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Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783746073361
Die Themen der einzelnen Bände der Reihe „Die Götter der Germanen“
Der Göttinnenname „Freya“ wird oft auch „Freyja“ und manchmal auch „Freyia“ geschrieben.
Er bedeutete im Altnordischen „Frau“ im Sinne von „freie Frau“ oder „Herrin“. „Freya“ ist die weibliche Entsprechung zu dem männlichen „Freyr“ für „Herr“.
Die Herkunft dieser beiden Gottesnamen ist ausführlich in dem Band 15 über den Gott Freyr beschrieben worden. Die folgende Darstellung ist nur eine kurze Übersicht über die Entwicklung der Götternamen „Freya“ und „Freyr“.
Diese beiden Namen lassen sich bis in die indogermanische Sprache und noch weiter zurückverfolgen.
Im Altnordischen und im Germanischen sind mit den Namen „Freya“ und „Freyr“ mehrere Worte verwandt:
Die Wortfamilie „Freya“ | ||
germanisch | altnordisch | Bedeutung |
fri | frijan | lieben |
fraea | helfen | |
frijathwae | fraeja | Liebe |
friudilaz | fridill | Geliebter, Gatte, Freyr |
friudila (Geliebte) | fridila, frilla | Geliebte, Gattin |
frijae (Gattin) | Freya | Freya |
húsfreyja | Hausherrin | |
frijaend | Freund | |
fraewe | frouva | Frau |
frijaen | friols | frei |
fro-samr | fruchtbar | |
frae | Samen | |
frjova | befruchten | |
froeda | Sperma | |
fraehals | frelsi | Freiheit |
frithu | fridar | Frieden |
fregji | fraegd | Ruhm |
fregi (Wissen) | frod | Weisheit |
froedi | Zaubersprüche | |
fridandi | gut | |
frida | verehren | |
? | freykja | Spuk, Geist |
fraeda | frid | Schönheit |
Wenn man alle Bedeutungen der Wortfamilie, zu der die Namen der beiden Gottheiten „Freya“ und „Freyr“ gehören, zusammenfaßt, ergibt sich ein erstes Bild dieser beiden Gottheiten, das nicht auf ihren Mythen, sondern auf den sprachlichen Assoziationen der Germanen zu diesen beiden Namen beruht:
Freya und Freyr sind das hilfsbereite Friedens-Herrscherpaar und die den Frieden liebenden Beschützer der Menschen und ihrer Verwandten, also der Sippe. Sie sind die Göttin und der Gott der Fruchtbarkeit, der Zeugungskraft und der Liebe und daher auch die Beschützer der Liebenden. Sie sind auch die Gottheiten der Ahnen.
Freya und Freyr werden verehrt, weil sie die Freiheit derjenigen Menschen bewahren, die diese beiden Gottheiten verehren. Sie sind die guten Gottheiten der Weisheit, der Schönheit und der inneren und der äußeren Harmonie. Für diese Qualitäten werden sie weithin gerühmt.
Die indogermanische Wurzel der Wortfamilie, zu der der Göttinnenname „Freya“ gehört, ist das Wort „per“ für „Haus“. Dieses Wort ist möglicherweise schon sehr alt und könnte noch von den ersten Ackerbauern in Mesopotamien um ca. 10.000 v.Chr. stammen, da sich dieses Wort mit derselben Bedeutung auch im Altägyptischen findet („Pharao“ = „per-aa“ = „Großes Haus“ im Sinne von „Regierungssitz“ – so wie man heute vom „Weißen Haus“ oder vom „Kreml“ spricht).
Von der nostratischen Sprache, die von den frühen Ackerbauern in Mesopotamien gesprochen worden ist und in der das „Haus“ die Bezeichnung „per“ hatte, stammen sowohl die indogermanische Sprache als auch das Altägyptische sowie das Semitische, Babylonische, Kretische, Elamische und noch einige andere Sprachen ab.
Ein „priheh“ ist bei den ursprünglichen Indogermanen, die zwischen 7000 v.Chr. und 2800 v.Chr. in der Steppe nördlich des Schwarzen Meeres gelebt und sich hauptsächlich von der Viehzucht ernährt haben, jemand gewesen, der zu dem eigenen Haus („per“), also zu dem eigenen Haushalt und somit zu der eigenen Sippe gehörte: ein Verwandter.
Schon bei den Indogermanen hat diese Bezeichnung für die „Verwandten“ auch die Bedeutung „Geliebter, Ehemann“ und „Geliebte, Ehefrau“ („priheh“) erhalten – diese Liebe zwischen den Menschen bezog sich anfangs offensichtlich vor allem auf den Sippenzusammenhalt.
Schon bei den Indogermanen hat sich von diesem Wort die Nebenform „parikeh“ mit der Bedeutung „Nebenfrau, Hure“ gebildet.
Es gab bei der Wortfamilie um „priheh“ auch eine deutliche Assoziation zum Besitz, denn „prihos“ hatte sowohl die Bedeutung „das, was man liebt“ als auch „das Eigene“ und „das, was einem gehört“.
Vermutlich gab es bei dieser Wortfamilie auch schon eine Assoziation zu der Zeugung und der Fruchtbarkeit, da es auch das Wort „prehktos“ gegeben hat, daß „Anus, Genitalien“ bedeutet hat und sich im Altgriechischen als „proktos“ und im Armenischen als „erastank“ erhalten hat. Diese Bedeutung hat sicherlich auch bei der Entstehung des Substantivs „parikeh“ für „Nebenfrau, Hure“ mitgewirkt.
Es ist denkbar, daß es bei den Indogermanen auch schon erste Ansätze dazu gegeben hat, aus „priheh“ den Beinamen eines Gottes oder Ahnen bzw. einer Göttin oder Ahnin zu machen. Das mythologische Motiv, mit dem diese Gottheiten in Zusammenhang gestanden haben werden, ist die Wiederzeugung, die der Wiedergeburt der Toten durch die Muttergöttin im Jenseits vorausging. Bei dieser Wiederzeugung war die Muttergöttin die Geliebte des Toten im Jenseits.
Dieses Motiv wird die Wurzel der beiden germanischen Götternamen „Freya“ und „Freyr“ sein – Freya ist die Wiederzeugungs-Geliebte und die Wiedergeburts-Mutter, während Freyr das Urbild des sich wiederzeugenden Toten bzw. Gottes ist, der dann anschließend von der Göttin wiedergeboren wird (siehe dazu auch den Band 51).
Bei dem indogermanischen „priheh“ finden sich somit schon mehrere der Eigenschaften der beiden germanischen Gottheiten Freya und Freyr: die enge Verwandtschafts-Bindung, die Liebe, der Geliebte, die Geliebte, die Zeugungskraft und die Fruchtbarkeit.
Die Assoziationen „Herr, Weisheit, Frieden, Freiheit und Ruhm“ scheinen somit Eigenschaften sein, die sich erst später im Charakter der beiden Gottheiten Freya und Freyr herausgebildet haben. Sie werden allerdings auch schon bei den frühen Indogermanen wesentliche Qualitäten dargestellt haben.
Vermutlich werden diese Eigenschaften umso mehr mit „priheh“ verbunden worden sein, umso mehr sich die Bedeutung des „priheh“ von „Geliebte“ zu „Geliebte-Aspekt der Wiedergeburts-Göttin im Jenseits“ verschoben hat: Der Fürst war sowohl bei seiner Krönung (die im Wesentlichen eine Jenseitsreise gewesen ist) als auch während seiner Herrschaftszeit (Schutz seiner Herrschaft) und natürlich auch bei seiner Bestattung während seiner Wiederzeugung, die seiner Wiedergeburt im Jenseits vorausging, der „Geliebte der Muttergöttin im Jenseits“.
Der Göttinnenname „Freya“ ist aus dem früh-jungsteinzeitlichen Substantiv „per“ für „Haus“ entstanden und bedeutete zunächst „Frau, die im selben Haus wohnt“, d.h. „Frau aus der eigenen Sippe“. Daraus entstanden dann die Bedeutungen „Freie“, „Geliebte“, „Weise“, „Herrin“ usw. und schließlich der Göttinnenname „Freya“.
Der Freitag, der bei den Römern der Venus geweiht war, wurde von den Germanen mit „Freya-Tag“ übersetzt. Freya ähnelt von ihrem Wesen her folglich der römischen Venus bzw. der ihr entsprechenden griechischen Aphrodite.
Freya entspricht Venus und Aphrodite.
Schon Snorri Sturluson, der Verfasser der Prosa-Edda und der Heimskringla, hat den ethymologischen Zusammenhang zwischen „Freya“ und „Frau“ erkannt.
Snorri schwankt in seiner Schrift „Heimskringla“, in der er über die norwegischen Könige berichtet, zwischen der früheren Auffassung der Asen als Götter und der damals modernen christlichen Auffassung der Götter als Könige der Vorzeit.
Freya war die einzige der Gottheiten, die noch übriggeblieben war. Daher wurde sie so sehr verehrt, daß alle vornehmen Weiber mit ihrem Namen bezeichnet wurden wodurch der Titel „Frau“ entstand. Daher wird jedes Weib „Frau“, d.h. „Herrin über ihren Besitz“ genannt und die Gattin wird als „Frau des Hauses“ bezeichnet.
Snorri leitet stets die Worte in seiner Sprache von den Namen der Gottheiten ab. Dieser Vorgang wird jedoch umgekehrt abgelaufen sein: Die Namen der Gottheiten sind aus umschreibenden Beinamen, die sich auf die Eigenschaften der Gottheiten bezogen haben, entstanden.
Der Name der Göttin Freya bedeutete ursprünglich „die zu dem eigenen Haus gehört“, also „Sippenmitglied, Verwandte“ – auf indogermanisch „Priheh“. Diese Bedeutung verschob sich über „Geliebte“, „Freie“ und „Herrin“ bis hin zu der allgemeinen Bezeichnung für „Frau“.
Aus der Bedeutung „Geliebte“ des Wortes „Priheh“ wurde der Name für die Jenseitsgöttin als der Wiederzeugungs-Geliebten der Toten („Freya“) und auch des ehemaligen Sonnengott-Göttervaters Tyr bei der Wiederzeugung („Freyr“), die seiner Wiedergeburt durch die Göttin vorausging.
Schließlich wurde „Freya“ bei den Germanen zu dem wichtigsten Namen der Göttin.
Die Beinamen der Götter und Göttinnen sind oft eine wertvolle Quelle für das Erfassen ihres Charakters, da sich diese Beinamen in vielen Fällen auf die wesentlichen Eigenschaften und Mythen der betreffenden Gottheit beziehen.
„Freya“ war nicht der einzige Name der Göttin. Die Vielzahl der Namen der Freya wird von Snorri u.a. in seinem Geschichtswerk „Heimskringla“ („Erdkreis“) erwähnt:
Freya hatte auch noch viele andere Namen.
Einige der Beinamen der Freya werden in der Vision des Königs Gylfi aufgezählt:
Sie heißt Mardöll, Hörn, Gefn und Syr.
Diese vier Beinamen der Freya haben folgende Bedeutungen:
- „Mardöll“: Dieser Name setzt sich aus „mar“ für „Meer“ und „döll“ für „Tag“ oder „dalr“ für „Tag“ zusammen. Freya-Mardöll wäre dann entweder der „Meer-Tag“ oder das „Meer-Tal“.
Der zweite Teil dieses Namens („-dall“) könnte mit dem Tagesgott „Delling“ oder dem Namen des Gottes „Heimdall“ identisch sein. „Mardöll“ wäre dann das „Meer des Delling/Heimdall“.
Da es das Bild einer Wasserunterwelt gab und sowohl Delling als auch Heimdall mit der Sonne bzw. dem Sonnengott-Göttervater verbunden gewesen sind, könnte sich der Name „Mardöll“ auf das Motiv des Unterwelt-Meeres, aus dem die Sonne des Morgens zurückkehrt, beziehen. Freya als Mardöll wäre dann die Jenseitsgöttin gewesen, die am Morgen bzw. im Frühjahr den Sonnengott-Göttervater wiedergebiert – die Sonnenmutter.
Wenn man „Mardöll“ als „Meeres-Tag“ deutet, wäre Freya-Mardöll die Göttin, die die Sonne am Morgen aus der Wasserunterwelt aufsteigen läßt. Wenn man „Mardöll“ als „Meeres-Tal“ deutet, wäre die Tiefe des Meeres, d.h. die Wasserunterwelt gemeint.
Die Auffassung der Freya als der Frau des Odin ist wahrscheinlich erst um 500 n.Chr. entstaden, als Thor und Odin den ehemaligen nordgermanischen Göttervater abgesetzt haben und Odin an die Stelle des ehemaligen Sonnengott-Göttervaters Tyr getreten ist und dabei dessen Frau (die Jenseitsgöttin Freya) übernommen hat.
- „Hörn“: Möglicherweise ist ein (Trink-)Horn gemeint. Dann würde dieser Name auf Freya, Gunnlöd, die Walküren u.a. hinweisen, die den Toten im Jenseits den Göttermet reichen. Auch dieser Beiname wäre dann eine Bezeichnung der Freya als Totengöttin.
Das Trinken des Göttermets ist bei den Indogermanen an die Stelle des Wiederstillens durch die Göttin nach der Wiedergeburt getreten. Schließlich hat das Trinken dieses Ritualtranks die Symbolik der Wiedergeburt übernommen und ist zum Unsterblichkeitstrank geworden: der Met der Germanen und Kelten, das Nektar ambrosia („Unsterblichkeitstrank“) der Griechen, das Soma amrita („ Unsterblichkeitstrank“) und das Haoma der Perser.
Der Freya-Beiname „Hörn“ bezieht sich wie ihr Beiname „Mardöll“ auf die Wiedergeburt.
Es gab in Schweden zwei Orte, die diesen Göttinnennamen enthalten: Härnevi und Järnevi, die beide „Tempel der Hörn“ bedeuten. „Hörn“ muß also ein wichtiger Beiname der Freya gewesen sein. Dazu paßt, daß in einigen Sagas rituelle Trinkhörner beschrieben werden, die eine wichtige Rolle spielen („Die Saga über Sturlaug den Mühen-Beladenen“, „Die Saga über Thorstein Viking-Sohn“, „Die Saga über Thorstein Haus-Macht“ u.a.), und daß sehr aufwendig hergestellte Trinkhörner aus Gold gefunden worden sind (Goldhörner von Gallehus).
Möglicherweise ist „Hörn“ aber auch als „Gehörnte“ aufzufassen – dann würde er Freya als die Urkuh oder als die Ziege Heidrun bezeichnen, die beides die Gestalt der Göttin bei der Wiederzeugung, der Wiedergeburt und dem Wiederstillen sind.
- „Gefn“: Dies ist Variante von „Gefion“, was „Geberin“ bedeutet und schon bei den germanisch-keltisch-römischen Matronen einer der wichtigsten Namen der alle Dinge in Fülle spendenden Göttin gewesen ist.
- „Syr“: Dieser Name bedeutet „Schwein“ und bezieht sich sowohl auf das Reittier der Göttin Freya als auch auf das Schwein als Opfertier bei den Bestattungen. Der Ursprung dieses Motivs ist die Vorstellung, daß die Jenseitsgöttin und der Tote bei der Wiederzeugung die Gestalt von zwei Herdentieren annehmen, um ihre Fruchtbarkeit bzw. ihre Zeugungskraft abzusichern – sie wurden daher zu Stier und Kuh, Hirsch und Hindin, Hengst und Stute, Keiler und Bache, Eber und Sau, Widder und Schaf, Ziegenbock und Ziege usw. (siehe dazu auch die Bände 42 und 51).
In Snorri Sturlusons Skaldenkunst-Lehrbuch finden sich ebenfalls einige Beinamen der Freya, von denen „Syr“ auch in „Gylfis Vision“ erwähnt wird:
- „Vanadis“: „Wanen-Göttin“
- „Valfreya“: „Wiedergeburtsgöttin der Gefallenen“
- „Thröng“, „Thrungva“: Dieser Name bedeutet „Enge, Gedränge“. Möglicherweise ist damit die Enge im Grab oder in der Unterwelt gemeint, aber die Deutung dieses Namens ist unklar. Es wäre auch denkbar, daß die Germanen bei dem Namen „Thröng“ an den engen Eingang in die Unterwelt gedacht haben ist. Der Begriff könnte evtl. auch eine Umschreibung für Freyas Schoß sein, der alle Seelen im Jenseits wiedergebiert.
Es könnte schließlich auch noch das Kampfgedränge in einer Schlacht gemeint sein, wodurch Freya als Walküre bezeichnet werden würde.
Der Beiname „Thröng“ muß schon recht alt sein, da er auch schon in dem um ca. 985 n.Chr. von dem Skalden Eilifir Godrunason verfaßten „Loblied für Thor“ benutzt worden ist:
Thröngs alter Freund
Mit dieser Umschreibung ist der Gott Thor gemeint. Über diese Freundschaft zwischen Freya und Thor ist ansonsten nichts bekannt. Da man davon ausgehen kann, daß den damaligen Zuhörern des Skalden Eilifir diese Anspielung auf Thor und Freya sofort verständlich gewesen sein wird, muß diesem Motiv eine allgemein bekannte Mythe zugrundegelegen haben. Es wäre denkbar, daß es sich um eine Wiederzeugungs- und Wiedergeburtsmythe des Thor gehandelt hat, da sicherlich auch Thor zu den Liebhabern der Freya zählen wird, wenn Loki in der Lokasenna von „allen Asen“ als den Geliebten der Freya spricht.
Auch in diesen Namens-Listen, die Snorri seinem Skaldenkunst-Lehrbuch beigefügt hat, erscheinen einige Beinamen der Freya. Von ihnen sind „Gefn“, „Hörn“, „Mardöll“, „Syr“ und „Thrungva“ bereits erwähnt worden.
Namen der Freya:
Freya weinte
Gold(-Tränen) für Odi.
Ihre Namen sind
Hörn und Thrungva,
Syr, Skjalf und Gefn
und auch Mardöll.
Ihre Töchter heißen
Hnoss und Görsemi.
- „Hörn“ erscheint in diesen Listen sowohl als Beiname der Freya als auch als Name einer Troll-Frau. Da Trolle und Riesen und „Götter im Jenseits“ praktisch identisch miteinander waren, könnte „Hörn“ hier statt als Göttin (Freya) oder Riesin (Gunnlöd) als Trollfrau aufgefaßt worden sein – alle drei Wesen sind dieselbe Gestalt: die Mutter der Wiedergeburt im Jenseits.
In dieser Thulur-Liste erscheint nur ein einziger ansonsten nicht erwähnter Name:
- „Skjalf“ bedeutet „Schüttlerin, Zitternde“. In der Heimskringla trägt auch ein finnischer König diesen Namen, wobei die Könige der Finnen oft Saga-Varianten des Tyr und Jenseits sind.
Vermutlich ist mit „Skialf“ eine Schäre bzw. ein Schelf gemeint, also eine bei Flut von Wasser bedeckte Insel – dann wäre mit „Skjalf“ die Jenseitsinsel gemeint. Das „Zittern“ einer Schelf-Insel ist der ständige Wechsel von „überfluteter Insel“ und „trockenliegender Insel“.
Diese Deutung paßt auch gut zu dem Finnenkönig Skialf, der evtl. eine Saga-Vaiante des Tyr im Jenseits ist, und zum anderen stimmt diese Deutung auch gut mit den beiden Namen „Walaksialf“ („Toteninsel“) und „Hlidskialf“ („Totentor-Insel“) der Jenseitsinsel, zu der der ehemalige Sonnengott-Göttervaters am Abend gelangt, überein.
Freya ist somit die „Göttin auf der Jenseitsinsel“ oder die „JenseitsinselGöttin“. Auf dieser Insel trifft der Abendsonnen-Gott Tyr die Göttin Freya, die dann seine Wiederzeugungs-Geliebte ist und am Morgen dann zu seiner Wiedergeburts-Mutter wird. Der neugeborene Tyr ist am Morgen „eine Nacht alt“ wie es in den Mythen des Wali heißt (siehe „Wali“ in Band 19).
Die Erzählung über Syrita und Ottar in der „Geschichte der Dänen“ könnte dieselben Wurzeln wie die Mythe über Freya und Odr sowie das Hyndla-Lied haben, in dem Freya auf dem in einen Eber verwandelten Helden Otar reitet – offenbar eine späte Version der Wiederzeugungs-Vereinigung im Jenseits des Toten und der Göttin, die dabei die Gestalt eines Keilers und einer Bache annehmen.
Interessanterweise heißt in der Völsungen-Saga einer der drei Söhne des Hreidmar „Ottar“ und kann die Gestalt eines Otters annehmen. Hreidmar und seine drei Söhne, also der Otter Ottar, der Drache Fafnir und der Schmied Regin, gehen auf den alten Göttervater Tyr und seine drei Söhne, die die drei Stände der Germanen repräsentieren, zurück. Fafnir ist der Priester/Heiler (Drache = Jenseitsreise), Regin der Bauer/ Handwerker (Schmied) und Ottar somit der Fürst/Krieger.
Daher ist es recht sicher, daß Odhr-Ottar ursprünglich der ehemalige Kriegsgott und Sonnengott-Göttervater Tyr in der Wasserunterwelt gewesen ist. Dort in den tiefen Wassern wird in den alten Mythen Freya den Sonnengott wiedergeboren haben.
Für die Deutung des Ottar als Tyr spricht auch, daß Loki in der Völsungen-Saga den Ottar mit einem Steinwurf tötet und dieses Motiv des Mordes des Tyr durch Loki aus den Mythen über den endlosen zyklischen Kampf zwischen dem Sommergott Tyr und dem Wintergott Loki bekannt ist.
Der Frauenname „Syrita“ wird in den Übersetzungen der Gesta danorum oft fälschlicherweise mit „Sigrid“ eingedeutscht – er lautet im lateinischen Original jedoch „Syrita“, also „kleine Syr“. „Syr“, d.h. „Sau“ ist einer der Beinamen der Freya, die auf einem Wildschwein reitet, was eine verharmlosende Variante für ihre Verwandlung in eine Wildsau ist.
In dem folgenden Text ist die Moral-Auffassung des christlichen Mönches Saxo des Schriftkundigen, der ihn verfaßt hat, des öfteren sehr deutlich zu spüren. Auch sein Stil ist sehr weit von der knappen und sachlichen Darstellungsweise der Germanen entfernt und ist ganz von der damals im gelehrten Christentum üblichen bilderreichen und langatmigen Schreibweise in sehr langen, verschachtelten Sätzen geprägt.
Siwalds Tochter Syrita war von solch erlesener Sittsamkeit, daß es, obwohl viele Werber sie wegen ihrer Schönheit heiraten wollten, schien, daß sie nicht dazu bewegt werden konnte, auch nur einen von ihnen anzublicken. Im Vertrauen in diese Kraft der Selbstbeherrschung bat sie ihren Vater um einen Ehemann, der durch die Süße seiner Schmeicheleien von ihr einen Blick zu ihm erlangen konnte. Denn in den alten Zeiten war bei uns die Selbstbeherrschung der Mädchen eine starke Verteidigung gegen lüsterne Blicke, da durch sie die Gesundheit der Seele nicht durch die Unzüchtigkeit der Augen beschmutzt werden konnte – und die Frauen hatten das Verlangen, die Reinheit ihrer Herzen durch die Selbstbeherrschung in ihren Gesichtern zu beweisen.
Dann verlangte es einen gewissen Ottar Ebb-Sohn, der von seinem Vertrauen in die Größe entweder seiner Großtaten oder der höflichen und beredten Weise, mit der er sie ansprach, entflammt war, beharrlich und inbrünstig danach, sie zu ehelichen. Doch obwohl er mit der ganzen Kraft seines Verstandes versuchte, ihren Blick zu erweichen, konnte er mit keinem Hilfsmittel – was auch immer er versuchte – ihre niedergeschlagenen Augen bewegen, sodaß er schließlich fortging und voller Verwunderung über die Standhaftigkeit ihrer unbezwingbaren Standfestigkeit war.
Einen Riesen verlangte nach demselben, aber als er sah, daß er in gleicher Weise gescheitert war, verleitete er eine Frau dazu, der Maid Freundschaft vorzutäuschen und sie schließlich in geschickter Weise weit von ihres Vaters Haus fortzulocken, woraufhin der Riese herbeisprang und sie zu seiner abgelegenen Festung auf einem Bergrücken im Gebirge trug.
Andere glauben, daß er sich als Frau verkleidet hatte und die Maid in verräterischer Weise durch seine fortwährenden Listen dazu verleitete, sich von ihrem eigenen Haus zu entfernen und sie schließlich davontrug.
Diese Variante klingt sehr nach der Geschichte über Odin und Rindr, in der sich Odin schließlich als Heilerin verkleidet, um Rindr verführen zu können, mit der er dann den Wali zeugt, der im Alter von einer Nacht seinen Halbbruder Baldur an Hödur rächt. Dieses Alter von einer Nacht zeigt, daß es sich bei ihm um den am Morgen wiedergeborenen Sonnengott-Göttervater Tyr handelt.
Ein Riese, der eine Frau raubt, die auf Freya zurückgeht, könnte der Gott Tyr als Riese in der Unterwelt sein.
Als Ottar davon hörte, durchsuchte er alle Winkel in den Bergen auf der Suche nach der Maid, fand sie, erschlug den Riesen und trug sie fort.
Das Erschlagen des Riesen gehört zu der Mythe der Wiedergeburt des Sonnengott-Göttervaters Tyr, da diese Geburt schon früh bei den Indogermanen zu einem Töten des alten Göttervaters durch den jungen, wiedergeborenen Göttervater geworden ist. Nach der Völkerwanderungszeit, in der Tyr durch Odin und Thor als Göttervater abgesetzt worden ist, ist daraus dann das Töten der Tyr-Riesen (alter Göttervater) durch Thor, der an die Stelle des jungen Göttervaters getreten ist, geworden.
Doch der eifrige Riese hatte die Locken der Maid zurückgebunden und ihr Haar in solch einer Weise fest verdreht, daß die verfilzte Masse von Strähnen in einer Art von gebogenem Bündel lag, sodaß es für niemanden einfach war, dieses geflochtene Gestrüpp zu entwirren ohne den Stahl zu benutzen.
Wieder versuchte er mit den verschiedensten Verführungskünsten die Maid dazu zu verleiten, ihn anzublicken, doch als er eine lange Zeit vergeblich ihre bewegungslosen Augen belagert hatte, gab er sein Vorhaben auf, da sich seine Absichten sich so wenig nach seinen Wünschen entwickelten. Doch er konnte sich selber nicht dazu bewegen, sich die Maid mit Gewalt zu nehmen, da er es verabscheute, sie wegen ihrer vornehmen Geburt mit einer verabscheuenswürdigen Vereinigung zu beschmutzen.
Dann wanderte sie lange Zeit und lief durch verschiedene Einöden und auf gewunden Pfaden bis sie schließlich zu der Hütte einer gewissen riesigen Waldfrau kam, die ihr die Aufgabe gab, ihre Ziegen zu hüten.
Der Wald und die Berge, also die Wildnis, sind in den Sagas, die mythologische Wurzeln haben, oft ein Bild für das Jenseits: der Wald Myrkvid („Düsterwald“) und das Randgebirge außen um das Weltmeer, in dem die Riesen wohnen („Utgard“). Die Riesin dort ist die Jenseitsgöttin Hel. Die Ziegen, die dort bisweilen anzutreffen sind, können manchmal die Totengeister sein, die durch die für sie bei ihrer Bestattung geopferten Ziegenböcke die Gestalt dieser Ziegenböcke angenommen haben. Die junge Frau bzw. die Königstochter bei der alten Frau ist der Aspekt der Wiederzeugungs-Geliebten der Jenseitsgöttin, also Freya.
Hel und Freya sind letztlich identisch: Hel hat sich von Freya abgespalten und bezeichnete ursprünglich die „Frau in der Grabkammer des Hügelgrabes“ („Hel“ = „Höhle“), womit eben die Jenseitsgöttin gemeint war, die als die Wiederzeugungs-Geliebte in diese Grabkammer zu dem dort bestatteten Toten kam.
Wieder bot Ottar ihr seine Hilfe bei ihrer Befreiung an und wieder bemühte er sich, sie zu erweichen, und sprach sie in folgender Weise an:
„Würdest Du nicht lieber auf meinen Rat hören und mich in der Weise umarmen, nach der es mich verlangt, als hier zu bleiben und die Ziegenherden zu hüten?
Weise die Hand Deiner üblen Herrin zurück und fliehe von Deiner grausamen Zuchtmeisterin und komme mit mir zu den Schiffen Deiner Freunde zurück und lebe in Freiheit!
Verlasse die Sorge um die Schafe, die Dir anvertraut worden sind; verschmähe es, den Schritten der Ziegen zu folgen; teile mein Bett mit mir und erfülle mir schnell meine Bitten!
O Du, die ich mit so vielen Mühen gesucht habe, bewege Deine reglosen Blicke – erhebe nur einen Augenblick – es ist doch nur eine leichte Geste – Dein Antlitz!
Ich werde Dich von hier fort und zu dem Haus Deines Vaters bringen und Dich wieder in Freude mit Deiner Dich liebenden Mutter vereinen, wenn Du mir nur ein einziges Mal Deine Augen, die von sanftem Verlangen erfüllt sind, zuwendest!
Du, die ich so oft aus den Verliesen der Riesen befreit habe, gib mir die mir zustehende Belohnung für meine Bemühungen in alter Zeit; habe Mitleid mit meinen steten Bemühungen und sei nicht mehr hart gegen mich!
Wodurch bist Du so verstört und geisteskrank geworden, daß Du lieber die Herden eines anderen hütest und zu den Mägden eines Ungeheuer gezählt wirst, als daß Du unserer Heirat zustimmst – einer Verbindung in gegenseitiger und standesgemäßer Übereinkunft?“
Doch sie hielt ihre Lider unbeweglich niedergeschlagen und beherrschte ihren Blick, damit ihr keuscher Geist nicht dadurch, daß sie auf die Welt draußen blickte, in Versuchung gebracht werden würde.
Seht nur, wie selbstbeherrscht die Frauen jenes Zeitalters gewesen sein müssen, daß sie selbst durch die stärksten Verführungskünste ihrer Liebhaber nicht zu der geringsten Bewegung ihrer Augenlider bewegt werden konnten!
Als Ottar erkannte, daß er selbst durch die Verdienste seiner doppelten Hilfe nicht den Blick der Maid zu ihm lenken konnte, ging er zu seiner Flotte zurück und war müde vor Scham und Verdruß.
Syrita lief in ihrer gewohnter Weise über die Felsen fort und geriet auf ihren ziellosen Wanderungen schließlich zu dem Heim des Ebb, wo sie vor Scham wegen ihrer Nacktheit und ihrer Verzweiflung vorgab, die Tochter von armen Leuten zu sein.
Ebb ist der Vater von Ottar.
Die Mutter des Ottar sah jedoch, daß diese Frau, obwohl sie schmutzig und abgemagert und nur mit einem dünnen Umhang bekleidet war, aus einer edlen Familie stammen mußte, und ließ sie in aller ehrerbietigen Höflichkeit auf einem Ehrenplatz neben sich sitzen, denn die Schönheit der Maid war ein Hinweis auf ihre Geburt und in ihrem Antlitz war der verräterische Widerhall ihrer Herkunft zu erkennen.
Als Ottar sie sah, frug er, warum sie ihr Antlitz in ihrem Gewand verberge. Zudem täuschte er, um ihren Geist noch sicherer zu prüfen, vor, daß eine Frau seine Gattin werden würde und bat Syrita, als er zu seinem Brautlager hinausging, die Fackel zu halten. Das Licht war schon fast herabgebrannt und sie wurde von der näherkommenden Flamme hart bedrängt, aber sie war ein solches Vorbild an Ertragen, daß man sehen konnte, daß sie ihre Hand unbewegt hielt, und daß man meinen konnte, daß sie keinen Schmerz durch die Hitze empfinden würde, denn das Feuer in ihr herrschte über das Feuer außen und die Glut ihrer sehnsuchtsvollen Seele tötete die Verbrennungen auf ihrer versengten Haut ab.
Schließlich bat Ottar sie, auf ihre Hand zu achten. Da erhob sie sittsam ihre Augen und wandte ihren ruhigen Blick zu ihm und ging geradewegs, nachdem die vorgetäuschte Heirat offensichtlich geworden war, zu dem Brautlager, um seine Frau zu werden.
Auch Odin benötigte drei Versuche, um sich mit Rindr vereinen zu können. Die dreifache Darstellung einer Tat oder eines Ereignisses ist die (indo-)germanische Weise, einen endlosen, zyklischen Vorgang darszustellen – hier die Werbung des ehemaligen Sonnengott-Göttervaters Tyr um die Jenseitsgöttin, mit er er sich wiedervereinen will. Möglicherweise ist die Fackel in der Hand der Syrita eine Erinnerung an das Bestattungsfeuer (siehe auch „Feuer“ in Band 55).
Diese Tyr/Freya-Symbolik ist um 500 n.Chr. bei der Absetzung des Tyr durch Odin auf Odin/Rindr übertragen worden.
Später ergriff Siwald Ottar und fand, daß er dafür gehängt werden solle, daß er seine Tochter beschmutzt hatte, doch Syrita erklärte sofort, wie sie geraubt worden war und brachte Ottar nicht nur die Gunst des Königs zurück, sondern regte ihren Vater sogar dazu an, Ottars Schwester zu heiraten.
Danach gab es eine Schlacht zwischen Siwald und Ragnald auf Seeland, für die auf beiden Seiten Krieger von herausragender Stärke ausgewählt worden waren. Drei Tage lang töteten sie einander, aber der Mut war auf beiden Seiten so groß, daß es unklar war, wer den Sieg erringen würde.
Dann brach Ottar plötzlich, entweder von Ungeduld über die sich hinziehende Schlacht oder von einem Verlangen nach Ruhm, durch das dichteste Gedränge der Feinde, hieb Ragnald inmitten der kühnsten seiner Krieger nieder und errang so den Dänen einen plötzlichen Sieg.
Ottar ist also auch ein Kriegsheld – was gut zu seiner Deutung als eine der vielen Sagen-Varianten des Tyr paßt, der auch der Schwert- und Kriegsgott gewesen ist.
In diesem Lied wird Freya umschrieben ohne daß ihr Name genannt wird:
Der junge Tyr traf als erstes seine Großmutter, die er verabscheute –
Sie hatte der Häupter neunmal hundert.
Doch eine andre trat hervor, Gold-bedeckt und weißbrauig,
und brachte ihrem Sohn einen Trank Bier.
Die „Ahne“ des Tyr ist eine Jenseits-Riesin, wie sich leicht an ihren 9·100 Köpfen erkennen läßt, da „9“ die Zahl des Jenseits und „100“ die Zahl des Superlativs ist: Die „Ahne“ ist somit „die Größte im Jenseits“. Sie wird daher letztlich mit Hel identisch sein. Aus dieser „Ahne“, d.h. aus der Großmutter des Tyr könnte sich durchaus später im Christentum „des Teufels Großmutter“ entwickelt haben. Der Teufel mit seinen Hörnern ist aus den Toten im Jenseits entstanden, die durch die Identifizierung mit dem für sie bei ihrer Bestattung geopferten Herdentier dessen Hörner erhalten haben – meist sind es Ziegenhörner, da die Ziegenböcke die Opfertiere der einfachen Leute und daher die häufigsten Opfertiere gewesen sind.
Tyrs Mutter wird im Gegensatz zu seiner Großmutter als „Gold-bedeckt“ und als „weißbrauig“ bezeichnet.
Die erste Umschreibung („Gold-bedeckt“) könnte sowohl bedeuten, daß Tyrs Mutter goldene Armreifen und anderen goldenen Schmuck trägt, als auch, daß sie goldenes, d.h. blondes Haar hat. Falls hier Goldschmuck gemeint ist, könnte durchaus Freyas goldener Halsreif Brisingamen gemeint sein – zumal die Mutter eines Gottes entweder eine Göttin oder eine Riesin sein muß.
Die zweite Umschreibung („weißbrauig“) erinnert an den Druidennamen „Taliesin“, denn dieser Name bedeutet „Leuchtende Stirn“. Beides könnte sich evtl. auf das Stirnchakra („Drittes Auge“) beziehen, das in der indischen Tradition als „leuchtend“ beschrieben wird. Aufgrund der Kennzeichnung als „allgolden“ ist auch ein Zusammenhang mit der Sonne denkbar. Vermutlich ist „weißbrauig“ jedoch einfach als „weißhäutig“ aufzufassen.
Die Mutter des Tyr wird die Jenseitsgöttin als die Geliebte bei der Wiederzeugung des „alten Tyr“ (Hymir) sein, die der Wiedergeburt des „jungen Tyr“ vorausgeht – die Geliebte des „alten Tyr“ wird durch die Wiedergeburt des „alten Tyr“ zu der Mutter des „jungen Tyr“.
Tyrs Großmutter ist wahrscheinlich ursprünglich dieselbe Jenseitsgöttin in ihrem Aspekt als die gefürchtete Herrin des Totenreiches gewesen. Für diese Deutung spricht auch, daß der Tod, die Wiederzeugung und die Wiedergeburt der Sonne (Tyr) ein endloser zyklischer Vorgang ist und die Germanen auf solche Vorgänge durch eine dreimalige Darstellung hingewiesen haben:
Die endlose, zyklische Reinkarnation der Sonne | ||
Zyklus | Tyr | Jenseitsgöttin |
1. Generation | Tyrs Großvater:? | Tyrs Großmutter: neunhundertköpfige Frau = Hel |
2. Generation | Tyrs Vater: Hymir | goldbedeckt-weißbrauige Frau = Freya |
3. Generation | Tyr | Tyrs Frau:? |
Aus den germanischen Mythen sind mehrere Göttinnen-Schwestern bekannt, die die Jenseits-Geliebte und die Totenherrin verkörpern. Am deutlichsten ist dies bei den Schwestern Freya und Hyndla, aber es finden sich auch noch andere solche Paare wie z.B. Irpa und Thorgerdr, Sunna und Sinthgunt oder Fenja und Menja. Sie entsprechen der Mutter und der Großmutter des Tyr.
Die Beschreibung des Donnergottes in „Gylfis Vision“ als „junger Thor“ bedeutet vermutlich, daß Thor an die Stelle des jungen, d.h. des wiedergeborenen Tyr getreten ist. Die Ähnlichkeit zwischen beiden Göttern besteht darin, daß sie beide u.a. auch Kampfgötter sind – Tyr mit seinem Schwert und Thor mit seinem Hammer.
In den alten nordgermanischen Mythen vor 500 n.Chr., in denen Tyr vor seiner Absetzung durch Thor und Odin der Sonnengott-Göttervater gewesen ist, ist die Göttin Freya sehr wahrscheinlich die Wiederzeugungs-Geliebte und die Wiedergeburts-Mutter des Tyr gewesen.
Harbard (Odin):
„Ich war im Osten mit einer zu kosen,
Spielte mit der Schneeweißen und sprach lange mit ihr.
Ich erfreute die Goldschöne; der Scherz gefiel der Maid.“
Die Szene in dieser Strophe ist eine Anspielung auf die Wiederzeugung, die ansonsten meist im Norden und seltener im Westen stattfindet. Die „Schneeweiß-Goldschöne“ wird die Jenseitsgöttin Freya-Menglöd sein, mit der sich Odin bei seinem Raub des Skaldenmets in deren Hügelgrab vereint.
Im Hymir-Lied wird auch die Mutter des Tyr, d.h. ebenfalls die Göttin Freya, mit diesen beiden Merkmalen umschrieben.
Hier zeigt sich recht deutlich, daß Odin bei der Absetzung des Tyr als Göttervater der Nordgermanen die Jenseitsgöttin Freya als Geliebte übernommen hat.
Aus dem Namen „Schneeweiße“ wurde später in den Märchen „Schneewittchen“.
Durch ihre Beinamen werden mehrere Merkmale der Göttin Freya deutlich:
Die germanischen Götter setzen sich aus zwei „Stämmen“ zusammen: den Asen und den Wanen. Der „Stamm der Wanen“ scheint nur aus einer einzigen kleinen Familie zu bestehen: Njörd und seine Frau-Schwester, die nicht namentlich genannt wird, aber wohl mit der von dem römischen Historiker Tacitus beschriebenen Nerthus identisch ist, sowie Freya und Freyr, den Kindern der beiden, und schließlich noch ein namentlich nicht genannter Sohn von Freya und Freyr.
Die Familie der Wanen | ||
Generation | Gottheiten | |
Bruder | Schwester | |
1. Generation | Njörd | Nerthus (?) |
2. Generation | Freyr | Freya |
3. Generation | Sohn | (Schwester?) |
Das Wort „Vanir“ bedeutet „Glänzende“ und ist daher dem Wort „Alfen“ („Weiße, Leuchtende“) ausgesprochen ähnlich. Da Freyr in der Halle „Alfenheim“ wohnt, kann man davon ausgehen, daß die Wanen und die Alben ursprünglich einmal dieselben Gruppe von Wesen sein werden – die leuchtenden Totengeister in dem Muspelheim-Jenseits des Göttervaters Tyr im südlichen Himmel, in dem auch die Alfen wohnen.
Die Familie der Wanen scheint somit eigentlich eine Gruppe von Ahnen zu sein, die in den „Stamm der Asen“ aufgenommen worden ist. Dazu paßt gut, daß Freya und Freyr die Urbilder der Wiederzeugungs-Geliebten und der Wiedergeburts-Mutter bzw. des Toten bei seiner Wiederzeugung und seiner Wiedergeburt sind: die Ahnen („Wanen“, „Alfen“) sind die wiedergezeugten und wiedergeborenen Toten.
Ihr „Leuchten“ wird sich vermutlich auf die milchigweiß leuchtenden Schemen beziehen, als die man hellsichtig die Totengeister wahrnehmen kann – was zu dem Motiv der „Bettlaken-Gespenster“ geführt hat.
Am Anfang von Snorri Sturlusons Skaldenkunst-Lehrbuch werden die wichtigsten Asen und Asinnen aufgezählt. Falls die Götter und Göttinnen in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit aufgezählt worden sein sollten, wäre Freya die zweitwichtigste Göttin nach Frigg.