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Kein Weg zu weit

 

Atlantis

Impressum

Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
April 2021

Alle Rechte vorbehalten.
© Dirk van den Boom & Thorsten Pankau

Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin

Titelbild: Anna Spies
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Endlektorat: André Piotrowski

ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-771-0
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-776-5

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www.atlantis-verlag.de

Prolog

Der Rettungskreuzer Ikarus des Freien Raumcorps wird dafür eingesetzt, in der besiedelten Galaxis sowie jenseits ihrer Grenzen all jenen zu helfen, die sich zu weit vorgewagt haben, denen ein Unglück zugestoßen ist oder die anderweitig dringend der Hilfe bedürfen. Die Ikarus und ihre Schwesterschiffe sind dabei oft die letzte Hoffnung bei Havarien, Katastrophen oder gar planetenweiten Seuchen. Die Crew der Ikarus unter ihrem Kommandanten Roderick Sentenza wird dabei mit Situationen konfrontiert, bei denen Nervenstärke und Disziplin alleine nicht mehr ausreichen. Man muss schon ein wenig verrückt sein, um diesen Dienst machen zu können – denn es sind wilde Zeiten …

1. Jetzt

Wie oft musste er dieses Gespräch eigentlich noch führen? Roderick Sentenza war tief in seinem Herzen, wie jeder gute Raumfahrer, ein abergläubischer Mensch. Er wusste, dass da mehr war zwischen Himmel und Erde, und er wusste, dass es ein Muster gab, das jemand wie er nur schwerlich zu durchdringen in der Lage war. Und er wusste, dass sich manches ständig wiederholte. Es war, als wäre man in einem Teufelskreis gefangen und irgendwo auf einer Tribüne säßen die lachenden Zuschauer, die sich köstlich darüber amüsierten, dass er die ewig gleiche Pirouette drehte, ohne sich daraus befreien zu können. Und dennoch: Es war erneut notwendig, die Pirouette zu drehen, er musste es sagen – und er sah in diesem rhetorischen Tutu richtig dumm aus.

Es half aber nichts.

»Sally, ich muss wirklich noch einmal auf die Tatsache hinweisen, dass ich Kommandant eines Rettungskreuzers bin.« Sentenzas Stimme klang kraftlos; er wusste das selbst. Es war eben immer die gleiche Litanei. Immer wieder dieselben Worte, mit verschiedenen Variationen, aber einer Botschaft: Liebes Direktorium des Freien Raumcorps, schiebt euch eure Intrigen, eure Machtpolitik, eure Geldgier und euren subtilen Eroberungsdrang dorthin, wo nie die Sonne hinscheint. Lasst uns unsere Arbeit machen. Ja, rühmt euch damit, verpasst euch das moralische Feigenblatt, das so viele von euch bitter nötig zu haben scheinen. Es ist egal. Aber lasst uns, verdammt noch mal, in Ruhe!

Natürlich war das ein vergeblicher Wunsch. Es gab keine Ruhe, wenn man Teil des Raumcorps war. Wer des Königs Taler nahm, sang des Königs Lied. Sentenza war kein Idiot, er wusste, dass es so war. Deswegen die Kraftlosigkeit in seinen Worten. Es war wie ein Ritual und meistens waren auch die Protagonisten die gleichen.

Sally war immer dabei. Sie lächelte nicht einmal mehr spöttisch, wie sie es früher gern mal getan hatte. Sie wartete einfach geduldig ab. Das fiel ihr leicht; sie war viele Lichtjahre von hier entfernt, saß im Hauptquartier des Raumcorps und war damit beschäftigt, ständig sehr wichtige Dinge zu tun. Die Rettungsabteilung war wichtig, aber eben nur ein Teil ihrer Arbeit unter vielen. Sie war jetzt die Chefin von allem. Das veränderte ihren Fokus, ganz bestimmt sogar. Und es machte sie noch unangreifbarer gegen Sentenzas Nörgelei.

Sebastian Hardh aka Kahl, ihr neuer Chefverwalter, saß schweigsam neben Sentenza und mischte sich nicht ein. Der Mann hatte schnell gelernt, sich bei Konflikten herauszuhalten, die ihn nichts angingen, und er hatte auch nicht die Absicht, es sich mit Sentenza zu verscherzen. Er musste hier auf Vortex Outpost jeden Tag mit ihm zusammenarbeiten und das war schwierig genug. Die Ereignisse der Vergangenheit lasteten auf ihrem Verhältnis zueinander. Er war für Sentenza immer noch eine zwielichtige Gestalt, und obgleich er sonst gegen diese Art von Menschen wenig einzuwenden hatte, in diesem Fall störte es ihn.

Sentenza war ein korrekter Mann. Aber er ließ Hardh hin und wieder spüren, was er davon hielt, dass man ihn in der Rettungsabteilung abgelegt hatte: sehr wenig.

»Sentenza«, begann Sally, »Sie sind mehr als nur der Kommandant eines Rettungskreuzers.«

Er wusste das. Er wollte es aber nicht. Das war ja das eigentliche Problem. Es wäre doch so schön gewesen, wenn die mächtige Sally ihn und seine Leute einfach ein wenig vergessen würde, jetzt, wo sie so viele wichtige Dinge zu tun hatte. Seltsamerweise fiel ihr gerade das offenbar schwer. Vielleicht, so musste er einräumen, drehte auch Sally ihre eigenen Pirouetten, aus denen sie nicht mehr herauskam.

Aber er war trotzdem schlecht gelaunt und sie sollte das wissen.

»Was sollen wir tun? Die Galaxis vor einer Invasion retten? Ein Widerstandsnest gegen die wohlwollende Herrschaft des Direktoriums ausheben? Ein unliebsames Regime stürzen?«

Sentenza hatte eine gewisse Übung darin, sarkastisch zu sein, aber bei Sally perlte er damit ab. Sie war nicht in ihre Position gelangt, hätte sie nicht gelernt, einiges zu ertragen, über vieles hinwegzusehen und in den wichtigen Dingen schnell zum Punkt zu kommen. Sie lächelte Sentenza über die Lichtjahre hinweg beinahe fröhlich an.

»Die wohlwollende Herrschaft des Direktoriums hat ein Problem im Outback, Sentenza. Und dieses Wohlwollen ist sehr wichtig, um die Situation dort stabil zu halten. Darin sind wir uns doch einigermaßen einig, oder?«

»Teufel, Beelzebub«, murmelte der Captain.

»Wie bitte?«

»Nichts. Beschreiben Sie die Natur des medizinischen Notfalls.«

Sally lächelte. »Netter Versuch. Aber ja: Es gibt einen medizinischen Notfall, in einer Erstkontaktsituation, mit einer Zivilisation, befreundet mit dem Raumcorps, die wir gerade auf die interstellare Raumfahrt vorbereiten. Wie Sie wissen, ist das eine schwierige, eine potenziell explosive Phase in der gesellschaftlichen Entwicklung. Taktgefühl und Augenmaß sind erforderlich. Da habe ich gleich an Sie gedacht.«

Sentenza schüttelte nur den Kopf. Selbst wenn sie das ernst meinen sollte: Ihn zu loben, war ausgesprochen schwierig. Er hasste es geradezu, fühlte sich spontan unwohl dabei. Und aus Sallys Mund klang irgendwie alles eine winzige Spur unehrlich. Kam gewiss mit der Jobbeschreibung. Er konnte ihr im Grunde gar keinen Vorwurf machen. Es gab genug Leute, die es deutlich schlechter machen würden.

Sentenza seufzte.

Sein Widerstand erlosch.

Die Pirouette war gedreht, das Publikum klatschte. Zeit, an die Arbeit zu gehen.

»Also gut. Worum geht es?«

»Das Adair-System ist eine ehemalige irdische Kolonie, die sich aus dem Zusammenbruch des alten Imperiums wieder emporgearbeitet hat. Wir stehen seit einiger Zeit in Kontakt, um es in die galaktische Gemeinschaft zurückzuholen.«

»Ins Raumcorps.«

»Ist das nicht in etwa das Gleiche?«

Sentenza beließ es dabei. »Und weiter?«

»Es hat eine Begegnung gegeben. Wir wissen nicht, ob wir sie als Erstkontakt bezeichnen können, denn es gab bisher keinerlei Kommunikation. Es ist ein Exo-Kontakt und es geht um mehr als einen streunenden Asteroiden. Jedenfalls wurden wir von zuständigen Behörden um Hilfe gebeten. Man fühlt sich wohl überfordert.«

Sentenza war kein Narr.

Sally war keine Närrin. Sie war tatsächlich sehr exakt in dem, was sie tat, und das galt auch für die Art ihrer Kommunikation.

»Nicht von der zuständigen Behörde?«

Die Direktorin nickte anerkennend. »Sehr gut. Es gibt keine Zentralregierung. Einer der Gründe, warum das mit der allmählichen Rückführung in den Schoß der galaktischen Gemeinschaft …«

»… des Raumcorps …«

»… der galaktischen Gemeinschaft bisher noch nicht so richtig geklappt hat.« Sally bestand auf ihrer Wortwahl und in so etwas ließ sie sich auch durch Sentenza keinesfalls beirren. Alles war Politik für sie. Selbst wenn sie aufs Klo ging, überlegte sie, wie sie der Kamera ihre Sonnenseite zeigen konnte, obwohl gar keine auf sie gerichtet wurde.

»Wir befinden uns also quasi uneingeladen im System, wenn wir da hinfliegen?«

»Nein, so kann man das nicht sagen. Das hängt davon ab, wo genau Sie sich aufhalten werden, Captain.«

Sentenza unterdrückte ein Stöhnen. Das war wieder eines von diesen Wespennestern, in das sie hineinstechen sollten, wahrscheinlich nur, um für Sally herauszufinden, was ging und was nicht.

»Sie bekommen für diese Mission An’ta als Besatzungsmitglied zugeteilt, denn es scheint ein Bergungsproblem zu geben. Und einen Virologen, Dr. Shana Ganth aus Dr. Ekkris Abteilung. Sie kennen sie wahrscheinlich.«

Sentenza verband mit dem Namen eine dunkle, durchweg angenehme Erinnerung. Seine Frau, Sonja DiMersi, erwähnte sie bisweilen; sie kannten sich wohl ganz gut. War sie nicht mal zum Kaffee da gewesen? Verdammt, sie hatten so selten eine ruhige Kaffeerunde, er konnte sich nicht sicher sein.

»Also gibt es ein epidemiologisches Problem?«

»Nein, das glauben wir nicht. Zumindest drängt sich diese Frage derzeit nicht auf.«

»Wozu dann …«

Sally hob eine Hand. »Sie erhalten alle Daten und die bereits erfolgte Kommunikation. Diese werden Ihre Fragen beantworten – oder eben nicht. Aufgrund dieses eben nicht werden Sie mit der Ikarus nach dem Rechten sehen. Und nein, ich möchte das eigentlich gar nicht mit Ihnen diskutieren. Es ist eine Anweisung des Direktoriums. Ihnen viel Glück, und berichten Sie bitte regelmäßig.«

Und schon verschwand ihr Gesicht vom Schirm.

Sentenza und Hardh sahen sich an.

Hardh wirkte beinahe peinlich berührt. Er trug keine Schuld, erwartete aber möglicherweise, dass Sentenza seine sichtlich schlechte Laune an ihm abreagieren würde. Was der Captain nicht tat.

Er war ohnehin auf dem Weg zum Fitnesszentrum gewesen, als der Ruf Old Sallys gekommen war. Das Boxtraining stand jetzt ganz oben auf seiner Liste. Dafür war nun gewiss noch Zeit. Und um allen anderen auch noch den Tag zu verderben, alarmierte er vorher die Crew.

* * *