Heinrich Zimmer: Indische Sphären: Yoga und Buddhismus
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Odilon Redon, Buddha, 1905
ISBN 978-3-7437-1321-5
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-1275-1 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-1276-8 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: München, R. Oldenbourg, 1935.
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Seit längerem schon, seit der Epoche zu unserer Dichtung, die man sehr unzulänglich »Neu-Romantik« zu nennen pflegt, seit dem letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts ist bei uns wieder in wachsender Breite Gutes und Helles über Mythos und mythisches Denken gesagt worden. Wir stehen, wie in der Zeit der großen Romantik, in einer dauernden Welle der Aufgeschlossenheit dem Mythischen gegenüber; der Stoff der großen Ernte in Völkerkunde und Religionsgeschichte wandelt sich zu Geist.
In der Mitte des vorigen Jahrhunderts galt das Mythische als etwas Überwundenes, Gegenstand geschichtlicher Beratung, abgetan als Element des Erkennens vor dem Walten des rationalen Geistes. Aber seine Kraft, das Leben durch Gestalten und Bilder zu deuten, scheint zeitlos. Seit vier Jahrzehnten ist es in unserem Denken mit Leitbildern und Sinnzeichen wieder vielfältig lebendig. Eine ganze neue Seelenkunde holt sich ihr Pathos aus seinen Figuren und Situationen. Sei sie wie immer, ihr rationaler, positivistischer Klärungswille zieht die Hälfte seiner Wachstumskraft, mehr als sein halbes Vertrauen aus dem alten Boden mythischer Sinnbilder, und der Mythos bewährt an ihr seine zeitlose Lebendigkeit, seine immer gewandelte Nährkraft und seine unerschöpfte Faszination.
Nicht anders erging es noch Hegel, als er den weltgeschichtlichen Gang der Menschheit logisierend nachzeichnete. Er belebte alten Mythos neu, indem er sein Sinnbild deutend in sich aufnahm. Am Eingang des Griechenkapitels seiner »Philosophie der Geschichte« tritt der ägyptischen Sphinx mit ihrem Rätsel in Ödipus der griechische Mensch gegenüber. Mit der Lösung des Rätsels, dessen Sinn der Mensch ist, stürzt er den tierhaft-göttlichen Dämon, Sinnbild endender Weltzeit, in den Abgrund des Gewesenen und bringt den Menschen als das neue Maß der Dinge herauf. – »Die Lösung«, sagt Hegel, »und Befreiung des orientalischen Geistes, der sich in Ägypten bis zur Aufgabe gesteigert hat, ist allerdings dies: daß das Innere der Natur der Gedanke sei, der nur im menschlichen Bewußtsein seine Existenz hat.«
Großartig tritt hier der alte Mythos, Weltalter und -räume scheidend, Weltschicksal bezeichnend, an den Anbeginn der Weltzeit griechischer Selbstbesinnung, die noch die unsere ist. Welch bedeutende Sinngebung im weiteren geschichtlichen Blick erfährt die dunkle alte Sage, dieses grausame tiefsinnige Stück alter Familiengeschichte frühgriechischer Herrscher von Theben ... – Hegel deutet an ihrer alten Hieroglyphe, wie vor ihm Sophokles im jungen demokratischen Athen; Ödipus wird zum Sinnbild in seiner aktuellen geschichtsphilosophischen Periodisierung, wie er dem tragischen Dichter der Perserzeit Träger religiöser Problematik ward. Dabei ist schon Sophokles der geschichtlichen Sphäre des archaischen Familienwirrsals vergleichsweise ferner als etwa unser Schiller seinem Stoff, wenn er den Zwist zwischen Vater und Sohn im Haus des spanischen Philipp zum Gefäß der Freiheitsideen von 1789 macht.
So steht der Mythos immer bereit mit anscheinend unerschöpfbaren Möglichkeiten, Sinnbild, Gefäß zu sein der Geisterkämpfe, Schicksalsentscheidungen und -deutungen aller Zeiten, keinem Denken feind, allem offen, das die eigene Problematik in seinen Gestalten zu sehen vermag.
Auch Epochen, die dem Mythischen am fernsten scheinen, indem sie den Sieg des Rationalen feiern, Völker, deren nüchterne Helle seinem Tiefendunkel widerstrebt, sehen den Wettlauf in seinem Spiegel. Ovid verwandelt, was Orient und Hellas als Sinnbilder göttlichen Naturgeschehens, heroischen Menschenloses wissen, in wunderliche Spiele; Molière nimmt Alkmenes Schicksal aus der Königsgeschichte des alten Theben, die Liebe des Gottes zum sterblichen Weib, Trug und Wunder, zum durchsichtigen Maskenspiel der Galanterien des Sonnenkönigs – für eine Fabel mit höfischer Moral an die Adresse unfreiwillig begnadeter Ehegatten, wie Herr von Montespan einer war: »le grand dieu Jupiter nous fait beaucoup d'honneur, ... mais enfin coupons aux discours, ... sur telles affaires le meilleur est de ne rien dire«.
So dient der Mythos Amphitryon von Kleist bis Giraudoux zum Spiegel der Besinnung in Ernst und Witz, so greift die soziale Parodie in Offenbach zum Mythischen, wie in Racine die Feier der Leidenschaft nach seiner tragischen Maske langt.
Es ließe sich eine Betrachtung denken, ein Buch, das die immer wechselnden, beinahe allseitigen Funktionen des mythischen Elements im Denken und Gestalten des Abendlandes zu seinem Gegenstande nähme, seine proteische Wandlungskraft, allem zu dienen, von den Zeiten streng mythischen Denkens bis auf uns: der Philosophie wie bei Hegel (oder bei Schelling und Hebbel), der Heilkunde wie heut, dem Sozialen bei den Franzosen, dem menschlichen Geheimnis bei Kleist, dem Sittlichen und allen großen Mächten bei Goethe in Iphigenie, Pandora, Helena und ihren Geschwistern. – Ein Buch, verlockend und tief – auch weil es einstweilen nur unsere Idee ist. Aber den ganzen Reichtum des Abendlandes an Schicksal und Einsicht könnte es spiegeln –, und ein anderes Buch, das es auch nicht gibt, könnte ein Gleiches für Indien unternehmen. Der ganze große Gegensatz beider Kulturkreise könnte dann am Vergleich der unterschiedlichen Rollen und Aufgaben, die Mythisches hier und dort gefunden hat, mit bildhafter Kraft in die Augen springen.
Das Buch über die wechselnden Lebensschicksale und -aufgaben des indischen Mythos gibt es einstweilen so wenig wie das westliche; aber was einige seiner Seiten enthalten könnten, läßt sich im Geist aufblättern.
Es gibt Mythen voller Dunkel. Sie scheinen eine Vergangenheit zu haben, die sie selbst nicht mehr wissen, von ihr her sind sie mit Sinn beladen, den sie nicht mehr sagen können. Was sich an ihnen deuten läßt, scheint ihnen erst neuerlich aufgeprägt als Sinngebung einer neuen Epoche, an einem Wendepunkt ihres Wandels durch die Zeit. – Daneben sind andere, geheimnislose – man meint sie an ihrem Ursprung selbst zu greifen. Aber wie sie fühlbar keine Vergangenheit haben, scheint ihnen auch keine Zukunft offen, in der sie sich auswüchsen als wandelbare Träger wechselnden Sinnes.
Von den Veden her sind im brahmanischen Indien Bräuche im Schwange, die den Knaben mannbar machen: der Bart wird ihm zum erstenmal geschoren, und der als Kind nackt herumlaufen mochte, bekommt sein erstes Männergewand. Die Götter selbst schenken es ihm, seine Blöße zu decken. Dazu wird ein Mythos erzählt, warum der Mensch des Kleides bedarf, und warum die Götter es ihm schenken. Der Mensch ist in Indien ein Geschöpf wie andere, nicht Tier unter Tieren, denn er kann mehr sein als sie, aber er ist auch nicht einziges Abbild des Göttlichen wie Adam. Darum ist es wunderbar, daß er allein unter allen Geschöpfen ein Kleid trägt, das ihm nicht anerschaffen ist von Natur. Seine Eigenart hat ihre Geschichte, die sie erklärt. Es heißt: »Was nämlich das Fell des Rindes ist, das war anfänglich am Menschen. Die Götter sprachen, ›das Rind fürwahr trägt (oder erhält) alles hier‹« – das sprechen die Götter dem rinderzüchtenden Arier nach – »›wohlan, wir wollen das Fell, das am Menschen ist, auf das Rind legen. Dank seiner wird es den Regnenden, dank seiner den Reif, dank seiner die Hitze ertragen.‹ Sie häuteten den Menschen ab und legten sein Fell auf das Rind. Dank seiner erträgt das Rind den Regnenden, dank seiner den Reif, dank seiner die Hitze. Abgehäutet fürwahr ist der Mensch. Darum kommt bei ihm, wo immer ihn Schilfgras oder etwas anderes schneidet, Blut hervor. Daher legten sie dies Fell auf ihn: das Gewand. Darum trägt keines außer dem Menschen Gewand. Darum eben soll er trachten, schön gewandet zu sein. Nicht aber soll er vor dem Rinde nackt sein. Denn das Rind weiß, ›ich trage sein Fell‹, es zittert in Furcht, ›er wird mir das Fell nehmen‹.«
Solche Mythen ohne Dunkel gibt es in aller Welt ohne Zahl. Sie erklären, warum die Dinge sind, wie sie sind. Sie haben ihre Geschichte: die gilt es nur herauszufinden in Intuition – zu erfinden. Sie ist gültig, wenn sie vieles plausibel macht – etwa auch, was hier nicht gesagt ist, warum das Rindsfell, das Leder, so haltbar ist –: es ist ja eigentlich doppelt. Denn es heißt ja nicht, daß die Kuh ohne Fell war, als die Götter um ihretwillen den Menschen abhäuteten – aber die Allernährende sollte geborgener sein als andere Geschöpfe.
So dient der Mythos am Anfang indischer Überlieferung den Brahmanen der Veden zu Natur- und Welterklärung. Phantasievoll und rationalistisch zugleich deutet er das So-sein der Dinge aus einer besonderen Herkunft. Die priesterliche Universalwissenschaft der Zeit, die opfern und bitten kann, beschwören und zwingen, verwünschen, hexen und heilen, die über alles Lebendige gebieten will, über Kräfte, Geschöpfe, Dinge, die alle gleich lebendig-personhaft sind, findet im Mythischen ihre Bedeutung. Der Erfolg der Magie bestätigt praktisch ihr Gelten, der Mythos erklärt Zusammenhänge und Eigentümlichkeiten, er ist das theoretische Element. Er gibt der traditionellen Übung der Bräuche die Sicherheit, warum sie geschehen, gibt ihr die Sicherung durch Wissen oder Scheinwissen um das Geheimnis der Kräfte, die im Spiele sind. Er beglaubigt die magische Technik, wie unsere Wissenschaft die rationale. Beglaubigt ferner ihre Verfahren und sein Wissen durch Herleitung von den Göttern. Früher als die Menschen haben die Götter erkannt, gewußt und getan. Sie sind die größeren Magier, Vorbilder der »Götter auf Erden«, der Brahmanen, die von ihnen die Allmacht des Zauberns lernten und jetzt freilich selbst die Götter zu zwingen vermeinen.
Brauch, der gilt, kommt von den Göttern, und Mythos erzählt, wie das geschah. Das Feuer hat die Kraft, den Toten himmelauf zu tragen zu seligem Leben bei den Göttern. Selige selbst, Gandharven – wer anders hätte es vermocht? – schenkten den ersten Brand vor Zeiten einem königlichen Menschen.
Eine göttliche Himmelsfrau hatte sich ihm in Liebe gesellt, ihre Umarmung war sein Himmel auf Erden. Aber die Überirdischen neideten dem Sterblichen das übermenschliche Glück. Mit List schufen sie's, daß die Göttin den Geliebten nackt sah, wie er war: ein bloßer Mensch, – da mußte sie ihn verlassen, himmelwärts kehren. Er aber verging in Sehnsucht nach ihr. Endlich fand er sie wieder, aber sie versagte sich ihm. Dann kehrte sie tröstend noch einmal zurück, gab ihm den Sohn, den sie ihm geboren hatte, und lehrte ihn die Seligen um das Feuer bitten, und wie sein Sohn durch das Feueropfer ihm nach dem Tode in den Himmel helfen könne, in dem er sie auf immer wiederfände. – Aber der König verlor das Feuer, das die Himmlischen ihm gaben. Da ward er belehrt, mit Quirlstock und Holzbrett es neu zu zeugen. Und Quirlstock und Holz, deren Vereinigung das Feuer ewigen Lebens zeugt, wurden nach den Liebenden genannt, wie der Sohn ihrer Vereinigung, dessen Feueropfer dem Vater ewiges Leben schenkt, »āyus« – »Lebenskraft« – genannt wurde.
In der magischen Priesterlehre dient dieser hintergründige Mythos ganz rational, die himmlische Herkunft der Flamme, die sich am Holze niederläßt, zu erklären, ihre Wundernatur zu beglaubigen, daß sie unsterblich macht, und die Namen der Feuerhölzer zu begründen. – Aber ein älteres Lied in den Hymnen des Veda gibt diesem Melusinenstoffe tieferen Sinn. Wenn sich die Göttin versagt, dem ehemals geliebten Menschen zu erneuter Gemeinschaft zu folgen, spricht sie:
»Als ich verstellt unter Sterblichen weilte,
drei Jahre Nacht um Nacht mit dir vereint,
aß ich einzig ein Klümpchen Butter
des Tags, – und bin noch immer davon satt.«
Ein Abgrund trennt Götter und Menschen: Vergänglichkeit. Und kein gewolltes Dunkel gewogener Nacht kann den grenzenlos Verschiedenen dauernde Gemeinschaft sichern; ein Blitz der Himmlischen, der neben den Liebenden niederfuhr, hat die Ungleichheit ihrer Paarung an den Tag gebracht. Aus dem Mund der Geliebten selbst erfährt der Mensch die Grenze seiner Menschheit und ihre mögliche Überwindung durch die Magie eines Sakraments:
»So sprechen die Götter zu dir:
Es ist einmal so, du bist dem Tode verwandt.
Dein Geschlecht soll den Göttern opfern,
Du selbst im Himmel selig sein.«
In diesem Liede ist der alte Mythos schwermütigen Verzichtes voll und den Gläubigen tröstend. In ihm ruht ein erhabener Abschiedsblick des Menschen auf vergangenen Möglichkeiten des ersten mythischen Weltalters, wo Menschen, als Priester und Könige, Gehilfen und Gesellen der Götter waren in deren Kämpfen um die Sicherung des Weltregiments, wo die hohen unter ihnen mit Seherkraft und reiner Heldenstärke Gefährten der Götter im Himmel waren, wie die »Himmelbewohnenden« leibhaft die Hütten der Menschen betraten. Das Weltalter dieser Gemeinschaft von Gott und Mensch ist unwiederbringlich dahin – das ist der Sinn des Liedes. Magie, Sakrament, von den Göttern geschenkt, und der Glaube daran, schlagen allein den Spätgeborenen eine Brücke über den Abgrund zwischen Himmel und Erde. – Diesen Sinn prägte der Dichter des Liedes dem alten Mythos von Götterfrau und Menschenmann auf – niemand wird wagen, zu meinen, es sei der uranfängliche Sinn seines hintergründigen Geschehens. Es ist nur, soweit uns Überlieferung reicht, die früheste Sinndeutung, Lesung der alten Hieroglyphe in Indien – anderwärts hat sie alte Geschwister mit anderem alten Sinn.
So lebt derselbe Mythos im magischen Ritualwissen, in der kurzatmigen, rationalen Herkunfts-, Ursachen- und Namendeutung auf einem anderen Niveau als im Munde des älteren Liederdichters. Der tiefendunkle, hohe Stoff lebt im Dienst der Zwecke magischer Theologie gleichsam sehr »unter seinen Verhältnissen«. – Nicht anders als etwa – bei völliger Verschiedenheit der Sphären – antiker Mythos bei Offenbach oder Giraudoux.
Augenscheinlich sind es die Dichter, die wahren Dichter allein, wie der des alten Liedes, nicht Ritualgelehrte hier, Stückeschreiber dort, die dem wandlungsfähigen Mythos ein offenbares Leben auf seinem geheimen Niveau schenken können – vogelfrei, wie er ist, samt allem vergangenen Geistesgut. Ihr Weltgefühl oder Natursinn, ihr Amt, Zeit um Zeit Mundstück menschlicher Schicksalswende zu sein, kann sein Motivgewebe, das immer bereitliegt, mit der Einprägung neuen Sinnes beleben. Sie entreißen ihm scheinbar das Geheimnis seiner dunkelnden Gestalt, indem sie ihm einverleiben, was sie für alle in ihrer Zeit leiden und erleben – berufene Stimme für alle. Dann erwachen der Mythos und das Schicksal des Menschen aneinander zu gestaltigem Leben, dann kommt der Mythos aus Halbdunkel und Dumpfheit nur mehr erahnbaren Tiefensinnes zu bedeutungsreicher Erhellung seiner Bezüge, als Träger eines hohen Sinnes, und das gestaltlose Schicksalsgefühl des Dichters findet an ihm den Stoff, sich zu inkarnieren. Über ein Jahrtausend später, wenige Jahrhunderte vor Beginn unserer Zeitrechnung, ist der alte Mythos in Händen buddhistischer Mönche. Inzwischen gewandelt, in seiner alten Prägung unlesbar geworden, märchenhafte Wundergeschichte. Der häßlichste Prinz Indiens heiratet die schönste Prinzessin. In ihr ist die Göttin zur Erdenfrau geworden, nur Spannung ist zwischen dem Paar, kein Abgrund mehr. – Sie erträgt seinen Anblick nicht, nachdem sie den Gatten einmal im Licht erkannt hat, flieht ihn, bis ein Wunder geschieht und göttliche Schönheit, die ihm von Anbeginn bestimmt war, die Häßlichkeit, die Ungleichheit von ihm tilgt. Die Rollen sind vertauscht, insgeheim ist er der Göttlichere von beiden.
Aber aus dem Mythos ist eine Wundergeschichte geworden, die ihres eigenen Sinnes kaum innezuwerden vermag – am wenigsten im Munde der buddhistischen Mönche, die sie aufgreifen. Das vermöchte sie wohl, wenn ein Dichter sie spräche. Die Mönche aber greifen sie auf, wie sie eben im Schwange ist, süß und dumpf, und brauchen sie, sinnarm deutelnd, ärmer noch als die Ritualwisser einst, im Rahmen der Buddhalegende. Der Prinz war der Buddha in einem früheren Leben, und ein kleiner äußerer Zug seiner Geschichte reimt sich auf eine Geste des Buddha in seiner letzten Existenz. Hier lebt der Mythos wieder ganz seinem Sinngehalt, einem möglichen Tiefensinn seines dunkelnden Gewebes entfremdet.
Bis ihn nochmals, nach weiteren zweitausend Jahren, wie am Anfang des sichtbaren Überlieferungsraumes, ein Dichter aufgreift – Tagore im »König der dunklen Kammer« – und nichts ahnend von jenem sterblichen König der Vorzeit, seinen König zum Sinnbild Gottes macht, die Geliebte aber, die Göttin von einst, zur Seele des Menschen. So wechselt das Licht. Sie darf den König ihres Herzens nicht schauen wollen, blind muß sie ihm glauben, seinen Anblick erträgt sie nicht, er ist – göttlich – über allen menschlichen Maßen, furchtbar in seiner Größe wie geheimnisvoll in seinem Tun. – Semeles Schicksal, Eros und Psyche scheinen dieser jüngsten Prägung nah, wie Melusine der frühen – ohne daß der Dichter sie gewahrte. Auch Tagore ist nur ein Durchgang für das Leben des alten Stoffes, Episode einer neuen Prägung. Der Stoff aber wird weitergehen, wie Iphigenie zu Goethe kam und wieder auf einen Dichter wartet – weitergehen in die Zeit, für die wir selbst nur ein Stück Überlieferung sein werden: Dämmer für uns – wie er aus dem Dämmer der Zeiten vor unserer Überlieferung, mit ihr, und schon gestaltig, heraufstieg.
Es wäre ein Stoff für tausend und einen Abend, wenn's einer vermöchte, dies unsterbliche Leben aller indischen Mythen Stück um Stück zu entrollen: ihr Hinschlummern im sinnarmen Mißbrauch lehrhafter Betriebe von Priestern und Mönchen, ihr traumhaftes Dämmern, ringendes Bemühen um wache Klarheit ihrer selbst im Munde des Volkes, und etwa dazwischen die hohen Momente blitzender Helle, wo sie sich selbst in einem neuen Sinn ergreifen und alle Gestalt an ihnen bedeutendes Leben atmet.
Aber die epochalen Kräfte – Ideen und Impulse der Zeiten –, die bei ihrer gebräuchlichen und mißbräuchlichen Verwendung den mythischen Gebilden ihr Leben einströmen, um an ihnen Gestalt, greifbar und wirksam zu werden, lassen sich aufrufen.
Die Lieder des Veda, Beschwörung und Preis der Götter, verweben in ihren Strophen allerwegen das Mythische – es ist ja das Dasein der Götter. Aber sie entrollen sein Gewebe nicht oft zu erzählend sich selbst erhellendem Bericht. Zusammengeknäult, zu Anspielungen geballt, bricht es über die Lippen des Sängers – denn der Gott weiß sich ja selbst mit seinen Taten. Erinnern genügt; geheimnisvoll bedeutendes Anrühren des Gottes, seiner Erscheinungsformen und Taten, trifft ihn magisch im Innern des Wesens, zeigt ihm, daß der Mensch um ihn weiß und mit Wissen ihn bannt. Die knappste Form, ihm erinnernd zu schmeicheln, ihn zu mahnen, zu neuer Tat anzueifern, das Gefühl seiner selbst zu wecken, – sind seine vielen Namen. Sein Wesen sagt sich in ihnen aus. Was er tat, was er kann – sein Mythos –, ist in ihren Silben geronnen. Er heißt nach seinem Wirken, seinen Siegen, nach den Dämonen, die er erschlug.
Aber der Wille, den Gott zu bannen, daß er hilft und wohlwill, schlägt das Leben des Mythos selbst in Bann. Weithin genügt es, die magisch bewährten Namen zu reihen, nichts auszulassen im anspielenden Erinnern der Taten und möglichen Wandlungsformen der göttlich-personhaften Kraft, sie einzukreisen mit alledem, daß sie nicht anders kann, als helfen, willfahren, dem Beschwörenden dienen. – Hier ist im Einzelnen deutende Wandlung, Geschichte mythischer Elemente möglich, im Ganzen bleibt es ein Zustand. Das magisch Bewährte behauptet sich starr, Abweichung vom Gewohnten birgt Gefahr, ob Verstehen notwendig sei, bleibt offen, das Wissen der Formeln nach Ort und Stunde ihrer Verwendung, nach zugehörigem Brauch und rechtem Tonfall genügt.
Das ist die Sphäre magischer Technik, sie braucht nach den Hintergründen ihrer Handhabung so wenig zu fragen, wie unsere rationale Technik in handwerklicher Anwendung nach der wissenschaftlichen Problematik fragt, die hinter ihr steht. Sie fragt wie diese nur nach der genausten Regel des Handhabens. – Hier, wie im Ritualwissen, fehlt dem Mythos als Ganzem zu wandlungsreichen Schicksalen die Frage nach seiner Bedeutung – mag sie ihn auch von Fall zu Fall erreichen und mit dem Leben einer Idee gestalt-umprägend erfüllen.
Das große Schicksal, das an den Mythos herantritt und seine Gestalten zu wunderbarem Leben in Wandlungen weckt, ist das Schicksalsproblem des alten Indien selbst: der eigentliche Gegenstand seiner Geschichte. Sie besteht nicht im Wechsel der Dynastien, in Blüte und Zerfall der Königreiche, zeitweiliger Fremdherrschaft von Skythen und Hunnen – aber in der Verschmelzung der arischen Einwanderer und ihrer geistig-sittlichen Welt mit dem ganz anders gearteten Urgrund vorarisch-indischer Kultur, die, überaltert-alterslos, Weltzeiten, Auf- und Untergänge in ihrem mythischen Erinnern bewegt. In ihrer mächtigen Umklammerung, der Mischung alten und neuen Blutes, der hohen Spannung gegensätzlicher Weltbilder und Lebensformen, löst sich die archaische Enge, schmilzt die ausschließende Starre brahmanisch-arischer Tradition zum ungeheuren Gestalten- und Ideenspiel des Hinduismus, tiefer und tiefer durchtränkt von allem Erbgut indischer Erde, dem sie sich anfänglich verschloß, um sich rein zu erhalten.
Seit dem 6. und 5. Jahrhundert vor unserer Rechnung breitet sich mit vielen Lehrer- und Stiftergestalten, unter denen der Buddha die wirksamste ist, vor unserem Auge eine überraschende Blüte geistiger Kräfte und Ideenmassen. In ihnen treibt die vorarische Welt mächtig neben brahmanischer Tradition herauf, in neue arische Volkssprachen gewandet, indes jene sich im Geheimnis ihrer sakralen Kunstsprache, im altertümlichen Sanskrit, der Sprache der arischen Götter, abschließt. Kosmologie, Lehren vom Menschen in Psychologie, Physiologie und Metaphysik, eine Geschichtsphilosophie mit zyklischem Zeitgefühl sind unserem Blick, kommt er vom Veda her, neu –, sich selbst aber sind sie geläufig und alt. – In die jüngeren Schichten des Veda senken sie mit einzelnen Vorstellungen ihre sprengenden Wurzeln, nun aber – wie mit einem Zauberschlage szenischer Verwandlung – stehen sie, für unseren Blick, da wie ein Wald, der vom Gebäude des Vedawissens nichts weiß. Am eigenwilligsten bewahrt, wenn auch durch asketische Zielsetzung gefärbt, strahlt ihr Licht aus der Lehre der Jaina's, die, älter als der Buddhismus, zu Buddhas Zeit, um den Rang mit ihm streitend, einen neuen Aufschwung nahm mit ihrem Heiligen Mahāvīra.
Wenn dieses Indien, uns (von den Veden her) befremdend, sich vertraut, das einmalig Große, geschichtlich Schicksalhafte solcher Stiftergestalten wie Buddha und Mahāvīra bezeichnen will, stehen seinem Erinnern uralte Formen aus der eigenen Geschichte bereit. Der Buddha ist einzig unter Menschen und Göttern, nicht weil es nie seinesgleichen gab, sondern weil er schon immer einmal da war in seiner Einzigkeit. Zug um Zug, Lehre um Lehre gab es ihn in früheren Weltaltern je einmal, auch dreimal – mitunter auch nicht. Er ist jüngstes Glied einer Reihe übergöttlicher Lehrer, deren gleichartige Gestaltenfolge über Weltalter im Spiegeldämmer erinnerter Vorzeit verschwimmt. – So ist Mahāvīra den Jaina's der vierundzwanzigste der Stifter und Erneuerer der Lehre, die, über Epochen weit voneinander getrennt, die untergegangene immer erneuen in den weiten Bögen auf- und absteigend kreisender Weltzeit.
Und das ist keine Phantasie, der vorm einmalig Großen bangte, daß sie es einordnen möchte – es ist Wissen, daß diese Typen geistiger Führer, asketischer Lehrer über alle Klüfte geschichtlicher Epochen hin, wie die arische Einwanderung eine aufriß, Indiens Eigenstes sind, seine Epochen bezeichnen. Bei den Funden der Städte alter Induskultur des 3. Jahrtausends vor unserer Zeit, die Veden und Ariern vorauf sind, fand sich in Mohenjo Daro eine blaue Fayenceplatte: sie zeigt einen Asketen im Yogasitz mit verschränkten Knien, flankiert von Adoranten – Göttern oder Menschen – und Schlangenwesen. Diese Darstellung entspricht genau den Vorstellungen und Bildern von Buddha und Mahāvīra aus der Wende unserer Zeitrechnung, ist, über drei Jahrtausende fast ihnen vorauf, Geist ihres Geistes, Zeichen ihres Sinnes.
Dies Zeitgefühl, das Weltalter indischen Daseins erinnert, sieht, was uns Aufgang indischer Geschichte ist – den Einbruch der Arier –, als eine neue, sehr junge Epoche oder Episode: ein Weltalter mehr – wie wir nachmals den Einbruch des Islam oder die Engländer in Indien als einen neuen Akt des langen Schauspiels sehen. – Hier spricht das Gedächtnis der alten Urmutter Indien. Was uns, voreilig, der Prähistorie uneingedenk, von literarischer Überlieferung her, ihr ganzes Leben dünken mochte, ist ihr nur ein Weltentag. Sie erinnert, was wir bei uns vergessen haben, dem Boden erst entreißen müssen, um es neu zu lernen: die eigene Vorgeschichte. Freilich erinnert sie's nicht im einzelnen, geschichtlich – aber mythisch in Sinnbildern und Typen (etwa der Heilsbringer), die sie bereithält, daß immer erneutes Leben ihren Umriß fülle.
In diesen weitesten Zeitraum mit Auf- und Niedergängen, Hell und Dunkel, strömt als göttliches Weltgeschehen Mythos ein aus zwei Welten: aus der vedisch-arischen und der eingeboren-indischen. Hier findet er einen gegliederten Rahmen, den zyklischen Zeitlauf: eine Bahn, sich zu entrollen. Die einzelnen Mythen, im Veda um Götter, Heilige und Fürsten geballt, im anderen Indien gebunden an Berg und Fluß, Wallfahrtsorte und heilige Badeplätze finden sich zu epochalem Nacheinander, ordnen sich zu einer sinnbildlichen Geschichte indischer Gottesgestalten, Kultformen, Lebensordnungen und Weltbilder.
Das Zeitgefühl dieses Entfaltungsraumes entspringt einer Kultur, die schon vor dem Einbruch der Arier alt geworden und in sich schwer geschichtet ist; Vielfältiges an Glauben und Erbgut bewegt sie in sich – so sieht sie Götter als vergängliche Gestalten, bewegt sie erinnernd wie wechselnde Dynasten und Herrscherfamilien. Ihr werden sie zu wechselnden Formen des Einen Göttlichen. Göttergestalten bezeichnen Weltstunden. Weltschaffend ist das Göttliche Brahmā. Brahmā regiert den Aufgang einer Welt, wie Vischnu ihren Bestand. Rafft das Göttliche die aus sich entfaltete Welt vernichtend wieder in sich hinein, ist es Schiva. Dreieinig ist es in diesen seinen Aspekten, wie das Leben in seinen drei Formen: Geburt, Dasein und Tod. Alle Gestalten wandelt es sich an. Vedisches Erbe: der Gott als Fisch, Eber und Schildkröte, die Erde vorm Untergehen im Weltmeer rettend, sie tragend, sind Formen des Erhalters Vischnu. Halb-Mann-halb-Löwe, menschhafter Zwerg, der zum kosmischen Riesen wird, dämpft er den Übermut der Dämonen. Als menschlicher Fürst, Friedenskönig und Tugendspiegel, war er Rāma, Herrscher von Oudh. Als Krischna lehrte er die Bhagavadgītā und wird wie jener noch einmal als Held und Heiland kommen, Indien vom Joch der ungläubigen Fremden zu erlösen.
Immer ist einer Indra, König der Götter, wie jeweils einer Manu, der erste Mensch einer Weltzeit. Wie jeweils einer ein Buddha, das Weltalter erleuchtend, oder ein Jina, Ebenbild Mahāvīras. Die Namen der Indra's und Manu's wechseln wie Namen der Könige von Dynastien, die Funktion bleibt, wie ihre Träger kommen und gehen. Hier ist Geschichte, wie wir sie erleben, nicht mehr möglich. Im zyklischen Auf und Ab ihrer Wellen ist schon zuviel erlebt – zu oft das Gleiche, als daß noch Eins ein Einziges sein könnte. Im Gedächtnis fortleben kann es nur als typisch, sinnbildlich in mythischer Figur. Ehe diese archaisch gebundene Welt etwa unseren Durchbruch zum Begriff des Individuellen hätte finden können, hat ihr kreisendes Schicksal den Sinn dafür verfestigt, sich zyklisch zu erleben, zu erinnern, und unsere Möglichkeit abgeriegelt. Auf der geraden Linie hat jeder Punkt einen anderen Wert, in seinem Abstand zu den beiden Enden, auf der Kreislinie ohne Ende und Richtung gilt jeder Punkt gleich, ist vertauschbar mit jedem. Wir sehen Geschichte als Gang auf einer Geraden, von den Anfängen zu uns. Zarathustra prägt dies Zeitgefühl mythisch, Paulus und Augustin geschichtsphilosophisch an den Wirklichkeiten des Alten und Neuen Bundes, Hegel und sein Jahrhundert haben es zur Entwicklungsidee säkularisiert. Christentum und Entwicklungsglaube blicken einsinnig vor und zurück, das eine sieht in Golgatha den Angelpunkt der Zeitenwende, von der es gläubig vorwärts schaut, der andere gleitet mit seinem Standort dahin auf der Zeit, beide sind an ihre Standorte gebunden mit Perspektiven und Bewertung.
Dem zyklischen Zeitsinn ist der Standort frei. Was dies Freisein meint, zeigt, neben vielem anderen, eine der klassischen Traditionsmassen des Hinduismus, »die alte Überlieferung, wie Vischnu als Fisch sie lehrt« (Matsyapurāna). Sie lehrt, wie viele ihresgleichen, alles was ein gläubiger Hindu von Gott und Welt, an Pflichten und Bräuchen wissen muß. Bürgschaft ihrer Gültigkeit ist, daß sie aus Gottes Munde kommt.
Das höchste Wesen – als weltordnender Erhalter ist es Vischnu – spricht zu Manu, dem ersten Menschen. Als Riesenfisch hat der Gott ihn samt seiner Arche über die Sintflut der Weltauflösung, da alles zu Wasser ward, glücklich geleitet. Nun belehrt er den frommen indischen Noah, den wieder einmal ersten Menschen im Morgenlicht seiner aufgehenden Weltzeit. Was dem Inder, der sein Wort aus diesem Buche vernimmt, fernste Vergangenheit ist: Weltentstehung und Kämpfe der Götter und Widergötter ums Weltregiment, dann die Könige der Vorzeit, Heroenwirken, Zeitalter des Epos, die nahe Vergangenheit – alles das kündet der Gott dem ersten Menschen als Zukunft. Die eigene Gegenwart des Hörers wird Zukunft in seinem Munde, und Künftiges, das der Hörende nicht mehr erleben wird, entsteht im schildernden Worte des Gottes als greifbare Gegenwart.
Was war? was ist noch? – alles ist gleich nah, gleich fern: die alten Kämpfe der Götter, greifbar dramatisch geschildert mit Schlachtruf und Pfeilgeschwirr, das Geheimnis der Kosmogonie, – so nah, so fern wie ein Heiland der Zukunft und wie das Gegenwärtige: auferlegte Pflichten und die Wallfahrtsorte rings, von Gnadenschätzen leuchtend.
Dieses Zeitgefühl ist das Bewußtsein Gottes, vor dem es nichts Vergangenes gibt, nichts, das erst kommen müßte, um da zu sein. Und der Mythos als sinnbildliche Geschichte der Weltalter lebt in diesem Bewußtsein Gottes – hier ist Schelling nah, aber auch fern –, lebt im Bewußtsein seiner Kosmogonien, Weltspiele und -untergänge und in den wechselnden Gestalten, die er annimmt, die Welt durchwaltend, ihr Ringen schlichtend, mit Wunder und Lehre erhellend.
Vor Gott, der das All ist, geschieht immer das Gleiche. Er sieht das Kreisende, wo wir die Gerade sehen. Entwicklung ist wahr, so wahr wie Zerfall – beide sind scheinbar gerade Bogenfragmente riesiger Kreise. So tobt durch die Weltalter von Anbeginn der Kampf der Götter und Widergötter – vedisches Erbstück – im Himmel und, menschlich verlarvt, auf Erden: wechselndes Glück, Herrschaft und Ohnmacht tauschen die Spieler. Es gibt keinen Endstand göttlicher Harmonie in der gestaltigen Welt. Ihre Blüte verwittert, welkt und zerfällt, aber sie steigt als junger Lotos aus den alles verschlingenden Wassern des Todes, die das göttliche Element ewigen Lebens sind. Das göttliche Leben der Welt geht immer weiter, stampft durch die Tode seiner Gestalten, blüht auf seinen Toten. Wenn Kosmen zergehen, ballen sich neue aus ihrem zerlösten lebendigen Stoff, aus gleichen Kräften, mit denselben Spannungen geladen. Keine Furcht vor ewigem Tod, und daß einmal keine Welt mehr wäre; – daß es immer weitergeht durch alle Tode des Einzelnen und Zerfall der Welten: das ist der Atem, der, wie Wind den Raum, die grenzenlose Zeitenweite füllt. – Das ist aber auch das Antlitz der Meduse.
Dies wechselvolle Spiel spiegelt geschichtliches Schicksal: das Ineinanderströmen der beiden Götterwelten altindischer Erde und brahmanisch-arischer Einwanderung. Gegensätzliches, das einander ausschloß und feind war, ringt miteinander, um sich in unlöslicher Umarmung zu finden.
Die arischen Götter sind, wie ihr Volk in seiner nomadischen Vergangenheit, an keinen Ort gebunden, fahren auf Wagen daher, wie jenes in Zeltwagen – in himmelschwebenden Wagenwelten. Nirgends auf Erden verhaftet, kommen sie zum Opfermahl, wo ihre Priester den heiligen Bezirk ausmessen und weihen.
Daneben, von ihnen besiegt, aber zäh und mächtig, überall in Fluß und Berg zu Haus, die alten Götterkräfte mit Tempeln und Wallfahrtsorten: Berggottheiten und Schlangengötter der Wasser, mit seligen Welten am Grunde, und andere Hüter der Fruchtbarkeit und nährenden Feuchte in Wolken und Erde, Hüter der Erdschätze an edlem Metall und Gestein. Mit Kobrahauben und Elefantenkopf, auf Pfau und Tiger reitend, allen Kräften indischer Erde verwandt, wie die rosselenkenden Sieger ihr fremd.
Eine eigenartige Göttergesellschaft: diese Neuen. Es mangelt an Frauen. Indra, ihr König, hat zwar eine Gattin, aber sie hat kein Gesicht, hat keinen eigenen Namen. Sie heißt nur Indrānī, ist nur sein weiblicher Schatten. – Und alle sind kinderlos. Ein Weib wird unter ihnen greifbar, die Morgenröte, aber sie ist ein verbuhltes Mädchen. – Wo sind die Mütter? – das ist ein reiner Männerverband. Da muß noch ein männlicher Gott das Gebären besorgen: der »Herr der Ausgeburten« (Prajā-pati) bringt die Geschöpfe hervor: er erhitzt sich und schwitzt sie aus – oder er legt ein Weltei und bebrütet es. Welch sonderbar männliche Welt – und in ihren Menschensitten streng auf Vaterrecht gestellt.
Daneben die alte Mutter Indien, mit Muttergöttinnen ohne Zahl, mit Götterfrauen, Schlangenweibern, Baumgöttinnen, Göttinnen der Gebirge. Allen vorauf die »Bergestochter« (Pārvatī), Kind des höchsten Himālaya, und ihr anderes Ich, die Herrin des Vindhyagebirges im Süden, daneben die Mütter, die Fieber und Blattern wehren, und viele andere. Und in jeder Menschenfrau, jedem kleinen Mädchen läßt sich die göttliche Weltmutter verehren. Sie ist die Weltfrau, vom Scheitel zu den Zehen trägt sie in ihrem Leibe den Kosmos – geschichtet: oben die Himmel, mitten am Leibe die Erde, niederwärts Höllen und Unterwelten (Abb. 1). Vorarisch alte Vision der Welt, den Veden fremd, den Jaina's vertraut.
Der Mythos gibt sinnbildlich zu lesen, wie dies Gegensätzliche sich durchdrang. Er verknüpft die alten lokalen Kulte mit den Göttergestalten des freischwebenden, er deutet die ortgebundenen alten und kleinen Kräfte als Erscheinungsformen jener weltweiten großen, setzt an ihre Stelle brahmanische Heilige, bindet raumloses mythisches Geschehen an altgeheiligte Stätten. Vorarische Götter werden, wie alte und neue Heilige, zu Inkarnationen des vedischen Vischnu, er saugt sie auf, nimmt sie zu Masken, die er, Mal um Mal aus überweltlicher Ruhe in den Weltlauf eingreifend, nach Wahl sich vorhält. Genealogien entstehen, in denen das Blut beider Götterkreise sich mischt, wie im Leben der indischen Stämme und Rassen.
Das höchste Sinnbild dieser Verschmelzung bietet der große Mythos von der endlichen Vermählung des vedischen Schiva mit der Tochter des Himālaya. Da finden sich beide Welten zur Eintracht der Ehe. Ihre Kinder sind der elefantenköpfige Gott und der Gott auf dem Pfau, vorarische alte Gestalten. Alle Götter mühen sich, diesen Bund zustande zu bringen, auf daß aus ihm der pfauenreitende Kriegsgott als Kind des »Großen Gottes« (Mahādeva) und der höchsten Göttin geboren werden, mit seinem Siege über die Dämonen die Welt neu zu ordnen. Schwierigkeiten türmen sich auf, schließlich gelingt es, das Paar zu einen. Aber nicht ohne Mühsal, Enttäuschung und Wunder tritt schließlich das sieghafte Kind ins Leben. – Und absonderlich ist auch die Entstehung und Verbindung zum Vater beim elefantenköpfigen »Sohne« Schivas. Die langen Kämpfe, die es gekostet hat, bis tiefe Gegensätze sich versöhnten, spiegeln sich in den Verwicklungen und Wundern mythischen Geschehens, das schließlich das Einswerden des Alten mit dem Fremden feiert.
Hier erfüllt der Mythos geistesgeschichtlich und sozial eine Aufgabe höchsten Ranges: in eins zu setzen, zu harmonisieren, was Völkerschicksal, Einwanderung, Sieg und Unterdrückung, ideell wie im Leben übereinander gelagert hat – zu verschmelzen, was sich verkapselt hat, zu verknüpften, deutend anzugleichen, was gegeneinander steht, alle Religion Indiens aus vielfältiger Schichtung in einen vielgliedrigen Organismus umzubilden, der ein in sich strömendes Auf-und-Ab, alle Gläubigen mit ihren vielen Göttern, bei ihrer ritualen wie sozialen Zerklüftung, einander nahebringt. Hier wird der Mythos zum vornehmsten Instrument der größten geschichtlichen Aufgabe indischer Religiöser, aus dem Gewimmel der Götter und Kulte die religiöse Einheit, sei sie noch so komplex, die Hinduismus heißt, herzustellen.
Dabei siegt das Alte (wenn auch das Neue, gewandelt, sprachlich die Form gibt). Die indische Mutter wandelt den Eroberer und Gast, der aus ihr sich nährt, zu ihrem Kinde. Die Ehe des höchsten Götterpaares ist dem Inder oberstes Sinnbild einer ideal unlöslichen Einheit gegensätzlicher Pole in vieler Beziehung – und diese symbolische Ehe ist ganz, wie eine Ehe augenscheinlich sein soll: Schiva, der Mann, heißt zwar der »Herr« (īschvara), aber seine Frau, die Bergesgöttin, ist die »Macht« (schakti). Sie ist Kraft, »Können« schlechthin. Ohne sie kann Er nichts. Ihr vereint, sie an ihm – ist er göttliche Allkraft. Tritt sie aus ihm, liegt er ihr zu Füßen, nicht Schiva mehr – nur »schava«: ein »Leichnam«.
Diesen Aufstieg der großen vorarischen Muttergöttin zur Gattin des »Herrn«, zur Herrin des Herrn, zur Allmacht in und über allen Göttern, vedischen und ältern, gibt der Mythos zu lesen, als die sinnbildliche Religionsgeschichte, die er ist. Im Wandel ihrer Rolle, erst zu dienen, dann zu herrschen, ergibt sich eine innere Chronologie seiner Gesichte.
Ihre Idee, Gattin und Mutter zu sein, durchdringt sich mit dem vedischen Begriff der Kraft (schakti) – der Kraft, die jedem Gotte inne ist, dank der er in seiner Sphäre wirkt und kann, was seines Amtes im Kosmos ist. Diese Kraft ist (vor allem bei Indra) Māyā: Kraft, sich zu verwandeln, groß oder winzig zu werden, Gestalt zu tauschen, vielfältig zu sein und zu verschwinden, zu verbergen, was ist, und Dinge zu gaukeln, wie sie nicht sind, Blendwerk zu wirken, um den Feind zu vernichten.
Alle die Großen haben Māyā – das ist ihre Größe –, aber die Māyā der Götter ist stärker und feiner, hinterhältiger als die Māyā der Widergötter und Dämonen. Auf deren Seite ist leibliche Kraft und gewaltiger Wille, unbändiger Trotz und Übermut – Titanentum. Damit greifen sie nach dem Weltregiment, wie die Riesen der Edda. Aber dumpf sind sie dabei und schwer, wie Fafner und Fasolt. Die Götter aber sind listig und hell, ihre Māyā ist witzig und entreißt verschlagen, erfindungsreich den Gegnern, was Gewalt ihnen gewann.
Am größten aber ist die Māyā des Gottes, der das Ganze ist, der die Welt wie Atem aus sich hervortreibt, sie innerlich durchwaltet, wie unsere Lebenskraft den eigenen Leib, und an ihrem Leid nicht leidet – wie wir die Atmung unserer Zellen nicht spüren, nicht ihren Aufbau und Zerfall, – Er, der den Kosmos, wenn er verwittert ist und flau geworden, wieder in sich hineinzieht, ins übergestaltige, unbewußte, eine Sein. Er wirkt vielfältige Māyā, indes die Welt besteht. Flehen die Götter um Hilfe gegen die Dämonen, deren Übermut unbändig die Erde belastet, und er steigt nicht selbst hinein in die Welt, sie zu schlichten, – so reißt er sich etwa, überweltlich ruhend, zwei Haare vom Haupte, ein helles, ein dunkles: das werden zwei Helden und Heilande sein, Balarāma und Krischna, die renken den Weltlauf ein. So wirkt er in vieler Gestalt in die gestaltige Welt hinein, indes sie rollt. Aber die ganze Welt, wie sie rollt, ist nichts anderes als seine Māyā: spielende Selbstverwandlung seiner unsterblichen Lebenskraft zu vielen Gestalten, die werden und vergehen.
Diese Allkraft (schakti), die Göttin, ist Brahmā, dem »Ältervater«, der die Welt erschafft, Gehilfin. Er ist von den Veden her ehrwürdig als Name und Bild für den Gott, der das Ganze meint. Aber wenn Vischnu ihn in dieser Rolle beerbt, ist sie schon Herrin. Vischnu ruht, wenn keine Welt ist – zwischen den Zeiten –, in magischen Schlaf gebannt, auf den Wassern, der Lebensflut, aus der die Welt immer neu entsteht. Dann thront Brahmā, zum Demigurgen herabgedrückt, auf der Lotosblüte, die aus Vischnus Nabel wächst. Er will die Welt erschaffen, wie es seines Amtes ist. Aber zwei Dämonen, aus dem Schmutz in Vischnus Ohren erstanden, wollen ihn vernichten. Da betet Brahmā zur göttlichen Kraft Vischnus, zu dieser weiblichen Gewalt, die ihn mit Schlaf betäubt, daß er nichts gewahrt. Betet zu seiner Māyā, die ihm die Welt, indes sie nicht ist, innen als seinen Traum vorspielt, der ihn befängt. Im Schlummernden ist sie Traumkraft und Schlaftrunkenheit. Sie allein, das Weib, kann den Gott der Veden samt seinem demiurgischen Amte retten, wenn sie den Schlafenden freigibt und im Erwachen wirkt als seine Kraft, die die Dämonen überlistet.
Zuletzt, nach Vischnu, steigt in sinkender Weltzeit altindischer Kultur Schiva in den Zenit. Der Todesgott wird höchster Herr. Nun wird die Göttin, seine Māyā und Schakti, seine göttliche Kraft, zum höchsten Wesen. Sie heißt »die Göttin« – Devī – schlechthin. Alle Götter sind nur Gestalten ihrer Kraft, sind, wie die Farben Brechungen des Lichts, spielende, scheinhafte Wandlungen ihres Selbst. Als ihrer aller einzelne Kräfte versagen, die Dämonen zu meistern, da strömen sie mit Zorngewalt sich aus, all ihre Kräfte zu vereinen. Da braut sich etwas Gewaltiges – die Göttin, die in ihnen allen vielfältig wirksam war, ersteht zu ungeheurer Gestalt. Und alle Waffen und Geräte der Götter, die ihnen Amt und Stärke gaben, nimmt sie spielend in ihren Wald von Armen – sinnbildlich und zur Zier; sie bedarf ihrer nicht, denn Heere fließen aus dem Atem ihres Mundes. So danken die Götter ihrer partikularen Kräfte, die Ohnmächte sind, zugunsten des ewigmütterlichen Urquells ab, dem sie entstammen. Und großer Inbegriff des Göttlichen aller indischen Religionen, schreitet die Göttin trunken von sich selbst zum Siege.
Da ist der Weltentag altindischer Religion vollbracht, der Umlauf ist zu Ende, der mit dem Eintreten der Arier anhob. Alle Spannung, die sich den großen epischen Ablauf des Mythos erschuf, um sich darin zu spiegeln, sich darin zu lösen, ist in dieser Einheit bildhaft versöhnt. Wie im Bilde der Ehe der Göttin mit Schiva alles Schmerzliche, Ringende religiöser Geschichte beschwichtet ist zu Harmonie in der Spannung der Geschlechter, zum Einklang der Dualität. – Ein neuer Weltentag kann anbrechen, mit neuem Gegenspiel: die Herrschaft des Islam steht vor der Tür, seefahrend reckt Europa seine Arme aus.
So ist der Mythos die sinnbildliche Geschichtsschreibung Indiens bis an die Schwelle neuerer Zeit – wie er auch seine wahre Dichtung ist. Im anonymen Kollektivum von Heiligen und Priestern, Sehern und Volkserzählern und dem ganzen Volk, das hörend und empfangend unablässig an ihm mitgeschafft, wirkt der dichterische Genius Indiens. Nicht im Euphuismus und der Stilkunst der Poesie im engeren Sinne geht sein atemberaubender Flügelschlag – aber im Mythos dieser Kultur, in der Friedrich Schlegel ahnend »das höchste Romantische« d. i. nach seinem Wortgebrauch: das Mythisch-Dichterische schlechthin.
Aber der indische Mythos leistet Wunderbareres. Im Westen zerbrach Mythos als ein Ganzes an der Philosophie, in der kritischen Zersetzung mythisch-magischer Denkformen – in Indien belebt er sich am Höchsten philosophischer Erkenntnis, lehrt es in Bild und Vorgang. Wunderbares geschieht in diesen Mythen. Ein Heiliger will die Māyā Gottes, in der Gott sich dem Bewußtsein der Geschöpfe als Weltgestalt verschleiert – als ihr Bewußtsein –, in ihrem Spiel erkennen. Seinem gläubigen Ringen neigt sich der Gott, erscheint und hört seine Bitte. Heißt ihn ins Wasser steigen. Da fand sich der Seher wieder als ein Mädchen. War eine Prinzessin, heiratete einen König, sah Söhne und Enkel aufblühen, sah Macht und Glück lange Zeit, und leerte den Becher des Grams bis zur Neige. Ihr Vater und ihr Gatte wurden Feinde, da gab's eine Schlacht, in der alle fielen: der Vater, die Brüder und Brüdersöhne, – der Mann, die Söhne, die Enkel. Weinend schichtete sie den Scheiterhaufen für alle, legte Feuer daran, schrie »weh meine Söhne!« und warf sich hinein. Da umfing sie – kühlende Flut. Sie erhob sich, fand sich im Wasser, war wieder der Heilige. – Und lachend sprach der Gott »wer ist dein Sohn, um den du klagst?« – Verwirrung und Scham befiel den Heiligen, und der Gott sagte weiter »so sieht meine Māyā aus, die du erkennen willst, – von wehvoll-dunkler unerwünschter Gestalt, allen Göttern unergründlich, – wie willst du um die unergründliche wissen?«
Eine orientalische Geschichte bei uns erzählt von dem Manne, der zum Zauberer ging, die Zukunft zu schauen. Der hieß ihn seinen Kopf in eine Bütte Wassers halten. Da war er ein anderer, war der und jener und erlebte viel. Mehr als ein Leben: Irrfahrten und Abenteuer, Pracht und Glück, Todesängste und Verzweiflungen. Und wie er in alledem, vielleicht in einer Angst, einmal den Kopf nach hinten warf – hob er ihn aus der Bütte und hatte ihn kaum eine Atemlänge unterm Wasser gehalten.
Ich weiß nicht, wo die Geschichte steht (eine ähnliche wird von Mohammed erzählt) – aber hierher kommt sie: aus dem indischen Mythos. Und ihre Tiefe, die Fragen: was ist Wirklichkeit? was geht in einen Augenblick? und was tragen wir in uns herum? – ist Leben weniger als ein Traum? – die Fragen hat sie aus der indischen Philosophie. – Aber weitergewandert vom Boden, aus dem sie wuchs, ist sie schon ganz auf dem Weg, zur Wundergeschichte zu entarten, die sich selbst nicht mehr ganz versteht.