erklärte sie uns. »Das üben wir zuerst. Wer reiten will, sollte auch wissen, wie man das Pferd richtig vorbereitet. Wir arbeiten in Zweiergruppen. Hier, wer nimmt Fanny?«

Das betreffende Pferd war riesig, schwarz und wandte uns in seinem Stall das Hinterteil zu. Marie und Anna schreckte das nicht.

»Wir!«, meldeten sie sich sofort eifrig und grapschten nach dem Halfter an der Stalltür.

Frau Witt schaute erneut irritiert. Bei Zweiergruppen hatte sie wohl an »Familie unter sich« gedacht. Aber die Mädchen schienen wild entschlossen, ihren Müttern so fern wie möglich zu bleiben.

Die drängten sich daraufhin gleich nach dem Pferd in der Box nebenan. Von da aus hatten sie ihre Töchter immerhin im Blick. Das Tier hieß »Ronnie«, war braun und wirkte ganz umgänglich. Es war etwas kleiner und wandte uns wenigstens den Kopf zu. Das tat Nummer drei allerdings auch. Ein dicker Schimmel, der sofort die Ohren anlegte und die Zähne fletschte, als wir uns der Box näherten.

Was das bedeutete, hatte ich schon gelesen. Dieses Tier wünschte offensichtlich keine Streicheleinheiten. Ich zog mich zurück und trat dabei beinahe Thorsten auf die Füße, der ebenfalls auf der Flucht schien.

»Dies hier ist Allegra. Sie ist ein bisschen zickig, aber das ist nur Schau. Wenn sie erst am Anbinder steht, benimmt sie sich …«, behauptete Frau Witt. »Na, wer traut sie sich zu?«

»Ich!«, erklärte meine Mutter zu meinem abgrundtiefen Entsetzen – aber immerhin hatte sie einen Rivalen. Thorstens Papi war fest entschlossen, hier den starken Mann zu spielen.

»Der muss man mal zeigen, wo es langgeht!«, verkündete er.

Frau Witt ließ die Blicke kurz über ihre verbleibenden Schüler schweifen und las ganz richtig in Thorstens und meinem Gesicht. Keiner von uns schien willig, sich Allegra auch nur auf fünf Schritte zu nähern.

»Schön, Frau Groß und Herr Reiser, dann arbeiten Sie doch zusammen. Und für euch beide habe ich ein besonders nettes Pferd!«

Noch vor einer Stunde hätte ich empört aufgeschrien, hätte man mir eine Gruppenarbeit mit einer lebenden Peinlichkeit wie Thorsten zugemutet. Aber jetzt wollte ich nur noch überleben.

Thorsten lächelte schüchtern. Mir fehlten wieder die Worte. Glory hatte mal gesagt, Reitställe wären so was wie moderne Nonnenklöster. Was mich anging, stand ich kurz vor Ablegung des Schweigegelübdes.

Das »besonders nette Pferd« war sandfarben, kleiner als die anderen und so pummelig, dass Thorsten daneben gertenschlank wirkte. Seine Mähne war weiß, seine Augen groß und dunkel. Die Ohren trug es brav nach vorn gerichtet, und es machte keine Anstalten, zu flüchten oder anzugreifen, als wir ihm mit Frau Witts Hilfe das Halfter überzogen. Bei ihr sah das ganz einfach aus. Als wir es selbst versuchten, verwandelte sich das Ding allerdings in ein unübersehbares Wirrwarr aus Riemen und Schnallen.

Das Pferd – Toby – ließ unsere Versuche geduldig über sich ergehen. Überhaupt machte es den Eindruck, als pflege es sich Reitschüler einfach wegzudenken. Als ich zehn Minuten an ihm herumgeputzt hatte, ohne dass es auch nur eine Regung zeigte, fühlte ich mich ignoriert. Ich brauchte Ansprache. Aber alle weiblichen Wesen um mich herum waren voll damit beschäftigt, auf ihre Pferde einzusäuseln.

Schließlich wandte ich mich an Thorsten. »Und warum wolltest du nun wirklich reiten?«, erkundigte ich mich.

Thorsten grinste. Er fuhrwerkte ungeschickt mit Striegel und Bürste an Toby herum und war schon gänzlich mit Pferdehaaren bedeckt. Ich selbst sah vermutlich ähnlich aus. Zudem schien mein Tattoo sich zu lösen.

»Du kannst ja sprechen«, bemerkte er. »Und ich dachte schon, du schmollst. Oder versuchst es mit Telepathie …«

»Womit?«, fragte ich verwirrt.

»Ein Mädchen in meiner Klasse macht ›Tierkommunikation‹«, erklärte er. »Sie behauptet, sie stünde mit ihrem Pferd in dauernder Gedankenverbindung.«

Ich kicherte.

Thorsten zuckte die Schultern. »Bis jetzt fand ich das ja auch ein bisschen gaga, aber immerhin hält sie dabei die Klappe. Die dagegen …«

Marie erzählte ihrem Pferd gerade, was für süße, kleine Mauseöhrchen es hätte. Und meine Mutter murmelte etwas von »bravem kleinem Schnuckeltier«, während sie versuchte, Allegras schnappenden Zähnen zu entkommen.

»Also: Was denkt Toby?«, erkundigte sich Thorsten ernsthaft. »Komm, du kannst es! Lies seine Gedanken!«

Ich runzelte die Stirn.

»Möhren!«, sagte ich dann bedeutungsschwer. »Er versucht, sich uns alle als übergroße Möhren vorzustellen. Hat er in einem Kurs für Schulpferde gelernt. Positives Denken.«

Wir lachten beide.

»Nun sag schon, warum bist du hier?«, griff ich meine Frage von eben wieder auf.

Thorsten bürstete Tobys Mähne. »Du hast ja gehört, ich soll Sport treiben. Aber ich hasse Sport.«

»Und?«, fragte ich.

»Also habe ich mir den Sport ausgesucht, bei dem man sich am wenigsten bewegt. Ich brauche nicht zu rennen, ich werde getragen. Ich denke, es ist ein bisschen wie Go-Kart-Fahren. An die Putzerei vorher habe ich natürlich nicht gedacht.« Wir waren alle schon etwas verschwitzt, nachdem wir die Pferde erfolgreich enthaart hatten. »Und du?«

»Ich bin erpresst worden«, sagte ich düster. Aber bevor ich das näher ausführen konnte, rief Frau Witt zum Satteln. Das brauchten wir noch nicht selbst zu machen. Wir würden auch nur zwei Pferde mit in die Halle nehmen, Toby und Ronnie, der schon beim Anblick des Sattels leidend guckte. Ich hatte gelesen, Pferde hätten keine Mimik. Aber wenn das so war, musste ich ein Telepathie-Naturtalent sein. Für mich jedenfalls war ziemlich klar, wie die Vierbeiner zu all dem standen, was wir hier mit ihnen abzogen. Toby blickte gleichgültig, Allegra wütend, der Rest genervt. Ich beschloss, dem braven Sandfarbenen beim nächsten Mal eine Möhre mitzubringen.

Natürlich rissen sich die Streber unserer Gruppe – Mom, Marie und Anna – gleich darum, beim Satteln zu helfen. Dann führten Frau Witt Ronnie und Marie und Anna Toby triumphierend in Richtung Reithalle. Beide Mädchen redeten dabei wie ein Wasserfall auf den armen Toby ein. Ich hatte das Gefühl, als werfe er mir einen verzweifelten Blick zu. Vielleicht keine Möhren? Besser Ohropax?

In der Halle nahm Frau Witt zunächst Toby an eine lange Leine und ließ ihn im Kreis um sich herumgehen. Unsere einzige Teilnehmerin mit »Reiterfahrung« – Marie behauptete, im Urlaub schon mal geritten zu sein – durfte als Erste in den Sattel. Sie schwankte ziemlich darauf herum.

Frau Witt erklärte den richtigen Sitz. Aufrecht, Beine lang, Absätze tief, Fäuste aufrecht vor sich hertragen.

Es schien nicht schwer zu sein, Marie machte es mühelos nach. Sie wagte auch ein paar Gymnastikübungen, streckte die Arme hoch und drehte sich im Sattel nach rechts und links.

Ich begann, mich zu langweilen. Aber dann hob Frau Witt hinter Toby die Peitsche und bewegte das Pferd zu einer flotteren Gangart. Marie wäre beinahe heruntergefallen. Auf jeden Fall löste ihr schöner Sitz sich völlig auf, und sie hing über dem Sattel wie ein Pfannkuchen, den jemand ziemlich ungeschickt gewendet hatte. Schließlich verlor sie die Steigbügel, klammerte sich hektisch mit den Schenkeln ans Pferd – und fiel herunter, als Toby einen erschrockenen Satz vorwärts machte.

Frau Witt schien das gänzlich normal zu finden. »Das darfst du nie machen!«, erklärte sie Marie. »Das Pferd missdeutet es leicht als treibende Hilfe und wird dann noch schneller. Jetzt versuch es noch einmal und dann tauschen wir.«

Marie erhob sich bedröppelt. Für mein Gefühl hatte Toby keinesfalls etwas missverstanden. Eher hatte er vor einem blonden Mädchen gescheut, das eben mit einer Peitsche in der Hand in die Reithalle kam. Sie wedelte missmutig damit in der Luft herum. Kein Wunder, dass Toby Angst bekam.

»Und du, Lena, halt die Peitsche tiefer, wenn du hinter dem Pferd hergehst!«, rüffelte Frau Witt sie jetzt ebenfalls.

Lena nickte desinteressiert und wandte sich dann Ronnie zu, um auch an seinem Kopfstück eine lange Leine zu befestigen. Wir arbeiteten also in zwei Gruppen, damit jeder so oft wie möglich aufs Pferd kam. Und dabei hatte ich mir schon ausgerechnet, dass ich höchstens sechs bis sieben Minuten pro Stunde in den Sattel musste. Thorsten machte ein Gesicht, als hätte er Gleiches erhofft, aber alle anderen zeigten sich begeistert, und vor allem meine Mutter strebte sofort auf das größere Pferd zu. Auch Thorstens Daddy musste sich wieder mal beweisen. Anna dagegen blieb bei Toby, schon um Marie zu zeigen, dass sie es besser konnte. Und Thorsten und ich waren uns in einer Hinsicht einig: je erdnäher, desto besser.

Schließlich fanden sich sämtliche Elternteile bei Ronnie, alle Kids bei Toby wieder.

»Seniorenreitstunde«, bemerkte ich und wies auf die Elterngruppe. Die anderen kicherten. Aber dann musste ich in den Sattel, und das Lachen verging mir. Schon wegen der Reitkappe, auf der Frau Witt tatsächlich bestanden hatte. Wir konnten uns vorerst welche leihen, bevor wir uns eigene anschaffen würden. Die Leihkappen sahen alle gleich verschlissen und verschwitzt aus. Bestimmt fand die »Gemeine Kopflaus« darin artgerechte Haltungsbedingungen. Ich wählte schließlich die neueste, auch wenn sie etwas klein war und mir schon beim Angucken Kopfschmerzen machte.

Marie und Anna sahen dagegen ganz professionell aus. Plötzlich verstand ich die reitstalltypische Frisurgestaltung. Thorsten wirkte nur albern. Er hatte eigentlich lockiges hellblondes Haar, ein bisschen länger als bei den meisten Jungs, wohl um von seinem etwas runden Gesicht abzulenken. Unter der schwarzen Samtkappe sah er aus wie ein Vollmond in Trauer. Ich wollte ihn großzügig vorlassen, aber er hielt sich so lange mit dem Verschluss der Kappe auf, dass ich schließlich als Dritte auf Toby kletterte. Das Pferd war rundlich, wie gesagt. Man saß ziemlich breitbeinig. Und dann bewegte es sich auch noch wie ein Wackelpudding. Dazu immer rundum. Nach ein paar Minuten war mir schwindelig.

»Können wir nicht mal geradeaus gehen?«, fragte ich Frau Witt.

Die lachte nur. »Wir können mal traben!«, erwiderte sie, und dann hatte ich endgültig keine Zeit mehr, über irgendetwas anderes nachzudenken als pures Überleben. Der Wackelpudding verwandelte sich unversehens in einen Presslufthammer. Ich verkrampfte meine Finger in der Mähne, versuchte, meine Unterschenkel eher abzuspreizen statt damit zu klammern, um das Pferd ja nicht noch schneller zu machen, und konnte mich plötzlich sehr gut in gewendete Pfannkuchen hineinversetzen. Nach schier endloser Zeit hielt Frau Witt Toby an.

»Das war schon sehr gut!«, lobte sie.

Das konnte sie unmöglich ernst meinen!

Tatsächlich kriegte sich aber auch meine Mutter kaum darüber ein, wie toll ich gesessen habe. »Überhaupt nicht geklammert! Aber in deinem Alter hat man eben noch keine Angst! Mir dagegen war fast ein bisschen mulmig. Aber es macht Spaß, nicht?«

Mom hatte ihr Debüt auf Ronnie problemlos gemeistert und dabei sogar gelächelt.

Inzwischen saß Thorsten auf dem Presslufthammer und schien es mit dem Prinzip Sandsack zu versuchen. Er hing völlig schlaff auf dem Pferd, was nicht ganz falsch zu sein schien, denn im Gegensatz zu seinem Vater auf Ronnie wurde er nicht bei jedem Trabschritt aus dem Sattel geschleudert. Dennoch war er schweißgebadet, als er schließlich abstieg.

»Wie Go-Kart-Fahren?«, fragte ich ihn grinsend.

Thorsten bedachte mich mit einem Blick wie ein gefolterter Mops.

»Wir sehen uns dann alle nächste Woche wieder!«, säuselte Frau Witt. »Wer möchte, kann natürlich noch bleiben und absatteln helfen.«

Thorsten und sein Dad machten, dass sie wegkamen. Letzterem ging es anscheinend vor allem darum, Männlichkeit zu beweisen, und dazu passte es sicher nicht, ein Pferd an- und auszuziehen. Thorsten dagegen hatte beim Putzen entschieden zufriedener gewirkt als beim Reiten. Wahrscheinlich deutete Daddy das als psychische Störung.

Marie und Anna waren natürlich nicht zu bremsen, ebenso wenig meine Mom. Insofern sprangen jetzt mit Lena und Frau Witt ganze fünf Leute um die zwei Pferde herum. Ich beschloss, dass ich da nicht gebraucht wurde. Stattdessen verschwand ich auf die Mädchentoilette und zog Bilanz. Das Einhorntattoo war verloren, meine Haare in Reitkappenform an den Kopf geklatscht und dort zementähnlich verklebt. Zwei Fingernägel waren abgebrochen, meine Augen brannten vom Hallenstaub und vom verlaufenen Make-up. So sahen die Frauen in Horrorfilmen aus, wenn sie dem Monster gerade noch entkommen waren. Und in der nächsten Szene gingen sie dann wieder in den Wald …

Ich hatte immerhin eine Woche Galgenfrist.

Vignette

Traumboys

Bis Freitag hatte ich mich natürlich wieder erholt, und das Konzert von »Tierpension« war so ziemlich das Coolste, was ich je erlebt hatte. Glory und ich trugen beide Einhorntattoos und wurden von Hunderten von Mädchen darum beneidet. Inzwischen konnte man die Dinger aber auch im Fanshop kaufen. Am Stand vor der Konzerthalle gingen sie weg wie warme Semmeln.

Wir schrien und kreischten mit den anderen, als Nico Chico und die übrigen Jungs auf die Bühne kamen. Die meisten warfen Briefchen und Stofftiere zu ihnen hoch, aber ich hielt das Plüsch-Einhorn, das ich für Nico erstanden hatte, fest in der Hand. Schließlich konnte ich es ihm gleich persönlich geben.