Der Autor
Prof. Dr. med. Dipl.-Chem. Tilman Wetterling ist Neurologe und Psychiater. Er war Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Berlin und lehrte an der Charité, Berlin. www.prof-wetterling.de
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-029715-9
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-029716-6
epub: ISBN 978-3-17-029717-3
mobi: ISBN 978-3-17-029718-0
Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.
Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.
Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:
Track 1: Grundlagen und Interventionsansätze
Track 2: Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen
Track 3: Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten
In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.
Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.
Wir als Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.
Der vorliegende Band von Prof. Tilman Wetterling, der Track 2 (Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen) zugehörig ist, behandelt Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit in übersichtlicher und differenzierter Form. Das älteste Suchtmittel der Menschheit, das gesellschaftlich und individuell die schwerwiegendsten Schäden hinterlässt, zugleich aber auch die größte Akzeptanz in der Bevölkerung findet, wird hinsichtlich der für Klinik und ambulante Praxis, aber auch Forschung und Wissenschaft relevanten Aspekte behandelt. Epidemiologie, Pharmakologie, Neurobiologie, Konsumeffekte, psychosoziale Folgen, Ätiologie, Diagnostik, Therapie und Prävention sind die behandelten Schwerpunkte, die einen hochaktuellen Einblick in die jeweiligen Themen leifern. Der Autor zeigt – wissenschaftlich fundiert und praxisnah zugleich – die Bedeutung des Alkohols für Individuum und Gesellschaft, die Ursachen und Folgen des übermäßigen Konsums sowie die Präventions- und Therapiemöglichkeiten in Bezug auf Missbrauch und Abhängigkeit auf. Wir sind sicher, dass der vorliegende Band in Konzeption und Inhalt einen sehr wichtigen Beitrag für alle im Feld tätigen Fachkräfte und Interessierte liefert und wünschen eine hohe Verbreitung und Nutzung des Bandes.
Oliver Bilke-Hentsch, Luzern
Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln
Michael Klein, Köln
Dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend wird in diesem Buch – chemisch nicht korrekt – die Bezeichnung »Alkohol« ausschließlich für Ethylalkohol benutzt.
Wenn eine eindeutige Differenzierung zwischen Alkoholabhängigkeit und Alkoholmissbrauch nicht vorgenommen werden konnte, wurde der Terminus Alkoholkrankheit benutzt (siehe hierzu auch DSM-5, APA 2013, in der eine Unterteilung aufgegeben wurde).
BAK | = Blutalkoholkonzentration |
CRF | = Corticotropin Releasing Factor |
DNA | = Desoxyribonukleinsäure |
DSM | = Diagnostic and statistical Manual of Mental Disorders (American Psychiatric Association (Hrsg.)) |
GABA | = -amino-butyric acid = -Aminobuttersäure |
ICD | = International Classification of Diseases (WHO) |
MRS | = Magnetresonanzspektroskopie |
MRT | = Magnetresonanztomografie |
NMDA | = N-Methyl-D-Aspartat |
ROS | = reactive oxygen species |
ZNS | = Zentrales Nervensystem |
Alkohol entsteht bei der natürlichen Gärung von Zucker, der in Getreiden und Früchten enthalten ist. Der Konsum alkoholhaltiger Getränke ist bei vielen Völkern und in alten Kulturen seit Jahrtausenden bekannt. Wein wurde schon mehrere Tausend Jahre v. Chr. in Mesopotamien und in Persien angebaut. Im Alten Testament findet sich ein entsprechender Hinweis: Noah legte nach der Sintflut einen Weinberg an (Bibel 1. Buch Mose 9/20). Es gibt auch Aufzeichnungen von den Sumerern aus dem 3. Jahrtausend v. Chr., in denen die Herstellung von Bier beschrieben wird.
Der Herstellung alkoholischer Getränke und deren Konsum zeigten schon in der Antike deutliche regionale Unterschiede. Griechen und Römer tranken bevorzugt Wein. Chinesen brauten alkoholische Getränke auf der Grundlage von Reis (Sake). Die Germanen tranken Bier und Met (Honigwein). Diese wurden als Getränk und Genussmittel geschätzt. Bei anderen Völkern war Alkoholkonsum vorwiegend kultischen Zwecken bei Zeremonien, z. B. als Opfergaben bzw. zur Erzeugung eines Rauschzustandes vorbehalten. Die Griechen hatten einen Gott des Weines. Aber Dionysos war auch noch Gott der Freude, Fruchtbarkeit und des Wahnsinns sowie der Ekstase. In der Antike gab es einen Bacchus-Kult mit ekstatischen Trinkgelangen (Homer Odyssee). Archäologen vermuten sogar, dass ein für kultische Zwecke erforderliches alkoholhaltiges Getränk (Bier) schon über 10.000 Jahre v. Chr. mit dazu beigetragen hat, dass Menschen sesshaft wurden, um so Getreide anbauen zu können (Dietrich et al. 2012; Liu et al. 2018; Reichholf 2008).
Die Folgewirkungen eines übermäßigen Alkoholgenusses waren ebenfalls schon sehr früh bekannt (Bibel 1. Buch Mose 9/21 ff.): »Und da Noah von dem Wein trank, ward er trunken und lag in der Hütte aufgedeckt«. Für den römischen Philosophen Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr.) war Trunkenheit nichts anderes als »freiwilliger Wahnsinn«. Er beschreibt den betrunkenen Zustand als »Krankheit«, die auftritt, wenn die »übergroße Kraft des Weines« von »der Seele Besitz ergriffen« habe. Hierbei handelt es sich um eine frühe Beschreibung des Kontrollverlustes und der Alkoholintoxikation.
Die Geschichte des Alkohols von der Antike bis in die Neuzeit ist lang und weist viele Facetten auf (Brunold 2014). In Nord- und Mitteleuropa war Biersuppe, die schon zum Frühstück gegessen wurde, bis zum 16. Jahrhundert ein Grundnahrungsmittel (Schivelbusch 2010). Wein wurde aufgrund des hohen Preises im 17.–19. Jahrhundert vorwiegend vom Adel und Großbürgertum getrunken. Noch im 19. Jahrhundert wurden Arbeitern von ihren Arbeitergebern alkoholische Getränke (Bier) statt fester Nahrung verabreicht (Schott 2001).
Die natürliche Gärung erfolgt mithilfe von Hefe. Der maximal erreichbare Alkoholanteil lag bei etwa 16 % Volumen. Arabischen Alchemisten gelang es im frühen Mittelalter zuerst durch Destillation höhere Alkoholkonzentrationen zu erzeugen. Erst Ende des 17. Jahrhunderts kam es durch die Einführung von Kartoffelbrennerei zur verbreiteten Herstellung hochprozentiger Getränke (Branntwein-, Schnaps- und Whiskybrennereien) in Europa und infolge zu massiven Problemen (»Branntweinpest«) (Schott 2001).
In Europa wurde Alkohol in Maßen lange Zeit (insbesondere im 12.–19. Jahrhundert) als Lebenselixier sogar von Ärzten propagiert. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts traten Ärzte wie Hufeland für eine Reduzierung des Alkoholkonsums aus medizinischen Gründen ein. Selbsthilfe-Organisationen wurden wegen der vielfältigen durch Alkohol verursachten Probleme im Zeitalter der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts gegründet. Seit dieser Zeit wurden von ärztlicher Seite Bemühungen unternommen, Hilfsangebote für Alkoholabhängige zu entwickeln. Meist wurden Alkoholkranke aber ausgegrenzt und landeten in »Trinkerasylen etc.«, später in psychiatrischen Kliniken (Schott 2001). In Deutschland wurde erst 1968 vom Bundessozialgericht Alkoholismus als Krankheit anerkannt (BSG, 18.06.1968 - 3 RK 63/66).
Ebenfalls beginnend im 19. Jahrhundert hat Alkohol (»Feuerwasser«) wesentlich zu der Zerstörung von alten Kulturen der Ureinwohner, v. a. in Nordamerika sowie in Australien nach Ankunft der Europäer, beigetragen.
Vor allem in den europäisch bzw. christlich geprägten Ländern der Welt ist der Alkoholkonsum in den letzten Jahrzehnten ein sozialmedizinisches Problem ersten Ranges geworden. Dagegen ist in Ländern, in denen andere Religionen (Islam, Hinduismus und auch Buddhismus) vorherrschen, Alkohol bislang nur von geringerer sozialmedizinischer Bedeutung (WHO 2018).
Der 56-jährige alleinlebende Herr H. ging auf Anraten seiner Tochter nach längerer Zeit wieder einmal zu seinem Hausarzt. Dort berichtete er, der Tochter sei aufgefallen, dass er bei den wenigen Kontakten abgeschlagen und müde wirke. Dem Hausarzt fiel in dem Gespräch eine Gelbfärbung der Skleren auf. Bei der körperlichen Untersuchung stellte der Arzt eine gering vergrößerte und verhärtete Leber sowie abgeschwächte Reflexe an den Beinen und einen breitbeinigen Gang fest.
Auf Nachfragen gab Herr H. an, Alkohol in Maßen zu trinken, so wie andere auch. Rauschzustände wurden verneint. Der Zigarettenkonsum wurde mit einer Packung pro Tag angegeben. Auf weitere Nachfrage negierte Herr H. gesundheitliche Probleme bei seiner Arbeit als selbstständiger Versicherungsvertreter. Die Konkurrenz durch die Online-Versicherungen sei allerdings sehr hart und er erreiche kaum noch die Anzahl der geforderten Neuverträge. Abends brauche er dann immer häufiger etwas zur Entspannung. Er trinke dann gern ein oder zwei Bier. Der Hausarzt äußerte daraufhin seinen Verdacht, dass Herr H. einen gesundheitsschädlichen Alkoholkonsum betreibt, der schon zu einer Leberschädigung geführt hatte. Er schlug Herrn H. daher vor, sich in einer internistischen Klinik eingehend untersuchen zu lassen. Herr H. bat um einige Tage Bedenkzeit.
Drei Wochen später erscheint er wieder in der Praxis seines Hausarztes. Diesmal hat er eine deutlich sichtbare gelbliche Verfärbung der Haut und der Skleren. Der Hausarzt weist ihn umgehend in eine internistische Klinik ein. Dort wird sonografisch ein zirrhotischer Umbau der Leber sowie ein leichter Aszites festgestellt. Im Labor weist Herr H. eine deutliche Erhöhung des Bilirubins und der Leberenzyme auf.
Nach der Aufklärung über diese Diagnose bittet ihn der Stationsarzt, zu einem Gespräch über das weitere Vorgehen auch Familienangehörige hinzuzuziehen. Zwei Tage später kommt die Tochter, die berichtet, dass ihr Vater seit mindestens 30 Jahren regelmäßig Alkohol trinkt. Deshalb sei es zu Auseinandersetzung mit ihrer Mutter gekommen, die sich vor etwa 15 Jahren von ihrem Vater getrennt habe. Seitdem lebe er allein. In dem Gespräch gibt Herr H. nur einen vermehrten Alkoholkonsum seit seiner Trennung von der Ex-Ehefrau zu. Am Ende des Gesprächs stimmt Herr H. nach Zögern und auf Drängen der Tochter dem Vorschlag des Arztes zu, mithilfe der Sozialarbeiterin eine Rehabilitationsbehandlung zu beantragen.
Die 39-jährige Frau V. wurde nachts gegen 2 Uhr erstmals in einer psychiatrischen Klinik aufgenommen. In der Notaufnahme hatte sie unter ständigem Schluchzen angegeben, ihr alkoholkranker Lebenspartner habe sie wiederholt geschlagen, besonders heftig an diesem Abend. Bei der körperlichen Untersuchung fiel der Aufnahmeärztin multiple Hämatome, Schürfwunden und eine Platzwunde am Kopf auf. Als die Ärztin diese durch Fotoaufnahmen dokumentieren wollte, lehnte Frau V. dies vehement ab und behauptete, sie sei leicht alkoholisiert gestolpert und die Treppe heruntergefallen. Dabei habe sie sich die Prellungen zugezogen. Die Ärztin stellte eine leichte Alkoholfahne fest und bat Frau V. um eine Atemalkoholbestimmung. Das Messgerät zeigte 2,4 ‰ an. Als Frau V. dies hörte, fing sie laut an zu schreien: »Ich will nur, dass ihr alle mich in Ruhe lasst. Wenn ihr mich nicht in Ruhe lasst, bringe ich mich um!«
Sie ging nach ein paar Minuten auf den Vorschlag der Aufnahmeärztin ein, sich zumindest für eine Nacht in der psychiatrischen Klinik aufnehmen zu lassen. Auf der Station beruhige sich Frau V. so weit, dass sie bald einschlief. Bei der Visite durch den Stationsarzt am nächsten Morgen verneinte Frau V. regelmäßigen Alkoholkonsum. Nur ihr Partner sei Alkoholiker. Sie wolle sich von ihm trennen und bitte daher um ein Gespräch mit der Sozialarbeiterin. Nach diesem Gespräch erlitt Frau V. plötzlich einen generalisierten Krampfanfall.
Bei der darauffolgenden eingehenden körperlichen Untersuchung wurde in der Computertomografie eine leichte Atrophie des Großhirns und auch des Kleinhirns festgestellt. In den Laboruntersuchungen waren die Leberenzyme, v. a. aber auch das MCV mit 103 fl erhöht. Der Stationsarzt interpretierte diese Werte als Hinweis auf eine Alkoholabhängigkeit. In einem längeren Gespräch versuchte er, Frau V. von einer längeren Krankenhausbehandlung zu überzeugen. Am Ende gab Frau V. an, sie wolle sich dies noch überlegen. Eine Stunde später erschien ihr Partner mit einem Blumenstrauß auf Station. Frau V. verließ kurz darauf die Station, ohne sich zu verabschieden.
Etwa zwei Jahre später wurde Frau V. von einem Sozialarbeiter in der psychiatrischen Klinik vorgestellt. Er hatte sie unter einer Brücke schlafend in stark alkoholisiertem und verwahrlostem Zustand aufgefunden. Frau V. war bei Aufnahme deutlich unterkühlt und kaum in der Lage, ein geordnetes Gespräch zu führen. Sie wurde umgehend stationär aufgenommen. Dem Stationsarzt gelang es zunächst nicht, sie eingehend zu explorieren. Wenn männliche Pfleger ins Zimmer kamen, reagierte sie sehr schreckhaft und ablehnend. In einem längeren Gespräch mit der Oberärztin erzählte sie, dass sie nach dem letzten Klinikaufenthalt wieder zu ihrem alten Partner zurückgekehrt war. »Er hat auch seine guten Seiten«. Nach kurzer Zeit habe er wieder angefangen, sich an ihr zu vergehen. Um dies ertragen zu können, habe sie begonnen, immer mehr hochprozentigere Alkoholika zu trinken. Sie habe dann ihre Arbeit nicht mehr geschafft und sei gekündigt worden. Danach habe sie nur noch zuhause rumgesessen und gesoffen. Eines Tages sei ihr Partner in betrunkenem Zustand eine Treppe heruntergefallen und kurze Zeit danach an den Folgen eines Schädelbasisbruches gestorben.
Sie habe danach allein versucht, vom Alkohol wegzukommen. Sie habe es aber nicht geschafft. Dann habe sie ihre Wohnung wegen Mietschulden verloren und sei schließlich auf der Straße gelandet. Jetzt wisse sie überhaupt nicht mehr weiter und würde jede Hilfe dankbar annehmen.
Nach einem schweren Verkehrsunfall mit Verletzten ordnete die Polizei bei dem 24-jährigen Fahrer, Herrn A., der den Unfall durch seinen zu schnellen und riskanten Fahrstil verursacht hatte, eine Blutuntersuchung auf Alkohol an. Die Bestimmung ergab 1,9 ‰. In der Gerichtsverhandlung kam der Gerichtsmediziner aufgrund der Angaben von Herrn A. zu einem errechneten Ausgangswert von 2,1 ‰. Herr A. gab an, auf einer Betriebsfeier getrunken zu haben. Er sei nicht betrunken gewesen. Das Gericht verurteilte Herrn A. wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen und verhängte ein dreimonatiges Fahrverbot.
Acht Jahre später wurde bei Herrn A. bei einer Polizeikontrolle wegen eines auffälligen Fahrverhaltens eine Atemalkoholbestimmung durchgeführt. Sie ergab 1,7 ‰. Herr A. behauptete wiederum, dass er nur bei »besonderen Gelegenheiten« Alkohol trinke, er habe kein Problem mit Alkohol. Herrn A. wurde von der Polizei wegen Fahrens in alkoholisiertem Zustand der Führerschein für ein Jahr entzogen.
Ein halbes Jahr später wurde die Polizei von einem Busfahrer alarmiert, weil in seinem Bus gerade eine heftige Auseinandersetzung zwischen mehreren Fahrgästen stattfand. Bei Eintreffen der Polizei hatten sich zwei von ihnen gegenseitig ins Gesicht geschlagen. Der eine der Kontrahenten war Herr A. Er war sehr erregt und konnte von den Polizisten kaum gebändigt werden. Er gab an, der neben ihm Sitzende hätte ihn mit der Bemerkung provoziert: Er sei wohl Alkoholiker, wenn er schon gegen 18 Uhr eine deutliche Alkoholfahne habe. Er solle sich auf einen anderen Platz setzen. Andere Fahrgäste hätten sich ebenfalls abfällig geäußert. Daraufhin habe er sich zur Wehr gesetzt, denn er lasse sich so etwas nicht nachsagen. Er sei kein Alkoholiker.
Da der andere wegen seiner Gesichtsverletzungen Anzeige erstattete, wurde bei beiden Kontrahenten eine Blutprobe angeordnet. Die des anderen ergab eine BAK von 0 ‰, während Herr A. 2,3 ‰ hatte. Die Polizisten hatten in dem Protokoll notiert, dass Herr A. außer einem leicht geröteten Gesicht mit zwei Prellmarken und der Alkoholfahne keine Auffälligkeiten zeigte. Vor Gericht gab Herr A. wiederum an, nur gelegentlich viel zu trinken, dann oft bis zum Rausch. Es kam zu einer Strafe von einem halben Jahr Haft auf Bewährung. Die Richterin hatte in ihrem Urteil ausdrücklich betont, dass bei einer erneuten Straftat unter Alkoholeinfluss eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB erwogen werden müsse. Sie habe allerdings Zweifel, ob diese Maßnahme Erfolg hätte, da Herr A. offensichtlich Rauschtrinker sei und trotz der Konflikte mit dem Gesetz keine Veränderungsbereitschaft zeige.
Nach Studien der WHO haben 2016 weltweit nur etwa 43 % der über 15-Jährigen Alkohol konsumiert. Europa gehört zu den Regionen in der Welt, in denen besonders oft und viel Alkohol konsumiert wird (WHO 2018). In Deutschland bleiben nach verschiedenen Erhebungen nur etwa 4–8 % der Bevölkerung lebenslang durchgängig alkoholabstinent. 71,6 % haben im letzten Monat vor einer Befragung Alkohol getrunken (Drogen- und Suchtbericht 2019, S. 53).
Deutschland zählt mit einem jährlichen durchschnittlichen Konsum von 11,0 l pro Kopf der Bevölkerung über 15 Jahre zu den Ländern mit einem hohen Konsum. Der Alkoholkonsum in Deutschland zeigt seit dem Jahre 1976 eine leicht rückläufige Tendenz (Drogen- und Suchtbericht 2019, S. 55). Dies betrifft vor allem den Bier- und Spirituosenkonsum. Der Verbrauch an alkoholischen Getränken ist aber im internationalen Vergleich weiter sehr hoch (WHO 2018). Der durchschnittliche Alkoholkonsum ist regional in Deutschland unterschiedlich (Drogen- und Suchtbericht 2019, S. 54). In Deutschland beträgt das durchschnittliche Alter beim ersten Konsum von Alkohol 13,8 Jahre (DKFZ 2017, S. 29). Der Alkoholkonsum ist neben Alter und Geschlecht auch abhängig vom sozialen Status. Bei über den 45-Jährigen trinken vor allem Personen mit einem hohen sozialen Status (DKFZ 2017, S. 51).
Nach den oben genannten Zahlen betrug in Deutschland der durchschnittliche Alkoholkonsum bei den über 15-Jährigen etwa 30 g pro Tag. In einer Befragung (RKI-GEDA) wurde ein riskanter Alkoholkonsum, definiert als > 10 g/Tag bei Frauen bzw. > 20 g/Tag bei Männern, von 14,4 % bzw. 18,3 % der entsprechenden Bevölkerung zwischen 18–64 Jahren angegeben, d. h. hoher Alkoholkonsum ist auf eine kleine Bevölkerungsgruppe beschränkt. Ein Rauschtrinken, definiert als sechs oder mehr alkoholische Getränke mindestens einmal im Monat, wurde bei einer Befragung (RKI-GEDA) von 44,7 % der Männer und 25,9 % der Frauen im Alter von 18–64 Jahren angegeben. Bei den älteren war der Anteil 35,1 % bzw. 21,9 % etwas niedriger. Aber insgesamt hatten fast ein Drittel der Erwachsenen angegeben, einmal im Monat einen Alkoholrausch zu haben. Bei Jugendlichen im Alter von 12–17 Jahren lag der Anteil bei Männern bei 16,7 % und bei Frauen bei 11,4 %.
Der Anteil der Bevölkerung, die einen risikoreichen Alkoholkonsum betreibt, bleibt (mit Schwankungen) bis ins höhere Lebensalter hoch. Nach dem 64. Lebensjahr kommt es nur zu einer geringen Reduzierung des Bevölkerungsanteils, die einen riskanten Alkoholkonsum betreibt, auf noch etwa 18 % bei den über 65-jährigen Männern und etwa 12 % bei den Frauen in diesem Alter (DKFZ 2017, S. 41).
Eine Studie aus Großbritannien hat gezeigt, dass bei einer personenbezogenen Betrachtung die Trinkmenge im Laufe des Lebens ein typisches Muster zeigt: Anstieg von der Jugend bis zum 25. Lebensjahr, danach absinkt und bis etwa zum 60. Lebensjahr konstant bleibt, um danach sich weiter zu verringern. Aber die Anzahl der Trinktage steigt in der mittleren Altersgruppe an (Britton et al. 2015). Auch eine Studie aus den USA zeigte eine Verringerung der Trinkmenge in höherem Alter (Brennan et al. 2011). Eine weitere britische Studie ergab, dass das Trinkverhalten im Verlauf von 28 Jahren relativ stabil ist mit Ausnahme derjenigen, die anfangs sehr große Mengen Alkohol konsumiert haben. Diese haben im Verlauf ihre Trinkmenge verringert (Knott et al. 2018). Eine spanische Studie zeigte dagegen häufigere Änderungen im Trinkmuster innerhalb von drei Jahren (Soler-Vila et al. 2014).
Der Anteil der Alkoholabhängigen in der deutschen Bevölkerung im Alter von 15–64 Jahren wurde in einer anderen Studie (IFT-ESA) mit 4,0 % ermittelt (DKFZ 2017, S. 43). Der Anteil war bei Frauen mit 2,1 % deutlich niedriger als bei Männern mit 5,2 %. Nach epidemiologischen Untersuchungen (anhand von DSM IV-Kriterien (APA 1994)) beträgt die Zahl der Betroffenen in Deutschland in der Altersgruppe zwischen 18 und 64 Jahren (Atzendorf et al. 2019):
Alkoholmissbrauch etwa 1,4 Millionen
Alkoholabhängigkeit etwa 1,6 Millionen
Bei 314.211 Behandlungsfällen in deutschen Krankenhäusern wurde 2017 als Diagnose eine psychische oder Verhaltensstörung durch Alkohol (ICD-10: F10.x) angegeben. Dies entspricht fast 75 % aller Krankenhausbehandlungen wegen einer Suchtproblematik. Von der Deutschen Rentenversicherung wurden 2018 in 26.743 Fällen eine stationäre und in 8.113 Fällen eine ambulante Rehabilitationsbehandlung bewilligt. In der ambulanten Suchthilfe (Beratungsstellen etc.) waren fast 50 % der Klienten mit einer Suchtproblematik alkoholkrank (Drogen- und Suchtbericht 2019, S. 17–20).
Die Zahl der Todesfälle, die ausschließlich durch Alkoholkonsum bedingt sind, ist in den letzten 20 Jahren gesunken, bei Männern wesentlich deutlicher als bei Frauen. 2012 starben in Deutschland rund 21.000 Menschen im Alter von 15–64 Jahren (ca. 16.000 Männer und 5.000 Frauen) an Erkrankungen, die entweder ausschließlich auf Alkohol zurückzuführen sind oder für die der Alkoholkonsum ein Risikofaktor darstellt (DKFZ 2017, S. 58–59).