Rainer W. Grimm wurde 1964 in

Gelsenkirchen / Nordrhein -Westfalen, als zweiter Sohn, in eine Bergmannsfamilie geboren und lebt auch heute noch mit seiner Familie und seinen beiden Katzen im längst wieder ergrünten Ruhrgebiet. Erst mit fünfunddreißig Jahren, bedingt durch eine Rückenerkrankung, entdeckte der gelernte Handwerker seine Liebe zur Schriftstellerei.

Als unabhängiger Autor veröffentlicht er seitdem seine historischen Geschichten und Romane, die meist von den Wikingern erzählen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte liegen beim Autor

© 2017 Rainer W. Grimm

www.rwgrimm.jimdo.com

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Covergestaltung: Siglinde Lítilvölva

Titelgestaltung, Layout: RWG

ISBN: 978-3-7448-6140-3

Inhaltsverzeichnis

  1. Aufbruch ins Gautenland
  2. Begegnung mit König Hrotger
  3. Heimkehr nach Tautra
  4. Kriegsfahrt
  5. Raubfahrt ins Saxland
  6. Erste Begegnung
  7. Der Blutdrache
  8. Der Kampf mit dem Bären
  9. König Hrotgers Hinterlist
  10. Vor den Toren von Ribe
  11. Der Streit mit dem König
  12. Das Schwert Blutauge
  13. Des Königs Racheschwur

1. Aufbruch ins Gautenland

Fast ein halber Mond war vergangen seit Einar nach Lade1 gesegelt war, und seitdem kamen kaum noch Männer in die Schildhalle. Der Jarl2 war nicht anwesend, und somit zog sie wenig in die Halle, also gingen sie anderen Beschäftigungen nach. Doch dafür hatte Thordis oft die Schildmaiden um sich versammelt, die sich nun an den großen Tischen ihre Zeit vertrieben.

„Bist du Einar noch gram?“, fragte Ilva die Jarlsgattin, als sie gemeinsam an einem Tisch in der Halle saßen. Thordis nickte.

„Ja, das bin ich! Er behandelt mich wie seine Hure, nicht wie eine Schildmaid und Kriegerin! Mein Platz wäre an Bord des Wellenwolfes gewesen.“

„Aber Thordis“, mischte sich Ulla, die einstige Gemahlin des toten Jarl Oyvind ein, die mit ihren Töchtern Uma und Ferun zugegen war. „Mein Sohn ist dir ein guter Gemahl.

Wie kannst du so etwas behaupten? Du bist die Herrin des Hauses und musst dieses hüten.“

„Jarl Einar hat keine einzige Schildmaid mit sich genommen. Unsere Aufgabe ist es, das Dorf zu verteidigen, sollte dies je vonnöten sein“, sprach nun Arla dazwischen, bevor sich zwischen der alten und der neuen Jarlsgattin ein Streit heraufbeschwor.

Nun lachte Ilva auf. „Sind wir nicht alle die Hure von irgendwem?“ Da begannen die Frauen zu kichern und zu feixen, und ihre Wortwahl war nicht weniger anzüglich als die der Männer.

„Dein Gemahl liebt dich, da bin ich mir sicher“, wandte sich Arla wieder an Thordis, doch Ilva plapperte dazwischen: „Wenn du ihn nicht mehr willst, nehme ich ihn dir gerne ab!“

Und wieder begannen die Frauen zu lachen. Da zischte Arla böse: „Nun halt doch mal deinen Schnabel, du dumme Gans!“

„Ich eine dumme Gans? Thordis sollte froh sein, denn sie ist das Weib unseres Jarls“, schimpfte Ilva nun. „Ulla hat ganz recht! Er hält sich nicht einmal Konkubinen, obwohl es als Jarl sein Recht wäre. Und von den Sklavinnen hat er auch keine gevögelt!“ Einige der Frauen stimmten Ilva zu, andere hielten sich lieber zurück.

„Du solltest nicht danach streben, als Kriegerin an Bord des Wellenwolfes zu segeln“, sprach nun eine die Eyja hieß, und um einige Winter älter war als die jungen Kriegerinnen.

„Du solltest lieber die Göttinnen bitten, dass sie deinen Schoß fruchtbar machen. Ein Mann will Nachkommenschaft zeugen.“ Sie war die Frau eines der Krieger, die mit Einar gesegelt waren und hatte bereits zwei Kinder geboren. Eyja war die Herrin ihres Hauses, wenn ihr Mann zur See fuhr, hatte einst den Umgang mit den Waffen gelernt, um ihr Heim beschützen zu können. So wie es inzwischen einige der Frauen auf der Insel Tautra taten. „Du solltest nicht vergessen, welche Aufgabe Frigga und Freya dir zugedacht haben.“

„Eyja hat recht, Schildmaid!“ Sigve, die Völva3, stand seit einiger Zeit im Schutz eines der Stützpfeiler und hatte dem Gespräch der Frauen gelauscht. Die Blicke aller Frauen fielen nun auf sie. Langsam trat das Weib mit dem feuerroten, langen Haaren an den Tisch und nahm Platz.

„Du möchtest eine Kriegerin sein, doch deine Bestimmung ist es, das Weib des Jarls zu sein“, sprach sie ruhig. „Du solltest ihm Kinder gebären und Haus und Hof verwalten, wenn dein Mann die Insel verlässt!“

„Aber … aber das kann ich nicht“, sprach Thordis nun kleinlaut, und die Völva lächelte ihr zu. „Nicht, wenn du ihm gram bist und dich ihm verweigerst! Und es war nicht Einar, der dich seine Hure schimpfte“, fügte sie noch hinzu. Erstaunt sah Thordis drein. Woher konnte die Völva wissen, dass sie selbst es war, die diese Worte gebraucht hatte?

„Doch nun genug davon!“ Der Gesichtausdruck der Völva wurde ernst. „Du musst gehen, Thordis! Geh zum Haus der alten Imma, denn diese macht sich jetzt auf den Weg in das Totenreich. Sie braucht dich!“

Da sprang Thordis auf. „Was sagst du?“ Entsetzen war ihr in das schöne Gesicht geschrieben, und sie lief aus der Halle.

Eilig rannte sie über den Platz vor der Schildhalle, durch den warmen Regen, der seit dem Morgen vom Himmel fiel, zu dem gegenüber liegenden Gebäude. Sie riss die Tür zu der Hütte der Alten auf und stürzte hinein. Gilda, die Sklavin der alten Imma, saß vor dem Bett und starrte abwesend auf den staubigen Boden. Auf der Bettstatt lag die Alte. Bleich im Gesicht und ohne jede Regung. „Imma!“, rief sie entsetzt und fiel vor dem Bett auf die Knie. Sie ergriff die Hand des Weibes, doch diese war bereits eiskalt.

Mit Tränen in ihren Augen erhob sie sich und trat vor die Gilda, die langsam ihren Kopf erhob. Laut klatschte es, als die Hand der Thordis das Gesicht der Sklavin traf. „Du Tochter einer ekelhaften Riesin, warum hast du mich nicht gerufen, als Imma noch atmete?“

„Oh, Herrin, sie hat es mir verboten! Bei allen Göttern, ich lüge nicht! Sie hat es verboten!“, rief sie heulend aus und fügte schluchzend hinzu: „Die Völva hat gelogen, soll ich dir sagen. Die Klinge war nicht tief im Holz, als Einar sie bei eurer Vermählung in den Stützpfosten schlug4!“

Langsam senkte Thordis ihre erhobene Hand. „Was soll das heißen? Und hör auf zu heulen, bei allen Göttern“, befahl sie streng, wandte sich um und sah auf die alte Imma. „Was bei Frigga, soll das heißen?“ Dann richtete sie ihren Blick wieder der Sklavin zu. „Sie war mir wie eine Mutter“, sagte sie leise und weinte. „Bereite die Totenfeier vor, Gilda!“

*

Noch am gleichen Tag hatten Jarl Einar und die seinen das Segel gesetzt und waren nach Tautra gesegelt. Es gab noch viel vorzubereiten für die Fahrt nach Götaland. Und vor allem war dies für den jungen Jarl eine neue Erfahrung, denn bisher hatte er noch nie mit einem Schiff den großen Fjord verlassen. Jetzt aber sollte es hinaus auf die offene See gehen. In ein Land, das ein anderer König beherrschte als der seine.

Groß war der Jubel im Hafen von Sørhamna, als erst das Hornsignal und dann der Ruf erklang: „Der Wellenwolf kehrt zurück!“

„Heute Abend werden wir den Lohn für die Fahrt unter uns aufteilen, Gunnar, und danach werden wir feiern“, rief der Jarl dem Stevenhauptmann zu, nachdem er auf den Steg gesprungen war. Und während die Männer das Schiff entluden, machte sich der Jarl auf den Weg in die Schildhalle. Doch die Begrüßung fiel anders aus, als er es sich erhofft hatte. Zwar schloss Ulla den Stiefsohn freudig in ihre Arme, und auch Uma und Ferun begrüßten den Jarl und Bruder mit überschwänglicher Freude. Sein Weib Thordis aber hielt sich zurück, trat langsam auf ihren Gemahl zu und sprach: „Sei mir gegrüßt, mein Gemahl.“

„Thordis“, nickte er dem Weib kühl zu, und seine Enttäuschung war nicht zu übersehen, doch er schwieg.

Stattdessen rief er die Mägde. „Bereitet mir ein heißes Bad!

Und danach sorgt ihr dafür, das genug Bier und Essen für den Abend in die Schildhalle gebracht wird. Wir wollen unsere Heimkehr feiern!“

Einar lag in dem Badezuber und genoss das heiße Wasser auf seiner Haut. Eine junge Sklavin sorgte dafür, dass das Wasser nicht kalt wurde. Da klopfte es an die Tür der Kammer und Breka trat ein. „Breka, mein Freund! Was gibt es!“

„Willst du, dass wir die Schiffe für die neue Fahrt seeklar machen?“

„Nein Breka, noch nicht“, grinste Einar. „Wir sind doch gerade erst angekommen. Nun wollen wir uns erst einmal ausruhen! Der König kann warten!“ Er winkte die Sklavin heran. „Mehr heißes Wasser!“

„Heißes Wasser? Draußen ist es warm, die Sonne scheint“, lachte Breka. „Oh, glaube mir, es ist sehr entspannend“, grinste der Jarl und blickte auf die durchnässte Kleidung der jungen Sklavin,, die ihre Nacktheit kaum verbarg. Breka wandte sich zum Gehen, drehte sich dem Jarl aber noch einmal zu. „Ach, Einar, ich trauere mit dir!“

Erstaunt sah der Jarl den Gauten an. „Trauern? Um wen sollte ich trauern?“

„Hat man es dir noch nicht gesagt? Die alte Imma hat Midgard5 verlassen“, sprach Breka traurig. Da verstummte Einar und seine Augen füllten sich mit Tränen.

„Komm!“, befahl Breka der Sklavin, und sie verließ mit ihm die Kammer.

Eilig liefen die Mägde aus der Halle, die bereits für die abendliche Feier hergerichtet war, denn so aufgebracht hatten sie ihren Jarl noch nicht erlebt. So waren nur Ulla und ihre Töchter, der Jarl mit seinem Weib, und in einer hinteren Ecke die Völva Sigve anwesend.

„Wann wolltest du mir sagen, dass die Imma tot ist?“, keifte er die Thordis wütend an. Es schien, als würde sich nun all sein Ärger über die schlechte Begrüßung seines Weibes Luft machen. „Bin ich es dir nicht mehr wert, dass du deine Worte an mich verschwendest?“

„Sie war alt! Hast du erwartet, dass sie ewig lebt?“, keifte Thordis zurück. „Während du dich bei einem König vergnügt hast, haben wir sie bestattet, und nun hat sie ihre Ruhe gefunden!“

„Bei einem König vergnügt? Ich bin meiner Pflicht als Jarl nachgekommen und habe mich dabei sicher nicht vergnügt!

Und überhaupt! Weißt du nicht, wie ein Weib seinen Gemahl zu begrüßen hat, wenn er heimkehrt? Ich war dir einst ein guter Bruder, und ich versuche dir ein guter Gemahl zu sein, doch du strebst nur danach, eine heldenhafte Kriegerin zu werden! Doch du bist keine Brunnhilde von Isenland!“

„Ich bin dir eine gute Gemahlin“, rief Thordis aus, „aber ich bin nicht deine Hure!“

„Meine Hure? Dass ich nicht lache! Bei Odin, wie wäre ich froh, wenn es so wäre!“

Ulla trat hinzu. „Einar, zügele dich“, mahnte sie, doch der Jarl ließ nun seinem Ärger freien Lauf. „Eine Hure lässt einen Mann nicht verdorren! Thordis ist kalt wie ein Fisch!“

Plötzlich traten Männer in die Halle, es waren die ersten Gäste der Feier. Da verstummte der Jarl.

Gunnar trat neben Einar, musterte diesen und fragte:

„Geht es dir gut? Du machst ein Gesicht, als hättest du Flöhe!“

„Nun, Gunnar, mir ist es wahrlich, als hätte ich einen Floh im Pelz“, antwortete der Jarl und sah dabei sein Weib an.

„Aber heute werden wir feiern, mit oder ohne Floh!“

Zuerst hatte Jarl Einar den Männern seiner Mannschaft ihren Anteil ausgehändigt, und danach hatte er noch über einen Dieb Gericht gehalten. Dann aber begann das Fest, sie tafelten und soffen, vergnügten sich mit Spielen und den Weibern. Sklavinnen tanzten zu der Musik der Spielleute nackt auf den Tischen. Und während Einar mit seinen Kriegern an einem der Tische saß, auf dem die Sklavin Gilda wild tanzte und ihre Kleider von sich warf, blieb Thordis auf ihrem Hochstuhl sitzen.

Da trat die Völva vor den Hochstuhl der Jarlsgattin und sah diese streng an. „Thordis, komm mit mir, ich habe mit dir zu reden.“

„Aber Sigve, wir feiern“, sträubte sich das Weib, obwohl sie sich wenig an dem Fest beteiligte und nur mit bösem Blick das Treiben beobachtete. „Das nennst du feiern?

Außerdem ist mir das egal. Komm!“ Durch die Reihen der Feiernden ging die Völva zur großen Tür und durchschritt diese hinaus ins Freie. Sie sog die warme Abendluft in ihre Lungen und wartete. Bald darauf erschien die Gemahlin des Jarls und sprach streng: „Was soll das? Warum zerrst du mich von dem Fest fort?“

„Weil es an der Zeit ist, dass du sprichst, Thordis!“

Die Jarlsgattin sah die Völva fragend an. „Ich verstehe dich nicht, Sigve.“

„Warum quälst du deinen Gemahl? Er hat es nicht verdient.“

„Aber ich quäle ihn doch nicht“, erwiderte Thordis kichernd, denn sie hatte bereits dem Bier zugesprochen.

„Kichere nicht so albern“, wurde die Völva böse.

„Du hast mich belogen“, warf Thordis nun der Völva vor, und obwohl sie nicht wusste, was es bedeutete, wiederholte sie die Nachricht der Imma. „Die Klinge war nicht tief im Stamm!“

Da sah Sigve die angetrunkene Thordis erstaunt an, sprach dann aber: „Nein, die Klinge, die Einar in den Pfosten schlug, drang nicht tief ein! Eure Verbindung wird nicht lange halten.“ Nun verstand Thordis, und sie erkannte, dass ihr Zorn auf Einar von den Göttinnen kommen musste.

„Wann hast du aufgehört, ihn zu lieben, Thordis? Und antworte mir ehrlich, denn ich warne dich davor, mich zu verärgern.“ Thordis senkte ihr Haupt. „Als ich mein Kind zu den Göttern gab“, antwortete sie leise. „Ich liebe ihn nicht einmal mehr wie einen Bruder! An manchen Tagen hasse ich ihn!“

„Dann werde ich die Göttinnen befragen, was zu tun ist“, sprach die Völva, „und du wirst den Wunsch der Frigga befolgen!“

„Ja, das werde ich“, versprach Thordis kleinlaut.

„Gut, geh jetzt wieder hinein!“

*

Das Fest lag nun drei Tage zurück, und Einar hatte sich in das Haus der alten Imma zurückgezogen. So konnte er dem Streit mit seinem Weib aus dem Wege gehen. Das Haus hatte er dem Breka zur Verfügung gestellt und ihm auch die Sklavin Gilda gelassen. Eigentlich sollte noch etwas Zeit vergehen, damit die Männer an der Seite ihrer Familien bleiben konnten, bis er den Auftrag König Grjotgards6 ausführen wollte, doch ihm war seine Siedlung Sørhamna verleidet. Es vergingen drei weitere Tage voller Langeweile, dann rief er alle Männer von Tautra in die Schildhalle, und so füllte sich am nächsten Abend der große Raum mit den Kriegern der Insel. Und auch die Schildmaiden der Thordis waren anwesend. Es wurde still in der Halle, als der Jarl eintrat und auf seinem Hochstuhl Platz nahm.

Erwartungsvoll sahen die Anwesenden ihren jungen Jarl an, bis dieser sich nach einer Weile wieder erhob und vortrat.

„Einige von euch kennen bereits den Befehl, den mir der König des Trøndelag7 gegeben hat. In einem halben Mond werden wir nach Osten segeln, in das Reich der Gauten und Dänen“, rief er. „Und diesmal segeln wir mit drei Schiffen!

Wer ist bereit, mir zu folgen?“

Lauter Jubel brach los, und unzählige Hände hoben sich. Da ergriff Thordis das Wort und es wurde ruhig. „Was ist mit mir und meinen Schildmaiden, Jarl?“, fragte sie fordernd.

„Was soll mit euch sein?“, entgegnete Einar überrascht.

„Wirst du uns endlich mit dir nehmen?“

Langsam schüttelte Einar seinen Kopf. „Wer soll unsere Insel verteidigen, wenn wir fort sind, Thordis?“

„Es werden sicher genügend Männer zurückbleiben, um dies zu tun“, begehrte Thordis zornig auf. „Uns aber steht es zu, endlich zu beweisen, dass wir nicht weniger wert sind als deine Männer!“

Einars Blick suchte den seines Stevenhauptmanns Gunnar, und dieser nickte ihm zu. „Ich werde es mir überlegen!“

Der Jarl sah sein Weib an und nahm dann wieder auf dem Hochstuhl Platz.

„Kjelt, dir lege ich die Aufsicht in die Hand, dass alles bereit sein wird, wenn wir aufbrechen.“ Kjelt erhob sich und stimmte zu. „Du kannst dich auf mich verlassen, Jarl!“

„Gut! Ich habe es nicht anders erwartet, mein Freund.“

Einen Tag später trat die Völva in die Schildhalle, durchschritt den großen Raum und öffnete die Tür, die in den Teil des Hauses führte, den Thordis nun allein bewohnte.

„Thordis!“, rief sie, und es erklang aus einem der Räume die Antwort. Als Sigve in den Raum sah, stand Thordis an ihrem Webrahmen und arbeitete an einer Decke.

„Sigve! Was willst du von mir?“

„Ich sagte dir, ich befrage die Götter, was zu geschehen hat, und hier ist ihre Antwort“, sprach die Völva ruhig, obwohl der Ton, den Thordis angeschlagen hatte, wenig freundlich war.

„Du wirst deinen Gemahl verlassen! Gehe in den Norden der Insel, nach Nordbuktawik und bleibe dort! So wollen es die Götter“, sprach Sigve streng.

Da lachte Thordis auf. „Ich bin die Jarlsgattin, was sollte mich dazu bewegen, deinem Rat zu folgen?“

„Meinem Rat?“, empörte sich die Völva. „Es ist der Wille der Götter! Wirst du ihm nicht folgen, werden sie dich bestrafen!“

„Bestrafen? Mein Schoß ist so trocken wie ein verdorrter Apfel“, empörte sich Thordis. „Ich kann keine Liebe empfinden, und ich werde niemals Kinder mein Eigen nennen. Also, wie wollen die Götter mich noch strafen, Völva?“

Da trat Sigve nah an die Thordis heran und fauchte ihr ins Gesicht: „Es liegt weit deiner Vorstellungskraft, was die Götter dir alles antun könnten, Thordis!“ Sie ließ ihre Worte einen Moment wirken, dann aber sagte sie: „Ich will dir ein wenig entgegenkommen und dir einen Wunsch erfüllen, solltest du meinem Rat folgen. Du wirst mit deinen Schildmaiden an der Fahrt teilnehmen. Ich kann dafür sorgen, wenn du das willst!“

„Das kannst du?“

Sigve nickte. „Trete vor den Jarl, und dein Wunsch wird erfüllt werden!“ Dann wandte sich die Völva ab und ging.

Nachdem der halbe Mond vergangen war, lagen die drei Schiffe des Jarl Einar bereit, um abzulegen, an dem Anlegesteg vor dem Dorf im Süden der Insel. Nach und nach waren in den letzten Tagen all die Männer in die Halle gekommen, die bereit waren, an der Fahrt teilzunehmen.

Alle Riemen waren doppelt besetzt, sodass die Rudermannschaften sich abwechseln konnten, um immer wieder Kräfte zu sammeln und sich auszuruhen. Und auch Thordis war in die Halle getreten, hatte sich vor den Hochstuhl Einars gestellt und noch einmal ihrer Forderung Ausdruck verliehen, dabei traf ihr Blick die Völva, die mit ihrem Stab in der Hand, nicht weit des Hochstuhls stand.

Langsam nickte Sigve und hob den Stab kurz an.

„Nun, Thordis“, sprach der Jarl ruhig. „Bevor es wieder zu einem Streit zwischen uns kommt, habe ich beschlossen, dass du und die Schildmaiden mit uns fahren werden, wenn dies euer Wunsch ist.“

Erstaunt sah Thordis ihren Gemahl an. „Ja, mein Jarl, dies ist unser Wunsch.“

„Gut, dann werdet ihr auf dem Flutenbrecher segeln. Und nun bereitet euch vor.“

Da trat Sigve vor den Jarl und lächelte ihn an. „Auch ich werde euch begleiten!“

„Du, Sigve?“

„Ja, Jarl Einar. Es wird euch nicht zum Nachteil sein.“

Davon war Einar durchaus überzeugt und stimmte dem Wunsch der Völva zu.

Es war ein schöner, sonniger Frühsommertag, und die Priester der Christen schrieben das Jahr 825 nach der Geburt des Mannes, den sie ihren Heiland nannten. Die drei Schniggen8 des Jarls von Tautra segelten durch den großen Fjord nach Südwesten, um dann durch die Fjordenge nach Norden zu segeln, hinaus aus der großen Meeresbucht von Lade. Nun nahmen sie Kurs nach Süden, sodass sie zu ihrer Linken die Inseln und das Festland im Blick behielten.

Einar hatte den ersten Tag auf See gut überstanden. Zwar war es ihm anfangs ein wenig flau im Magen, denn die See zeigte sich unruhig und war spürbar rauer als die Wasser des Fjordes, doch er konnte es vermeiden die Fische zu füttern.

Diese Schmach wollte er um keinen Preis auf sich nehmen.

Je länger sie aber auf den Wellen dahin glitten, umso besser ging es ihm. Ihr erstes Lager schlugen sie auf einer kleinen Insel vor der Küste von Hardanger auf, wo sie die Nacht verbrachten. Die Insel war unbewohnt, und sie blieben daher unbehelligt. Auch in den folgenden Tagen sollte sich dies nicht ändern.

Einar hatte seine Stammmannschaft auf dem Wellenwolf und hatte die Besatzung um mehrere Krieger erweitert. Zu seinem Glück hatten die Steuermänner des Flutenbrechers und des Wogenreiters den Kampf zwischen den beiden Jarls von Tautra überleb,t und ihm, dem Sieger, den Eid geschworen. So konnte er sich darauf verlassen, dass die Schiffe sicher gesteuert wurden.

Die Schildmaiden der Thordis fuhren, so wie es Einar befohlen hatte, auf dem Flutenbrecher, den Stendar befehligte. Es waren mehr als zehn Weiber an Bord, und der Jarl hatte befohlen, diese nur als Krieger zu sehen, nicht als Frauen.

Die Schiffe umfuhren die Südspitze des Landes am Nordweg, und dort suchten sie sich vor Einbruch der Nacht einen geeigneten Lagerplatz an der Küste. „Wo sind wir, Gunnar?“, fragte der Jarl seinen Stevenhauptmann. „Dies ist Vestfold, mein Jarl.“

„Weißt du, wer hier herrscht?“

„Es ist das Land von König Gudröd und Königin Asa. Wir sollten vorsichtig sein“, erklärte Gunnar mit üblem Blick, und man sah ihm an, dass er hier nicht gerne lagerte. „Mit ihm ist nicht zu spaßen.“

„Wie wird es weitergehen?“ Die Männer saßen gemeinsam am Feuer und es war bereits dunkel. Sie hatten den Lagerplatz so gewählt, dass keine Stadt oder Dorf in der Nähe war. Sollte König Gudröd tatsächlich von ihrer Ankunft erfahren haben, und würde dieser eine Abordnung seiner Krieger schicken, so wären sie längst wieder auf See, bevor diese eintreffen würden.

„Dort drüben“, Gunnar zeigte nach Süden auf die See hinaus, die man das Skagerrak9 nannte „liegt Jütland. Da müssen wir hin. Es ist Daneland, das Reich König Horiks10.“

„Land in Sicht!“, rief der Mann, der auf der Rahe saß. „Ich sehe Land!“

„Das ist Jütland, mein Jarl“, sprach Gunnar, als er neben Einar an den Vordersteven mit dem geschnitzten Wolfskopf trat. „König Horiks Reich?“, fragte Einar.

„Ja, Daneland“, nickte Gunnar.

„Dann gib die nötigen Befehle, Stevenhauptmann“, ordnete der Jarl an.

So segelten sie an der nördlichsten Küste des Danelandes nach Osten und erreichten bald das Kattegat11, die See zwischen dem nördlichen Jütland und dem Götaland.

„Bevor wir die offene See überqueren, sollten wir noch einmal lagern“, schlug Kjelt seinem Jarl vor, „denn das nächste Lager werden wir im Gautenland aufschlagen.“

„Du hast wohl recht, mein Freund“, stimmte der Jarl zu und rief nach dem Hauptmann seines Schiffes. „Gunnar!

Wir lagern!“

Sie fanden die Mündung eines Flusses, holten das Segel ein und stießen in das Signalhorn, damit ihnen die beiden anderen Schiffe folgten. „Los, rudert! Dort hinüber!“, brüllte Gunnar über die See.

Ein Stück weit ruderten sie in den Fluss hinein und fanden bald ein flaches Ufer, an dem sie die Kiele in den Sand setzten. Hier errichteten sie ihr Lager, um die Dunkelheit auf festem Grund zu verbringen. Doch in der Nacht schlug das Wetter um. Schnell zogen dunkle Wolken heran, es begann heftig zu regnen, und so brachte auch der nächste Morgen wenig Gutes. Die Götter zürnten, hatten den Himmel schwarz gefärbt und ließen den Wind heftig wehen.

Einar stand vor seinem Zelt, der Regen peitschte in sein Gesicht, und er sah den schnell über den Himmel ziehenden Wolken nach.

„Mir scheint, der Donnergott Thor hat schlechte Laune!“

Hinter dem Jarl war Gunnar aus dem Zelt getreten. Längst hörte man in der Ferne das Grollen eines nahenden Gewitters.

„Ja, ein Unwetter wird kommen.“ Einar wandte sich dem Stevenhauptmann zu. „Ich bin kein erfahrener Seemann wie du, doch ich denke, eine Überquerung der offenen See wäre unser sicheres Verderben!“

„Du hast recht, so würde es wohl sein! Sicher sind wir hier aber auch nicht“, warnte Gunnar vor den Einheimischen.

„Also befestigen wir das Lager gegen Feinde. Wer weiß, wie lange Thor uns zürnt!“

Da trat Breka hinzu. „Wer soll uns schon bei diesem Wetter überfallen?“ Er hatte die Worte des Stevenhauptmannes mit angehört und grinste nun über das ganze Gesicht. „Das ist kein schönes Wetter, um nach Walhalla12 zu gehen!“

Rund um das Lager hatten sie Wachen aufgestellt, und mit den mehr als hundert Kriegern fühlten sie sich sicher.

Tagelang regnete es, und niemand im Lager hatte bemerkt, dass sie längst beobachtet wurden. Am vierten Tag näherte sich ein Reiter dem Lager, zügelte sein Pferd aber so weit entfernt, dass ihn kein Pfeilschuss erreichen konnte.

„Jarl, komm! Ein Reiter!“, rief einer der Krieger in das Zelt, indem Einar, Breka, Gunnar, die Völva Sigve und einige andere saßen. Sofort sprangen diese auf und eilten hinaus in den warmen Regen. Die meisten Krieger, darunter auch Thordis und die Schildmaiden, hatten sich nun mit ihren Waffen gesammelt und warteten gespannt, was geschehen würde. „Olaf, geh du!“, befahl Einar, der stämmige Krieger nickte und begab sich sofort auf den Weg.

Von weitem beobachteten sie, wie die Männer redeten, Olaf plötzlich seine Axt hob und zuschlug. Das Pferd bäumte sich auf, der Mann fiel aus dem Sattel, und das Pferd verschwand hinter einer Hügelkuppe. Noch einmal fuhr die Axt in die Brust des Mannes, bevor sich Olaf auf den Rückweg machte.

„Was, bei allen Göttern ist in dich gefahren, Olaf?“, schnauzte Gunnar, als der stämmige Krieger wieder im Lager ankam. Olaf aber blieb ruhig, als sei nichts geschehen.

„Dieses Land gehört Jarl Eilifr, und er fordert uns auf zu verschwinden“, sprach Olaf zu seinem Jarl, ohne Gunnar Beachtung zu schenken.

„Aber hast du ihm nicht gesagt, dass wir gehen, sobald der Sturm nachlässt?“

„Doch, das habe ich! Er aber hat gedroht, mit einem Heer an Kriegern zurückzukommen, sollten wir nicht sofort die Segel setzen“, erklärte Olaf. „Dies kann er nun nicht mehr!“

Am nächsten Morgen hatte der Sturm etwas nachgelassen, doch noch zogen dunkle Wolken über den Himmel von Jütland und das Kattegat. Einige Zelte waren in der Nacht dem Sturm zum Opfer gefallen, waren Vögeln gleich davongeflogen, und so wurde es in den verbleibenden eng.

Viele Krieger schliefen auf den Schiffen unter den zum Zelt gespannten Planen. Dies nahm ein wenig die Enge und verhinderte auch, dass die Schiffe voll Wasser liefen. Und dann endlich, es war zur Mittagszeit, hörte der Regen auf und erste Sonnenstrahlen kämpften sich durch den von grauen Wolken verhangenen Himmel. „Thor sei Dank“, seufzte Sigve, als sie neben Thordis trat. „Warum dankst du Thor?“, fragte diese.

„Weil uns so ein Kampf mit diesem Jarl Eilifr erspart bleibt.“

„Ich wusste nicht, dass du ängstlich bist, Sigve“, bemerkte die Schildmaid spitz, doch die Völva ließ sich nicht von dem jungen Weib herausfordern und blieb ruhig. „Ich hätte gute Lust auf einen Kampf!“, prahlte Thordis.

„So?“, sprach Sigve. „Du hättest Lust auf einen Kampf?

Wir werden unsere Krieger sicher noch brauchen, denn unsere Aufgabe ist eine andere, als uns hier mit einem fremden Jarl herumzuschlagen. Sehne dich nicht nach dem Tod, Schildmaid, denn auf dich wartet nicht Walhalla. Du bist ein Weib und gehst in das Totenreich der Hel!“

Da verstummte Thordis.

Bald schon gab der Jarl den Befehl zum Aufbruch, und so wurden die Feuer gelöscht, die Zelte abgebaut und die Schiffe seeklar gemacht.

Plötzlich aber geschah, womit niemand gerechnet hatte. Ein kurzer Schrei erschallte, und einer der Krieger sank, mit einem Pfeil in seinem Rücken, zu Boden. Surrend flogen unzählige Wundbienen durch die Luft.

„Schilde! Schützt euch mit den Schilden!“, rief jemand.

Die Krieger Einars liefen umher, wie Hasen auf der Flucht.

„Schützt die Schiffe!“, brüllte Einar. „Schildwall!

Hauptmänner!“

Und nun übernahmen die Stevenhauptmänner das Kommando über ihre Schiffsbesatzungen.Thordis erhielt den Befehl, mit ihren Schildmaiden, die Völva zu schützen.

Zwar sträubte sie sich, doch Einars Befehle musste sie befolgen.

Die Schiffsbesatzungen rotteten sich um ihre Hauptmänner zusammen, sodass drei große Blöcke entstanden, die jeweils vor ihren Schiffen einen Schildwall bildeten.

Der Beschuss hörte plötzlich auf, und sie konnten die Verletzten und Toten hinter den schützenden Wall ziehen.

Und dann stürmten die Angreifer den kleinen Hügel hinunter zum Ufer des Flusses.

„Stendar!“, rief Einar den Namen des Stevenhauptmannes des Flutenbrechers. „Rückt vor! Dort rüber!“

Der Angerufene nickte und rief nun seinerseits seine Befehle. Die Krieger stürmten den angreifenden Dänen entgegen und bildeten erneut einen Schildwall. Mit lautem Kriegsgebrüll prallten die Angreifer auf den Wall aus Rundschilden, doch Stendars Krieger hielten stand. Nun schickte der Jarl die Krieger des Wogenreiters auf die rechte Flanke, während er mit seinen Männern die linke Flanke besetzte. So gerieten die Angreifer in eine Zange. „Öffnet die Wälle! Schickt sie nach Walhalla!“, dröhnte der Befehl des Jarls den Kriegern in den Ohren, die Signalhörner erklangen, und die Krieger gingen zum Angriff über.

Lange hatte der Kampf nicht gedauert, denn die Kämpfer des dänischen Jarls erkannten schnell ihre missliche Lage und suchten ihr Heil in der Flucht. Jarl Eilifr hatte die Fremden, wie es schien, unterschätzt, und in der kurzen Zeit nicht allzu viele Krieger um sich geschart. Sie waren in der Unterzahl und bekamen dies zu spüren.

Jarl Einar ließ die Gegner ziehen und befahl, die Verwundeten auf die Schiffe zu bringen. Für die Toten errichteten sie Scheiterhaufen, denn acht Krieger und zwei Schildmaiden hatten ihr Leben gelassen, und sie sollten ehrenvoll dorthin gehen, wo eine andere Welt auf sie wartete. Mit ihren Waffen und Schilden hatte man sie aufgebahrt, die Völva sprach heilige Worte und bat Odin, die Gefallenen in seinem Reich aufzunehmen. Dann entzündete Jarl Einar das Holz. Die Toten der Feinde hatten sie auf dem Schlachtfeld liegen lassen. Sollte Jarl Eilifr sich um seine Krieger kümmern oder die Raben fanden ein üppiges Mahl.

„So ein elender Dummkopf“, sprach Gunnar leise. „Wer?“,

fragte Breka neugierig. „Na, dieser Däne! Hätte er nur einen halben Tag gewartet, wären wir fort gewesen!“

*

Sie waren nahe an der Ostküste Jütlands noch eine Weile nach Süden gesegelt, und noch bevor sie die dänischen Inseln im großen Sund erreichten, nahmen sie den direkten Weg über die See nach Osten. Mehr als zwei Tage verbrachten sie nun auf See. Es war der dritte Seetag, und es begann bereits zu dämmern, als die drei Schniggen des Jarl Einar die Küste des Götalandes erreichten. „Dies muss das Reich König Hrotgers sein“, sprach Einar und sah Breka fragend an. Dieser aber schien abwesend, zog nur die Schultern hoch und murmelte etwas, das Einar nicht verstand.

„Sprich laut mit mir“, tadelte der Jarl ein wenig verärgert den jungen Krieger. „Also, was sagst du?“

„Es ist Halland, das Land meines Vaters“, antwortete Breka zögernd. „Auch wenn ich damals noch ein Knabe war, erkenne ich doch die Küste. Dort liegt die Mündung eines Fjordes.“ Er zeigte mit dem Finger nach Süden.

„Wenn wir der Mündung folgen, erreichen wir mein Heimatdorf.“

Da grinste der Jarl. „Dann lass uns deinem Vater doch einen Besuch abstatten.“ Zuvor aber steuerten sie das Ufer an, denn so nah an der Küste wollte Einar nicht in der Dunkelheit segeln. Nur wenige Feuer entfachten sie, und jeder suchte sich einen Platz zum Schlafen, der ihm genehm war. Am nächsten Morgen blieb es lange ruhig in dem Lager. Jarl Einar wollte, dass seine Gefolgschaft wieder zu Kräften kam und ließ sie ruhen. Nun war der Himmel wieder blau, und die Morgensonne begann sie zu wärmen.

Nachdem sie ausgiebig gegessen hatten, bestiegen sie ihre Schiffe und stießen wieder in See.

„Ubbe, dort hinüber in den Fjord“, befahl Einar dem Steuermann. „Gunnar, gib den anderen Schiffen Signal, dass sie uns folgen.“

Die Sonne stand im Zenit und brannte heiß, als die Schniggen in den Fjord einbogen. „Das Segel runter und an die Riemen, Männer“, rief Gunnar, und bald darauf ruderten sie die drei Schniggen durch den Fjord. Vorbei an sandigen Stränden, an grünen Wiesen und an Buchenwäldern, die bis ans Ufer reichten, fuhren sie tiefer in den Fjord hinein. Und plötzlich erblickten sie die Dächer einer Siedlung. „Das ist Halmsby, das Dorf meines Vaters Jarl Borka“, erklärte Breka, und man sah ihm an, dass er wenig erfreut war über die Entscheidung seines Jarls, hier Halt zu machen. Schon von weitem konnten sie sehen, wie sich der Strand vor der Siedlung mit Menschen füllte. Und so gab der Jarl Befehl, einen der zwei Anlegestege anzusteuern.

*


1 Lade – Königsstadt im Trøndelag, später von König Olaf Tryggvasson in Nidaros umbenannt und erweitert, heute ein Stadtteil von Trondheim

2 Jarl – Graf /Earl

3 Völva – Seherin, Kräuterkundige Heilerin

4 Hochzeitsritual, je tiefer die Klinge in den Pfosten eindringt, umso länger hält die Ehe an

5 Midgard – die Welt der Menschen, eine der neun Welten

6 Grjotgard Herlaugsson – 790–867 n. Chr., König des Trøndelag

7 Trøndelag – Gau im Westnorwegen

8 Schnigge – schnelle, schlanke Kriegsschiffe mit bis zu 40 Riemen

9 Skagerrak – Teil der Nordsee zwischen der Nordküste Jütland und der Südküste Norwegens

10 Horik I. – gest. 854 n.Chr., König über Jütland und Schonen, ab 826/827 mutmaßlich als alleiniger dänischer Herrscher über Teile des heutigen Dänemark und Schonen.

11 Kattegat - See zwischen dem nördlichen Jütland und dem Götaland

12 Walhalla – die große Halle Odins, in der die gefallenen Krieger an die Tafel des Göttervaters geladen werden

2. Begegnung mit König Hrotger

Neugierige und auch besorgte Blicke trafen die Ankommenden, als der Wellenwolf, von den Fluten getragen, langsam an den Steg trieb. Männer eilten herbei und fingen die Taue, die man ihnen zuwarf. Die beiden anderen Schniggen lagen nicht weit des Ufers vor Anker, und kaum einer an Bord war glücklich darüber, auf dem Schiff bleiben zu müssen. Doch Einar hatte es so bestimmt.

Noch war nicht sicher, ob man sie gastfreundlich empfangen würde, und so hatte er den Großteil seiner Krieger zur Abschreckung in seinem Rücken, sollte es zu kriegerischen Handlungen der Gauten kommen.

Doch die Sorge war unnötig, denn kaum hatte Einar, gefolgt von Gunnar und Breka, den Steg betreten, trat ihm ein Mann entgegen. „Seid willkommen in Halmsby, Fremde. Ich Grüße euch und hoffe, ihr kommt in Frieden“, sprach der Mann.

„Von uns habt ihr nichts Böses zu erwarten“, antwortete Einar freundlich.

„Dann seid die Gäste von Jarl Borka! Ich bin Magnus, seine Hand und sein Rat“, stellte sich der Mann vor. Er war nicht sehr großgewachsen und hatte auch schon graues Haar und einen dicken Bauch, doch schien er ein wichtiger Mann in diesem Dorf zu sein.

„Ich bin Jarl Einar, und dies ist mein Steuermann Gunnar“, erwiderte der Jarl. „Und dieser hier ist Breka. Wir kommen aus dem großen Ladefjord im Trøndelag und sind Gefolgsleute von König Grjotgard Herlaugsson.“

Ob dieser Magnus die Worte des Jarls gehört hatte, konnte dieser nicht sagen, denn der Blick des Mannes lag starr und abwesend auf dem Antlitz des blonden Breka.

„Breka, sagst du, ist dein Name?“, fragte er nun den jungen Gauten, und dieser nickte. „Ja, Magnus! Erkennst du mich nicht? Ich bin der, den du glaubst, vor dir zu sehen!“

„Das … das … ist doch unmöglich“, stotterte der Alte völlig überrascht. „Wie … bei allen Göttern von Asgard, kann dies sein? Du bist seit vielen Wintern tot!“

„Ja, ich weiß, dass es in Halmsby jemanden gibt, der dies hofft. Doch wie du siehst, lebe ich.“

Da mischte sich Einar in das Zwiegespräch der beiden Gauten. „Würde Jarl Borka uns gestatten, unser Lager auf seinem Land zu errichten?“

Ein wenig verstört sah Magnus den Trøndnerjarl an und sprach, in Gedanken abwesend: „Ich werde den Jarl über eure Ankunft informieren. Und geht nicht weg! Geht bloß nicht weg!“ Eilig verschwand Magnus im Dorf.

„Der hat geglaubt, vor einem leibhaftigen Geist zu stehen“, lachte Gunnar, und Breka sah den Stevenhauptmann mit einem gequälten Grinsen an. „Trotzdem fühle ich mich nicht wohl in meiner Haut!“

„Ach was“, lachte nun der Jarl, „du bist einer von uns. Was soll dir schon geschehen?“

„Bist du wirr im Kopf, Magnus? Oder hast du vielleicht so früh am Tag deinen Kopf in ein Bierfass getaucht?“, rief Jarl Borka lachend aus. Doch als er sah, dass Magnus mitnichten scherzte, sondern ihn ernst und auch ein wenig beleidigt ansah, wurde er still. „Das ist nicht möglich! Mein Sohn ist tot! Beide Söhne sind tot!“ Er wandte sich seinem Weib zu.

„Das ist doch nicht möglich, Helga!“

„Nein, mein Gemahl, das ist nicht möglich“, antwortete sie, und es traten Schweißperlen auf ihre Stirn. „Er muss ein Betrüger sein. Wer weiß, was diese Fremden im Schilde führen? Sicher wollen sie uns überfallen!“

„Nein, das glaube ich nicht“, widersprach Magnus der Jarlsgattin. „Nun, Jarl, du wirst es noch mit eigenen Augen sehen und kannst dann entscheiden, doch wo sollen die Fremden ihr Lager aufschlagen?“

„Ich denke, die Vogelwiese ist ein guter Platz zum Lagern.“ Jarl Borka, dessen blondes Haar bereits silbern zu glänzen begann, sah seinen langjährigen Berater Magnus immer noch mit leicht verstörtem Blick an. „Wie viele Krieger hat dieser fremde Jarl bei sich?“

„Seine drei Schiffe sind gut besetzt, Jarl. Ich denke, es sind mehr als hundert.“

„Mehr als hundert Krieger sagst du? Dann versetze die unseren in Alarmbereitschaft!“

Magnus grüßte den Jarl und sein Weib, machte kehrt und wollte die Schildhalle verlassen, doch da erhob sich Jarl Borka. „Warte, Magnus! Ich denke, ich werde dich doch besser begleiten.“

„Aber Borka“, rief Helga. „du bist der Jarl von Halmsby.

Du musst die Fremden vor deinem Hochstuhl empfangen!“

Da hielt Borka inne. „Ja … ja, du hast recht!“

Er nahm wieder auf seinem Hochstuhl Platz. „Geh, Magnus!

Und sage dem Trøndnerjarl, ich werde ihn empfangen, sobald er dies wünscht.“ Magnus nickte und ging.

„Und er soll diesen Breka mitbringen!“, rief er dem Mann hinterher.

Als der Alte wieder auf den Anlegesteg trat, saßen der Jarl und die beiden anderen Männer auf der Reling des Wellenwolfes. Einar erhob sich. „Na, was soll geschehen?“

„Jarl Borka ist erfreut über euren Besuch und wünscht, dass ihr auf der Vogelwiese euer Lager errichtet. Ich werde euch einen Mann mitgeben, der euch den Weg weist“, sprach Magnus, und sein Blick lag schon wieder auf dem jungen Breka, und genau dieser rief: „Das ist nicht nötig, Magnus! Ich kenne den Weg!“

„Ich, äh … ja … ich weiß“, stammelte der alte Gaute, wandte sich dann dem Jarl zu. „Jarl Borka wünscht euch zu sehen, sobald ihr euer Lager errichtet habt. Und er bittet darum, dass Breka anwesend ist!“

„So soll es sein, Magnus! Ich danke dir“, sprach Einar und sah dann Breka fragend an.

„Wir müssen ein Stück den Fjord zurückrudern“, antwortete dieser und zeigte mit dem Finger die Richtung an. Da sprangen die Männer wieder an Bord, holten die Taue ein und ruderten davon.

Es war ein weißer Sandstrand, an den eine große Wiese anschloss, die zur rechten und linken Seite an dichten Wald grenzte. Dies war die Vogelwiese!

Die drei Großsegler der Trøndner lagen nebeneinander mit dem Kiel im Sand, und die ersten Zelte standen bereits.

„Dies ist ein schöner Platz“, bemerkte Thordis, und Breka antwortete: „Ja, das ist er. Hier habe ich als Kind oft gespielt. Doch dies ist lange her.“

„Aber nun bist du wieder hier“, sprach Einar. „Gedenkst du, in deiner Heimat zu bleiben?“

Breka schüttelte energisch sein blondes Haupt. „Ich habe dir die Gefolgschaft geschworen. Warum sollte ich dich verlassen wollen?“

„Aber dies ist deine Heimat, hier lebt deine Sippe“, wunderte sich Thordis. „Du könntest einmal selbst als Jarl hier herrschen.“

„Dies ist nicht mehr meine Heimat! Man hat mich und meinen Bruder in die Sklaverei verkauft, und glaube mir, meine Stiefmutter Helga wird alles daran setzen, dass ich wieder verschwinde. Nein, hier erwartet mich sicher nur ein Messer im Rücken. Meine Heimat ist nun Tautra!“

Da legte Jarl Einar dem Gauten die Hand auf die Schulter und nickte.

Als es Abend wurde, standen alle Zelte, und die Feuer brannten. Jarl Einar wählte neben Breka noch zehn Männer aus, sowie Thordis und die Völva Sigve, die ihn begleiten sollten, und machte sich dann auf den Weg nach Halmsby.

Sie mussten eine Weile laufen über einen Pfad durch den Wald. Und über Wege und Wiesen, doch dann erreichten sie die Kuppe eines Hügels und gingen durch einen schmalen, mit Runen beschnitzten Torbogen auf einen von hohen Büschen gesäumten Weg, der sie hinab in das Dorf führte.

„Dort drüben müssen wir hin. Dort ist die Schildhalle“, zeigte Breka über die Dächer auf das größte Gebäude.

In dem Dorf waren nur noch wenige Leute unterwegs, die ihnen begegneten, und bald darauf standen sie vor der großen Pforte, die in die Schildhalle führte. Sie war nicht riesig, etwa so groß wie die Methalle in Sørhamna, doch schon die Pforte bewies, dass hier hervorragende Künstler am Werk gewesen waren. Die Pfosten und der Balken darüber waren nicht weniger fein verziert wie die beiden Türflügel. Der eine Pfosten stellte den Allvater dar, der andere die Frigga, sein Weib, und auf den Türen wanden sich Schlangen und Drachen empor. Breka trat vor und öffnete die unbewachte Pforte. Einar und die Männer folgten ihm mit den Händen an den Griffen ihrer Schwerter in das Innere der Halle.

Drei Stufen führten hinab auf einen steinernen Fußboden.

Auch die Pfosten, die das Dach hielten, waren von einem, der sein Handwerk meisterlich beherrschte, fein verziert worden, und am Ende des großen Raumes, an der Kopfwand, war ein langes Podest, auf dem die Hochstühle des Jarlspaares standen.

Viele Augen waren auf sie gerichtet, als sie die Stufen hinabstiegen und langsam durch die Halle schritten. Da erhob sich der Gautenjarl und rief: „Seid mir willkommen!

Tretet näher!“

Langsam schritten die Trøndner vor das Podest. „Sei auch du gegrüßt, Jarl Borka! Ich bin Jarl Einar, Sohn des Thord, und Herr über die Insel Tautra.“

Der Blick des Gauten wanderte von einem zum anderen und verharrte eine Weile auf dem Antlitz der rothaarigen Völva.

„Verzeih meine Worte, aber du bist noch sehr jung, und doch führst du ein Heer nach Götaland.“

„So ist es, Jarl von Halmsby! Es war wohl der Götter Wille, dass ich der Herr über die Insel wurde“, antwortete Einar ohne Groll. „Ist es dir nicht recht, einem jungen Jarl gegenüber zu stehen?“