

Noch mehr Freude … 
… mit Kinderbüchern für pures Vergnügen!
www.arsedition.de
Das Neuste von arsEdition im Newsletter:
abonnieren unter www.arsedition.de/newsletter
Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe München 2021
© 2021 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München
Alle Rechte vorbehalten
Text: Heiko Wolz
Cover: Frauke Schneider
Vignetten Innenteil: Shutterstock/Black_Rabbit
Gesetzt u. a. in der Romance Fatal Pro by Juan Casco.
ISBN eBook 978 - 3-8458 - 4533-3
ISBN Printausgabe 978 - 3-8458 - 3689-8
www.arsedition.de
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Cover
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Danksagung
Leseprobe aus Band 3
Über den Autor

»Fertig? Und los!«
Hinter Kendricks Füßen stoben prasselnd Steinchen auf. Rechts und links von ihm schossen rund zwanzig weitere Aves auf Ivy zu, die den Angriff am Rand des Falcon Peaks erwartete.
Die Blätter der Eschen, an denen Kendrick vorbeilief, schimmerten golden. Im Hintergrund glühte ein Ahorn, aber das leuchtende Rot seiner Krone verblasste gegen Kendricks Gesichtsfarbe. Mussten sie diesen Sprint wirklich zum bestimmt hundertsten Mal wiederholen? Es war, als trainierten sie in einem Backofen!
Kendricks Wangen brannten, der Schweiß tropfte ihm von der Stirn, das Shirt klebte an seinem Oberkörper. Kein Wunder bei dem Programm, das Ivy ihnen als neue Hüterin an diesem spätsommerlich anmutenden Sonntagnachmittag Ende Oktober auferlegte. Die Schülerinnen und Schüler, die Ivy irgendwann einmal unterrichten würde, waren zu bedauern. Wenn sie ihre Drohung denn ernst machte und Lehrerin für Kunst und Sport an der Mount Avelston School wurde.
Kendrick grinste trotz der Anstrengung. Ivy war gerade vierzehn Jahre alt geworden und hatte ihre berufliche Zukunft bereits bis ins Detail geplant. Aber Ivy war eben Ivy – und sah ihn gerade ziemlich streng an. Schlagartig wurde Kendrick wieder ernst.
Nein, er hatte nicht vergessen, weshalb sie so hart trainierten. Das Biest würde kommen. Auch wenn das nicht alle Aves wahrhaben wollten. Aber waren die anderen dabei gewesen, als es in seinem Höhlengefängnis tief im Peak erwacht war? Nein. Kendrick und Ivy schon.
Er schüttelte den Gedanken ab, bevor die schrecklichen Bilder aus dem Sommer zu stark wurden. Er musste sich konzentrieren. Auf seine Schritte achten. Auf die anderen Aves. Sie sollten schnell sein, ja. Aber es war kein Wettrennen. Wichtiger war, dass sie eine Linie bildeten. Eine Front, die über die Steinformationen walzte und sich jeder Bedrohung stellte.
In rasantem Tempo näherten sie sich der Kante. Dahinter ging es Hunderte Fuß senkrecht nach unten. Ivy blickte ihnen ungerührt entgegen. Ihr wacher Blick huschte hin und her. Sie suchte eine Lücke. Eine kleine Unachtsamkeit der Angreifer und Ivy würde entwischen. Erneut. Was bedeuten würde, dass sie noch einmal auf Start gehen mussten. Und das kam gar nicht infrage.
»Bleibt dicht zusammen!«, rief Kendrick. Er spürte, wie die Reihe sich schloss.
Ivys unergründlich blaue Augen blitzten. Hatte sie doch einen Ausweg gefunden? Kendrick brach aus, bevor sie es herausfinden konnte. Er beschleunigte auf den letzten Yards.
Noch drei.
Zwei.
Einer.
Er breitete die Arme aus. Ivy duckte sich, aber Kendrick hatte sie schon erreicht. Er packte sie und machte den nächsten Schritt. Sein Fuß trat ins Leere. Er kippte nach vorn. Ivy fiel rückwärts. Taumelnd überschlugen sie sich und stürzten mit den Köpfen voran in die Tiefe.
Ivys rot gefärbte Haare flatterten um ihr Gesicht, ihre Nasenspitze war nur einen Fingerbreit von Kendricks entfernt. Trotz des um sie tobenden Sturms glaubte Kendrick, den zarten Orangenduft wahrzunehmen, der sie umgab.
Ivys Mundwinkel zuckten. Sie lächelte und nickte zufrieden. Der Angriff war gelungen, die Übung damit beendet. Endlich!
Kendrick hielt sie dennoch weiter eng umschlungen. Er könnte ewig mit ihr fallen. Aber es wurde Zeit. Er wollte ja nicht dümmlich grinsend unten aufschlagen.
Er ließ sie los und griff in seinem Inneren nach seiner Falkengestalt. Er konnte jederzeit wählen, was er sein wollte. Mensch oder Vogel. Beides war immer da.
Sein gesamtes Wesen ballte sich in einem Punkt knapp unterhalb des Bauchnabels zusammen und explodierte. Ein Prickeln breitete sich von seinen Fingerspitzen bis über die Arme aus. Die feinen Härchen auf seiner Haut stellten sich auf, entfalteten sich und wurden zu Federn. Seine Sportkleidung machte einem dichten Gefieder Platz. Braune Längsstreifen zierten Brust und Bauch, die Oberseiten der Flügel setzten sich dunkler ab. Die gelben Fänge endeten in kräftigen schwarzen Klauen.
Auch Kendricks Sehkraft veränderte sich. Er erkannte nicht nur jedes Detail im Umkreis mehrerer Meilen, er nahm seine Umwelt gänzlich anders wahr. Thermische Aufwinde zeichneten farbige Bahnen in den wolkenlosen Himmel und luden ein, auf ihnen zu reiten. Fallwinde versprachen eine rasante Fahrt bis hinab zum Fluss Lathfold, der sich als glitzerndes Band zwischen den White und den Black Peaks wand, den weißen und den schwarzen Gipfeln.
An den Lathfold und die parallel verlaufenden Eisenbahngleise schmiegte sich Avelston − die Stadt, in der Kendrick die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Nach dem mysteriösen Tod seiner Mum war sein Dad mit ihm nach London gezogen. Erst vor wenigen Monaten waren sie an seinen Geburtsort zurückgekehrt.
Oberhalb der Häuser thronte Avelston Castle auf einem Hügel. Daneben Birdshire Hall und die anderen Gebäude der Schule.
Auch Ivy wechselte die Gestalt. Im Vergleich zu Kendrick war sie größer. Wuchtiger. Zum einen lag das daran, dass sie ein Habicht war und kein Falke wie er. Zum anderen waren bei Greifvögeln die Weibchen fast immer größer als die Männchen.
Er beobachtete, wie Ivy sich fing. Ihre Flügel liefen nicht so spitz zu wie seine, sondern waren im Verhältnis zu ihrer Körpergröße kürzer und breiter. Dafür fiel ihr Stoß länger aus und ermöglichte ihr im dichten Gehölz der Wälder unglaubliche Manöver. Ihr Gefieder hatte die Farbe von Schiefer. Am Bauch ging es in ein helles Braun über, das mit schlammfarbenen Punkten durchsetzt war. Einzig der rote Schopf war ungewöhnlich für einen Habicht und verlieh ihr ein einzigartiges Aussehen.
Kendrick bemerkte eine Bewegung. Um ihn und Ivy herum flatterten nun auch die anderen Aves als Bussarde, Sperber oder Eulen. Selbst die beiden ehemaligen Schülerinnen, die das Training begleiteten, erfüllten mit fröhlichen Pfiffen und keckernden Lauten die Luft. Aber nicht sie hatten Kendricks Aufmerksamkeit erregt.
Er fächerte den Stoß auf und stand mit rüttelnden Schwingen inmitten des Treibens. Da! Weit drüben stieg eine Taube aus den Hochmooren der Black Peaks auf. Mit ihrem unscheinbaren Grau war sie kaum auszumachen.
Aber Kendrick hatte sie entdeckt. Jetzt gehörte sie ihm!
Ein Schauer fuhr ihm von der Schnabelspitze bis in die äußerste Stoßfeder. Sie gehörte ihm? Der Gedanke war aus dem Nichts aufgetaucht, dröhnte aber so laut in seinem Schädel wie eine Kirchturmglocke, die wenige Fuß neben ihm geläutet wurde. Jede Faser seines Körpers schien von Stromstößen in Alarmbereitschaft versetzt zu sein.
Er war ein Falke. Falken waren Jäger. Wieso war ihm das zuvor noch nie so bewusst gewesen?
Kendrick, was ist los?, drang Ivys Pfiff an sein Ohr. Es waren nicht nur die Töne, die ihre Frage in seinem Kopf entstehen ließen. Auch die Stellung ihrer Flügel hatte eine Bedeutung, die Haltung ihres Schnabels, der Winkel der Kurve, die sie flog.
Kendrick antwortete, ohne einen Laut von sich zu geben: Er schoss in Richtung der Black Peaks davon. Mit schnellen Schlägen gewann er an Höhe. Er steilte auf. Ivy und der Falcon Peak blieben schräg unter ihm zurück. Immer weiter stieg er nach oben und überquerte den Lathfold.
Das Hochmoor breitete sich vor ihm aus. Hier und da nahm das Torfmoos bereits seine herbstliche Färbung an. In wenigen Tagen würde es sich wie eine rostrote Decke über die gesamte Ebene legen. Nur vereinzelt unterbrachen im Wind wogende Gräser und Sträucher das Bild. Reife Moosbeeren stachen wie mit dem Pinsel getupfte Punkte zwischen schmalen grünen Blättern hervor.
Die Taube segelte unbekümmert an einem Grough entlang. Die natürlich entstandenen Entwässerungsgräben zogen sich durch das komplette Moor.
Kendricks Federn vibrierten vor Anspannung. Alles in ihm drängte danach, sich seiner Beute zu nähern. Aber er musste auf den richtigen Augenblick warten. Die Taube musste die Edge erreichen und darüber hinausfliegen. Erst nach dem schroffen Felsabbruch stand sie hoch genug in der Luft, dass Kendrick hinabstoßen konnte.
Zuvor würde er bei einer falsch kalkulierten Attacke dem Boden gefährlich nahe kommen. Ein tödliches Risiko bei der Geschwindigkeit, mit der er als Falke angriff!
Die Taube passierte die Klippe. Kendrick legte die Flügel an. Er klappte den Stoß um und fiel wie ein Stein. Nein, kein Stein! Er hatte sich schon einmal mit einem Pfeil verglichen, den er selbst abgeschossen hatte. Allerdings hatte er damals kein Ziel gehabt. Kein echtes zumindest.
Der Wind rauschte an ihm vorbei, das Blut pulste durch seinen Körper. Hatte er jemals gedacht, Fliegen wäre das Schönste, das er sich vorstellen konnte? Lächerlich! Das hier, dieser Moment, dafür war er gemacht!
Kendrick fiel die letzten Fuß. Er riss die Flügel zur Seite. Gleichzeitig schob er seine Fänge nach vorn. Er durfte nicht zupacken. Tief in sich wusste er das. Er musste die Beute nur schlagen, damit sie zu Boden taumelte. Erst dort würde er sie mit einem kräftigen Biss …
Eek-eek-eek!
Ivy schoss aus der Tiefe nach oben. Sie musste sich durch einen Grough genähert haben, ohne dass Kendrick sie bemerkt hatte. Dafür schlug die Taube vor Schreck mit den Flügeln und änderte den Kurs. Kendrick sauste mit ausgefahrenen Krallen an ihr vorbei.
Er fing seinen Sturz ab, gewann an Höhe und setzte ihr nach. Sie hielt auf den Rand des Hochmoors zu. Sie wollte sich in einem Wald aus jungen Birken in Sicherheit bringen!
Erneut ließ Kendrick sich fallen. Mit leichten Bewegungen seines Stoßes und der Schwingen korrigierte er den Sturz. Wieder kreuzte Ivy den Weg der Taube. Der Vogel wich aus und Kendrick verfehlte ihn. Bildete Ivy sich ein, dass sie ihm die Beute vor dem Schnabel wegschnappen konnte? Nichts da!
Zum Aufsteilen war es zu spät. Kendrick blieb nur die direkte Verfolgung. Schneller als der aufgeregte Federball vor sich war er auf jeden Fall!
Lass das!, pfiff Ivy ihm zu.
Kendrick hörte sich selbst zwei warnende Töne ausstoßen: Bleib weg!
Noch drei, vier Schläge und er hatte die Taube erreicht. Sie wirkte am Ende ihrer Kräfte. Kendrick dagegen fühlte sich lebendig wie nie zuvor. Die Jagd setzte eine Energie frei, die er bisher nicht gekannt hatte. Er schoss nach vorn und …
Ein Stoß von unten warf ihn zur Seite. Himmel! Hatte Ivy ihn wirklich gerammt?
Kendrick stabilisierte seinen Flug. Die Taube nutzte die Zeit, glitt über die Kante des Hochmoors und verschwand zwischen den weißgrauen Birken. Wenige Sekunden später war sie nicht mehr zu sehen. Dafür kam Ivy in einem weiten Bogen zurück. Kendrick flog ihr entgegen.
Was sollte das?, fuhr er sie an.
Ivy klang nicht minder aufgebracht als er: Wer hat dir erlaubt, dich vom Training zu entfernen?
Wies Ivy ihn tatsächlich zurecht, weil er sie nicht um Erlaubnis gefragt hatte? Echt jetzt? Ivy war seit dem Sommer die Hüterin des Felsens, okay. Aber sie war auch seine Freundin. Oder eine Freundin. So genau hatten sie das noch nicht besprochen. Aber jetzt spielte sie sich auf wie, na ja, die Hüterin eben.
Eine ziemlich eingebildete, um genau zu sein.
Und offenbar war sie noch nicht fertig mit ihm. Ihre Flügel knallten, als sie sich nach Osten wandte. Dort flogen die anderen weiterhin munter in der Nähe des Peaks umher. Kendricks Jagd und die Auseinandersetzung mit Ivy hatten sie offenbar nicht mitbekommen.
Du hättest die arme Taube beinahe getötet!, krächzte Ivy. Ihr Herz schien ihr bis zum Hals zu schlagen. Mach so etwas nie, nie wieder! Hast du das verstanden?
Kendrick öffnete den Schnabel zu einem Protest. Und schloss ihn. Er hatte die Taube gejagt, ja. Aber er hätte sie niemals … Nein, bestimmt nicht. Ivy täuschte sich. Es war mit ihm durchgegangen. Ein kleiner Spaß, auch wenn es der Taube gegenüber nicht gerade fair gewesen war. Das sah er ein und es tat ihm leid. Aber das war noch lange kein Grund, sich derart aufzuregen! Was konnte er dafür, dass Ivy sich in ihrer Rolle als Hüterin angegriffen fühlte, nur weil er sich nicht ordnungsgemäß abgemeldet hatte?
Seufzend schlug er den Weg Richtung White Peaks ein. Ivy würde sich wieder beruhigen. Dann würde er sich noch einmal mit ihr unterhalten. Er hatte ohnehin Wichtiges mit ihr zu besprechen. Dabei würde er ihr auch klarmachen, dass es nicht ernst gewesen war.
Er wandte sich noch einmal nach dem Birkenwäldchen um.
Es war nur ein Spiel gewesen.
Ganz sicher.

Kendrick stieg die steinerne Treppe im Haupttrakt des Castles hinauf. Er passierte die dicken Wandteppiche, auf denen Ritter in schillernden Rüstungen gegen feindliche Truppen kämpften, entweder hoch zu Pferd mit Lanzen oder mit Schwert und Morgenstern bewaffnet am Boden. Unzählige Vögel betrachteten das Geschehen als stille Beobachter von Baumwipfeln aus. Ein paar wenige griffen ein und stürzten sich mit ausgefahrenen Krallen auf die Angreifer.
Kendrick erreichte die Wohnung, die er sich mit seinem Dad teilte. Er schloss die Tür auf, kickte seine Sneakers Richtung Garderobe − und stutzte.
An einem Haken hing ein schwarzer Blazer mit dem Wappen der Mount Avelston School. Das Emblem zeigte den Falcon Peak unter einem Greifvogelkopf, rechts und links je einen Turm des Castles und unten zwei geschwungene Linien, die den Lathfold symbolisierten. Darunter wand sich in gotischen Lettern der Schriftzug der Schule.
Das Abzeichen prangte mittig auf dem Rücken des Kleidungsstücks. Als wolle der Träger seine Mitgliedschaft in einer Motorradgang zeigen. Oder die Trägerin.
»Mist«, fluchte Kendrick leise. Er hatte das Abendessen vergessen, mit dem sein Dad ihm seit Tagen in den Ohren lag! Wer dachte schon gern daran, dass der eigene Vater sich mit einer seiner Lehrerinnen traf?
Was aber noch lange nicht hieß, dass Kendrick sich ebenfalls dabei blicken lassen musste! Sein Dad konnte gern mit Ms Heart, Geschichte und Sport, zu Abend essen. Kendrick war raus. Vorsichtig schlich er zur Wendeltreppe, die aus dem Wohnbereich nach oben führte.
»Auf den letzten Drücker«, erklang die Stimme seines Dads. Er trat aus der Küche. »Mir wäre etwas früher lieber gewesen. Aber das Gen für Pünktlichkeit habe ich dir wohl nicht vererbt. Kommst du dann gleich runter? Ich wollte gerade den Auflauf aus dem Backofen holen.«
Kendrick drehte sich um. Und unterdrückte ein Grinsen. Sein Dad legte sich ja mächtig ins Zeug für Ms Heart! Unter einer karierten Kochschürze trug er nicht die an einem Sonntag um diese Uhrzeit üblichen Wohlfühlklamotten, sondern hatte sich in Schale geschmissen. Schwarze Anzughose, blaues Button-Down-Hemd und Krawatte. Die braunen Haare mit den grauen Strähnen waren gekämmt. Kinn, Hals und Wangen glänzten glatt wie ein Babypopo. Der Duft des Rasierwassers überdeckte beinahe das Aroma des Sheperd’s Pies, das sich ausbreitete. Hackfleisch mit Zwiebeln, Karotten und Erbsen, darüber eine Schicht fluffigen Kartoffelbreis, das Ganze mit Käse überbacken.
Eigentlich sehr lecker. Kendrick schüttelte trotzdem den Kopf und kratzte sich im Nacken. »Ich bin total erledigt. Hunger habe ich auch keinen. Esst ruhig ohne mich.«
»Ein bald Vierzehnjähriger ohne Hunger? Das halte ich für ein Gerücht. Ich hätte dich sehr gern dabei. So war es auch ausgemacht.«
Kendrick konnte sich gerade noch zurückhalten, mit den Augen zu rollen. Sein Dad reagierte in letzter Zeit ziemlich allergisch auf diese Geste.
»Als Nachspeise gibt es deinen Lieblings-Crumble aus Äpfeln mit Vanillesoße«, fügte er nicht ganz so streng hinzu. Er schien sich wirklich zu wünschen, dass Kendrick am Abendessen teilnahm.
Kendrick schielte an seinem Vater vorbei zur Küche, in der sich Ms Heart aufhalten musste. Im Wohnzimmer hatte Kendrick sie zumindest nicht gesehen. »Dad, bitte. Es ist irgendwie schräg für mich.«
Sein Vater nickte. »Verstehe. Aber Penny und ich, weißt du, wir, ähm …«
… passen nicht zusammen?, schoss es Kendrick durch den Kopf. Aber das wäre wohl zu viel Ehrlichkeit. Außerdem war er der Einzige hier, der das so sah.
Sein Dad räusperte sich. »Wir wollen uns öfter treffen. Ich kann mir vorstellen, dass das schwierig für dich ist. Glaub mir, für mich kommen diese, ähm, Gefühle auch sehr überraschend. Aber es ist eine Situation, der du dich stellen musst.«
Ach, musste er das? Sein Vater konnte tun und lassen, was er wollte. Er brauchte Kendricks Erlaubnis nicht. War es zu viel verlangt, dass Kendrick das umgekehrt auch für sich in Anspruch nahm?
Sein Dad sah ihn weiter hoffnungsvoll an. Kendrick atmete schwer aus. Und rollte mit den Augen. Wenn seinem Vater dieses Essen so wichtig war, würde er es überstehen.
»Also gut«, seufzte er, »wenn es unbedingt sein muss.«
»Mmh, lecker, Timothy«, schwärmte Ms Heart eine halbe Stunde später. »Kann ich einen Nachschlag haben?«
Kendricks Dad strahlte bis über beide Ohren. Als hätte man eine Taschenlampe angeknipst. Oder das Flutlicht im Londoner Wembley-Stadion. Er ließ sich Ms Hearts Schüssel reichen und stand auf. Kendrick beobachtete ihn auf seinem Weg in die Küche.
Vor gut einer halben Stunde hatte er gedacht, dass sein Vater und Ms Heart nicht zueinanderpassten. Das galt immer noch! Sein Dad achtete nicht erst als Headmaster der MAS auf eine gewisse Förmlichkeit. Er war schon immer etwas steif gewesen. Ms Heart hingegen hätte man das Wort unangepasst auf die Stirn schreiben können.
Auch jetzt trug sie zu ihrer Bluse nur eine Jogginghose über sportlichen Turnschuhen. Dazu kam die wilde schwarze Kurzhaarfrisur. Und doch war da etwas zwischen ihnen, das nicht mit Händen zu greifen war. Sein Dad wirkte irgendwie jünger als im Frühjahr. Glücklicher.
Während des Essens hatte er unaufhörlich geplappert. Er hatte das Stipendienprogramm über den grünen Klee gelobt, das Ms Heart und Ms Bocksworth ins Leben gerufen hatten. Dass sich so viele ehemalige Schülerinnen im Castle aufhielten, um die Weiterbildung als Ergänzung zu ihrem Studium zu nutzen, zeige die besondere Verbindung zur Schule. Meinte er. Die Verbindung gab es wirklich. Aber das Programm war nur ein Vorwand. Mit ihm holten die Aves zusätzliche Kräfte nach Avelston, ohne dass sich jemand über die Gegenwart der jungen Frauen wunderte.
Ein Pfiff riss Kendrick aus seinen Gedanken. Er schreckte hoch und bekam gerade noch mit, wie Ms Hearts Schnabel sich teilte und zu Mund und Nase wurde. Schon saß die Lehrerin lächelnd da und zwinkerte ihm zu, als wäre nichts geschehen.
Kendricks Dad schaute aus der Küche. »Habt ihr das gehört?«
»Was denn?«, brachte Kendrick krächzend hervor.
»Da hat was gepfiffen.«
»Hm.« Ms Heart tat, als lausche sie. »Bist du dir sicher?«
Hatte sie den Verstand verloren? Seinen Vater hätte glatt der Schlag getroffen, wenn er sie mit dem Kopf eines Schwarzmilans am Tisch hätte sitzen sehen!
Außerdem verstieß sie damit gegen eine Regel der Aves. Verwandlungen im Beisein von Menschen waren verboten. Nicht, dass Kendrick sich immer daran gehalten hätte. Aber sie war eine Lehrerin und darüber hinaus die Hausmutter der Mädchen aus dem Black Wing, dem schwarzen Flügel!
Sein Dad schürzte die Lippen. »Kam wohl von draußen.«
Er verschwand kurz und kam mit dem gewünschten Nachschlag zurück. Er reichte ihn Ms Heart und wollte sich gerade setzen, als das Telefon läutete. »Entschuldigt, bin gleich wieder da.« Er ging zur Station neben der Garderobe, nahm den Anruf entgegen und verkroch sich nach einer kurzen Begrüßung mit dem Mobilteil noch einmal in die Küche.
Kendrick wandte sich ab – und blickte einen halben Schwarzmilan an. Der Schnabel öffnete sich. In kurzer Folge stieß Ms Heart einige Pfiffe aus und nahm augenblicklich wieder menschliche Züge an.
Kendricks Vater schaute mit dem Telefon am Ohr ins Zimmer. Zwei Sekunden. Drei. Er zog sich zurück und redete beruhigend auf seinen Gesprächspartner ein. »Ja, das ist tragisch, Cornelius. Ich werde gleich morgen früh einen Handwerker anrufen, der das Gehege repariert. Er soll es auch verstärken, damit Derartiges nicht noch einmal vorkommt.«
Kendrick grinste. Es war nicht gerade die feine Art, seinen Dad zu ärgern. Aber es war verdammt lustig. Ms Heart verwandelte sich erneut, pfiff aber so leise, dass Kendricks Dad sie unmöglich hören konnte. In seiner menschlichen Gestalt verstand Kendrick kein Wort. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihrem Beispiel zu folgen. Allerdings hatte er sich noch nie an einer teilweisen Verwandlung versucht.
Der Trick beim Wechseln der Gestalt lag darin, es nicht zu sehr zu wollen. Man musste sich entscheiden und es geschehen lassen. Aber wie sollte es ohne Willen gehen, wenn nur bestimmte Körperteile betroffen sein durften? Das fand er am besten heraus, indem er es versuchte, oder?
Er schloss die Augen und tastete nach seinem Vogelkörper. Das wohlbekannte Prickeln breitete sich über seine Arme aus. Kendrick leitete es nach oben. Bestimmt, aber ohne Zwang. Es war einfach so, dass Mund und Nase sich zum Schnabel verbanden und seine dunkelbraunen Haare zu Federn wurden. Im silbernen Besteck vor ihm spiegelte sich das strahlende Gelb der charakteristischen Ringe um seine beinahe schwarzen Augen und der Wachshaut oberhalb des Schnabels. Der Rest seines Körpers konnte bleiben, wie er war. Punkt.
Und tatsächlich, es funktionierte! Die Wandlung ohne Zwang geschehen zu lassen, schloss nicht aus, sie lenken zu können. Kendrick wollte ein freudiges Akiii-akiii ausstoßen, hielt sich aber zurück.
Ms Hearts Augen funkelten zufrieden. Hallo, Kendrick!, pfiff sie. Jetzt können wir uns endlich unterhalten.
Hi!, gab Kendrick von sich. Er war noch euphorisiert von der geglückten Teilverwandlung. Trotzdem spannte sich etwas in seinem Unterleib zusammen. Ms Heart und er. Es war fast, als hätte sie ihn als Lehrerin zum Gespräch gebeten.
Und?, fragte sie. Schon aufgeregt?
Kendrick hatte keinen Schimmer, was sie meinte. Seine Ratlosigkeit schien sich in seinem Falkengesicht abzuzeichnen. Ms Heart gab eine rasche Tonfolge ab, die einem menschlichen Kichern gleichkam. Nur noch ein paar Wochen, und du wirst endgültig in die Gemeinschaft der Aves aufgenommen. Das ist spannend!
Kendrick nickte. Er war nach seiner ersten Verwandlung davon ausgegangen, dass allein das ihn zum Aves machte. Aber das war nur beinahe richtig.
Die jungen Aves zählten erst mit vierzehn Jahren und einer Zeremonie als adulte Vögel. Kendrick stand dieses Ritual gemeinsam mit Ivy, Sienna und einigen anderen noch bevor. Sie alle hatten in den letzten Wochen Geburtstag gehabt oder würden ihn bis dahin feiern.
Allerdings war bis zur Zeremonie noch über einen Monat Zeit. Dass Ms Heart ihn jetzt schon darauf ansprach, konnte nur einen Grund haben. Ihre nächste Frage bestätigte seinen Verdacht.
Hast du dich schon entschieden?
Nein, gab er knapp von sich. Was sollte er auch sagen? Dass er immer noch nicht verstand, weshalb niemand aus seinem Nest ihm von dem Sonderrecht für Falken erzählt hatte?
Er war ein White. Weil seine Mum eine gewesen war. Doch aufgewachsen war sie als Black wie alle Countesses of Birdshire vor ihr. Kendrick stand es frei, wieder in dieses Nest zurückzukehren.
Entschuldige, gab Ms Heart von sich. Ich will mich nicht einmischen. Meine Wahl stünde fest. Die Whites hängen sehr an ihrer Geschichte und ihren Regeln. Zu sehr, wenn du mich fragst. Vieles davon ist verworren und undurchsichtig. Wir Blacks verlangen schon lange Antworten, aber wir laufen ins Leere. Sie sah ihn durchdringend an. Wie ist es bei dir? Hast du weiter nachgeforscht?
Ms Heart spielte auf das Referat an, das er im letzten Trimester gehalten hatte. Darin hatte er den Falcon Peak als eine Art Antenne bezeichnet, mit der das Biest in der Vergangenheit böse Kräfte zu seinem Gefängnis gelockt hatte. Vollständig verstanden hatte Kendrick die Zusammenhänge nicht. Doch er musste mehr darüber erfahren. Vor allem wollte er verstehen, was der Tod seiner Mum mit all dem zu tun hatte.
Dummerweise fiel es Kendrick seit Beginn des neuen Trimesters zunehmend schwer, sich längere Zeit auf etwas zu konzentrieren.
Ständig sprangen seine Gedanken wie übermütige Ästlinge von einem Zweig zum anderen, kurz bevor sie vom Baum fielen. So zumindest hatte Ms Piggles es nach seinem durchwachsenen Start ins neue Schuljahr ausgedrückt, seine dauergrinsende Lehrerin für Physik und Mathematik. Kendrick stieß einen wütenden Pfiff aus.
Psst!, trällerte Ms Heart. Sein Dad kam aus der Küche. Sekundenbruchteile später saß Kendrick einer nett lächelnden Lehrerin gegenüber und stocherte selbst in seinem Crumble herum.
»Ich verstehe deine Aufregung, Cornelius«, sprach sein Vater gerade mit dem Anrufer und steuerte mit gerunzelter Stirn die Garderobe an. »Ja, versprochen. Wir werden die, ähm, Sicherheitsmaßnahmen erhöhen. Ja. Dir trotzdem noch einen schönen Abend.«
Er stellte das Mobilteil in die Station und sah zu Kendrick und Ms Heart herüber. »Aber jetzt habt ihr es gehört, oder?« Er lief zur Wendeltreppe und blickte nach oben. Kopfschüttelnd kam er zum Tisch und schaute sich auch hier um. Als erwarte er, irgendwo einen Vogel hocken zu sehen. Tja, genau genommen hatte er gleich zwei direkt vor seiner Nase. Kendrick senkte den Kopf, um sein Grinsen zu verbergen.
Ms Heart streckte die Hand aus. Wahrscheinlich hatte sie inzwischen ebenso Mitleid mit ihm wie Kendrick. »Da war was, Timothy. Aber ich glaube, es kam wirklich von draußen.«
Kendricks Vater lauschte immer noch mit schräg gelegtem Kopf und Ms Heart tat es ihm nach.
Kendrick zählte die Apfelstücke in seinem Crumble, um nicht zu platzen. Ein Gefühl breitete sich in ihm aus, das die Gedanken über das Biest und seine Mum und die Entscheidung, die er nicht treffen wollte, für kurze Zeit verdrängte.
Sein Dad war immer für ihn da. Die Knights, das waren sie beide. Trotzdem gab es Momente, in denen Kendrick sich verlassen fühlte. Allein. Ohne seine Mum. Er sah auf. Ms Heart schenkte ihm ein Lächeln, das die Wärme in seinem Brustkorb noch verstärkte. Wie eine Tasse heißer Schokolade.

Bestand denn ganz Avelston Castle nur aus Treppen? Kendrick erreichte einen Absatz im Ostturm und machte vor einem Fenster halt, um zu verschnaufen. Viel zu sehen gab es draußen nicht. Nach der Gluthitze Ende Oktober präsentierte der November sich bisher durchwachsen. Auch an diesem Donnerstagmorgen zeichneten sich die Wälder der White Peaks lediglich als Schemen in der Nebelsuppe ab. Wie nasse Flecken auf einem schmutzig weißen Vorhang.
»Hopp, hopp«, erklang eine Stimme hinter ihm. »Wir wollen doch nicht zu spät kommen.«
Lächelnd drehte er sich um. Sienna schlenderte die Stufen in aller Gemütsruhe herauf. Mit dem schwarzen Lidstrich und den dunkel umrandeten Lippen sah sie wieder einmal aus, als wäre sie auf dem Weg zu einer Beerdigung. Es gelang ihr sogar, dass die Schuluniform an ihr düsterer wirkte als bei den anderen.
Kendrick grinste in sich hinein. Auf Siennas besonderen Sinn für Humor war Verlass. Wenigstens etwas, das sich seit dem letzten Trimester nicht verändert hatte.
Sienna ließ sich Zeit, lediglich die goldenen Sprenkel in ihren braunen Augen tanzten übermütig, als sie Kendrick ansah.
Kendrick hatte sich nur für den Theaterkurs eingeschrieben, um Biologie bei Mr Thickachoo zu entgehen. Ms Chadburn, die Lehrerin, hatte er noch nicht einmal gesehen. Allem Anschein nach war sie erst gestern aus Manchester eingetroffen.
Mit ihrer Übermacht im Vorstand der Schule hatten die Aves diese zusätzliche Stelle geschaffen. Nicht ganz ohne Diskussionen, wie Kendrick mitbekommen hatte. Selbst unter den Ältesten gab es Stimmen, die Kendricks und Ivys Geschichte anzweifelten. Denn selbst falls das Biest erwacht war, es würde wieder einschlafen, nicht? Erst die Ehemaligen, jetzt eine weitere erwachsene Aves. War das nicht übertrieben? Aber wenn die Mehrheit darauf bestand …
Kendrick reihte sich neben Sienna in den Strom der nach oben strebenden Schülerinnen und Schüler ein.
»Was weißt du eigentlich über Ms Chadburn?«, fragte er sie beiläufig.
»Nicht viel«, gab Sienna zu. »Sie hat hier ihren Abschluss gemacht und dann Theaterpädagogik studiert. Danach ist sie etliche Jahre vom Schirm verschwunden, wie man so hört. Hat sich nicht für die MAS interessiert. Und plötzlich springt sie auf die Ausschreibung an und behauptet, dass sie schon immer hier unterrichten wollte. Seltsam, oder?«
Sie erreichten das oberste Stockwerk und fanden sich mit den anderen vor dem verschlossenen Turmzimmer wieder. In der Menge machte Kendrick bekannte Gesichter aus. Die Vertreterinnen des Black Wings waren dabei in der Überzahl. Neben Kendrick hatte sich nur Scarlett aus dem Nest der Whites für den Kurs angemeldet. Er entdeckte ihren geflochtenen Haarkranz wenige Schritte von der Tür entfernt. Gleich daneben erkannte er Amber an den großen schwarzen Creolen, die stets von ihren Ohren baumelten.
Die Tür schwang auf und Ms Chadburn trat heraus.
Kendrick stockte der Atem. Auch rings um ihn hielten die Schülerinnen und Schüler die Luft an.
Die Frau Ende vierzig trug einen blauen Overall wie ein Handwerker. Den Schreiner oder Klempner wollte Kendrick allerdings sehen, der seinen Anzug derart mit Broschen und Anhängern dekorierte! Neben der Tower Bridge in Miniaturform prangte ein Ananas-Anstecker auf Brusthöhe. Darunter lag ein zehn Inches langer Leuchtturm. Quer. Ein imposanter Strohhut zierte Ms Chadburns Kopf, der vielleicht auf einer Kreuzfahrt in die Karibik angebracht war, aber nicht im spätherbstlichen England. Sie betrachtete die Anwesenden durch die kreisrunden Gläser einer Brille mit knallig grünem Gestell.
Diese Frau sollte eine Lehrerin sein? Und eine Aves dazu? Sie war eher ein schillernder Paradies- als ein gefährlicher Greifvogel!
»Hereinspaziert, hereinspaziert!«, flötete sie und tänzelte zur Seite.
Es dauerte einen Moment, bis die Ersten ihrer Aufforderung nachkamen. Ms Chadburn bedachte jeden, der an ihr vorbeiging, mit einem Kommentar. »Oh, eine Lücke zwischen den Schneidezähnen, wie adrett!«, hörte Kendrick sie zu Scarlett sagen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf Amber: »Ihre Ohrringe sind ja wirklich reizend, meine Liebe. Sie würden mir auch stehen, finden Sie nicht?«
Sie stieß ein glockenhelles Lachen aus, war aber sofort bei Sienna, als diese sich an ihr vorbeischieben wollte. »Wen haben wir denn da? Einen wahren Sonnenschein, vermute ich.«
Ms Chadburn sah zu Kendrick − und zögerte. Oder kam ihm das nur so vor? Sie legte ihm wortlos die Hand auf die Schulter und schob ihn ins Turmzimmer.
Die rund dreißig Schülerinnen und Schüler fanden bequem Platz darin. Möbel gab es keine, abgesehen von drei mannshohen Standspiegeln. Sie verdeckten auf einer Seite die großen Spitzbogenfenster. Auf der anderen Seite des runden Raums bot sich nach wie vor der Blick in die graue Nebelsuppe der White Peaks. Aber vor den Scheiben hätte eine bunte Unterwasserwelt mit Posaune spielenden Tintenfischen vorbeiziehen können – niemand hätte sich dafür interessiert! Mit offenen Mündern starrten alle die Lehrerin an, die in ihre Mitte trippelte.
»Eine Schauspielerin oder ein Schauspieler!«, sagte sie mit singender Stimme. »Person A verkörpert Person, Tier oder Ding B, während Person C zuschaut. Was bedeutet das?« Sie schleuderte den Hut in einer fließenden Bewegung von sich. Er segelte quer durch den Raum und rutschte über die Holzdielen. Mit geübten Handgriffen bändigte sie ihre braunen Locken zu einem strengen Dutt. »Eine Schauspielerin kann alles sein, was sie sein möchte. Sie, Ladies und Gentlemen, können alles sein, was Sie wollen!«
Sie lächelte und zog ratschend den Reißverschluss ihres Overalls auf. Darunter kam ein elegantes Kostüm zum Vorschein, bestehend aus einem über die Knie reichenden Rock mit Gehschlitz und einem figurbetonten Blazer in royalem Blau. Von irgendwoher zauberte sie ein passendes Handtäschchen, das sie sich geschäftsmäßig unter den Arm klemmte. Lediglich die grüne Brille blieb.
Eine Gruppe Mädchen in ihrer Nähe kicherte über die drastische Veränderung. Ms Chadburn hob eine Augenbraue. Die Mädchen lächelten entschuldigend. Ms Chadburn regte sich nicht. Die Schülerinnen sahen zu Boden.
Ms Chadburn lachte. »Ich wollte Sie nicht ängstigen. Ich wollte nur etwas verdeutlichen. A verkörpert B, während C zuschaut. C, das waren in diesem Fall Sie, meine Damen. Ihre Vorstellungskraft ist ein unverzichtbarer Bestandteil meiner Darstellung. Erst in dem, was Sie in mir sehen, entsteht das, was ich spiele. Verstehen Sie?«
Die Frage ging an alle.
Kendrick schwirrte der Kopf. A, B, C … Und doch begriff er. Nur, weil sie sich in einen Haufen verrückter Klamotten geworfen hatte, war sie in seinen Augen eine verschrobene Lehrerin gewesen. Kaum trat sie anders auf, änderte sich auch seine Wahrnehmung von ihr. Faszinierend! Er hob die Hände und klatschte. Als Einziger.
Sienna warf ihm einen belustigten Blick zu. Immerhin zwinkerte Ms Chadburn ihn an. »Ah, Applaus. Der Lohn des Künstlers. Sagt man. Haben Sie Dank, Mr …?«
»Knight. Kendrick Knight.«
Kurz bevor Ms