Mein besonderer Dank geht an:
Alexandra Eryiğit-Klos - Korrektur, Lektorat, Dipl.-
Sprachenlehrerin
www.fast-it.net
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
ISBN: 9 783753 469751
Copyright (2021)
margarete@van-marvik.de www.van-marvik.de
Alle Rechte beim Autor
BoD-Books on Demand GmbH, Norderstedt
Sofia trat auf die Straße, schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. Es wollte nicht aufhören zu regnen. In Sekunden war ihr kupferfarbenes Haar, das über ihre Schultern und den Rücken fiel, klatschnass. Schlecht gelaunt hob sie ihren Kopf. Ihre Augen wanderten entlang des wöchentlichen Abfalls, der sich reihenweise am Rande der Häuserreihe stapelte. Unruhig sah sie sich um, es war ihr peinlich und sie wollte von den Nachbarn nicht gesehen werden. Dann senkte sie ihren Blick und lief bis zur nächsten Straßenecke. Mit ihrem feuchten Jackenärmel wischte sie sich die triefend nassen Haare aus der Stirn. Ihre Nasenflügel zogen sich zusammen, als sie einen der Jutesäcke öffnete. Egal wie stark der Geruch auch war, sie musste trotzdem etwas Essbares für ihre kleine Schwester finden. Die Mutter war nicht in der Lage, für die Familie zu sorgen. Der Vater hatte sie und die Familie im Stich gelassen. Und Dara, ihre älteste Schwester, war gehbehindert, weil Mutter sie als Säugling vom Tisch hatte fallen lassen.
Endlich ... vor ihr stand der letzte prall gefüllte Jutemüllsack. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, atmete tief ein und hielt die Luft an. Dann knotete sie den Sack auf und durchwühlte ihn mit flinken Fingern.
„Na, wer sagt’s denn?“, murmelte sie und holte eine feuchte Tüte heraus, in der ein Kanten Brot eingewickelt war. Nach genauer Begutachtung entschied sie, dass er noch brauchbar war. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen schob sie den Kanten in ihre Rocktasche. Sofia musste sich beeilen, wollte sie noch rechtzeitig in der Schule für Hausbewirtschaftung sein. Nur noch eine Straße überqueren, dann würde sie vor dem dreistöckigen Mietshaus stehen und könnte es noch zum Unterricht schaffen. Doch dann stoppte sie abrupt, sodass das Wasser unter ihren nackten Füßen bis an ihre Kniekehle spritzte. Ihre Pupillen verengten sich, als sie auf der anderen Straßenseite die Nonne und den Priester aus der Kirche sowie den Direktor ihrer Schule erblickte. Das konnte nichts Gutes heißen! Diese drei Unmenschen, wie Sofia sie im Geheimen nannte, steuerten geradewegs auf das Haus zu, in dem sie mit ihrer Familie lebte. Schon seit Tagen kursierten Gerüchte in der Schule, dass die Kirche junge Mädchen armer Familien ins Kloster sperrte. Als Vorwand nannten sie, dass sie den Mädchen eine Ausbildung ermöglichen wollten. Zwei Freundinnen waren seit Wochen verschwunden. Bei diesem Gedanken stolperte ihr Herz so heftig, dass sie sich mit einer Faust auf den Brustkorb schlug. Kamen sie heute, um sie, Sofia, zu holen? Ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Sofort drehte sie sich um und rannte zurück in den Hof des Nachbargebäudes. Sie konnte nicht schnell genug über die kleine Mauer steigen. Geduckt, als sei ihr eigener Schatten hinter ihr her, lief sie weiter bis zur Kellertür, die ins eigene Treppenhaus führte. Mit ihrem Körper drückte sie die schwere Tür auf und huschte hinein. „Lieber Gott, lass die Nonne und den Pater nicht zu uns wollen“, flehte sie. Dann rannte sie, als sei der Teufel persönlich hinter ihr her, mehrere Stufen auf einmal nehmend, hoch bis ins Dachgeschoss. Mit aller Kraft zog sie an der Dachluke, um anschließend die steile Holzleiter nach unten zu ziehen. In Sekundenschnelle stieg sie hinauf und schloss die Luke hinter sich. Ihr hübsches, wie von Elfenbein geschnitztes Gesicht brannte vor Aufregung. Selbst ihre Sommersprossen rund um die Augenpartie nahmen eine dunklere Farbe an. Sie hörte, wie ihre ältere Schwester Dara fragte: „Was ist mit dir?“
„Hilf mir, die wollen mich holen, so wie meine Freundinnen. Verstehst du? Lass uns die verjagen!“
Als Dara überhaupt nicht reagierte, packte sie diese an ihrem durchlöcherten Pullover und schüttelte sie. „Dara?“
„Ja, ich, ich will es versuchen. Ich überlege doch schon!“
„Pst ...“, Sofia bückte sich und legte ihr linkes Ohr auf die Luke. Immer lauter drang das Poltern auf der Holztreppe zu ihr durch. Die Nonne schimpfte über die feuchte und modrige Luft in diesem Haus. Wie angewurzelt saß Sofia noch immer auf der Luke und Dara stellte als Verstärkung ihren Fuß darauf. Doch wenige Sekunden später donnerte ein kräftiger Schlag gegen die Öffnung. Sofia zuckte zusammen, als sie von der Luke rutschte. Dara war trotz ihres Gewichts und ihrer Größe gezwungen, ebenfalls den Fuß von dem Verschlag zu nehmen. Wie abgesprochen, wagten sie noch einmal den Versuch, sich dagegenzustemmen. Dara atmete schwer, dabei kniff sie ihre Lippen zusammen, sodass nur noch ein schmaler Strich zu sehen war. Sofias Stirn war vor Anstrengung in Falten gelegt. Das half jedoch alles nichts, sie waren schlechtweg nicht stark genug, um dem gewaltigen Druck des kräftigen Direktors entgegenzuwirken. Wie Federn wurden sie ein zweites Mal weggeschoben. Er war es auch, der als Erster seinen runden, knallroten Kopf durch die Luke steckte. Vor Bestürzung krallte Sofia ihre Hand in die von Dara. Sie mussten beide machtlos zusehen, wie sich die drei durch die Dachluke zwängten. Sofia verfolgte mit ihren Augen die schwarz gekleidete Frau mit der weiß umrandeten Haube auf dem Kopf, wie sie der kreuz und quer hängenden Wäsche auswich. Als Sofia den Pater auf sich zukommen sah, wich sie ihm aus und ging die wenigen Schritten auf ihre schwer kranke Mutter zu, die auf der einzigen Liege in diesem Raum lag. Sofia registrierte, dass ihr Gesicht bereits durch das Todesdreieck gezeichnet war. Starr vor Schreck zog sie ihre Oberlippe über die Unterlippe, um nicht laut zu schreien. Erst als die kleine Schwester Marie anfing zu weinen, drehte sich Sofia von der kranken Frau weg. In ihrem Kopf suchte sie krampfhaft nach einem Ausweg, obwohl sie ahnte, dass es keinen geben würde. Aber so schnell wollte sie nicht aufgeben! Ihr Herz bollerte wie verrückt, als sie einen Schritt auf den Pater zuging. Damit er ihre Angst nicht sah, stemmte sie die Arme in die Hüften und fragte voller Empörung: „Was wollt ihr hier?“ Sofort senkte Sofia ihre Augenlider, als Pater Joschka sie mit einem bösen Blick bestrafte. Es war Sofia fast unmöglich, den inneren Druck zu unterdrücken, der wie ein Dampfkessel überzulaufen drohte. Eine bisher nicht gekannte Angst ergriff sie, als eine Stimme in ihrem Kopf befahl: „Lauf, Mädchen, lauf! Rette dich selbst!“
Sofia wollte laufen, aber ihre Beine blieben wie angenagelt am Boden haften.
Pater Joschka hatte wohl die inneren Qualen, die sie gerade durchlitt, in ihren Augen gelesen. Versöhnend legte er seine Hand auf ihre Schulter. Er zwang sie, ihn anzusehen, als er auf ihre Frage erwiderte: „Sofia, du bist zu schön für diese Welt. Wir werden dich beschützen und dir zu dem Beruf einer ehrbaren Nonne verhelfen. Aus dir wird etwas Besonderes! Nein, du bist etwas Besonders. Du wirst Gottes Braut werden!“
„Niemals, nein! Das könnt ihr nicht tun!“ Ihre Stimme überschlug sich.
„Doch“, hörte sie ihre Mutter leise sagen. Abrupt drehte sich Sofia zu ihr um.
„Mein Kind, es geht nicht anders! Deine Schwester Dara wird mit einem Baumwollfabrikanten in Belfast verheiratet werden. Es ist alles in die Wege geleitet und Marie wird mit in die Familie aufgenommen. Du bist nun sechzehn Jahre, Dara schon achtzehn. Du weißt, dass ich bald sterben werde. Das Geld, das ich noch besitze, reicht gerade für die Mitgift von Dara und Marie. Und ... für meine Beerdigung. Für dich bleibt nichts übrig und ich kann nicht zulassen, dass du obdachlos wirst. Du bist sozusagen mittellos. Niemand würde dich aufnehmen wollen. Im Kloster bist du gut aufgehoben. Es ist alles geregelt; es ist das Mindeste, was ich für euch tun konnte. Deine Schwester bekommt einen Mann und Marie ein neues Zuhause. Und du ... du wirst, wie mir Pater Joschka versicherte, die schönste Braut Gottes. Und ... und ich kann mich beruhigt in Gottes Hand begeben.“
Sofia wusste selbst nicht, wie ihr geschah, als sie plötzlich eine wahnsinnige Wut fühlte, gepaart mit Angst, die sich wie ein drohendes Tier zwischen ihre Schulterblätter setzte.
„Das, das könnt ihr nicht tun! Ich will nicht ins Kloster! Außer mir selbst hat keiner ein Recht, mein Leben zu bestimmen. Auch nicht Gott! Was habe ich Unrechtes getan?“ Sofia riss sich von dem Mann los und rannte auf das Bett ihrer Mutter zu: „Mutter, sag, dass es nicht wahr ist, was du gerade in deinem Fieber gefaselt hast!“
Ihre Mutter hielt die Augen geschlossen. Hilflos und von Entsetzen erfüllt, starrte Sofia sie an.
„Diesem Theater wird jetzt ein Ende gemacht! Es ist bereits alles von der Kirche und dem Staat abgesegnet. Das Geld ist geflossen, die Heiratspapiere für Dara und die Aufnahme ins Kloster sind veranlasst. Die nächsten Jahre wirst du bei uns verbringen. Und ... du solltest dankbar sein, aus diesem stinkigen Loch rauszukommen.“
Sofia konnte das plötzlich aufgetretene Augenflattern nicht unterdrücken und sie fragte noch einmal: „Warum ich? Warum nicht Dara? Sie ist die Ältere.“
„Sofia, es tut mir leid! Ich hätte es dir sagen müssen. Aber der Pater hat es mir strikt verboten. Auch ich werde in den nächsten Tagen mit Marie abgeholt und nach Belfast gebracht. Und ... Pater Joschka hat recht, du bist so wunderschön! Ich kann verstehen, dass Gott dich und nicht mich Krüppel zur Braut haben will“, antwortete Dara.
„Du bist meine Schwester! Warum hast du es mir verheimlicht? Ich hätte weggehen können!“ Sofia ging rückwärts in Richtung Tür, als sie diesen Vorwurf an Dara richtete. Es war ihr unmöglich zu begreifen, was soeben in diesem Raum ablief. War das wirklich die Realität? Oder war alles nur ein böser Traum? Hastig kniff sie sich in den Arm; es schmerzte. Sofia kniff ihre Augenlider zusammen und hoffte, dass alles wieder wie vorher wäre. Aber nein, als sie ihre Augen öffnete, waren sie noch da ... diese Menschen ... die sie von hier wegholen wollten. Tränen, die sie so mühevoll zurückgehalten hatte, schossen aus ihren katzengrünen Augen. Mit unklarem Blick sah sie, wie Marie Hilfe suchend zu Mutter rannte und die kranke Frau umklammerte. Der Direktor fing an zu poltern: „Du kommst mit, verabschiede dich von deinen Schwestern und von deiner Mutter.“
Und bevor Sofia reagieren konnte, griffen zwei starke Arme nach ihr und zerrten sie weg von Marie und Dara. Sofia boxte und trat mit den Füßen gegen die Nonne und den Direktor. Als ob ihre ältere Schwester aus einem Traum erwachen würde, schoss sie auf den Direktor zu. Mit all ihrer Kraft versuchte sie Sofia von den Leuten loszureißen, während Sofia sich krampfhaft an dem klapprigen Stuhl festhielt. Sie verlor den Halt und der Stuhl fiel krachend um. Marie schrie: „Pass auf, Sofia!“
Auf einmal wurde es still, als ein kurzes Zischen zu hören war. Sofia zuckte, sie konnte gerade noch ihre Hände vor das Gesicht halten. Ein grauenvoller Schmerz durchzog ihr Handgelenk. Der Lederriemen hatte sie getroffen. Ohne dass sie es wollte, sank sie lautlos in die Knie. Pater Joschkas Gesicht lief rot an. Sie hörte ihn schimpfen: „Was sollte das, Schwester Cécile? Hätte Sofia nicht ihre Hände gehoben, wäre ihr Gesicht durch die Striemen ein Leben lang gebrandmarkt. Niemand erhebt die Hand gegen eine ausgesuchte Braut unseres Herrn.“
Sofia blieb in der Hocke sitzen. Mit den Augen verfolgte sie, wie sich Schwester Cécile in einer Ecke des Raumes auf die Knie fallen ließ. Kurz darauf fing diese an zu beten: „Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr sei mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.“
Sofia starrte die Nonne mit offenem Mund an, als sie sich aus der Hocke erhob. Mit geballten Fäusten lief sie auf die Kniende zu und schüttelte sie an den Schultern. „Was für ein Hohn! Welch eine Falschheit steckt in Euch!“
Der Schuldirektor hielt Sofia fest. Stumm ließ sie sich fortziehen. Als sie das Podest der Hauseingangstür erreicht hatte, vernahm sie das herzzerreißende Weinen ihrer kleinen Schwester. Der Direktor war genervt, blieb stehen, hob seinen dicken roten Kopf und bollerte nach oben: „Wenn du nicht aufhörst zu jammern, bist du die Nächste, die wir von hier abholen und ins Kloster stecken.“
Der Krach hatte neugierige Mitbewohner veranlasst, ihre Wohnungstüren zu öffnen. Eine unter ihnen war Frau O’Connor. Als sie Sofia und den Rest der Leute erkannte, schlug sie entsetzt ihre Hände vor das Gesicht. „Gehen Sie zurück in Ihre Wohnung und beten Sie für die gestrauchelte junge Seele“, hörte Sofia die heuchlerische Stimme des Paters. Schnell schloss Frau O’Connor die Tür wieder hinter sich.
Als sie auf die Straße traten, hatte der Regen nachgelassen. Auf dem verschlammten Bürgersteig spielten Kinder aus der Nachbarschaft. Wie in Trance ließ sie sich in die wartende Kutsche schieben. Die Kutsche war eng und ihr Brustkorb zog sich zusammen. Panik ergriff sie und sie versuchte wieder auszusteigen. Doch je mehr sie sich weigerte, umso tiefer wurde sie auf den Sitz der Kutsche gedrückt. Erst als der Direktor sicher war, dass Sofia fest auf der Bank saß, stieg er aus und ordnete an, loszufahren. Sofias Blick war verschleiert von den vielen Tränen, die sich lautlos an ihrem Kinn sammelten. Ab und zu blickte sie aus dem kleinen Fenster. Sie fuhren über unebene und holprige Wege, vorbei an dem Armenviertel, in dem sie wohnte, dem größten Rotlichtviertel von Dublin und vorbei an dem Hafen. Am Ende überquerten sie das prunkvolle Viertel der Adligen und Reichen. Sofia hatte jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren, als die Kutsche anhielt. Grob und ohne Erbarmen zerrte die Nonne sie aus dem Wagen und schob sie in den Innenhof. Übermächtig und dunkel wirkten die Mauern auf Sofia. Wie ein Tier, das dem Stall entlaufen war, wurde sie entlang der Innenmauer bis zur Eingangstür des Mutterhauses gezerrt. Mit einem dumpfen Ton fiel die schwere Eichentür hinter ihr ins Schloss.
Sofia knirschte mit den Zähnen, bis ihr Kiefer schmerzte. Ihre Augenlider blinzelten wild, als sie sich in dem kalten und dunklen Saal, in den sie nun eingetreten waren, umsah. Das schlichte Kreuz an der Stirnwand des Raumes schien herrisch auf sie herabzusehen. Am Ende der endlosen Tischreihe sah sie eine Nonne, deren Mundwinkel mürrisch nach unten hingen. Eine Gänsehaut lief entlang ihrer Arme, als diese Nonne sie mit dem Blick eines Geiers fixierte. Die hagere Frau war anders gekleidet – nicht wie die, die sie hierhergeführt hatte. Sofia senkte ihren Blick. Zu erdrückend war diese düstere Atmosphäre.
„Das ist die Mutter Oberin; was sie sagt, ist Gesetz!“ Und schon vernahm sie eine Stimme, die ohne Klang und Farbe war.
„Sei gesegnet, Sofia, die nächsten Jahre wirst du bei uns verbringen. Deine Berufung ist es, eine Braut Gottes zu werden. Doch bis dahin ist es ein steiniger Weg. Schwester Cécile wird dich in alles einweisen.“
„Ich will aber keine Klosterfrau werden. Ihr habt kein Recht, mich hier festzuhalten.“
„Sieh an, sieh an. Auch noch starrsinnig, dieses Mädchen. Hat dir deine Mutter keine Manieren beigebracht?“, erwiderte die Mutter Oberin.
Sofia krallte ihre Hände in eine der schweren Stuhllehnen.
Lieber Herrgott, wenn es dich gibt, lass mich in ein Loch versinken und nie wieder auftauchen, schrie es in ihr.
„Sofia, ich rede mit dir!“
„Ja?“
„Merke dir! Die Kirche und das Kloster legen fest, was böse oder gut ist! Sie bestimmen, wer brav oder ungehorsam ist! Und wann ein Mädchen als verwahrlost, als hässlich oder hübsch gilt! Das bestimmen alleine wir hier, hinter diesen Mauern. Hast du das verstanden? Und noch etwas: Ab sofort herrscht Sprechverbot für dich! Alles wird nur einmal erklärt, also spitze deine schmutzigen Ohren.“
Cécile, die Nonne, die noch immer hinter ihr stand, hielt Sofia an den Schultern fest. So war sie gezwungen, die Mutter Oberin anzusehen, die weitere Anweisungen gab.
„Die ersten zwei Wochen wirst du im Raum der Stille verbringen. Die Dämonen, die dich beherrschen, werden wir zu vertreiben wissen. Deine Seele soll rein sein, wenn du mit unserem Herrn vermählt wirst. Einmal täglich bekommst du Brei und Wasser gebracht. Reden mit den Schwestern, die dich versorgen, ist strengstens untersagt! Die Lumpen, die du trägst, werden verbrannt. Deine Haare werden geschoren und du bekommst einen Namen, den wir dir nach dem gesamten Prozedere bekannt geben werden. Deinen eigenen Namen wirst du vergessen. Hast du das verstanden?“
Sofias Beine drohten einzuknicken. Hastig griff sie erneut zur Stuhllehne und hielt sich dort so lange fest, bis die Knöchel ihrer Finger die Farbe wechselten.
Ungeheuerlich – unfassbar!, ging es ihr immer wieder durch den Kopf. Alles in ihr bäumte sich auf. Wie sollte das funktionieren, dieses „nicht reden“? Unwillkürlich stampfte sie mit ihren nackten Füßen auf den Boden. Als sie die Stuhllehne losließ, stolperte sie unkontrolliert einen Schritt auf die Mutter Oberin zu.
„Warum, wieso ich? Was, was ... habe ich getan, um so bestraft zu werden?“
„Warum so uneinsichtig? Deine Schwestern und du, ihr seid für die Zukunft gut versorgt. Was willst du noch? Außerdem ... du bist ein Kind der Sünde. Wer so schön ist wie du, kann nur ein Kind der Sünde sein! Wenn du dich in das Klosterleben einfügst und dein weltliches Leben aufgegeben hast, wird es dir gut gehen.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schritt die unbarmherzige Frau mit ihrem steifen Kragen an Sofia vorbei. Sofia starrte ihr hinterher, bis die schwere Tür ins Schloss fiel. Erst nach einem heftigen Stoß in die Rippen drehte sie sich Richtung Tür. Schwester Cécile schob Sofia kreuz und quer durch die endlosen Gänge des Klosters, bis hin zu den Nasszellen. Sofia stoppte, wollte nicht eintreten, doch Cécile stieß ihr in die Rippen. Sofia verlor das Gleichgewicht und stolperte über die Türschwelle. Die Mädchen und jungen Frauen, die sich darin aufhielten, senkten ihre Köpfe. Eine korpulente, weiß gekleidete Nonne, versehen mit einer Nassschürze, trat ihr entgegen. Ohne ein Wort zu verlieren, zerrte sie den Rock von Sofias Körper. Sofia drückte die Hände dieser Frau von sich weg und schrie: „Hände weg von meinem Körper! Ich kann mich selbst ausziehen.“
Die dickliche Nonne ließ sich jedoch nicht beirren und zog ihr mit spitzen Fingern und gerümpfter Nase die übrigen Sachen vom Körper. Aus einem Reflex heraus legte Sofia ihre Hände auf ihre nackten Brüste. Als sie auch noch aufgefordert wurde, sich auf die einzige Bank aus Stein zu legen, schloss sie vor Scham ihre Augen und stemmte sich erneut gegen die Nonnen. Zu dritt zerrten sie sie auf die Bank. Eine der Nonnen spreizte ihre Beine gewaltsam und hielt sie in dieser Position fest. Eine andere rasierte ihr die wenigen Schamhaare ab. Sofia glaubte, im Inneren ihres Körpers lichterloh zu brennen. Schweiß tropfte von ihrer Stirn, als sie schrie: „Gott kann nicht wollen, dass ich so behandelt werde.“
Anstatt einer Antwort zog man sie, so nackt wie sie war, in die Sitzposition. Es war ihr unmöglich geworden, ihren Körper und den Kopf gleichzeitig zu schützen. Mit halb geöffneten Lidern verfolgte sie wehrlos, wie Schwester Cécile mit einer Schüssel Wasser und einer Schere auf sie zukam. Mit den letzten Kraftreserven versuchte Sofia deren Vorhaben zu verhindern. Es war vergebens. Wieder wurde sie von mehreren Händen festgehalten. Entkräftet musste sie zusehen, wie eine rote Locke nach der anderen in ihren Schoß fiel. Kaum waren sie fertig damit, musste sie zurück in die Nasszellen. Erst als ein eiskalter Wasserstrahl ihre Haut berührte und sie mit Desinfektionsmittel überworfen wurde, schrie sie vor Schmerz auf. Die offenen Wunden an ihren Füßen und die Wunde an ihrem Handgelenk brannten wie ein loderndes Feuer. Als sie mit ihr fertig waren, stülpte eine dieser Frauen ein graues Kleid, mit der Nummer 889, über ihre nasse und desinfizierte Haut. Noch immer wurde kein Wort gesprochen. Für Sofia war es ein nicht enden wollender Albtraum. Nach dieser Tortur musste sie erneut Schwester Cécile folgen. Abermals überquerten sie mehrere Gänge. Cécile stoppte den Lauf, öffnete eine der kleinen massiven Türen und schob sie in die spärlich beleuchtete Kammer. Sofia hörte, wie hinter ihr die Tür ins Schloss fiel.
Jetzt bin ich endgültig in der Hölle angekommen! Ihr Atem ging flach, als sie sich umsah. Nur ein schmales Bettgestell, ein Tisch und ein Stuhl standen hier drin. Das kleine Fenster, mehr eine Luke, war mit dichten Gitterstäben versehen. In der linken Ecke sah sie ein Loch im Boden. Daneben, in die Wand eingelassen, war ein Steinwaschbecken. Nur ein kleiner Lichtstrahl, nicht dicker als ein dünnes Stück Draht, lugte durch das Fenster. Ein mächtiges dunkles Kruzifix starrte von oben auf sie herab. Furcht und tiefes Herzweh zwangen sie in die Hocke. Der entsetzliche Druck auf ihrer Brust nahm ihr die Luft zum Atmen. Hysterie erfasste sie und sie schrie schrill in den Raum. Sie trampelte mit ihren Füßen auf den Boden und ihre Fäuste flogen gegen die massive graue Betonwand. Sie riss sich an den kurzen Haaren. Verzweifelt schrie sie: „Warum? Ich will keine Braut Gottes werden! Lasst mich hier raus!“
Entkräftet knickte Sofia ein. Zusammengekauert, ihre Arme um die Knie geschlungen, blieb sie hin und her wippend in einer dunklen Ecke sitzen. Sie fror, obwohl dieses graue Kleid zu eng am Körper zu sitzen schien. Ihre Augen fühlten sich geschwollen an und schmerzten. Der Boden unter ihren Füßen war feucht und kalt. Stück für Stück robbte sie sich in Richtung der harten Bank. Sie zog sich hoch und legte sich darauf, wobei ihr Körper eine Embryohaltung einnahm. Kurz darauf brachte ihr ein leichter Schlaf die Erlösung. Erst als sie Schlüssel klappern hörte, versuchte sie sich auf die Füße zu stellen. Doch ihre Beine schienen nicht mehr ihr zu gehören. Sie knickte ein und landete mit ihren Knien auf dem harten Steinboden. Es schmerzte so heftig, dass sie sich auf die Lippen biss, bis sie das warme Blut spürte. Eine Nonne, die sie vorher noch nicht gesehen hatte, stellte ihr eine Schüssel mit Brei und eine Kanne Wasser auf den Tisch. Ihre Stimme war ohne jegliche Empfindung: „Hier ist das Essen für den ganzen Tag, teile es dir ein, mehr gibt es nicht.“ So leise, wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder. Nur das Rasseln aneinanderreibender Schlüssel ließ Sofia zusammenzucken.
Viele Tage war sie in diesem Raum eingesperrt. Den Brei, der ihr täglich gebracht wurde, ließ sie stehen. Sofia verweigerte die Nahrung. Irgendwann – ein Gefühl für Zeit und Raum hatte sie längst verloren – betraten zwei Nonnen die Kammer. Eine der beiden riss Sofias Kopf nach hinten und befahl mit Bosheit in der Stimme: „Du musst essen, mein Kind! Gott braucht gesunde und schöne Bräute.“