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.: © 2021 Hannelore Deinert

2. Auflage

„Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt“

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ISBN 9783753487083

Inhaltsverzeichnis

Wie hoch und wohin geht die Reise?

Willst Du, dass ich dich begleite?

Kann ich Dir folgen bedenkenlos?

Die Angst in mir ist viel zu groß.

Auch wenn das Land sich überraschend schnell von den katastrophalen Kriegsschäden erholte und die gravierendsten Zerstörungen auch mit Hilfe der Gastarbeiterflut aus Italien, Spanien und der Türkei beseitigt worden waren, auch wenn in den wiedererrichteten Theatern und Kulturstätten die Künste neu erblühten, die freie Marktwirtschaft den Fleißigen mit bescheidenem Wohlstand belohnte und das zarte Pflänzchen Demokratie bestens gedieh, so lag doch, fünfzehn Jahre danach, die Bedrohung eines neuen Krieges wie ein Damoklesschwert über den Menschen. Kein noch so deutlich demonstrierter Optimismus konnte die Bürde der Schuld vertreiben.

Keiner wollte es wahrhaben, aber die Psyche der Menschen war noch lange nicht geheilt, man verbarg es geschickt hinter Geschäftigkeit und Strebsamkeit, die Deutschen wurden ein Volk von Verdrängungskünstlern. Jedermann trug eine zufriedene Wohlstandsmaske zur Schau, umtriebig und pausenlos strebte man nach immer mehr, wer es sich leisten konnte fuhr mit dem eigenen Auto in den Urlaub, möglichst mit einem Caravan im Schlepptau nach Italien ans Meer. Laute Heiterkeit und Überheblichkeit waren bewährte Rezepte, um der inneren Zerrissenheit wenigstens oberflächlich und zeitweise zu entfliehen, und der Erkenntnis, zu welcher bodenlosen Grausamkeit man fähig war.

Das klappte gut, bis auf die Nächte. Da kamen mit der Stille die Toten zurück, der Schein von brennenden Häusern und Hütten flackerte in ihre Stuben, Qualm nahm ihnen den Atem, das Zischen von Granaten und Querschlägern tobte in ihren Ohren, das Brummen angreifender Tiefflieger, Gewehrsalven und Todesschreie raubten ihnen den Schlaf, Nacht für Nacht, es gab kein Entrinnen. Viele suchten im Alkohol Linderung, und wenn das nicht half, zerschlugen sie mit wütender Verzweiflung alles, was ihnen lieb und teuer war. Sie wussten, Liebe und Harmonie waren nicht angebracht nach allem was war. Sie gaben ihre Schuld ungewollt und unbewusst an ihre Kinder weiter.

Fanny Obermayer und Rolf Dengler versuchten im Alter von achtzehn und neunzehn Jahren der Enge und Dürftigkeit ihrer Elternhäuser und der Kleinmut der niederbayrischen Kleinstadt, in der sie aufgewachsen waren, zu entkommen, indem sie heirateten. Sie legten sich eine wunderbare Zukunft zurecht, allerdings mit verschiedenen Vorstellungen; Fanny erhoffte sich die absolute Freiheit, ohne Zwänge und Ängste vor dem alkoholkranken, tobsüchtigen Stiefvater, und Rolf rechnete sich nach einer abgeschlossenen Elektro-Mechaniker Lehre und einem geplanten Ingenieurstudium eine erfolgreiche berufliche Karriere aus. Beide dachten in ihrer jugendlichen Zuversicht, oder sollte man sagen Einfalt, in München ihre Zukunftspläne am besten verwirklichen zu können.

„Wenn wir heiraten“, hatte Rolf, der es von Natur aus immer eilig hatte, erklärt, „brauchen wir nur eine Miete zu bezahlen. Außerdem sind die Leute in München genauso stockkonservativ wie hier. Besuche von Mädchen in Junggesellenbuden sind absolut tabu und gegen alle guten Sitten.“

Allerdings waren sie zum Heiraten noch zu jung, aber Rolf wäre nicht Rolf gewesen, wenn er nicht eine Lösung dafür gefunden hätte. Er war ein Flüchtlingskind und Waise, seine Ausgangsposition im Leben war also nicht gerade die Beste, aber er war intelligent und ehrgeizig und erreichte mit seinem unerschütterlichen Glauben an sich selbst so gut wie alles, was er sich vornahm. Und er wollte Fanny heiraten, nur sie, da war er sich ganz sicher.

Gleich beim ersten Mal, als er sich mit einigen Kumpels auf der Steinbrücke vor dem Stadttor, einem beliebten Treffpunkt der Jugendlichen, aufgehalten hatte und sie mit einer Freundin dort aufgetaucht war, war sie ihm aufgefallen. Sie waren mit Fahrrädern gekommen, stellten sie ab und kamen auf die Brücke. Während ihre Freundinnen unverzüglich anfingen mit den Jungs herumzualbern, blieb sie abwartend und zurückhaltend, das gefiel ihm. Von seinen Kumpels erfuhr er, dass sie Fanny Obermayer hieß und erst kürzlich von einem Internat nach Hause gekommen sei. Rolf hatte sich gleich heftig in sie verliebt, er machte seinen Kumpels unmissverständlich klar, dass sie nun seine Freundin sei, denn in seinem Freundeskreis galt es als ungeschriebenes Gesetz, sich nicht gegenseitige die Mädels auszuspannen.

Nach seiner Ausbildung zum Elektro-Mechaniker war Rolf nach München gegangen, wo er schnell in einer Geschäftsstelle des Esseners Röntgenwerks Arbeit fand. Jeden Freitag fuhr er nach der Arbeit mit dem hart ersparten Moped die hundert Kilometer nach Hause, um Fanny zu sehen und sie, wenn sie mit ihren Freundinnen zu den Tanzveranstaltungen oder in die Kinos ging, zu begleiten. Zwar war Rolf hoffnungslos unmusikalisch, aber wenn er sie nicht ausgeführt hätte, befürchtete er, würden es andere tun, die obendrein besser tanzen konnten wie er. Als Fanny den Wunsch äußerte, auch nach München gehen zu wollen, kam ihm das gerade recht.

Er beantragte kurzerhand beim Amtsgericht Fannys Vormundschaft, die er wegen ihres gewalttätigen Stiefvaters und seiner abgeschlossenen Berufsausbildung und festen Anstellung auch bekam. Somit war Rolf mit neunzehn Jahren volljährig und heiratsfähig.

Im Jahre 1960 heirateten Fanny und Rolf in aller Schlichtheit. Allerdings nur standesamtlich, denn Rolf war protestantisch und Fanny katholisch. Der katholische Pfarrer höchstpersönlich war in Obermayers bescheidenem Zuhause aufgetaucht, um Fanny ins Gewissen zu reden. „Einen Protestanten zu heiraten, bedeutet den Ausschluss aus der Mutter Kirche, Fanny“, hatte er sie gewarnt. Das war zwar sehr unerfreulich für Fanny, aber vorerst fiel es wegen der allgemeinen Aufregung mit der Hochzeit und dem Umzug nach München nicht so sehr ins Gewicht.

In der Münchner Innenstadt, nahe des Sendlinger Torplatzes, mietete Rolf im Erdgeschoss eines achtstöckigen Neubaus ein zwar winziges, aber umso teureres Einzimmerappartement mit Dusche und einer Kochnische. Ein paar Straßenzüge weiter fand Fanny mit Rolfs Hilfe Arbeit in einer kleinen Näherei.

Aber Fanny fühlte sich inmitten der gleichgültigen Geschäftigkeit der großen Stadt, mit den großen, neuen Kaufhäusern, den Prachtbauten aus Glas und Beton, die in den Himmel wuchsen, den kolossalen Kinos und Theatern, die ihre Programme auf riesigen Plakaten mit wunderschönen Menschen darauf ankündigten, fehl am Platz. Die breiten Straßen mit dem hektischen, lärmenden Verkehr, die polternden Straßenbahnen und die hastenden Menschenmassen verwirrt sie. Sie fühlte sich allein, denn Rolf war unter der Woche meist auf Montage.

Rolf merkte es nicht, er hatte mit seinen Angelegenheiten mehr als genug zu tun. Aber am Wochenende führte er seine Frau gern in das neue, moderne Kino im Bahnhof, -er wurde erst kürzlich auf das prächtigste fertiggestellt- wo man sich für wenig Geld lustige „Micky-Maus“ und „Tom und Jerry“ Filme, die sich in Endlosschleifen wiederholten, anschauen konnte. Im Sommer gingen sie an den Isarauen spazieren, sonnten sich dort und badeten, oder wanderten durch den Englischen Garten. Das war sehr schön.

Als Fanny schwanger wurde, freute sie sich, sie glaubte, nun wäre sie in der großen Stadt nicht mehr so allein.

Am frühen Morgen des Ostersonntags, des Jahres 1962, platzte bei einem Toilettengang völlig überraschend und ohne Vorwarnung Fannys Fruchtblase. Beide, Fanny und Rolf, waren völlig überrascht und gerieten fast in Panik, denn Fanny ging es bis dahin hervorragend, auch wenn der errechnete Geburtstermin bereits erreicht war. Zum Glück hatte Rolf gerade in einem Achtstunden-Crashkurs und einigen Fahrunterweisungen seinen Führerschein erworben und ein Firmenwagen, ein königsblauen Ford-Bus stand vor dem Haus, damit fuhr er seine Frau durch die feiertäglich leeren, sechsspurigen Straßen der noch schlafenden Münchner Innenstadt, zum Marienkrankenhaus, wo Fanny zur Entbindung angemeldet war. Sein Fahrstil war entsprechend, aber das spielte zu dieser frühen Stunde des Feiertags keine Rolle, es begegnete ihnen kaum ein anderes Fahrzeug; und wäre einem Polizeifahrzeug der königsblaue Ford-Bus aufgefallen, dann hätten die Beamten mit dem konfusen, jungen Mann bestimmt ein Nachsehen gehabt. Als das Festgeläute der nahen Kirchen einsetzte, trug das nicht gerade zur Beruhigung der werdenden Eltern bei.

Fanny kam gleich in einen kahlen, weißen Entbindungsraum, wo sie, mit einem Klinikhemd angetan, auf einer zentral gelegenen Liege der Geburt ihres Kindes entgegensah. Eine Hebamme war mit diesem und jenem beschäftigt und später erschien auch ein junger, missgelaunter Arzt, dem anzusehen war, dass er sich heute am Ostersonntag etwas Schöneres hätte vorstellen können, als Dienst zu schieben. Mit undurchdringlicher Miene untersuchte er Fanny und meinte dann mit leicht ironischem Unterton zur diensthabenden Schwester: „Erstgeburt, nehmen Sie sich heute lieber nichts mehr vor, Schwester Hildegard. Bei dem schmalen Becken kann das dauern.“

Fanny nahm das persönlich, zu ihrer Angst gesellten sich Schuldgefühle, bis die erste kräftige Presswehe sich einstellte. Sie zeigte sich in der Tat nicht als tapfere Gebärende, oft musste sie ermahnt werden, sich zusammenzureißen und sich nicht zu verkrampfen, sondern mitzumachen und zu pressen, sonst würde es heute nichts mehr werden. Aber es tat so weh, es war so schlimm, schlimmer als sie es sich jemals hätte vorstellen können.

Als sie ihr kleines Mädchen im Arm hielt und das pausbackige Gesichtchen mit den geschlossenen, feinbewimperten Liedern und das Köpfchen mit den schwarzen, seidenweichen Härchen betrachtete, fühlte sie sich ungemein glücklich und reich. Dann aber, wenn sie allein zwischen den anderen Wöchnerinnen lag, machte sie sich Vorwürfe, dass sie aus Angst und Feigheit den Geburtsablauf unnötig verzögert hatte. Für richtige Mütter war die Geburt ein hehres, beglückendes Erlebnis, so hatte sie es immer gehört und geglaubt. Die Ärzte und Schwestern verhielten sich bei den Visiten kühl und wortkarg, Fanny führte dies darauf zurück, dass sie während der Geburt so zimperlich gewesen war.

Wenn die anderen Wöchnerinnen wegen ihrer Kinder beglückwünscht und mit Blumen und Geschenken bedacht wurden, vergrub sie sich unter ihrer Zudecke und fühlte sich elend und verlassen, denn sie besuchte und beglückwünschte niemand, Rolf war ja auf Montage. Dass die ledige Mutter im Bett nebenan auch keinen Besuch und keine Blumen bekam, verdoppelte Fannys Verlassenheit nur.

Als Rolf seine Frau und das Baby nach fünf Tagen mit dem königsblauen VW Bus vom Krankenhaus abholte, war auch er glücklich und stolz. Doch bald zeigte es sich, dass er ein strenger Vater war. Wenn das Baby nachts schrie, es schrie oft, dann durfte es Fanny nicht aus dem Bettchen, zwei zusammengeschobene Sessel mit Lacken und Kissen darauf, holen und es trösten oder stillen. Rolf befürchtete, das Kind könnte dadurch zu sehr verwöhnt werden und ihnen bald auf der Nase herumtanzen.

Rolf war seit seiner Konfirmation nur noch bei der Beerdigung seines Vaters in einer Kirche gewesen, dennoch war es für ihn, vielleicht aus Traditionsdenken heraus, keine Frage, seine Tochter evangelisch taufen zu lassen. Katholisch konnte sie nicht getauft werden, da Fanny seit ihrer Hochzeit sozusagen exkommuniziert war. Fanny sprach nie darüber, aber Rolf ahnte sehr wohl, dass sie darunter litt, denn, wie er wusste, war sie früher eine fleißige Kirchengängerin gewesen.

Rolf meldete seine Tochter in der nahegelegenen Sankt Matthäus Kirche, bei Kirchenrat Schmidt zur Taufe an. Der Tauftermin wurde festgelegt und Kirchenrat Schmidt fragte nach den Namen der Taufpaten.

„Meine Frau und ich sind die Paten“, antwortete Rolf leicht irritiert.

„Paten müssen Verwandte oder gute Freunde sein“, belehrte ihn der Kirchenrat. „Sie müssen sich um das Kind kümmern, falls den Eltern etwas zustoßen sollte. Sagen wir, was Gott verhüten möge, falls sie tödlich verunglücken.“

Rolf überlegte. „Nein, so jemanden haben wir nicht, Herr Kirchenrat. Es gibt niemanden, dem wir unser Kind anvertrauen könnten.“

„Haben Sie oder Ihre Frau noch Eltern, Herr Dengler? Vielleicht sollten wir sie benennen.“

Und so wurde im Monat Mai die kleine Sabine Dengler, in Abwesenheit ihrer Paten Marianne Schadhaus und Erika Dengler, in der Sankt Matthäuskirche während eines feierlichen Gottesdienstes von Kirchenrat Schmidt evangelisch getauft. Fanny konnte sich während der Zeremonie ihrer Tränen nicht erwehren, sie fühlte sich gottverlassen.

Sechs Wochen nach Bienchens Geburt endete der Mutterschutz und die damit verbundene soziale Unterstützung, Fanny musste wieder arbeiten gehen. Leider waren alle Bemühungen bis dahin, einen Krippenplatz für ihr Kind zu finden, vergebens gewesen. Aber Rolf wäre nicht Rolf gewesen, wenn er nicht einen Ausweg gesucht und gefunden hätte.

An Fannys erstem Arbeitstag marschierten sie in aller Herrgottsfrühe mit ihrem Kind im Kinderwagen –er war ein Geschenk von Frau Schadhaus, Fannys Mutter - zur nahegelegenen katholischen Krippeneinrichtung. Das einstöckige, stattliche Haus mit den Rundbogenfenstern, den verspielten Türmchen und dem steilen Dach mit den zwei übereinanderliegenden Gauben-Fensterreihen, lag in einem kleinen Park, im Schatten eines alten, wunderschönen Baumbestandes. Fanny und Rolf waren der Meinung gewesen, dass hier ihre Tochter gut untergebracht sei. Allerdings hatte die Nonne, bei der sie Sabine anmelden wollten, erklärt, dass über einen langen Zeitraum hinweg kein Krippenplatz frei sein würde.

Aber Rolf ließ sich dadurch notgedrungen nicht beeindrucken.

„Kommt Zeit, kommt Rat“, hatte er seine Frau beruhigt. „Manchmal wird überraschend doch ein Platz frei.“ Nun standen sie in der Kinderkrippe vor der Anmeldung und Rolf erklärte ziemlich überzeugend, dass er die mündliche Zusage habe, sein Kind heute Morgen um sieben Uhr bringen zu dürfen. Daraufhin wurden sie in den ersten Stock, in das Büro der Schwester Oberin verwiesen.

Schwester Margareta war eine mütterliche, rundliche Person, die sich durch eine langjährige Erfahrung eine solide Menschenkenntnis angeeignet hatte. Sie saß hinter einem wuchtigen Biedermeier-Schreibtisch und hatte ein aufgeschlagenes, dickes Heft vor sich liegen, sie schaute die jungen Leute vor ihrem Schreibtisch, halbe Kinder noch, kritisch an. Sie musterte die zierliche, junge Frau mit dem Kind auf dem Arm, sie war klein, kaum ein Meter sechzig groß, das schulterlange, braune Haar hatte sie mit einem Gummiband im Nacken zusammengebunden, ihr kindlich rundes Gesicht mit den braunen Augen wirkte verschreckt. Sie trug einen etwas zerknitterten, hellblauen Leinenrock, eine ärmellose, naturweiße Reversbluse und abgelaufene Sandalen. Der dunkelhaarige junge Mann neben ihr trat selbstbewusster auf. Er war höchstens einen Kopf größer als seine Begleiterin und trug eine verwaschene, ehemals schwarze Nietenhose und ein nur wenig geplättetes, kariertes Hemd, dessen oberer Knopf lässig offen stand. Seine Füße steckten in glanzlosen, aber sauberen, schwarzen Halbschuhen.

„Guten Morgen“, erwiderte sie den Gruß der jungen Leute und rüstete sich für die notwenige Härte, die eine Absage mit sich brachte.

„Wie heißt ihr Kind, Herr…?“ sie schaute Rolf fragend an.

„Sie heißt Sabine Dengler“, antwortete Rolf mit fester Stimme. „Man hat mir fest zugesagt, dass hier kein Kind abgewiesen wird“, behauptete er felsenfest entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen. „Ja, sicher, lieber Herr Dengler“, meinte die Oberin mild, aber bestimmt, „das trifft auch zu, aber eben nur für Waisenkinder. Wie ich sehe, hat Ihr Kind seine Eltern noch. Wissen Sie, wir sind über Monate hinaus hoffnungslos überfüllt“, sie strich mit ihrer zarten, welken Hand über das Heft. „Es wäre unverantwortlich, ein weiteres Kind aufzunehmen, verstehen Sie, es ginge auf Kosten der anderen Kinder. Es tut mir sehr leid, aber wir können Ihnen nicht helfen.“

Damit war für sie das Gespräch beendet. Sie stand auf, ging um den Schreibtisch herum, an der kleinen Familie vorbei und wollte zur Tür. Aber Rolf gab sich noch nicht geschlagen, er folgte ihr und meinte beharrlich. „Heute ist der Mutterschutz meiner Frau vorbei, Schwester Oberin, sie muss wieder arbeiten gehen, sonst können wir weder unser Kind, noch uns selbst ernähren.“

Als die Oberin stehen blieb und immer noch bedauernd, aber distanziert schaute, holte er sein Portmonee aus seiner Gesäßtasche, entnahm ihm ein Papier und reichte es der Oberin.

„Sehen Sie, Schwester Oberin“, meinte er, „wir sind ein Notfall, deshalb bekommen wir ab diesem Herbst eine größere, billigere Wohnung in Berg am Laim, dort gibt es auch eine Kinderkrippe.“ Na, gut, genau wusste Rolf das nicht, aber man konnte davon ausgehen. „Wir brauchen den Platz also nur für, sagen wir ein viertel Jahr, Schwester Oberin. Keinen Tag länger“, fügte er drängend hinzu.

Die Oberin rührte die Hilflosigkeit, man konnte fast sagen die Verzweiflung der jungen Leute, aber was sollte sie tun, es gab zu viele Menschen, die sich in einer Notlage befanden. „Es wird sich schon was finden“, meinte sie tröstend und wollte die Tür öffnen, dabei fiel ihr Blick auf das Kind, das sie mit dunklen, wachen Augen anschaute, ein ungewöhnlich wonniges Kind. Plötzlich war es Schwester Margareta, als müsse sie das Jesuskind persönlich von ihrer Schwelle weisen.

„Wie alt ist es denn“, fragte sie mit schwerem Herzen.

„Sechs Wochen, Schwester Oberin“, antwortete Fanny. „Sie ist sehr brav. Nur nachts macht sie manchmal Raubauz, aber da ist sie ja bei uns.“ Fanny hatte die Oberin anscheinend falsch verstanden, sie trat an sie heran und reichte ihr das Baby. Schwester Margareta nahm es überrascht entgegen.

„Tausend Dank, Schwester Oberin!“, rief Rolf. „Der Kinderwagen steht vor der Tür. Pünktlich um sechs Uhr holt meine Frau unsere Tochter ab. Tausend Dank nochmal!“

„Moment!“, rief Schwester Oberin noch, aber da waren die beiden schon die Treppe hinuntergesprungen und sie hörte nur noch die Haustür zufallen. Schwester Oberin schaute stirnrunzelnd auf das Kindchen in ihren Armen, es nuckelte zufrieden an seinem Schnuller, dann musste sie lächeln. „Da haben mich deine Eltern tatsächlich überrumpelt“, murmelte sie, „wahrscheinlich können sie nicht einmal deine Unterbringung bezahlen. Aber du kannst ja nichts dafür, meine Kleine. Mit Gottes Hilfe werden wir auch dich noch satt bekommen.“

Sie seufzte tief und klingelte nach einer Kinderschwester.

„Schwester Oberin macht einen sehr netten Eindruck, findest du nicht auch, Fanny?“, meinte Rolf, als sie draußen waren und er in das bedrückte Gesicht seiner Frau blickte. „Bienchen ist bei ihr bestimmt in guten Händen.“ Er war froh, diese Hürde glücklich genommen zu haben. Es sollten noch viele kommen.

IIn der kleinen Schneiderwerkstatt arbeitete außer Frau Huber, der Chefin, die blonde, kokette Renate und seit diesem Jahr auch Fanny. Es dauerte eine Weile bis die kecke Renate, eine gebürtige Münchnerin, und die schüchterne und zurückhaltende Fanny vom Lande sich verstanden und ein halbwegs gutes Arbeitsteam wurden.

Neben Kaufhäuser, die zu Frau Hubers Leidwesen miserabel bezahlten, belieferten sie auch Boutiquen. Die privaten Aufträge erledigte die Chefin selbst.

Frau Huber, eine gertenschlanke, sehr gepflegte, immer hektische Frau in den mittleren Jahren, war an diesem Montagmorgen, als Fanny das erste Mal nach dem Mutterschutz in die Werkstatt kam, sehr gut gelaunt, denn, wie sie meinte, sei ein besonders lukrativer Auftrag eingegangen, die Gattin eines Stadtrates hatte einen Pelzmantel in Auftrag gegeben. Frau Huber erklärte ihren zwei Näherinnen, dass das nicht nur einen guten Verdienst bedeutete, nach erfolgreicher Ausführung auch ein größeres Ansehen der Schneiderei, was ganz sicher andere zahlungskräftige Privatkunden bringen würde. Fanny sah auf dem Zuschneide-Tisch der Chefin den Pelz liegen, es war ein heller, prächtig gemusterter Zobel. Die Kundin selbst, erklärte Frau Huber, die sich vor Glück und Stolz kaum fassen konnte, hatte ihn von Sibirien mitgebracht.

Die zwei jungen Näherinnen machten sich sogleich an die Arbeit. Der Stapel zugeschnittener Röcke musste noch heute fertig werden, erklärte Renate, denn morgen Mittag würden sie, mit Waschanleitungen und Größen-Etiketten versehen, vom Kaufhaus Hertie abgeholt werden. Die Chefin indessen begann mit dem Zuschnitt des Pelzes, sie summte vergnügt vor sich hin, murmelte Zahlen und notierte sie auf einen Block. Schon für Mitte dieser Woche war die erste Anprobe an der Kundin anberaumt.

Fanny bemerkte im Laufe des Vormittags besorgt, dass der Berg der zugeschnittenen Röcke nicht rasch genug abnehmen wollte. Sie arbeitete die Mittagspause durch und registrierte beunruhigt, dass Renate die volle halbe Stunde in Anspruch nahm, sich zwischendurch immer mal eine Zigarettenpause gönnte und dabei in aller Seelenruhe mit der Chefin fachsimpelte.

„Du weißt, Renate, ich kann wegen meines Babys nicht länger bleiben“, drängte Fanny gelegentlich. Renate warf dann ihrer Kollegin einen kritischen Blick zu und dachte:„Na, super, jetzt hat sie eine prima Ausrede keine Überstunde schieben zu müssen. „Mach halblang, Fanny“, meinte sie gelassen, „ich hatte keinen Babyurlaub und bin nicht ganz so frisch und ausgeruht wie du.“

Es kam, wie es kommen musste.

„Eine Stunde noch, Mädels“, meinte die Chefin, als sie am frühen Abend die Ladentür zuschloss und die fertigen Röcke kontrollierte und nachgezählte, „dann ist Morgen der Rest ein Kinderspiel.“

Fanny biss die Zähne zusammen, sie wusste, jetzt würde es richtig Ärger geben. Sie räumte ihren Arbeitsplatz auf und als Frau Huber sah, wie sie ihre Nähmaschine reinigte, sicherte und mit der Haube abdeckte, meinte sie erstaunt: „Was ist los, Fanny, haben Sie mich nicht verstanden? Wir müssen nacharbeiten, sonst schaffen wir die Röcke nicht bis morgen Mittag.“

„Tut mir sehr leid, Frau Huber“, bedauerte Fanny, „aber ich muss meine Tochter pünktlich von der Krippe abholen. Das habe ich Ihnen doch gesagt.“

Frau Huber schaute Fanny ungläubig an „Das ist jetzt aber nicht Ihr Ernst, Fanny, oder? Sie lassen mich sitzen? Aber bitte schön, ich kann Sie nicht aufhalten.“ Ihre Stimme kippte leicht über. „Wenn Sie glauben, dass andere Dinge wichtiger sind für Sie, wie Ihre Arbeit.“ Fanny wollte erklären, aber als sie in das aufgebrachte Gesicht der Chefin blickte, ließ sie es sein, es hätte nichts gebracht.

„Tschüss, bis Morgen.“, sagte sie noch, nahm ihre Tasche und ging. Es wurde auch höchste Zeit, die Schwester Oberin hatte heute Morgen einen relativ resoluten Eindruck gemacht, sie legte bestimmt viel Wert auf Pünktlichkeit.

Bienchen lag schon abholbereit in ihrem Kinderwagen unter einem Baum, sie schaute zur Krone hinauf und schien dem Säuseln der Blätter zu lauschen. Es ging ihr gut, stellte Fanny mit einem Blick beruhigt fest.

„Bringen Sie morgen den Impfschein ihres Kindes mit“, wurde sie beim Verabschieden gebeten. Fanny versprach es und eilte mit ihrem Kind zu dem Hochhaus, in dem sich im Erdgeschoss ihr Refugium befand, ihre Zuflucht inmitten dem hektischen, lärmenden Treiben der großen, gefühlsarmen Stadt. Der Abend, die Nacht und auch der frühe Morgen gehörten nun uneingeschränkt ihrem Kind. Rolf kam erst am Wochenende von einer Montage zurück, dann aber hatten sie zusammen ein ganzes, gemeinsames, ungestörtes Wochenende.

Nicht jedes Wochenende war Rolf zu Hause. Wenn er da war, mussten am Samstag die nötigen Einkäufe erledigt und im Waschsalon, der zum Glück nur ein paar Häuser entfernt lag, die Wäsche gewaschen werden. An den Sonntagen aber gingen sie mit Bienchen im Kinderwagen an den Isarpromenaden spazieren, bewunderten die herrlichen Auslagen der Geschäfte oder wanderten durch den herbstlichen Englischen Garten, dessen bunte Bäume und kleine Tempel sich im glatten See des Parks spiegelten. Dann wurde alles leicht und gut.

Bienchen, ein ansonsten sehr sonniges Kind, weinte des Nachts oft und ausdauernd. Wenn Rolf nicht zu Hause war, nahm Fanny sie trotz ihrer Angst, das Kind im Schlaf zu erdrücken, aus Müdigkeit und Ratlosigkeit mit in ihr Bett und schaukelte es in ihren Armen. Nach einer solchen unruhigen Nacht, vor Müdigkeit noch ganz benommen, fragte Fanny in der Krippe die junge Novizin, bei der sie Bienchen abgab, warum ihr Kind nachts wohl immer so viel schreie.

„Es sind Bauchkrämpfe, Frau Dengler“, wurde sie belehrt, „das ist bei Kindern, die früh und schnell auf die Flasche umgestellt werden, ganz normal. Seien Sie unbesorgt, ihr Bienchen entwickelt sich ganz normal, unser Doktor ist sehr zufrieden mit ihr. Aber vergessen Sie Morgen nicht wieder den Impfpass ihrer Tochter, Frau Dengler, unsere Kinder werden gerade gegen Kinderlähmung geimpft. Danach müssen Sie übrigens mit sehr unruhigen Nächten rechnen. Geben sie Bienchen viel Kamillentee und seien sie geduldig mit ihr.“

„Ja, danke“, meinte Fanny und ging mit hängenden Schultern davon.

SSeit das mit dem Pelzmantel passiert ist, war es in der kleinen Schneiderei nicht mehr so wie früher. Weder die Chefin, noch ihre zwei Näherinnen konnten sich je wieder davon erholen.

Fanny wäre an diesem Tag am liebsten im Fußboden versunken, genau wie ihre Chefin und ihre Kollegin, aber sie mussten es durchstehen, alle drei. Denn als die Chefin vor der ersten Anprobe an der Kundin selbst in den vorgehefteten Zobel schlüpfte, machte sie eine furchtbare Entdeckung, sie hatte den Pelz gegen den Strich zugeschnitten. Die Fellhaare, sehr weich, hellmeliert und dicht, verliefen nach oben.

Der Schreck ließ die Chefin förmlich erstarren. Sie saß auf einem Stuhl und stierte minutenlang auf den Mantel, so als versuchte sie aus einem Albtraum zu erwachen. Aber es blieb, wie es war, aus und vorbei. Dann strich sie sich mit der Hand wie erwachend über ihre Stirn und stand auf. „Man könnte es mit Dämpfen versuchen“, meinte sie mit belegter Stimme und schaltete das Dampfeisen an. „Helft mir, bitte.“

Renate befeuchtete ein großes Leinentuch, legte es auf das Fell und zog es gegen den Haarstrich, Frau Huber folgte ihr mit dem dampfenden Eisen. Es schien zu klappen, die Fellhaare wurden Stück um Stück um gedämpft. Nach einer Stunde war es vollbracht, die Fellhaare hatten den richtigen Verlauf, in Frau Hubers Gesicht stahl sich zögernd ein kleiner Hoffnungsschimmer.

Die Kundin kam gegen Abend. Sie betrachtete zuerst den Mantel an der Ankleidepuppe und war hingerissen von ihm. Das leicht taillierte Oberteil mit dem großen Revierkragen, das etwas glockige Unterteil mit den verdeckten Taschen, dazu eine kleine Pelzkappe und ein verspielter Muff, -die nicht um gedämpft werden mussten-, der Mantel war ein Wintertraum. Dann half ihr Frau Huber hinein, Fanny bemerkte winzige Schweißperlen auf ihrer Stirn. Die Kundin drehte und wendete sich selbstgefällig vor dem Standspiegel, sie streichelte verliebt über den Ärmel, von oben nach unten und zurück, den Näherinnen, ins besonders Frau Huber stockte der Atem, und wirklich, die Haare blieben wuselig stehen. Frau Huber strich sie unauffällig wieder nach unten, aber die Zobelhaare erhoben sich wieder, eigenwillig und borstig. Zuerst war die Kundin sprachlos, dann zog sie den Mantel aus und legte ihn auf den Zuschneide-Tisch. Sie strich ungläubig, dann bedächtig und gnadenlos mit der flachen Hand über den Zobel, gegen den offenbaren Strich, und siehe da, die Haare blieben ungeordnet wuselig stehen, Stück für Stück, niemand konnte es verhindern. Frau Huber schaute wie versteinert zu.

„Er ist gegen den Strich zugeschnitten.“ Der Satz stand wie ein Todesurteil im kleinen Raum. Dann wandte sich die Kundin an Frau Huber. „Sie haben meinen Zobel verschnitten.“

Anstatt wenigstens jetzt reumütig zu gestehen, versuchte Frau Huber die Flucht nach vorn.

„Das liegt am Fell.“, behauptete sie verzweifelt, „der Strich ist nicht klar erkennbar. Meine Näherin hat vielleicht einen Fehler gemacht, sie war womöglich zu voreilig, sie hätte mich konsultieren müssen. Sollten wir einen Fehler gemacht haben, gnädige Frau, werde ich den Schaden selbstverständlich beheben.“

Fanny, die sich hinter ihrer Maschine so klein wie möglich machte, bekam einen roten Kopf, die sonst so freche Renate war auf die Toilette geflüchtet.

„So, Sie bringen also den Schaden wieder in Ordnung, Frau Huber?“

Die Kundin, zuerst wachsbleich, lief nun zornrot an, ihre Stimme kam zischend zwischen ihren Zähnen hervor, wie bei einer erregten Schlange. „Aha, und wie bitte wollen Sie das machen? Wollen Sie persönlich nach Sibirien reisen, nach Kasan, und in einer der Zobelfarmen und Gerbereien meinen Zobel holen, oder wollen Sie selbst auf Zobeljagd gehen? Ich werde Sie anzeigen, Frau Huber, das wird Sie teuer zu stehen kommen. In Ihre Schneiderei, das verspreche ich ihnen, wird sich so schnell keiner mehr verirren, dafür werde ich sorgen! Sie hören von meinem Anwalt!“

Sie raffte ihren vermurksten Pelzmantel zusammen und verließ, die Tür hinter sich zuschmetternd, entrüstet die Schneiderei.

Alles kam, wie es die Kundin angekündigt hatte. Eine Anzeige wegen mutwilliger Sachbeschädigung flatterte in die Werkstatt und, was schlimmer war, die private, gute Kundschaft blieb aus.

IIn den Kaufhäusern startete der Sommerschlussverkauf. Rolf kaufte trotz der geringen Geldmittel, die ihnen zur Verfügung standen, eine gute Singernähmaschine, damit Fanny die Anziehsachen für die Familie größtenteils selbst nähen konnte. Dabei könne man enorm sparen, behauptete er. Fanny war skeptisch, wann und wo sollte sie denn nähen, außerdem, mit Wintermäntel und dergleichen hatte sie keine Erfahrung. Rolf aber meinte: „Wer Röcke, Hosen und Blusen nähen kann, der kann auch Mäntel nähen, das kann doch nicht gar so viel schwieriger sein.“

Sie kauften also Mäntel- und Hosenstoffe, dazu die nötigen Reißverschlüsse, Knöpfe, Nähgarne, Fließe und Schnittmuster. Das dauerte einen ganzen Samstagvormittag, zumal zwischendurch Bienchen versorgt werden musste. Sie fanden noch für jeden einen preisgünstigen Winterpulli und Strümpfe, mehr war in diesem Herbst und Winter nicht nötig und auch nicht drin. Für Bienchen wollte Oma Schadhaus alles Notwendige für den Winter stricken und häkeln. Stricken und Häkeln waren ihre Leidenschaften.

Fanny war wieder schwanger. Es erschreckte sie und auch Rolf, damit hatten sie nicht gerechnet, noch nicht. Vielleicht in einem Jahr, aber nicht jetzt, es ging einfach noch nicht. Sie nahmen sich frei und fuhren zu einer Frauenärztin.

Als sie ihr gegenübersaßen, schilderte Rolf freimütig ihre derzeitige Lage. Er beschrieb die kleine, sündhaft teure Wohnung in der Innenstadt und dass ihre kleine Tochter notgedrungen auf zwei zusammengeschobenen Sesseln schlafen müsse. Er legte ihr seine mehr als knappen Finanzen offen, die nur für den allernotwendigsten Lebensunterhalt reichten. „Wissen Sie, Frau Doktor“, meinte er vertrauensvoll, „in einem Jahr, wenn ich mehr verdiene, kann meine Frau zu Hause bleiben, dann ist ein zweites Kind denkbar, aber derzeit können wir es uns schlicht nicht leisten!“

„Ja“, bekräftigte Fanny, „unsere Tochter schreit jede Nacht und ist schnell erkältet. Wir lieben sie sehr, aber sie überfordert uns auch manches Mal. Wie soll es dann mit noch einem Baby werden?“

„Ich werde Sie erst einmal untersuchen, Frau Dengler“, meinte die ältere, wie sich herausstellen sollte, sehr konservative Ärztin kühl, „dann sehen wir weiter. Herr Dengler, bitte gehen Sie solange in den Warteraum. Ich rufe Sie dann wieder herein.“

Rolf wartete zwischen all den schwangeren Frauen, bis er wieder in den Behandlungsraum gerufen wurde, wo seine Frau der Ärztin gegenübersaß.

„Ihre Frau ist schwanger, im zweiten Monat wahrscheinlich“, erklärte die Ärztin ruhig. „Ich verschreibe ihr Pillen, welche die Monatsblutung anregen sollen. Davon müssen Sie jeden Morgen und jeden Abend eine mit etwas Wasser einnehmen, Frau Dengler. Sollten sie nicht helfen, dann bedenken Sie bitte, ein zweites Kind so dicht nach dem ersten hat auch seine Vorzüge.“

Eigentlich waren sie nicht gekommen, um zu erfahren, welche Vorzüge ein zweites Kind haben würde, wozu auch, aber sie hörten sich die Belehrungen mit regungslosen Gesichtern an. „Wenn man es richtig bedenkt“, erklärte die Ärztin, „ist ja schon alles da. Das Bettchen, -von welchem Bett spricht sie, hatte sie vorhin nicht zugehörtder Kinderwagen, die Windeln, die Strampler und so weiter. Außerdem können ihre Kinder zusammen aufwachsen, was ein großer Vorteil ist. Sie selbst sind, wenn Ihre Kinder groß sind, immer noch jung und könnten sogar noch Großeltern werden.“

„Na, ganz wunderbar“, dachte Rolf bitter, „hoffentlich sind wir bis dahin nicht verhungert. Was eigentlich habe ich hier erwartet?“

Die Ärztin reichte Rolf ein Rezept und verabschiedete sich freundlich. Fanny und Rolf gingen, sie hörten noch, wie die nächste Patientin in das Sprechzimmer gebeten wurde.

Gerade jetzt wurde Fanny gekündigt, weil sich Frau Huber, wie sie erklärte, bei der gegenwärtig schlechten Auftragslage keine zweite Näherin leisten könne und auch nicht brauche. Versteht sich von selbst, dass es Fanny war, die gehen musste, denn Renate arbeitete erstens schon viel länger in der Schneiderei wie sie und war obendrein unabhängig und flexibel, was bei der derzeitig unregelmäßigen Auftragslage unbedingt erforderlich war.

„Aber“, erklärte Frau Huber am letzten Abend versöhnlich, „Sie haben gut gearbeitet, Fanny, ich stelle Ihnen ein entsprechendes Zeugnis aus. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft.“

Damit war Fanny draußen, ausgestoßen in die nasskalte, schillernde, lärmende, feinselige Großstadtwüste, in der sie eine Fremde, eine Irrende war. Man brauchte sie nicht, sie konnte sich hier nicht behaupten, der Traum von Freiheit war ausgeträumt. Fanny schaute sich um, überall grelle Leuchtreklamen, die Scheinwerfer der Autos spiegelten sich im feuchten Asphalt, blendeten sie, aggressives Hupen, vor den Ampeln und auf den Zebrastreifen hastende, drängende Menschen. Nein, sie passte nicht hierher, sie konnte auch nicht zurück zu den Eltern, sie müsste ihnen und den Freundinnen ja ihre Niederlage eingestehen, Fanny konnte sich ihre Schadenfreude gut vorstellen. Mitten auf einem Zebrastreifen blieb sie stehen und starrte direkt in die grellen Scheinwerferlichter eines Autos. Quietschende Bremsen, Flüche, Fanny schreckte auf und lief weiter, sie musste Bienchen abholen, fiel ihr ein. Und sie musste mit Rolf reden.

„Hättest du es mir doch eher gesagt“, meinte Rolf auch gleich vorwurfsvoll, als es ihm Fanny beichtete. Er kaufte einen Münchner Abendanzeiger und durchforschte darin die Stellenangebote. Die Anzeige der Firma Koller, einem Herrenausstatter, fiel ihm ins Auge. „Überdurchschnittlich gute Bezahlung“, stand da. Rolf kreiste die Anzeige mit einem Rotstift ein.

„Gleich nächsten Montag gehen wir hin, Fanny“, meinte er. „Wer weiß, vielleicht war deine Kündigung gar kein so großes Unglück.“

Fanny lächelte wieder, das Gefühl versagt zu haben aber blieb.

Der Herrenausstatter Koller lag an Münchens verkehrsreichstem Punkt, am Rosenheimer Platz. Das bedeutete für Fanny, dass sie am Rosenheimer Platz aus der Tram Nr. 8 steigen und auf den mit Verkehrsampeln gesicherten Zebrastreifen den riesigen Kreisverkehr überqueren musste, um zu ihrem neuen Arbeitsplatz zu gelangen.

Zunächst gestaltete sich die Arbeit in den mit hellen Neonlampen ausgestrahlten, großen Fabrikhallen mit den langen Reihen verschiedener Spezialnähmaschinen, Plättwalzen und Schneidetischen aufregend, zumal Fanny dank ihrer Kenntnisse gleich als Springerin eingesetzt wurde, das heißt, sie besetzte die durch Urlaub oder Krankheit verwaisten Arbeitsplätze. Das brachte fast doppelt so viel Gehalt ein, wie die Arbeit vorher, in der kleinen Schneiderei. Die Akkordarbeit machte Fanny anfangs Angst, aber da sie flottes Arbeiten gewöhnt war, arbeitete sie sich während der Probezeit rasch ein. Privater Kontakt während der Arbeitszeit war nicht möglich, höchstens Blickkontakte über surrende Maschinen hinweg oder ein Scherz im Vorbeigehen. Die kurzen Pausen wurden durch einen schrillen Summton angekündigt und beendet, sie reichten gerade aus, um das Pausenbrot zu essen und einen Schluck Tee aus der Thermosflasche zu trinken.

Noch vor dem Winter konnte die junge Familie Dengler in den Stadtteil Berg-am-Laim umziehen, in eine Erdgeschosswohnung eines der zweistöckigen Neubaublocks. Die Wohnung war ein Traum, sie hatte zwei Zimmer, eine moderne Einbauküche mit einem Ess-Platz und ein Bad mit einer Badewanne, im Keller befand sich ein Waschsalon. Nicht weit von der Neubausiedlung entfernt hatte Rolf beizeiten und in weiser Voraussicht eine Kinderkrippe ausfindig gemacht und sich dort für Bienchen einen Platz reservieren lassen. Die Krippe lag praktischer Weise auf Fannys Weg zur Straßenbahn, war aber zu ihrem Kummer bei weitem nicht so schön wie die Krippe in der Innenstadt, genau genommen war sie nur ein besserer Container, der etwas zurückgesetzt an einer verkehrsreichen Straße lag. Keine Spur von freundlichem Grün, nur Großbaustellen, auf denen Wohnblocks mit Sozialwohnungen entstanden. Soweit das Auge reichte Berge von Aushuberde neben schnellwachsenden Rohbauten oder fertiggestellten Wohnblöcken, an deren Fenstern schon vereinzelt Gardinen hingen. Dazwischen ratternde, mit Baumaterial beladene und Staubwolken aufwirbelnde Laster. Statt Bäume ragten turmhohen Kräne wie Skelette in den meist grauen Winterhimmel.

Die wenigen Möbel, die vorher die kleine Wohnung geradezu gesprengt hatten, wirkten im großen Wohnraum wie verloren. Supertoll fand Fanny die an der Südseite des großen Wohnraums befindliche Fensterfront, deren Schiebetüren in warmen Sommermonaten zurückgeschoben werden konnten, so dass der Raum durch die jetzt noch unfertige, große Terrasse vergrößert wurde. Den schmalen Erdstreifen, der sich an die Terrasse anschloss, könnte man im Frühjahr mit Rasen einsäen, dann würden Bienchen und ihr Geschwisterchen wunderbar darauf spielen können.

Sie kauften Geschirr, Handtücher und Bettwäsche, schließlich verdienten sie jetzt beide recht gut. Ein richtiges Schlafzimmer würden sie sich vom Weihnachtsgeld, gleich im nächsten Monat leisten. Fanny war zuversichtlich, hier würden sie es sich schön machen. Irgendwann musste der heftige Bauboom ringsumher ja nachlassen, dann würden Kinderspielplätze und Grünanlagen entstehen.

Den Traum von einem Ingenieurstudium war für Rolf schnell ausgeträumt, sein Beruf nahm ihn zu sehr in Anspruch. Er besuchte regelmäßig Strahlenschutzkurse und Fachschulungen, in denen er in die moderne Medizintechnik, speziell in die Röntgentechnik eingeführt wurde. In der ersten Zeit fuhr er mit einem erfahrenen Techniker hinaus in die „freie Wildbahn“, wie es im Firmenjargon hieß, um vor Ort wichtige, praktische Erfahrungen zu sammeln. Das gefiel Rolf gut, er konnte sich körperlich und geistig voll einbringen und schon bald kleinere Aufträge eigenverantwortlich erledigen. Er liebte es im Auftrag seiner Firma, meist zusammen mit dem erfahrenen Kollegen Wulf, den Kofferraum voller Messgeräte und Spezialwerkzeuge, in ganz Bayern herumzufahren und in Krankenhäuser und Praxen Röntgenanlagen aufzubauen und zu warten. Rolf war ehrgeizig, er lernte und arbeitete schnell und zuverlässig, er wollte Anerkennung von seinem Chef und auch von den Kunden, was ihm, wie er mit Recht hoffte, in nicht allzu ferner Zukunft ein besseres Gehalt einbringen würde.

Sein Kollege Gilbert Wulf war Mitte Dreißig und ein guter, erfahrener Techniker, Rolf bewunderte ihn sehr und lernte viel von ihm. Gilbert war witzig, charmant und dadurch bei den Röntgen-Assistentinnen sehr beliebt, was gut fürs Geschäft ist, wie er betonte. Gilbert war verheiratet, hatte aber eine sehr eigenwillige Vorstellung von der ehelichen Treue, wie Rolf bald herausfand. Das erste Mal bei einem Handchirurgen in einer Münchner Privatpraxis. Rolf wollte in der Dunkelkammer die Röntgenfilme holen, die rote Lampe davor leuchtete nicht mehr, das hieß, die Entwicklung der Filme war abgeschlossen und man konnte hineingehen. Dementsprechend unbekümmert öffnete er die Tür, als jemand zischte:

„Tür zu, es kommt Licht herein.“

Rolf bemerkte sekundenschnell die eng umschlungenen Gestalten seitlich der Tür, in der Ecke, er bekam rote Ohren und schloss flugs die Tür wieder, natürlich hatte er die Stimme von Gilbert Wulf erkannt. Als Gilbert kurz darauf mit den Filmen aus der Dunkelkammer auftauchte, war ihm rein nichts anzumerken, umso mehr der hübschen Assistentin, die bald darauf mit gesengtem Blicken und roten Wangen erschien. Sie vermied es Rolf, dem die Situation genauso peinlich war, anzusehen oder ihm zu nahe zu kommen. Irgendwann verschwand sie sang und klanglos aus der Röntgenabteilung.

„Kommst du noch mit auf ein Bier?“, fragte Gilbert am Abend, als er mit Rolf das Werkzeug zusammenräumte.

„Geht nicht, meine Frau wartet auf mich“, antwortete Rolf mit verschlossenem Gesicht. „Hab‘ sowieso schon ein schlechtes Gewissen, weil sie mit dem Kind so viel allein ist.“

Das stimmte zwar, aber vor allem hatte er keine Lust auf Gilberts Gesellschaft.

„Ah, ganz der sorgende Familienvater“, meinte Gilbert herablassend, so als hätte er Spießer gemeint. „Weiß du, Rolf, dass von vorhin bleibt besser unter uns“, meinte er dann kumpelhaft. „Mir ist es egal, ob man sich über mich die Mäuler zerreißt, aber die Kleine müssen wir nicht unbedingt unglücklich machen. Sie hat einen festen Freund, weißt du.“

„Natürlich“, antwortete Rolf, seine leicht abstehenden Ohren röteten sich verdächtig. „Aber warum machst du das, Gilbert, wenn sie doch einen Freund hat? Und was ist mit deiner Frau? Stell dir vor, wenn sie es durch einen blöden Zufall erfährt? Vielleicht von einer anderen Assistentin.“

Dass Rolf ihm, dem Älteren praktisch die Leviten las, schien Gilbert nicht sonderlich zu stören, er lächelte belustigt und dachte: „Wie rührend, dem Jungen muss man mehr beibringen als nur die Medizintechnik.“ Laut aber sagte er: „Weißt du, Rolf, der Kavalier genießt und schweigt, ich zwinge keine. Also, kommst du nun mit auf ein Bier? Ich spendier dir eins.“

Rolf lehnte ab. „Ein andermal“, meinte er einsilbig. Gilbert Wolf brachte ihn mit seinem Wagen hinaus in die neue Siedlung „Bergam-Laim“. Sie tauschten kaum noch ein Wort miteinander.

Von nun an sah Rolf seinen Kollegen Gilbert Wolf, der fast ein Idol für ihn gewesen war, mit anderen Augen, er war ihm gegenüber verunsichert und enttäuscht von ihm. Aber, so sagte er sich, was ging es ihn an, der Kollege war alt genug, um zu muss wissen was er tat.

Gilbert Wulf aber fühlte sich durch den jungen, ehrgeizigen und allzu spießigen Neuling in seiner Freiheit beeinträchtigt. Verstärkt sprach bei Herrn Ing. Hasslinger, dem Chef, vor und bat darum, den Kollege Dengler, nachdem er ihn nun lange genug mitgeschleift habe, einen anderen Techniker zuzuteilen.

Kurz vor Weihnachten wurde er konkreter.

„Mir reicht’s, Chef“, beschwerte er sich nun unmissverständlich, „fast ein Jahr schleppe ich den Dengler jetzt schon mit mir herum! Nächstes Jahr soll er mit dem Liebknecht mitfahren. Kleinere Reparaturen bewältigt er sowieso schon allein, der Junge ist ja ganz brauchbar.“

Insgesamt vermittelte er dem Chef, einem humorlosen, poltrigen Mittfünfziger, kein sehr günstiges Bild vom jungen Kollegen Dengler.

Herr Ing. Hasslinger ließ Rolf am Tag vor den Weihnachtsfeiertagen in sein Büro kommen. Rolf stand mit klopfendem Herzen und geröteten Ohren vor dem Schreibtisch seines Chefs.„Nun, Dengler, habe gehört, Sie haben sich recht gut bei uns eingearbeitet“, meinte Herr Ing. Hasslinger gönnerhaft und musterte seinen jüngsten Mitarbeiter kritisch von oben bis unten, so dass es diesem heiß und bang wurde. „Wie gefällt Ihnen die Arbeit bei uns?“

„Gut, Herr Hasslinger“, antwortete Rolf, „sehr gut. Ich habe schon eine Menge gelernt, vor allem von Herrn Wulf.“

„Schön, Dengler. Ab nächstem Jahr können Sie vermehrt allein rausfahren, Sie sind nun soweit. Aber“, fügte er hinzu und räusperte sich, „ihr Auftreten und ihr Äußeres müssen Sie noch verbessern, Dengler. Schauen Sie, es macht keinen guten Eindruck, wenn Sie im Namen unserer Firma mit einem abgetragenen Mantel und mit ungebügelten Hosen bei den Kunden auftauchen. Geben Sie sich mehr Mühe, Dengler, dann wird es schon werden mit Ihnen. Nun gehen wir hinüber zu den Kollegen, unsere Bürodamen haben eine kleine Weihnachtsfeier vorbereitet. Nun machen Sie kein langes Gesicht, Dengler, und kommen Sie schon.“

Rolf fühlte sich zurechtgewiesen, fast gedemütigt, ihm war jetzt nicht nach Feiern zumute. Er ließ das feucht fröhliche Treiben und die guten Wünsche für Weihnachten und das kommenden Jahr still über sich ergehen.

„Na, Dengler?“ Kollege Wulf legte ihm kumpelhaft den Arm auf die Schultern. „Nun entspann dich doch mal. Komm, stoßen wir auf einen guten Rutsch ins neue Jahr an. Leider werden wir im nächsten Jahr nicht mehr oft zusammen losziehen, du bist nun fit genug, um allein rauszufahren. Besuchst du während der Feiertage deine Eltern?

„Ja, natürlich“, meinte Rolf geistesabwesend, „die Omas haben die Kleine ja noch gar nicht gesehen.“

„Einen Opa hat sie wohl nicht?“, erkundigte sich Gilbert ohne allzu viel Interesse.

„Nein“, erwiderte Rolf genauso lustlos, „jedenfalls keinen der zählt.“

Nach einer kurzen Ansprache, in der Herr Ing. Hasslinger die gute Entwicklung des vergangenen Geschäftsjahres lobte, der Umsatz konnte dank der ausgezeichneten Zusammenarbeit von Geschäftsführung, Verkauf und Services um sage und schreibe fünfundzwanzig Prozent gesteigert werden und so weiter. Er gab der Hoffnung Ausdruck, dass auch das kommende Jahr erfolgreich werden möge und händigte jedem Mitarbeiter ein weißes Kuvert mit einem goldenen Stern darauf aus, worin sich die nach den Gehältern bemessenen Weihnachtsgelder befanden.

BBienchen sah ihren ersten Weihnachtsbaum in der reinen, bescheidenen Stube von Oma Schadhaus, sie hatte das Bäumchen wie jedes Jahr persönlich geschlagen und mit einem Leiterwagen aus dem Wald geholt. Seine Nadeln dufteten mit den selbstgebackenen Plätzchen und dem Stollen um die Wette, die Zweige waren wie eh und je reichlich mit Silberlametta und roten Christbaumkugeln behängt, deren Glasur jedes Jahr mehr abblätterte und mit Wachs bekleckert waren, sowie die Metallkerzenhalter, in denen rote Kerzen steckten. Wie jedes Jahr stand der Baum festgeschraubt in einem metallenen Ständer, auf einem mit einem bestickten Deckelchen versehenem Tischchen, in sicherem Abstand zum Herd. Der befand sich an der anderen Seite, neben der Küchentür, wie immer hing Wäsche auf einer Leine darüber. Daneben befand sich der Spülstein mit dem Wasserhahn, auf dem ein Porzellanschälchen mit einem Stück Kernseife lag. Der Spülstein war unter anderem auch der Waschplatz der Familie, was an den Zahnputzbechern und der Schale mit dem Rasierpinsel und dem Klingenhalter auf der Ablage darüber und dem kleinen Spiegel an der Wand zu sehen war. An den Sonnabenden war immer Badetag, da holte Oma Schadhaus ihre Metallwanne aus dem Waschhaus, in dem die Blockbewohner ihre große Wäsche wuschen, und es wurde gebadet. Gegenüber dem Weihnachtsbaum befand sich das mit geblümten Schals versehene und mit einer dichten Gardine behängte Fenster, etwas seitlich darunter die Eckbank mit dem Tisch, über den Oma Schadhaus heute, an Weihnachten eine frische Tischdecke gebreitet hatte, und zwei Stühle. Neben der Eckbank und dem Tisch befand sich das Bauernbüfett.

Oma Schadhaus wartete schon unruhig auf ihre Kinder, die Straßen waren teilweise schneeverweht, da konnte unterwegs wer weiß was passieren.

Fanny und Rolf saßen schon im königsblauen Firmenbus und waren auf der Autobahn unterwegs, es waren ungefähr hundert Kilometer bis nach Hause. Fanny betrachtete verzückt die vorbeiziehende, verwunschen wirkende Hügellandschaft der Holledau und die verschneiten Orte mit den anheimelnden Zwiebeltürmen, mit jedem Kilometer mehr hatte sie das Gefühl heimzukommen. Im Stillen aber machte sie sich Sorgen wegen der Eltern, erfahrungsgemäß verlief das Weihnachtsfest zu Hause nicht unbedingt harmonisch. Sollte der Stiefvater ausflippen, nahm sie sich fest vor, oder die Mutter depressiv sein, dann würden sie sofort nach München zurückfahren. Das würde sie Bienchen nicht zumuten.