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© 2016 Ewald Eden

ISBN Nr..: 9 7837 4317 0087

Herstellung und Verlag

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

...(un)faire Lösungen!

Corinna blinzelt mit müden Augen zum Wecker auf der Konsole. Sie weiß nicht, zum wievielten mal ihr Blick die grünlich leuchtenden Zeiger sucht.

Bei jedem Hinschauen sind immer erst ein paar Minuten durch die Zeit gelaufen.

Die Müdigkeit klebt unter ihren Lidern. Bei jedem Augenschlag reibt sie über ihre Augäpfel wie feiner Sand.

Die Schafe, die sie in den Stunden des Wachseins gezählt hat, machen schon eine ganze Herde aus. Trotzdem kann ihr Denken nicht in das gnädige Dunkel des Schlummers eintauchen. Hinter jedem Schaf, das sie zählt, sieht sie Werners Gesicht - als könne sie ohne ihn nicht einschlafen.

Sie kann offenbar ohne ihn nicht einschlafen - das merkt sie seit einhundert Tagen. Soviel Striche sind in dicker, roter Breite auf dem riesigen Kalender an der Wand in der Küche zu sehen. Morgen macht sie Strich einhunderteins - übermorgen Strich einhundertzwei - wieviel Striche kommen wohl noch hinzu?

Sie weiß es nicht, und niemand kann es ihr sagen. Sie weiß auch nicht, wie viele Tränen sie in den ersten Wochen vergossen hat - sie weiß nur, daß sie nicht mehr weinen kann.

Ihr dritter Hochzeitstag vor einhundert Tagen. Bei Riemenschneider, dem gemütlichen Weinlokal in Niederkassel, war der Tisch bestellt. Gemeinsam mit ihren Eltern wollten sie an diesem Abend ihr Glück feiern. Der Kellner hatte ihnen gerade ihre Stühle zurechtgerückt, als Werner erregt ausrief:

"Oh verflixt - ich hab die Bilder vergessen. Ich saus’ schnell ins Büro und hole sie."

Das waren die letzten Worte, die sie von Werner gehört hat.

Die Bilder. Immer wieder diese Bilder, die sie noch nicht einmal zu sehen bekommen hatte.

Dass die Bilder purer Sprengstoff waren - das hat sie erst später von jemandem erfahren, der ihrem Mann auf seinen gefährlichen Touren häufiger Begleiter war.

Werner brachte die Aufnahmen von seiner letzten Reise in die ehemalige Sowjetunion mit. Es hatte ihn mal wieder mitten ins Zentrum der Kämpfe um Tschetschenien gezogen.

Weltverbesserer lief ihm als Ruf voraus und hinterher. Selber sah er das gar nicht so. Er wußte, daß er die Welt nicht besser machen konnte. Bloß etwas menschlicher sollten die Zweibeiner miteinander umgehen. Das war sein immer wiederkehrendes Argument als Triebfeder seines Handelns.

Heißer als ein Plutoniumkern sollten die Aufnahmen sein, hieß es. Er wollte sie an diesem Abend vertrauten Freunden in sichere Obhut übergeben. Weniger vertraute Freunde hatten es wohl zu verhindern gewusst.

Dem Pförtner von gegenüber waren zwei unauffällig, auffällige Limousinen auf dem Parkplatz des großen Bürogebäudes seltsam erschienen. Aber erst im Nachhinein.

Zwei großkalibrige Autos, mit Werners bejahrtem Käfer in der Mitte - so waren sie vom Gelände gefahren. Des verrückten Journalisten Hörby war Legende. Das Vehikel kannte jeder in der Stadt, der etwas mit bedrucktem Papier zu tun hatte.

Natürlich hatte der Türsteher auf der anderen Strassenseite keine Kennzeichen erkannt. Welcher hochbetagte, schlecht bezahlte Aushilfswachmann interessiert sich schon für die Nummernschilder ausländischer Fahrzeuge die sich auf Nachbargrundstücken befinden. So hatte er es dem Kommissar gegenüber ausgedrückt.

Ausländische Fahrzeuge. Soviel hatte er aber doch gesehen. Es handelte sich um schwarze Karossen – mit einem CD Schild am Heck.

„Na also - doch gar nicht so schlecht für einen 75 jährigen Portier“ - hatte der Kommissar gemeint. Bei der Titulierung als Portier wurde sogar der gebeugte Rücken des Alten wieder gerade.

Weitere Erkenntnisse brachte die Information, über die den Käfer begleitenden Fahrzeuge, den ermittelnden Beamten aber nicht. Werner blieb wie vom Erdboden verschwunden.

Ein Kollege aus der Sportredaktion des Verlages hatte sogar den Spruch losgelassen:

„Solange man den guten Werner nicht kalt und steif im Rhein treibend findet, besteht noch die Hoffnung, daß er warm wieder auftaucht.“

Witzig sollte die Bemerkung wohl sein - sie war aber für Corinna eher ein Tritt ins Leben.

In den kurzen Spannen Zeit, in denen ihr Denken in den Schlaf rutscht, tauchen Bilder von großen, leeren Räumen vor ihrem Traumgesicht auf. Große leere Räume mit Werners hellem Gesicht in der Mitte, ohne Körper. Sie sieht nur zwei vertraute Hände, die sich ihr entgegenstrecken.

Wenn sie nach den Händen greifen will, wacht sie auf - schweißgebadet mit glühender Stirn.

Pollo blinzelt sie dann unter halben Lidern hervor an. Pollo ist ihr grauer Terrier, oder besser gesagt Werners grauer Terrier. Er ist das Wesen mit den älteren Rechten. Er lebt bereits im zehnten Jahr an der Seite ihres Mannes. Seit einhundert Nächten ist nun schon sein Platz das Fußende von Werners leerem Bett. Wenn alles um sie herum still ist, dann hört sie manchmal wie Pollo mit ihr weint.

Gestern Morgen war der freundliche Kommissar Hufschmidt wieder da. Zwei wortkarge, verschlossen dreinblickende Gestalten flankierten ihn. Drei geschlagene Stunden hockten sie vor Werners Computer. Jedes Stückchen Papier in seinem Arbeitszimmer wurde akribisch hin und her gedreht - auf der Suche nach dem großen Geheimnis. Es blieb alles ohne Ergebnis.

Als sie das Haus wieder verließen, war die Finsternis in den Gesichtern der Männer einem Ausdruck ziemlicher Ratlosigkeit gewichen.

Der Kommissar richtete dazu noch zum hundertsten Mal Fragen an sie – Fragen, die sie ihm schon neunundneunzigmal mal beantwortet hatte.

Werners alter Käfer wurde in der Nacht zuvor gefunden - an der Bundesstraße, rauf ins Bergische - nach Wülfrath zu. In einer seit Jahren stillgelegten Kalkgrube. Zufällig, weil ein Spaziergänger seinen Hund suchte der ihm fortgelaufen war.

Das Innere des Wagens war leer, und außerdem sachkundig in Einzelteile zerlegt. Auch nicht der kleinste Hohlraum war unbeachtet geblieben. Jemand hatte gründlich gesucht - bloß warum? Und nach was?

Wenn sie die Bilder doch besaßen, um die es ihnen augenscheinlich ging.

Da mußte etwas sein, das gewissen Leuten Bauchschmerzen verursachte. Dieses Etwas wurde Corinna am nächsten Tag offenbar. Durch einen Anruf in der Mittagszeit. Er kam von der anderen Rheinseite, aus Dormagen – dem Städtchen, das Leverkusen gegenüber liegt. Das, über das Rheinwasser leuchtende, blaue Bayer-Kreuz beherrschte auch hier noch das Stadtbild. Sinnbild von Motor und Lebensader der beiden Industriestädte.

Der Anruf kam aus einem Fotostudio. Das junge Mädchen am anderen Ende des Drahtes verlangte nach Werner. Sie wollte wissen, wann er die letzten Negative abholen käme. Sollte er die Filmrollen nicht mehr benötigen, würde man sie auch gerne für ihn vernichten. Das sei in der Vergangenheit schon häufiger der Fall gewesen.

Corinna konnte sich keinen Reim darauf machen. Werner ließ seine Filme doch stets im Verlagslabor entwickeln - oder tat es in kritischen Fällen selber. Zuhause. In seiner Dunkelkammer, die er sich im Keller eingerichtet hatte.

Nachdem Corinna der jungen Frau erklärt hatte, daß sie die Filmrollen abholen würde, da ihr Mann momentan dazu nicht in der Lage sei, notierte sie sich die Adresse des Geschäftes.

Was sollte sie tun? Ratlos wanderte sie fast eine Stunde im Garten hin und her. Dann stand ihr Entschluss fest.

Auf keinen Fall wollte sie sich alleine auf den Weg rheinaufwärts machen.

Sie rief im Präsidium am Jürgensplatz an. Kommissar Hufschmidt war nicht im Hause. Man würde ihn aufstöbern. Sie sollte auf seinen Rückruf warten.

„Und verlassen Sie unter keinen Umständen das Haus“ - schärfte die Stimme aus dem Präsidium ihr noch ein. Drei Atemzüge später meldete Kommissar Hufschmidt sich schon. Er sagte nur knapp - mit einem besorgten Unterton in der Stimme:

„Ich bin bereits unterwegs zu Ihnen. Gehen Sie in bis dahin nicht vor die Tür – und stellen Sie sich nicht ans Fenster Fenster.“

Beruhigend wirkte dieser Satz nicht auf sie. Besonders der Tonfall, in dem er gesagt wurde, ließ sie frösteln.

Corinna meinte, tausend Augen würden sie aus allen Ecken heraus beobachten - obwohl sich ums Haus herum sichtbar nichts verändert hatte.

Da - hatte sich nicht der Strauch am Rande der Terrasse bewegt? Natürlich hat er sich bewegt, schalt sie sich selber eine Närrin. Nur weil du eine unbändige Angst hast, hört doch der Wind nicht auf zu wehen.

Jeder Pfeifton in den Fensterritzen, jedes knackende Geräusch im Hause ließ sie erschrocken zusammenfahren.

Die halbe Stunde Tag - bis sie Kommissar Hufschmidt den Gartenweg heraufkommen sah - diese dreißig Minuten Gegenwart waren ihr wie ein Jahrhundert im Fegefeuer erschienen.

Seltsam, in des Kommissars Nähe waren die teuflischen Flammen plötzlich erloschen - so als ob die Tränen, die wieder da waren, die Bedrohung erstickt hatten. Nach langen Minuten klärte sich ihr Blick. Mit Verwunderung sah sie den grauen Pollo zusammengerollt auf dem Schoß des Kommissars liegen.

Einige Atemzüge lang herrschte noch bedrückendes Schweigen im Raum, bis Hufschmidt es mit einem leisen Räusper beendete.

„So - nun wollen wir uns mal auf den Weg nach Dormagen machen.“

Seine ruhige Stimme füllte plötzlich ihr ganzes Denken.

Der Kommissar half ihr in der Diele galant in ihren Mantel. Diese Geste erschien ihr wie eine Liebkosung.

Wann hatte ihr zuletzt ein Mann auf diese Weise in den Mantel geholfen? Werner bezeichnete so etwas stets als Firlefanz einer überholten Gesellschaftsordnung.

Corinna bezeichnete seine Einstellung dann oft scherzhaft als Überbleibsel aus Werners turbulenter 68 er Zeit. Ganz deutlich wurde ihr plötzlich bewußt, wie sehr sie diese kleinen Aufmerksamkeiten entbehrt hatte.

Wie selbstverständlich trottete Pollo hinter ihnen her, als sie geräuschlos mit dem Lift in die Tiefe - in das Garagenfeld des Untergeschosses - schwebten.

Wohnkomfort allererster Güte – so stufte sein Sozialempfinden dieses Umfeld ein. Man konnte das typische Erbe einer vermögenden Familie erkennen.

Seiner Eltern einzige Hinterlassenschaft war nur eine Grabstätte zwischen Kirche und Krug in Uttum, dem kleinen Dorf seiner Träume. Von dem man bei guter Sicht mit den Augen zum knuffigen Pilsumer Leuchtturm hinüberlangen konnte.

Die alten Hufschmidts waren, ihrem letzten Willen entsprechend, in der Heimat zur letzten Ruhe gekommen. Sein Vater wollte auch nach seinem Tode noch die Möven schreien hören. So hatte er dussligen Fragern gegenüber stets seinen Wunsch begründet.

Seinen Platz dort hatte Wilt Hufschmidt damals auch schon bestimmt. Er konnte sein Erbe nicht leugnen. Die Sehnsucht nach den Weiten Ostfrieslands - mit den grünen Weiden und den stillen Mooren hinter den Deichen, nach dem Landstrich mit den Sandhügeln im Wattenmeer vor der Küste, nach den Abenden in den kleinen Krügen, mit wenigen Worten und viel Kööm. Dessen Nachwirkungen man anderntags so herrlich ungestört, in den Dünen über dem Wasser, verwehen lassen konnte.

Auf dem Weg zur Straße legte der Kommissar behutsam, fast unmerklich, seine Rechte auf Corinnas Arm:

„Keine Angst, Corinna“ - Corinna - wie ein vertrauter Freund sprach er ihren Namen aus - „keine Angst, Corinna - meine Kollegen passen Tag und Nacht auf Sie auf - schon seit geraumer Zeit. Ich habe vertrauliche Informationen erhalten, die mich diese Maßnahme ergreifen ließen.“

Den Rest des Weges, bis zum Auto, fiel kein Wort zwischen ihnen. Erst als die Türen ins Schloß klickten, und der Wagen die Ausfahrt hinter sich gelassen hatte, setzte er erneut an:

„Im Wagen Ihres Mannes haben wir Spuren einer seltenen Droge gefunden, die hier bei uns noch ziemlich unbekannt, und auch noch nicht am Markt ist.“

Nach einer kurzen Pause setzte er fragend hinzu:

„Hat Ihr Mann Ihnen irgendwann irgendetwas davon erzählt?“

Corinnas Denken war plötzlich wie in Watte gehüllt - Werner und Drogen? Nie und nimmer! Eher würde der schwarzbunte Bundeskanzler zum Priestertum übertreten - oder der Bundespräsident zum Papst gekürt.

Werner, dieser Mann, der sein ein und alles, seine über die Maßen geliebte Tochter, durch eine Überdosis Heroin verloren hatte.

Fünfzehn war Bienchen gerade geworden, als ihre Mutter an Krebs starb. Er hatte seine Trauer über den Verlust seiner Frau mit einem doppelten und dreifachen Arbeitspensum betäubt, und dabei den Schmerz und die Einsamkeit seiner Tochter nicht bemerkt. Er hatte nicht gefühlt, wie sie ihm immer weiter entglitten war. Mit dem Geld, über das er sie verfügen ließ, hatte er sie immer weiter von sich wegtreiben lassen.

Skrupellose Rauschgiftdealer an ihrer Schule, die fanden es ganz schnell heraus. Sie machten sie drogensüchtig, jagten sie in die Abhängigkeit. Solange, bis sie am Ende keinen Ausweg mehr wußte, und sich den goldenen Schuss setzte. In einer Toilette, im Düsseldorfer Hauptbahnhof, legte man sie eines Abends in einen kalten Aluminiumsarg.

Die erste Zeit danach wäre er von den Vorwürfen, die er sich machte, fast verrückt geworden. Bis sich seine Verzweiflung, im unbändigen Zorn auf alles was mit illegalem Drogenhandel in Verbindung stand, ein Ventil geschaffen hatte.

Der Gedanke Werner und Drogenkurier zwang sie zum Lachen - hysterisch fast, ohne Kontrolle brach es aus ihr heraus.

Hufschmidt ließ sie gewähren. Er ließ ihre Reaktion auslaufen, wie eine vom Sturm aufgetürmte Welle am Rheindeich.

Nachdem ihre Erregung wieder ruhiges Fahrwasser erreicht hatte, fragte sie, noch reichlich atemlos:

„Herr Kommissar - Sie glauben doch nicht ernsthaft ..? Ich habe als Kollegin mit Werner vor unserer Ehe fast zwanzig Jahre das Büro geteilt - habe die Höllen hautnah miterlebt, durch die er marschiert ist . . .!“

Sie kann nicht weitersprechen, weil die Erinnerung daran ihr die Luft abschnürt.

„ Eher hätte er sich selbst das Leben genommen . . . “

Betroffen schweigt sie, als ihr die Doppeldeutigkeit ihrer Worte bewußt wird.

Tränen steigen ihr erneut in die Augen. Zwei feuchte Spuren zeichnen ihre Wangen, und laufen wie Rinnsale kleiner Bäche durch ein Meer gequälter Schönheit.

Corinna hat nicht bemerkt, daß sie die Rheinkniebrücke bereits überquert haben. Sie hat nichts von der Kurverei durch die Düsseldorfer Innenstadt mitbekommen - und auch nicht registriert, daß Hufschmidt mittlerweile einen Rastplatz angefahren hat. Als der Wagen stillsteht ergreift er beruhigend ihre Hand.

„Wir gehen jetzt erstmal einen ordentlichen Kaffee trinken. Bevor wir weiterfahren, muß ich Ihnen nämlich etwas erklären."

Hinter ihnen hat ein dunkler Wagen angehalten, in dessen Innenraum man nicht hineinsehen kann, aus dem aber auch niemand aussteigt.

„Das sind unsere Schutzengel - kommen Sie. Es kann Ihnen nichts passieren."

Mit diesen Worten dirigiert er sie in die Raststätte - und hier wiederum in eine abgelegene Ecke, in der sie unbehelligt miteinander reden können.

Nachdem er ihr den Stuhl zurechtgerückt, und sie beide Platz genommen haben, holt er bedächtig seine Zigarrenschachtel und Zündhölzer aus den Tiefen seiner Sakkotasche hervor. Anscheinend weiß der Kommissar nicht so recht, wie er das Gespräch beginnen soll. Er erscheint Corinna wie ein Tertianer bei seinem ersten Stelldichein.

„Wir haben gestern abend sehr aufschlussreiche Post bekommen.“

Bevor er weiter redet, zündet er sich umständlich einen Zigarillo an.

Selbstverständlich tut er das nicht, ohne Corinna vorher um Erlaubnis gefragt zu haben.

Sie hat nichts dagegen, sondern ist heimlich froh, über diese Gelegenheit zu einer Zigarette, und läßt sich vom Kommissar Feuer reichen. Als die Glut sich im Tabak eingerichtet hat, redet Hufschmidt weiter.

„Ein Freund Ihres Mannes – er wohnt übrigens in München - hat sie uns zukommen lassen“

Wieder zieht er genüßlich an seiner schwarzen Tabakrolle, als wenn er Corinnas ungläubige Blicke in Rauch hüllen wolle.

Als die Wolken sich verzogen haben, und er erneut ansetzt:

„Dieser Freund . . . “ unterbricht sie ihn spontan: „Ist es etwa Helmer Cassens . . .? “

Erstaunt blickt Hufschmidt sie an.

„Ja, genau. Dieser Helmer Cassens war zu dem Zeitpunkt, als Ihr Mann verschwunden ist, in Südamerika. Genauer gesagt, er machte eine Forschungsreise durch das nördliche Kolumbien.“

Duftende Rauchkringel füllen die Pause zwischen seinen Worten.

„Er ist vor drei Tagen von dort zurückgekehrt. Vom Verschwinden Ihres Mannes hat er erst einen Tag nach seiner Ankunft in München erfahren.“

Wieder lassen die Bünder Zigarrendreher mit freundlichen Wölkchen grüßen.

„In dem Institut, für das er in Bayern tätig ist, wartete ein Brief auf ihn. Von Ihrem Mann. Er wurde im hiesigen Verteilerzentrum am Tage nach seinem Verschwinden abgestempelt."

Als wenn er sich für das Wort „Verschwinden“ entschuldigen müsste, fügt er hinzu:

„Ich sollte wohl richtiger sagen, seit seiner Entführung. Davon gehen wir mittlerweile nämlich aus.“

Tröpfelnde Minuten lang schweigt er und nippt an seinem Kaffee.

"Dieser Brief enthielt Bilder - die Bilder, auf die es die Entführer Ihres Mannes mit großer Wahrscheinlichkeit abgesehen hatten."

Man sieht in Corinnas Gesicht, wie sich ihr Herz verkrampft - wie sich das Blut nach unten verzieht. Corinna ist kalkweiß geworden.

Ein fast mit den Händen greifbares Schweigen läuft wie ein dicker Strich über den Tisch zwischen den beiden dahin.

Wie eine Erlösung hört man kurz darauf vom Kommissar:

„Herr Ober“ - Hufschmidt hat - von seinen Händen unterstützt - in die Richtung des Buffets gerufen - eine steifgestärkte weiße Kellnerjacke nähert sich beflissentlich - " bringen Sie uns, bitte, zwei doppelte Cognac" - geht der Bescheid an den dienstbaren Geist.

Der Kellner weist mit freundlichen Worten - aber bestimmt - darauf hin, daß ausnahmslos deutsche Brände auf der Karte stünden.

„Das ist in Ordnung! Dann bringen Sie uns, bitte, zwei ASBACH - hört man Hufschmidt laut sagen, und leise denkt er bei sich:

>Alle Achtung, der Wirt hat Selbstbewusstsein.<

Der dicke Strich des Schweigens, zwischen Corinna und dem Kommissar, hat sich wieder breit gemacht. Er weicht erst, als die Schwenker mit der braungolden blinkenden Flüssigkeit vor ihnen stehen.

„Ich möchte jetzt nicht sagen auf Ihr Wohl - aber ich glaube, Sie können einen kräftigen Schluck gebrauchen.“

Es fällt Hufschmidt sichtlich schwer, diesen Trinkspruch in den Raum zu stellen - als wenn die Worte mit Stacheldraht umwickelt sind - so klingen sie.

In einem Zug leeren sie die Gläser.

Genussbanausen - denkt ein älterer Herr einige Tische weiter. Den guten Tropfen so zu kippen. Wenn er die Situation kennen würde - er würde wahrscheinlich Verständnis haben - und den beiden einen zweiten Weinbrand spendieren.

Corinna läuft das Gold des URALT wie Feuer die Kehle hinunter. Feuchte treiben die Prozente ihr in die Augen - aber gleichzeitig spürt sie, wie in ihren Nerven die Spannung nachlässt.

„Ihr Mann hat diesen Brief noch in der Nacht seiner Entführung auf den Weg gebracht - wir wissen nicht, wie er das bewerkstelligt hat - aber wir wissen warum.“

Als wenn der Kommissar Corinna verträgliche Häppchen verabreichen will, damit sie sich nicht an den Brocken verschluckt, schweigt er wieder eine geraume Zeit.

Gelegenheit für ihn, sich ein neues Zigarillo anzuzünden - und eine zweite Zigarette für Corinna.

Oh Gott - denkt sie - warum spannt er mich so auf die Folter.

Als sich der Rauch in der Luft kräuselt, spricht er weiter.

„Außer den Bildern war in dem Umschlag nur eine kurze Notiz, auf einer abgerissenen Zeitungsecke - Helmer, sie sind da - stand flüchtig darauf gekritzelt. Nichts weiter."

Corinna versteht noch immer nur Bahnhof - obwohl sie ja nun auch im Metier ihres Mannes keine unbefleckte Jungfrau Maria mehr ist. Jahrelang hat sie die medizinische Redaktion des Verlages geleitet. Aber die drei Jahre - die sie seit ihrer Heirat nicht mehr in der Firma war, zeigen ihr jetzt ihre Wissenslücken auf.

„Ich zeige ihnen die Bilder nachher in Düsseldorf. Vielleicht kennen Sie einige Leute, die da abgelichtet sind. Sie werden sie ohnehin auf den Negativen sehen - vermute ich. Aber vorher müssen wir machen, daß wir nach Dormagen kommen.“

Während der Kommissar aufsteht, den freundlichen Ober mit den guten Grundsätzen herbeiwinkt, um zu zahlen, dreht Corinna sich auf ihrem Stuhl ein wenig zur Seite. Sie beugt sich nach unten, um Pollo an die Leine zu nehmen.

Im selben Moment splittert Glas - und in der Höhe, in der sich noch vor einem Atemzug Corinnas und des Kommissars Kopf befanden, sieht man zwei kreisrunde Löcher in der Scheibe des Restaurantfensters.

Drei Tische entfernt fliegt der Teller eines anderen Gastes - der soeben eine Gabel ansetzen wollte - in Scherben auseinander. Die knusprige Schweinshaxe, die sich darauf befand, vollführt eine perfekte Pirouette auf dem blank gewienerten Parkett - und das Esswerkzeug des hungrigen Gastes steckt zitternd im Tischtuch.

Das Schwein war doch schon tot - denkt Corinna reflexartig - und fängt an zu lachen - bis sie sich der Situation bewußt wird, und merkt, daß sie mit dem Kommissar auf dem Boden liegt. Über dem ganzen Geschehen liegt ein Hauch von der komischen Dramatik alter Hollywoodfilme.

Von draußen stürmt ein Modellathlet mit furchterregendem Gesichtsausdruck und gezogener Pistole durch die Schwingtüren herein. Es ist offenbar einer der Schutzengel aus dem dunklen Auto.

Als ihr Verstand sich wieder zu einem richtigen Bild geformt hat, wimmelt es auf dem Rastplatz vor den Fenstern von Streifenwagen. Kreisende Blaulichter und emsig herumwuselnde uniformierte Beamte beherrschen die Szene.

„Ich glaube fast, unser echter Schutzengel war rechtzeitig zur Stelle" .

Corinna wundert sich, daß sie so gelassen auf das Geschehen reagiert. Sie weiß aber als Ärztin, daß sich das ganz schnell ändern kann.

„Kommen Sie -" Hufschmidt hilft ihr mit weichem Zugriff auf die Beine.

„Hier können wir beide nichts ausrichten. Was hier zu tun ist, das machen die Kollegen schon. Die kennen sich bestens damit aus.“

Er zieht sie mit sanfter Gewalt, mitten durch das geordnete Durcheinander, zu seinem Wagen. Um sie herum schaut es aus, wie in einem Hühnerhaufen, in den unversehens ein Fuchs eingebrochen ist. Während er Corinna auf den Beifahrersitz schiebt, sagt er fast tonlos, wie zu seiner Entschuldigung:

„Wir müssen machen, daß wir nach Dormagen kommen.“

Ohne ein weiteres Wort legen sie die restliche Strecke zurück. In Hufschmidts Gesicht kann man sehen, daß ihm die Entwicklung Sorge bereitet - zwei scharfe Falten haben sich über seiner Nasenwurzel gebildet. Wer ihn kennt weiß, daß dies bei ihm ein untrügliches Zeichen innerer Erregung ist.

Als der Wagen eingangs Dormagen in die Rheinuferstrasse einbiegt, sehen sie schon von weitem das Aufgebot an Polizei vor dem Photogeschäft.

„Ich habe die linksrheinischen Kollegen gleich nach Ihrem Anruf im Präsidium gebeten, hier ein wenig acht zu geben - die scheinen ja einen Betriebsausflug daraus gemacht zu haben.“

Trotz des Schreckens, der ihr noch in den Gliedern sitzt, muß Corinna schmunzeln. Das Schmunzeln vergeht ihr schlagartig - denn der schwarze Mercedes mit dem Silberlorbeer auf den Seitenscheiben, der vor dem Hause steht, ist kein Taxi.

„Verdammt“ - mehr ist von Kommissar Hufschmidt nicht zu hören, als er einen Dreisterne Wachtmeister begrüßt - der offenbar der Anführer der uniformierten Schwadron ist.

„Wir sind sofort nach Ihrem Anruf ausgerückt - leider kamen wir zu spät" - ein Achselzucken begleitet die Worte des Einsatzleiters.

„Wir wissen noch nicht, warum irgendjemand uns hier zwei Leichen präsentiert hat. Im Geschäft fehlt offenbar nichts - sogar die Kasse ist unangetastet. Vielleicht könnt ihr Düsseldorfer uns da ein wenig weiterhelfen.“

Ratlosigkeit steht offen im Gesicht des Dormagener Kollegen.

„Oh doch - da fehlt garantiert etwas.“

Hufschmidts Stimme klingt wie eine brüchige Geigensaite.

„Kommen Sie mit - ich muß mich selbst davon überzeugen.“

Indem er das, schon halb abgewendet, zu seinem uniformierten Kollegen sagt, bewegt er sich leichtfüßig wie eine Raubkatze in das Geschäft.

„Lassen Sie ihre Männer zuerst die Kundentüten mit den Entwicklungsaufträgen kontrollieren.“

Ein leichtes Zweifeln macht sich im Gesicht des Einsatzleiters breit.

„Los, los, nun machen Sie schon, “ fährt der Kommissar seinen uniformierten Kollegen unwirsch an, „wir suchen nach einem bestimmten Film.“ Der bestimmte Film wird, auch nachdem der Laden völlig auf den Kopf gestellt worden ist, nicht gefunden.

„Ich glaub' ich muß das LKA informieren - der Staatsschutz muß hierher. Kommen sie - Corinna - wir müssen schnellstens nach Düsseldorf zurück. Das hier erledigen andere für uns. Entschuldigen sie, Kollege. Es war vorhin nicht so gemeint“, wendet er sich besänftigend an den Dormagener Kollegen, bevor er Corinna in das Dienstfahrzeug drängt. „Kommen Sie - kommen Sie - wir müssen uns beeilen."

Kaum sind die Türen in den Schlössern eingerastet, geht die Fahrt auch schon in einem Höllentempo in Richtung Düsseldorf. Blaulicht und Martinshorn schaufeln ihnen auf den ersten Kilometern die Strasse frei.

„Corinna - entschuldigen Sie - aber ich kann nicht den Funk benutzen. Ich vermute einen Maulwurf bei uns im Präsidium.“

Ich weiß gar nicht, warum ich dieser Frau das alles erzähle. Wenn das herauskommt, dann komm ich in Teufels Küche, denkt er bei sich.

Die andere Seite seines Denkens weiß, warum er Corinna dies alles erzählt - er ist verliebt in dieses zierliche Persönchen. Unmöglich - sagt die andere Seite seines Wissens. Du warst noch nie in eine Frau verliebt. Dein Beruf ist deine Geliebte.

Er kann keiner seiner sich streitenden Wissenshälften Paroli bieten. Er weiß nur, daß er dieses Wesen - das da engelsgleich neben ihm im Auto sitzt - beschützen muß. Jetzt muß er als erstes blitzschnell zum Jürgensplatz - ins Präsidium nach Düsseldorf.

Seine Ahnung malt ihm, daß die Bilder verschwinden bevor er von Dormagen zurück ist, und er sie sicher verwahren kann. Es ist ja das einzige Beweismittel, das er im Moment besitzt.

Ich Rindvieh - ich ahnungsloses Kalb. Im Stillen belegt er sich selber mit Bezeichnungen, für die er andere wegen Beleidigung verklagen würde. Er würde sich am liebsten in den eigenen Hintern beißen, daß er die Zusammenhänge nicht früher erkannt hat.

Auf den Bildern sind zwei hochrangige Berliner Politiker zu sehen. Das Wissen um die näheren Umstände hat Helmer Cassens ihm heute Morgen in einem längeren Telefonat vermittelt.

Zu dem Zeitpunkt, als Werner die Aufnahmen geschossen hat - Datum und Uhrzeit sind in den Bildern eingeblendet - waren diese beiden Politiker offiziell Tausende Kilometer vom Ort der Aufnahme entfernt. Davon hat in den Zeitungen gestanden - mit einem Auge hatte er es so nebenbei in der Rheinischen Post gelesen. ‚Parlamentarische Delegation des deutschen Bundestages in Kabul’ - lautete die Überzeile der Meldung.

Bei der Reisewut der deutschen Politiker waren solche Meldungen ja nicht ungewöhnlich. Die Volksvertreter mußten ja schließlich ihre Bonusmeilen für die nächsten kostenlosen Urlaubsflüge der Verwandtschaft zusammenfliegen.

Stopp and go Verkehr erfasst sie schon auf der Neusser Seite der Südbrücke. Schräg vor sich hinpfeifend trommelt Hufschmidt erregt mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Wenn ihm etwas quer auf der Seele sitzt, dann verschandelt er selbst die schönste Melodie mit seinem schrägem Gepfeife. Er hat für einen Moment vergessen, daß er nicht alleine im Wagen sitzt.

Erschrocken hält er inne, als Pollo ihm seine feuchte Nase ans Ohr drückt.

„James Bond müsste man sein - mit einem flugfähigen Dienstwagen. Dann könnte man jetzt den ganzen Brassel unter sich lassen.“

Dieser fromme Wunsch läuft laut über seine Lippen, angesichts des einsetzenden Berufsverkehrs. Die Strassenbahn kommt zügiger voran - denkt er noch hinterher. Auch Blaulicht und Martinshorn sind nicht in der Lage, die Fahrzeugknoten aufzulösen, die sich immer aufs Neue in den Autoschlangen vor ihnen bilden. Nach endlosen lautlosen Flüchen, und ebenso endlosen stillen Verwünschungen, an die Adresse der Verkehrspolitiker, haben sie es in einer Stunde und zwanzig Minuten geschafft, das Präsidium zu erreichen. Direkt vor dem Haupteingang läßt er den Wagen bilderbuchmäßig vorschriftswidrig stehen, und verschwindet im Dauerlauf im Inneren des schmucklosen Klinkerbaues.

Corinna bewacht unterdessen mit Pollo das als Verkehrshindernis wirkende Fahrzeug. Hufschmidt hastet - zwei Stufen auf einmal nehmend - zur zweiten Etage hinauf. Der asthmatisch keuchende Aufzug ist ihm viel zu langsam. Entgegenkommende Kollegen vermuten sicherlich, der Leibhaftige säße dem guten Hufschmidt auf den Hacken.

So ganz unzutreffend ist diese Vermutung ja auch nicht. Reichlich außer Atem stürmt er in sein Büro - und bemerkt auf den ersten Blick, daß sich während seiner Abwesenheit etwas verändert hat. Die geordnete Unordnung auf seinem Schreibtisch ist eine andere.

„Auch ‘ne Tasse Kaffee Chef?“ - Meyer - sein junger Assistent - kommt mit einem dampfenden Kaffeebecher in der Hand, aus dem Nebenzimmer. „Danke, Meyer - später vielleicht. Hast du was von meinem Schreibtisch genommen?“

Meyers, von der durchwachten Nacht in der Wülfrather Kalkgrube, übermüdete Augen - bekommen einen leichten, selbstmitleidigen Schimmer.