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Intersolar (Reise) ist ein fiktiver Roman, basierend auf den Erinnerungen,
Ideen und Vorstellungen des Autors. Ähnlichkeiten zu real lebenden
Personen, Orten oder Geschehnissen sind rein zufällig.
&
Copyright © Autor: Jan Philip Rohlin 2019
Alle Rechte Vorbehalten.
Jan Philip Rohlin, 2020
Idee, Bilder und Illustrationen: J. P. Rohlin
Erstveröffentlichung: 06.2020
© 2020
Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7504-8916-5
Alles ist eine Geschichte.
Macht es einen Unterschied, ob es eigene Geschichten sind oder die Geschichten von anderen?
Macht es einen Unterschied, ob die Geschichten real oder fiktiv sind?
Was ist das Faszinierende an Geschichten?
Kurz gesagt, Geschichten sind das Gegenteil vom Nichterleben.
Jetzt könnte man meinen, dass man etwas erleben kann, ohne dass es eine Geschichte ist. Doch letztlich wird jedes Erleben zu einer Geschichte.
Geschichten sind Erinnerungen an das Leben.
Nicht nur an das eigene, sondern an das Leben an sich.
Welchen Sinn hätte das Universum, wenn es kein Leben gäbe?
Und welche Erinnerungen hätte das Leben, wenn es keine Geschichten gäbe?
Geschichten aus der Zukunft sind Vorstellungen, wie etwas sein könnte, das noch nicht ist.
Und wie Jules Vernes Nautilus bewiesen hat, kann aus Vorstellungen Wirklichkeit werden.
Können wir heute wissen, ob im 23. Jahrhundert Menschen nur hier auf der Erde wohnen, oder nicht doch ziemlich weit weg von ihrer irdischen Heimat sind?
Geboren wird die Zukunft
aus den Taten der Vergangenheit.
J. P. Rohlin © 2017
Widmung
Für all diejenigen, die daran glauben, dass die Menschheit den
Weg zum Guten findet.
Ein Leben ohne Heimat ist ein Leben ohne Wurzeln.
Aber manchmal hindern einen Wurzeln am Vorankommen.
Weg zum Ziel
16.03.2245
103 Jahre nach Start
Kerran Brentan kam gut gelaunt in die Zentrale der Humanity und blieb neben dem Sitz des Captains stehen.
»Status?«
»Fusionsreaktor drei ist weiterhin deaktiviert. Zwei Shuttle im Transit. Shuttle 8 im Endanflug auf Andockstutzen Vier. Keine akuten Systemstörungen.«
»Also dann, auf einen ruhigen Tag.«
Länger als üblich, blieb Kerran neben seinem Sitz stehen.
Länger als üblich, glitt sein Blick über die einzelnen Stationen, bis er schließlich bei der Astrophysik stoppte.
Einige weit ausgreifende Schritte brachten ihn zur Station hinüber. Sie bot Platz für 3 Personen. Doch heute Morgen war sie unbesetzt und Kerran kannte den Grund dafür.
Langsam ließ er sich in den mittleren Sitz gleiten und aktivierte ein Display. Präzise zeigte es den Kurs der Humanity und der neben ihr fliegenden Intersolar.
Heller als alle anderen Sterne strahlte eine Sonne am unteren Rand des Displays. Sie lag genau auf der Kurslinie der Schiffe. Scheinbar zum Greifen nahe, und in Wahrheit noch 15 Lichtjahre entfernt. Oder 300 Jahre. Je nachdem, ob man Distanz oder Zeit zum Maßstab nahm.
Lange, sehr lange, starrte Kerran auf die Grafik. Stellte sich dabei immer wieder vor, wie die Strecke zwischen den Schiffen und der noch fernen Sonne kleiner wurde. Aber auch, wenn er sein gesamtes restliches Leben starren würde, würde es wenig mehr als eine Winzigkeit sein.
»Wird einfach nicht weniger.«
Kerran hob den Kopf, wobei seine Augen aber auf das Display gerichtet blieben. Nyles Danham verstand es als Signal, dass der Captain der Humanity bereit war, zuzuhören.
»Ich träume manchmal davon.«
»Von Pavonis?«
»Nein. Ja auch, manchmal jedenfalls. Aber ich meine die Erde. Ich träume manchmal davon, dass sie uns hinterherkommen. Mit neuen, mit besseren Schiffen. Nein, besser wollte ich nicht sagen. Ich meinte schnellere Schiffe. Schiffe, mit denen man Pavonis zu Lebzeiten erreichen könnte.«
»20 Lichtjahre in 40 Jahren? Den Antrieb möchte ich sehen.« Erst jetzt lösten sich Kerrans Augen vom Display und richteten sich auf seinen Stellvertreter. »In 40 Jahren werde ich 90 Jahre alt sein. Bin mir nicht sicher, ob ich dann noch viel mehr sehen will, als mein Bett.«
»Ist ja auch nur ein Traum.«
»Lichtgeschwindigkeit. Alles andere ist zu langsam.« Kerran deutete mit einem Nicken auf den Sitz neben sich.
»Ja.« Etwas schwerfällig ließ Nyles sich in den Sitz fallen.
»Kannst du dir vorstellen, wie es wäre, wenn wir bis auf ein paar Kommastellen an die Lichtgeschwindigkeit herankämen?«
»Wir wären in 15 Jahren am Ziel.«
»Falsch!« Kerran ballte die Faust und hieb auf die Konsole.
»Stunden! Vielleicht Tage! Länger würde es nicht dauern.« Die zur Faust geballte Hand streckte sich und deutete zum Hauptschirm. »Egal, wie viel Zeit dort draußen vergeht. Für uns wären es nur Tage. Es ist verrückt!«
»Was?«
»Dass die Zeitdilatation nicht linear ansteigt. Dass es exponentiell ist. Dass sie erst eine relevante Größe erreicht, wenn man fast so schnell wie Licht ist. Denn würde sie jetzt schon wirken..., ich meine, spürbar wirken.... «
»Würden wir immer noch mehr Zeit brauchen, als wir haben.«
»Ja, stimmt. Du hast recht.« Langsam ließ Kerran den immer noch ausgestreckten Arm wieder sinken.
»Es war zu früh. Man hätte einfach länger warten sollen. Wer weiß, vielleicht existiert in 50 Jahren oder in 100 oder 200 ja ein Antrieb, bei dem eine interstellare Reise keine Ewigkeit mehr dauert. Sie hätten einfach noch warten sollen. Dann wären wir jetzt nicht hier. Dann würden wir jetzt auf der Erde sitzen. Berge besteigen oder in Meeren schwimmen.«
»Oder gar nicht mehr am Leben sein.«
»Wieso das?«
»Weil die Sterbewahrscheinlichkeit, insbesondere Formen von nicht natürlichen Toden, auf einem Planeten wesentlich höher ist. Oder kannst du mir aus dem Gedächtnis sagen, wann wir den letzten Fall eines unfallbedingten Todes hatten?«
»Ist schon einige Jahre her.«
»Jahrzehnte würde ich sagen.«
»Siebenundzwanzig Jahre, 3 Monate und 4 Tage.«
Gleichzeitig drehten sich Kerrans und Nyles' Köpfe in Richtung der internen Überwachung.
»Dave?«
»Es war mir unmöglich, die Konversation nicht wahrzunehmen. Euer emotionales Engagement hat mich zur Intervention inspiriert. Hat dies unerwünschte Emotionen erzeugt?«
»Ich möchte echt wissen, wer den programmiert hat.« Nyles verschränkte die Hände hinterm Kopf und schloss die Augen.
»Indru Ranesh.«
Schon öffnete sich Nyles' Mund, doch Kerran kam ihm zuvor.
»Lass ihn, er ist schon mehr als hundert Jahre alt.« »Einhundertundneun.« Korrigierte Dave ihn.
»Sagte ich doch.« Kerran drehte den Kopf wieder zu Nyles. Nur für einen Moment überlegte der Captain, ob er das Thema Unfall wieder aufgreifen sollte. Dann entschied er, dass Dave sich genau im richtigen Moment eingemischt hatte. Denn der Tod war ein unangenehmes Thema, das man gerne ruhen lassen konnte.
*
Punkt 10 Uhr betrat Kerran, zusammen mit Nyles, den Konferenzraum, in dem sich der Leiter der Astrophysik, die Chefingenieurin und die Navigatorin der Humanity versammelt hatten.
»Steve, Benice, Ivonne, schön, euch zu sehen.«
»Kerran.«
»Verschwenden wir keine Zeit. Steve, was sagen die neuen Berechnungen?«
»Der Druck des interstellaren Mediums ist weiterhin vernchlässigbar. Eine Geschwindigkeitsanpassung ist nicht vor 2256 notwendig. Die Eigenbewegung von Delta Pavonis folgt den bisher berechneten Vorgaben. Abweichungen durch benachbarte Sterne liegen weit unter einem relevanten Bereich. Wir liegen nach wie vor im annähernd optimalen Kursvektor.« Kurz kehrte sich Stevens Blick nach innen. Sichtbares Zeichen dafür, dass er Informationen von seinem neuronalen Interface abrief.
»1,2 Milliarden Kilometer neben Delta Pavonis, bei einer Überhöhung von etwas über 3,9 Milliarden Kilometer. Wenn wir mit diesen Werten ins System einfliegen, können die Kurskorrekturen auch während der Bremsphase erfolgen.«
Kerran nickte nur, während das Wort ‘wir’ in ihm ein inneres Kopfschütteln erzeugte.
»Wir sollten jedoch nicht damit rechnen, dass es so bleibt.«
Mit einem scharf fokussierten Blick aktivierte Steven Volgg ein Hologramm der unmittelbaren stellaren Umgebung. Es zeigte die Intersolar, die Humanity, Delta Pavonis und eine weitere Sonne.
»Das ist Epsilon Indi. Ein oranger Zwergstern der K-Klasse mit einer Masse von 0,76 der irdischen Sonne.« Mit der Hand deutete er auf den leicht orange leuchtenden Stern, der sich seitlich vor der Flugbahn der Schiffe befand.
»In 120 Jahren werden wir nur noch 3,5 Lichtjahre von Epsilon Indi entfernt sein. Die Kursabweichungen durch die Gravitation des Sterns dürften zwar gering ausfallen. Trotzdem sind sie nicht zu vernachlässigen.«
Auf einen Wink Kerrans bewegten sich die Schiffe im Display so weit vor, dass sie direkt neben Epsilon Indi schwebten.
»Wie gesagt, wird die Abweichung eher gering sein. Aber bezogen auf die 9 Lichtjahre, die es von dort noch nach Pavonis sind, wird sie sich so stark auswirken, dass wir den Kurs korrigieren müssen. Die Frage ist nur, wann wir damit anfangen.«
»Mit wie viel ist zu rechnen?«
»Ein paar Milligrad nach Backbord. Und eine Winzigkeit nach unten. Das verringert den horizontalen Abstand zu Pavonis und reduziert auch die Überhöhung.«
Kerran stand auf und begann damit, um den Tisch herumzugehen. Betrachtete das Hologramm so aus allen Blickwinkeln.
»In 120 Jahren werden wir am äußersten Rand eines Sonnensystems vorbeifliegen.« Direkt hinter Ivonne Thiel, der Navigatorin des Schiffes, blieb er stehen.
»Aber uns wird es dann nicht mehr geben. Wir werden in diesem ‘wir' nicht mehr sein.«
Seine linke Hand legte sich auf Ivonnes Schulter.
»Wie oft hast du das Schiff, die Humanity, geflogen? Wie oft die Triebwerke gezündet? Ein Manöver eingeleitet?«
»Mit oder ohne Simulationen?«
»Du bist seit 6 Jahren unsere Navigatorin und hast das Schiff nicht um einen Millimeter bewegt.«
Die Navigatorin senkte den Kopf. Kerran nahm die Hand zurück und ging weiter, blieb nun neben Benice Dytra stehen.
»Wir sind Pfleger, Wächter, Haushälter. Wir sind diejenigen, die alles in Ordnung halten. Wir sind die, die eine Saat aussähen, die wir selbst nie ernten werden. Wir sind Wegbereiter. Ja. Wir sind Wegbereiter der Zukunft.«
Nacheinander richtete sich sein Blick auf Steven, Ivonne, Benice und Nyles.
»Wir erfüllen eine Aufgabe, um die wir nie gebeten haben. Und jetzt sollen wir eine Entscheidung treffen, die erst in 120 Jahren eine Wirkung haben wird. Eine hohe Verantwortung. Um die wir auch nicht gebeten haben. Also, was tun wir?«
»Auch wenn wir jetzt den Kurs anpassen, wird bei der Passage von Epsilon Indi eine weitere Anpassung notwendig sein. Die Frage ist nur, wie umfangreich die dann sein wird.« Benice Dytra blickte kurz zu Steven Volgg hinüber und vergewisserte sich an dessen Mimik, dass der Astrophysiker es genauso sah.
»Eine Kurskorrektur ist keine so einfache Angelegenheit. Die Rotation muss gestoppt werden. Alle gravitationsabhängigen Bereiche müssen gesichert werden. Der axiale Vektor der Schiffe muss geändert werden, was die Abdeckung durch den Bugschild zumindest teilweise aufheben wird. Es ist ein hoher Aufwand und eine recht unangenehme Beeinträchtigung für die Bürger.«
Zum Ende von Benices Rede hatte Kerran zu nicken begonnen. Und er nickte immer noch, als er selbst zu sprechen begann.
»Du bringst es auf den Punkt. Und vergessen wir mal nicht, dass das Manöver mit der Intersolar synchronisiert werden muss.« Der Captain der Humanity begann zu lächeln.
»Wir hätten also richtig Action.«
Gleich darauf wurde Kerran wieder ernst. Und sein Blick richtete sich auf Ivonne.
»Macht es Sinn? Lohnt sich der Aufwand? Und damit meine ich, ob er sich auch für die lohnt, die nach uns kommen. Werden dadurch die Kurskorrekturen im Bereich von Epsilon Indi leichter werden? Oder wäre es letztlich egal?«
»Nein. Ich meine, sie wären nicht leichter. Also genau gesagt, würden wir nur die Rahmenbedingungen für spätere Kurskorrekturen verbessern. Sie würden weniger Treibstoff benötigen. Und auch kürzer ausfallen. Einfach gesagt, je früher wir genau im Ziel liegen, desto weniger Aufwand haben wir im Ziel zu bleiben. Aber strenggenommen hätte es auch keinen tragischen Einfluß, wenn wir die nächsten 120 Jahre gar nichts machen würden.«
Eine Sekunde später konnte man Ivonne ansehen, dass sie ihren letzten Satz bereute.
»Richtig, wir könnten das auch unseren ‘Nachnachfolgern'...« Steven gab dem Wort eine besondere Betonung, »...überlassen. Denn es geht hier nicht um tragische Notwendigkeiten.«
Sinnierend starrte Steven auf das Hologramm. Fast unbewusst, so wie man gedankenverloren nach einer Tasse Kaffee griff, gab er dabei seinem neuronalen Interface eine Anweisung.
Sofort vergrößerte sich das Abbild der Humanity, so weit, dass das Schiff das gesamte Hologramm ausfüllte.
»Es geht nur um Optimierung. Nur darum, es unseren Nachfolgern etwas einfacher zu machen. Für uns bringt es nichts, außer dem Gefühl, den Kindern unserer Kinder geholfen zu haben.«
»Altruismus?« Nyles schoß das Wort ansatzlos in den Raum.
»Könnte man auf den ersten Blick so sehen. Aber nur auf den ersten. Denn absolut selbstlos wäre es ja nicht. Zumindest, wenn man es aus genetischer Sicht betrachtet.«
»Wie meinst du das?« Interessiert richtete Nyles seine volle Aufmerksamkeit auf Benice Dytra.
»Ganz einfach, denn immer wenn man etwas tut, was den eigenen Nachkommen nützt, handelt man nicht absolut selbstlos, sondern tut etwas für den Erhalt der eigenen Gene. Denn diese leben nicht nur in den direkten Nachkommen weiter, sondern auch in deren Nachkommen. Die Bewahrung und mehr noch die Verbesserung der Lebensqualität der Nachkommen ist, so gesehen, auch die Bewahrung der Existenz der eigenen Gene. Nicht nur über den Tod hinaus, sondern über Generationen hinweg. Über tausende von Generationen. Man könnte sagen, dass die Gene relativ unsterblich sind. Gut, vielleicht sollte ich besser von Teilen der eigenen Gene sprechen. Solange die also weitervererbt werden können... Ich meine..., also, so gesehen..., also all das, was wir heute zur Verbesserung der Lebensqualität unserer Nachkommen tun, ist doch eine Investition in den Fortbestand unserer eigenen Gene.«
Stille breitete sich im Raum aus. Während sich alle Augen auf die Chefingenieurin der Humanity richteten.
»Ähhmmm.«
Sofort zuckten alle Augen zu Nyles, der mit halb offenem Mund dastand und schräg zur Decke emporblickte.
»Nyles?«
»Also...« Nyles Augen wanderten nach links.
»Na ja, dann stellt sich die Frage, ob es echten Altruismus überhaupt gibt.« Kerrans Stellvertreter senkte den Kopf und blickte durchs Hologramm hindurch auf den Tisch hinab.
»Überlegt doch mal. Wenn ich jetzt aufstehe und Benice eine Tee hole, handele ich dann altruistisch? Oder ist dabei nicht eher eine soziale Intention im Spiel.«
»Ein augenscheinlich selbstloses Geschenk oder Dienstleistung, zur Verbesserung der sozialen Akzeptanz?« Benice blickte Nyles an, in der Art eines Lehrers, der die Antwort seines Schülers in Frage stellte.
»Kaffee oder Tee?« Nyles unterlegte es mit einem Grinsen.
»Könnten wir zum eigentlichen Thema zurückkommen? Oder besteht noch weiterer philosophischer Klärungsbedarf zur Selbstlosigkeit?«
»Wenn ich das Thema jetzt fallen lasse, obwohl ich mich gerne weiter damit beschäftigen würde, dann ist das tatsächlich altruistisch. Damit wäre es für mich substantiell geklärt. Also ja, sprechen wir über Kursänderungen.«
»Danke, Nyles.«
»Also, ähh, ich widerspreche ungern, aber das Thema fallenzulassen hat doch jetzt auch wieder eine soziale Intention...«
»Benice!«
»Durch! Bin auch durch damit.« Benice versuchte noch ein aufkeimendes Glucksen zu unterdrücken, was nur halb gelang, und setzte sich betont gerade.
Kerran schloss kurz die Augen. Dann kehrte er zu seinem Sitz zurück, nahm Platz und wandte sich zu Steven Volgg.
»Wie groß sind die Vorteile der Kurskorrektur, wenn man sie als Unterstützung der nachfolgenden Generationen betrachtet?«
»Rein technisch oder navigatorisch betrachtet, sind sie eigentlich vernchlässigbar. Wenn wir es allerdings aus sozialer Sicht betrachten, ist die Bedeutung höher zu bewerten.«
»Weil wir damit ein Signal setzen? Weil wir damit zeigen, wie ernst es uns ist? Weil wir damit die Motivation stärken, sie aufrecht erhalten und in gewisser Weise weitervererben?«
»Richtig. Zumindest sehe ich es so.« Prüfend glitt Nyles' Blick zu Benice hinüber.
»Warum haben wir eigentlich keine Soziologin hier?« Fragend blickte Ivonne erst zu Nyles, dann zu Kerran.
»Weil wir vor einer Stunde noch dachten, dass es um rein technische Aspekte geht.«
»Vielleicht sollten wir das Thema vertagen.«
»Oder gleich die gesamte Bevölkerung abstimmen lassen.« Kerran war anzusehen, dass ihm die Diskussion allmählich in die falsche Richtung ging.
»Bürgermeister?«
»Hat mit den technischen Aspekten des Flugs nichts zu tun.«
»Ich mein ja nur.« Ivonne legte die Hände aneinander, neigte den Kopf und überlegte, wie viel sie wohl noch sagen musste, bis Kerran sie das Deck schrubben ließ.
»Ich schlage vor, dass wir eine Nacht lang drüber schlafen. Und ich mache bis dahin ein paar Simulationen, was wann und wie welche Auswirkungen hat.«
Geschlagene 10 Sekunden blieb der Captain nur stumm sitzen, wobei weniger Steves Worte durch seinen Kopf gingen, sondern ausschließlich die Frage, ob er selbst über Nacht zu irgendeinem anderen Ergebnis kommen würde.
Andererseits, was war schon eine Nacht? Ob die Kurskorrektur morgen beginnen würde oder in einem Jahr oder in 10 Jahren machte fast keinen Unterschied.
Um Zeit ging es hier nicht. Zeit hatten sie genug. Weiß Gott, mehr als genug. Die Zeit war es nicht, die hier drängte. Es waren die Emotionen. Der Drang etwas zu tun. Etwas tun zu können, das Bedeutung hatte.
Etwas, das dafür sorgte, dass ein Name noch irgendwo anders auftauchte, als auf einer Memoirentafel.
»Morgen, 14:00 Uhr, treffen wir uns wieder.«
Rein objektiv
»Dave!«
»Was kann ich für dich tun, Kerran?«
»Ich brauche eine objektive Meinung.«
»Soll meine objektive Meinung unter Berücksichtigung emotionaler Kalkulationen erstellt werden?«
»Wäre sie dann noch objektiv?«
»Auch eine rein emotionale Meinung kann objektiv sein, wenn die involvierten Emotionen mit der rein objektiven Betrachtungsweise korrelieren.«
Kerran ließ den Rasierer sinken und begann den Glanz der Augen zu studieren, die ihm im Spiegel entgegenblickten.
»DAVE!«
»Kerran?«
»Sei froh, dass du jetzt nicht hier bist.«
»Ist das die objektive Meinung, die ich haben soll?«
Kerran stützte die Hände auf's Waschbecken und suchte im Spiegel nach den ersten Falten. Dann stieß er sich ab, verließ das Bad, nahm sich ein Glas und füllte es fingerbreit mit Irish Whisky.
»Mit welcher Wahrscheinlichkeit hast du berechnet, dass ich dich zum Thema der Konferenz um deine Meinung frage?«
»97,3 Prozent.«
»Soll ich jetzt fragen, wie umfangreich mein Persönlichkeitsprofil ist?«
»Gemäß deinem Persönlichkeitsprofil wäre es besser, wenn du nicht fragst.«
Kerran hob das Glas und setzte es an die Lippen. Mitten im Ansetzen stoppte er die Bewegung. Tief ausatmend stellte er das Glas ab, nahm die Flasche und füllte die doppelte Menge ein.
»Dave.« Genüsslich ließ er einen Schluck Whisky seine Kehle hinuntergleiten, ohne zu wissen, dass der nicht echt war.
»Kerran?«
»Deine Meinung.«
»84,6 Prozent der Bevölkerung wird eine Kurskorrektur uneingeschränkt befürworten. 12,8 Prozent werden eine neutrale Position beziehen. 2,6 Prozent werden sie als unnötig klassifzieren. Rein navigatorisch betrachtet, ist eine Kursänderung in den nächsten 130 Jahren ohne Relevanz. Insbesondere da die Gravitationseinflüsse von Epsilon Indi und die Dichte des interstellaren Mediums im Bereich des Epsilon Indi Systems nicht präzise berechnet werden können. Der Vorteil einer jetzigen Kurskorrektur kann, unter diesen Gesichtspunkten, als geringfügig eingestuft werden. Bei einer angemessenen Berücksichtigung von zu erwartenden emotionalen Komponenten erhält der Vorteilsaspekt jedoch eine deutlich höhere Bewertung. Jede Aktion, deren Intention die Verbesserung der Erfolgsaussichten des Erreichens von Pavonis beinhaltet, erzeugt bei der Bevölkerung das Gefühl des aktiven Handlungsbeitrags. Es fördert den Gemeinschaftssinn und ebenso die Identifizierung mit dem Ziel. Dies führt zu...«
»Dave!«
»Kerran?«
»Ich danke dir für deine Meinung.«
»Es war die, mit der höchsten objektiven Wahrscheinlichkeit.«
»Du hattest mehrere?«
»Siebenundzwanzig.«
Der Captain blickte auf das Glas in seiner Hand und dann in die Richtung, in der er die Zentrale wusste, wo mit ziemlicher Sicherheit der Androide regungslos an einer Konsole saß.
»Möchtest du sie alle hören?«
»NEIN!«
*
17.03.2245 Konferenzraum 1
»Wer, von euch, hat letzte Nacht durchgeschlafen?«
»Meinst du die ganze Nacht?«
»Ja, Benice, ich meinte den Teil der Nacht, den man normalerweise mit Schlafen verbringt.«
»Mehr oder weniger.«
Während Steven Volgg zustimmend nickte, wiegte Ivonne nur ein wenig den Kopf.
»Und wer hat sich Daves Meinung geholt?«
»Also Meinung würde ich das nicht nennen. Eher einen Informationsgewinn. Und der war nicht einmal eindeutig. Es war mehr interessant als hilfreich.« Entschuldigend hob Ivonne die Hände und klappte sie dann zusammen.
»Siebenundzwanzig.«
Stumm denkende Gesichter boten sich dem Captain.
»Siebenundzwanzig Meinungen hat Dave mir angeboten. Nach der ersten habe ich auf die restlichen verzichtet. Kurz gesagt, die Nacht hat mich nicht weitergebracht. Ich weiß heute, genauso wie gestern, dass eine Kursanpassung nicht erforderlich ist. Technisch und navigatorisch betrachtet ist es überflüssig.«
Die Gesichter vor ihm blieben stumm. Und genau betrachtet sah es so aus, als hätten sie auch aufgehört, zu denken.
»Der einzige Grund, der bleibt, ist der, dass eine solche Aktion geeignet ist, um das emotionale Bewusstsein zu stimulieren. Es würde den Glauben, in den Sinn unserer Existenz, stärken und damit natürlich auch die innere Stärke unserer Gemeinschaft fördern.«
Schlagartig begannen die Gesichter zu sprechen. Zeigten mit aufblühender Mimik das emotionale Feuer, das die Vorstellung, aktiv etwas tun zu können, entfachte. Die Chance, beteiligt zu werden und einen Beitrag leisten zu können, statt nur Passagier zu sein, erzeugte ein Gefühl von Bedeutsamkeit.
»Ja, ich denke, wir sollten es tun.« Der Captain der Humanity richtete sich ein Stück weiter auf, bevor er weitersprach.
»Zeigen wir allen, wozu unsere Schiffe in der Lage sind. Zeigen wir allen, dass wir nicht nur auf einem dahintreibenden Stück Holz sitzen.«
»Einem was?« Intuitiv sprang die Frage von Ivonnes Lippen. »Oh, ja, verstehe. Holz, Wasser, treiben. Verstehe. Aber sollten wir nicht noch bei den Soziologen nachfragen?«
Auffallend langsam entwich Luft aus Kerrans Lungen. Kurz und hastig holte er sich neue. »Warum?« Das Wort kam derart rau und trocken raus, als ob die neue Luft aus einer Wüste gekommen wäre. Was sich aber im nächsten Satz änderte.
»Doch! Sollten wir sogar. Fragen wir sie, wie wir es am besten aufbereiten können. Medial, meine ich.«
»Na ja, das hatte ich zwar nicht gemeint. Aber gut, medial in Szene setzen, das muss natürlich sein.« Ivonne öffnete noch einmal den Mund, schloss ihn dann aber wortlos wieder.
Stattdessen öffnete sich der von Benice.
»Wieso hab ich das Gefühl, geschleudert worden zu sein?«
»Du benutzt das Ding? Bringt das was?«
»Was? Ja, natürlich bringt das was. Doppelte Schwerkraft. Das solltest du wirklich mal ausprobieren. Da trainierst du, allein schon dadurch, dass du auf und ab gehst.«
»Ja, äh..., mach ich..., vielleicht..., und was dein geschleudert worden sein betrifft, ich freue mich, dass mein Enthusiasmus dich erreicht hat.«
Mit einem betont entwaffnenden Lächeln lehnte sich der Captain der Humanity zurück. Im nächsten Moment beugte er sich wieder vor.
»Aber das reicht leider nicht. Jetzt müssen wir noch die von der Intersolar überzeugen.« Betont entspannt sitzend blickten seine Augen von einem zum anderen.
»Jemand Lust, mitzufliegen?«
*
01.04.2245 Action
»Was ist, gehen wir es noch einmal durch?«
Ein Seufzen, das vorgab, ein normales Ausatmen zu sein, drang aus Stevens Mund.
»Ja, sicher.«
Manuell öffnete er eine Datentabelle.
»Kursvektoren wurden 107mal berechnet und gegengecheckt. Die Gravitation des Epsilon Indi Systems wurde mit maximal möglicher Genauigkeit berücksichtigt. Das interstellare Medium wurde 32mal neu vermessen, ohne dass eine signifikante Änderung der Dichte detektiert werden konnte. Die Eigenbewegung von Delta Pavonis wurde ebenfalls 32mal geprüft. Alle Berechnungen zur Kursanpassung wurden von der Intersolar, von Ave und von Dave mehrfach geprüft. Die Schiffsausrichtung, Triebwerksleistung, Aktivierungsdauer, Vektorsteuerung, alles, wirklich alles, ist auf die Nanosekunde genau getimt.«
»Sind Fluktuationen der Triebwerksleistung berücksichtigt?«
»Wenn ich unserem bescheidenen menschlichen Ermessen noch die Kalkulationen von Dave hinzufüge, darf ich sagen, dass wir bestens vorbereitet sind.«
»Die Intersolar?«
Ein Bild entstand in Stevens Gedanken. Es war das, von rotem Haar umrundete, Gesicht einer Frau. Eine Informatikerin, die auf der Intersolar lebte. Eigentlich war sie nur eine Freundin. Und Steven hätte nicht zu sagen gewusst, warum er nun ihr Bild vor sich sah. Verbunden mit Gedanken daran, dass die Intersolar über eine ebenso gute astrophysikalische Ausrüstung verfügte, wie die Humanity.
»Ist ebenso bereit, wie wir. Und ich bin mir ganz sicher, dass ihr Captain jetzt bereits fest angeschnallt in seinem Sitz hockt.« Wortlos drehte sich Kerran um.
»Zeit bis Countdown?«
»Eine Minute Dreizehn.« Wissend, dass der Captain sie kannte, warf Steven ihm die Angabe hinterher.
Davon ungerührt schwang dieser sich in seinen Sitz und aktivierte die Fixierung. Es war das erste Mal, dass es nicht nur zur Übung war. Und emotional wirkte es diesmal auch anders.
Eine gefühlt 5 Minuten dauernde Minute verging, dann erklang, erwartet und doch unvermittelt, die Stimme des Schiffscomputers.
»Starte Countdown. Manöverbeginn in T Minus 5 Minuten.«
5 Minuten. Ein bewusst kurz gehaltener Countdown. Nur 5 Minuten, die durch eine subjektive innere Zeitdilatation eine unerträglich wirkende Länge erhielten.
»Status Begleitschiffe?«
»Sicherheitsposition von Factory und Storage ist stabil.« Ein zusätzlicher Blick auf's Display bestätigte ihm, dass die Begleitschiffe der Humanity, die normalerweise dicht am Heck flogen, sich nun 2 Kilometer darüber befanden. Ebenso die Assembler und Endurance bei der Intersolar.
»Sicherheitsposition bestätigen!«
»Bestätigt. Alle Personen befinden sich in gesicherter Position.«
»Rotation stoppen.«
Augenblicklich, 18 Sekunden vor der autonomen Prozedur, begann die Rotation aller Module langsamer zu werden. Das erste Mal seit über fünfzig Jahren.
»Status Triebwerke?«
»Triebwerke weiterhin auf Stand-by. Volles Leistungsspektrum, inklusive Notleistung.« Die Chefingenieurin ließ die Anzeigen des Displays nicht aus den Augen, hob nicht einmal den Kopf.
»Status Intersolar?«
»Intersolar im synchronen Modus, seit Beginn Countdown. Volle Bereitschaft aller Systeme. Rotationsstopp positiv.« Auch diesmal war es einzig Benices Mund, der sich bewegte.
Doch drei Sekunden später bewegten sich Schulter und Kopf, als mit einem sanften und doch seltsam unnatürlichem Ruck die Rotation stoppte und Schwerelosigkeit die Mägen anhob.
»Verschlusszustand positiv. Manöverbereitschaft bestätigt.«
Alle, ausnahmslose alle, Augen richteten sich auf die Anzeige des Countdowns und warteten darauf, dass das Zeitmaß von Minuten auf Sekunden sprang.
»T Minus 58.«
Auf dem Hauptschirm erschien das Abbild der Triebwerke.
Ein schwaches violettes Schimmern umhüllte jedes einzelne der 5 Triebwerke.
»T Minus 40.«
Dann fügte sich, vom zentralen Triebwerk aus beginnend, ein bläuliches Leuchten hinzu.
»T Minus 30.«
Bei praktisch jedem, der auf die Triebwerke starrte, entstanden Erwartungen.
»T Minus 20.«
Die Erwartungen formten imaginäre Bilder, vom glühend, flackernden Feuerstrahl, bis hin zur Explosion der gesamten Sektion, geschaffen von Vorstellungen und Befürchtungen.
»T Minus 10.«
Pupillen weiteten sich, in der Erwartung eines spektakulären Anblicks.
»T Minus 5.«
Ohren spitzten sich, auch bei denen, die ganz genau wussten, dass es keine Geräusche geben würde.
»Null!«
Nur wenige Menschen fühlten die Vibrationen, die durchs Schiff liefen, erzeugt von Manövriertriebwerken, die nun damit begannen, die Humanity um wenige Grad zu drehen.
Sekunde um Sekunde verging, ohne dass sich das Bild im Hauptschirm veränderte. Kein fauchender Strahl entsprang den Triebwerken. Kein Ruck ging durchs Schiff. Nichts passierte, außer einem ganz leichten Druck, der von schräg oben zu kommen schien. Doch nicht lange, dann kam dieser Druck plötzhch aus der gegenüberhegenden Richtung.
Unvermittelt hörte der Druck auf.
»Triebwerksausrichtung positiv. Intersolar positiv. Ausrichtung Begleitschiffe synchron.«
Die Ruhe, mit der der Schiffscomputer es verkündete, war fast schon störend. So, als ob sie diesem einzigartigen Moment die Spannung rauben wollte.
»Aktivmodus Haupttriebwerke. T Minus 10.«
Auf dem Hauptschirm erschien eine 10, die sofort zur 9 wurde. Gebannt blickte Kerran auf die kleiner werdende Zahl. Und als diese zu einer Eins wurde...
»Zündung!«
Es war ein Befehl, der lediglich eine rein symbolische Wirkung hatte. Denn niemand in der Kommandozentrale würde durch irgendeine Schaltung die Zündsequenz auslösen.
»Null. Zündung positiv.«
Mit einer Präzision, zu der kein Mensch willentlich in der Lage war, aktivierte der Schiffscomputer die Haupttriebwerke der Humanity. Und gleichzeitig auch die Triebwerke der Intersolar, der Storage, Factory, Assembler und Endurance.
Ein beständig ansteigender Druck wurde spürbar. Als ob die Schwerkraft zurückkommen würde. Doch es blieb nicht bei dem gewohnten Wert von 0,5 Gravo. Der Druck wurde immer stärker und erreichte bald den doppelten Wert.
Aus den Augenwinkeln sah Kerran, wie Benice den Kopf zu ihm wandte und in ihren Augen stand ein einziges Wort geschrieben. ’Schleuderkammer‘. Ein Grinsen folgte dem Wort, dann sah die Chefingenieurin wieder auf ihr Display.
Nur wenige hatten je erlebt, wie sich eine erhöhte Schwerkraft anfühlte. Nur wenige würden es je wieder erleben. Für den einen war es interessant. Für den anderen eher beängstigend. Und so mancher wollte, dass es einfach nur vorbei ist.
»Nominalschub konstant. Vektoren stabil. Korrekturen im berechneten Minimalbereich.«
Ein wenig entspannte sich die Mimik des Captains, angesichts der maximalen Präzision, die er gerade erlebte. Und in diese Entspannung hinein ertönte ein Warnsignal.
Wie angestochen richtete sich Kerran auf. Hektisch blickte er zum Hauptschirm und zu den Stationen hinüber, auf der Suche nach der Ursache des Alarms.
»Medizinischer Notfall in Wohnmodul 2.«
Abrupt richteten sich seine Augen auf ein Display rechts von ihm, dessen Umrandung nun in einem düsteren Rot leuchtete. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass der Alarm allein auf ihn ausgerichtet war. Nur er hatte ihn gehört. Und nur für ihn sichtbar, erschienen Informationen auf dem Display. Auch die Stimme des Computers war so fokussiert, dass nur er sie hören konnte.
»Kejya Ahsan, akutes Hyperventilationssyndrom. Notfallprogramm der medizinischen Serviceeinheit aktiv. Kohlendioxidpartialdruck wurde erhöht.«
‘Zustand?' Kerrans intensiv gedachtes und mit einem emotionalen Wunsch versehenes Wort wurde von seinem neuronalen Interface an den Computer weitergeleitet.
»Tachykardie, Hypertonie, stark erhöhte Stresswerte. Nicht kritischer Zustand. Vitalparameter stabil, bei sinkender Atemfrequenz.«
’Einzelfall?'
»Erhöhte Stresswerte bei 21,7 Prozent. Erhöhter Puls bei 42,1 Prozent. Erhöhte Atemfrequenz bei 17,4 Prozent. Eine Person befindet sich im Zustand der Somnolenz.«
'Ursache?'
»Autosuggestiv erzeugte Trance mit sedativer Wirkung.«
»Halbschlaf?« Nicht nur, dass Kerran nicht merkte, dass er es bewusst aussprach, sprach er es auch deutlich lauter als gewöhnlich.
»Nein! Nur konzentriert!« Auch Benices Stimme klang recht laut. Während Kerran sich fragte, warum sich die Chefingenieurin angesprochen fühlte.
»Finale Triebwerksphase, 32 Sekunden.«
Die Worte rissen den Captain aus seinen Überlegungen und brachten seine Aufmerksamkeit zurück auf das Manöver.
Doch seine Emotionen blieben bei der Frage, wie viele Dinge der Schiffscomputer gleichzeitig tun konnte, ohne für auch nur eins dieser Dinge ein einziges Quant an Aufmerksamkeit einzubüßen.
Unmöglich. Ein Mensch allein konnte diese Vielfalt an Aufgaben nicht erledigen. Konnte dieses Manöver nicht steuern. Und eine Gruppe von Menschen hätte die notwendige Harmonie des zeitgerechten Zusammenspiels nicht erreichen können.
Das, was der Schiffscomputer derzeit tat, war von Menschen nicht zu schaffen. Jedenfalls nicht in dieser Präzision. Das Einzige was blieb, war das Wissen, dass es den Computer ohne die menschliche Schaffenskraft nicht geben würde.
»T Minus 10.«
Erwartungsvoll richteten sich abermals alle Augen auf den Hauptschirm. Genau dorthin, wo das intensive Leuchten der Triebwerke zu sehen war. Und absolut exakt, als die Zahl Null erschien, erlosch dieses blauweiße Leuchten.
Abrupt, fast schmerzhaft, hörte das Gefühl der übermäßigen Schwere auf. Kerrans Magen revoltierte und schickte ihm die Reste des morgendlichen Tees auf die Zunge. Zusammen mit einer üblen Portion Magensäure.
Krampfhaft schluckte er das Gemisch wieder runter. Glättete noch mühsam sein verkrampft wirkendes Gesicht und richtete sich dann etwas auf. Was sich ebenfalls extrem unnatürlich anfühlte. Kurz schloss er die Augen. Gleichzeitig entstand ein Wort in seinen Gedanken. 'Geschafft.'
»Lagekorrektur. Aktiviere Manövertriebwerke.«
Ein sanfter Ruck wurde spürbar, gefolgt von einem Druck, der nun von schräg unten kam. Und Kerran wünschte sich, dass er diesen verdammten Tee nie getrunken hätte.
*
»Rotation erreicht Sollwert. Gravitation 0,5 Gravo. Haupttriebwerke deaktiviert und gesichert. Manövriertriebwerke offline. Bereit für Deaktivierung des Verschlusszustands.«
»Verschlusszustand deaktivieren. Freigabe der vollen Bewegungsfreiheit. Genehmigung zur Wiederaufnahme des normalen Bordbetriebs.«
Jetzt erst deaktivierte Kerran die Sicherungen seines Sitzes und stand auf. Tief einatmend blickte er auf die Mitglieder der Crew der Kommandozentrale. Seiner Crew.
»Denkt jetzt bloß nicht, wir haben es geschafft! Da draußen sind noch die Factory und Storage. Bringen wir sie wieder auf ihre Plätze.«
Hände begannen sich zu bewegen, starteten Programmroutinen, die die Triebwerke der Begleitschiffe steuerten. Mit einer provozierenden Langsamkeit begann sich die Factory auf die Humanity zuzubewegen. Eine halbe Stunde würde es dauern, bis das Schiff wieder auf seiner Position am Heck war. Erst dann würde die Storage folgen.
Zwei Stunden später würde der Shuttleverkehr zur Intersolar wieder aufgenommen werden.
In 3 Stunden, von jetzt ab, würde das Manöver abgeschlossen sein. Drei Stunden noch, dann würde für den Rest seiner Zeit als Captain des Schiffes nichts anderes mehr zu tun sein, als die Überwachung der Systeme und die Organisation des Shuttleverkehrs.
Mit einem Gefühl des Bedauerns, das begleitet wurde von der Frage, warum es nicht öfter solche Manöver geben konnte, ging Kerran zur wissenschaftlichen Station hinüber.
»Und, Steve, wie sieht es aus?«
»Gut, sehr gut. Unsere berechnete Geschwindigkeit beträgt nun fünfzehntausendundzwei Kilometer pro Sekunde. Flugbahn ist stabil. Liegt nur 0,013 Grad neben dem Sollwert.«
Jetzt erst hob der Astrophysiker den Kopf.
»Bei der Passage von Epsilon Indi werden wir nun etwa 230 Millionen Kilometer weniger Abstand haben. Und für Delta Pavonis liegen wir nur noch 320 Millionen Kilometer seitlich, bei einer Überhöhung von 780 Millionen Kilometern. Also ich würde sagen, es hat sich gelohnt.«
»Also war es jetzt doch besser, als bis Epsilon zu warten?«
»Nein.« Stevens Stimme wurde zu einem leisen, verschwörerischen Flüstern. »Die Gravitation der Epsilonsonne wäre schon hilfreich gewesen. Aber das muss ja keiner wissen.«
»Bringen uns die zwei Kilometer mehr Tempo überhaupt was?« Ebenso laut wie trocken kam ein Lachen aus dem Mund des Astrophysikers, das plötzlich wie abgeschnitten endete.
»Hattest du heute Morgen deinen Tee? War da sonst noch was drin?« Immer noch sichtlich amüsiert schüttelte er den Kopf.
»Die bringen so gut wie gar nichts. Und werden auch nicht Bestand haben. Das interstellare Medium, da draußen...« Lässig deutete er zum Bugschild, »...enthält zwar so gut wie nichts, aber das bisschen mehr als Nichts genügt völlig, um uns diese zwei Kilometer und noch etwas mehr, Stück für Stück, wieder abzunehmen. Spätestens bei Epsilon Indi dürfen unsere Triebwerke wohl wieder zeigen, was sie können.«
»Das müssen dann aber andere tun. Ich bin dann im Ruhestand. Oder besser gesagt, in einem mehr als ruhigen Stand.« Kerran drehte sich um und ließ seinen Blick durch die Kommandozentrale schweifen. Wer würde in 120 Jahren wohl hier sein und Kommandos geben? Welche Menschen würden durch die Gänge und Räume des Schiffes wandern? Und welche Fragen würden sie in sich tragen?
Langsam ging der Captain der Humanity zu seinem Sitz zurück und setzte sich zögerlich hinein. Das Display, links von ihm, zeigte die Factory, die gerade die Triebwerke zündete, um ihre Geschwindigkeit der der Humanity anzupassen.
156 Minuten noch. Dann würde alles wieder zur Normalität zurückkehren. Eine Normalität, die Kerran Brentan, nicht nur in diesem Augenblick, als seltsam unnormal empfand.
Begegnungen
18.01.2262
120 Jahre nach Start
»Ist das dein erster Flug?«
Überrascht hob Lyra den Kopf und blickte den Mann, der sich gerade neben sie setzte, an.
»Wie kommst du darauf?«
»Nur eine Vermutung.« Der Mann lächelte entschuldigend und rückte sich etwas zurecht.
»Sieht man mir es an?« »Nein, eigentlich nicht.«
Nur kurz zuckten Lyras Augen noch einmal zum Gesicht des Mannes. Er hatte ein unauffälliges Äußeres und mochte vielleicht 5 Jahre älter sein als sie. Und sie war sich sicher, ihn nie zuvor gesehen zu haben. Für ihn war es dann wohl eher ein Rückflug.
»Und wieso kommst du dann darauf, dass es mein erster Flug ist?«
»Warst du schon mal auf der Intersolar?« »Nein.«
»Dann ist es zwangsläufig dein erster Flug.«
Der Mann drehte den Kopf, sah sie nun direkt an und lächelte. Diesmal wirkte es selbstbewusst und entwaffnend.
»Yan Sterren, die Intersolar ist meine Heimat. Und du bist?«
»Lyra, Lyra Maller, ich bin Geologin.« Lyra wusste selbst nicht, warum sie gerade jetzt ihren Beruf erwähnte. Vielleicht lag es an seinen lächelnden Augen.
»Geo... lo... gin?« Yan spitzte die Lippen.
»Das ist nicht so theoretisch, wie manche glauben!«
»Entschuldige mal bitte, aber Geologie? Eine Geologin, an Bord von Raumschiffen, deren Zahl an Steinsorten man leicht zwischen zwei Atemzügen aufzählen kann? Ist das nicht zumindest ein wenig ungewöhnlich?«
»Etwa ungewöhnlicher, als die Tatsache, dass wir hier sind?« So langsam kam Lyra in Fahrt. Die eher skeptischen Gedanken an den bevorstehenden Flug verblassten und machten Platz für eine ausgiebige Diskussionsbereitschaft.
»Also gut, was kann mir die Geologin zur Erosion erzählen?«
»Erosion?« Für einen winzigen Augenblick schien das Wort in Lyras Kopf keine Bedeutung zu haben. Einfach deswegen, weil es nicht der Text war, den sie von Yan erwartet hatte.
»Erosion. Kaum nennenswert. Um den Faktor 10 geringer, als am ruhigsten Ort der Erde.« Lyra legte den Kopf etwas zur Seite. Es sah skeptisch aus. »Aber das wusstest du doch selbst!«
»Mmmh, ja, das stimmt wohl.« Yan begann damit, bedächtig zu nicken. Nur, um sich gleich darauf betont gerade zu setzen. »Ich denke, ich fang noch mal an. Yan Sterren, von der Intersolar, Pädagoge mit Fachrichtung irdische Geschichte.«
»Irdische Geschichte? Hier an Bord zweier Raumschiffe, die so weit weg von dieser Erde sind, dass sie unerreichbar ist? Ist das nicht etwas ungewöhnlich?«
»Das kommt auf die Perspektive an. Aus welchem Grund beschäftigt man sich mit Geschichten? Um zu lernen? Um sich auf etwas vorzubereiten?« Yan hob fragend die Augenbrauen. Ließ Lyra jedoch keine Zeit für eine Antwort.
»Wer sich mit Geschichten beschäftigt, beschäftigt sich mit etwas Lebendigem. Denn alle Geschichten handeln von Erlebnissen. Und damit auch von Menschen, die diese Geschichten erlebt haben. Wenn es niemanden gibt, um eine Geschichte zu lesen, dann hört die Geschichte auf zu existieren. Vielleicht ist Erinnerung, also die Fähigkeit sich an etwas zu erinnern, das einzig wahre Zeichen von Lebendigkeit.« Yans Augen wanderten nachdenklich zur Decke des Shuttles. Und Lyra begann zu überlegen, wer dieser Mann war, der da neben ihr saß.
*
»Systemcheck abgeschlossen. Warten auf Startfreigabe.«
Sheng Lung lehnte sich entspannt zurück und betrachtete die Anzeigen auf der Konsole mit einer fast schon zur Schau gestellten Langeweile.
»Siebenundachtzig Mal.«
»Was?« Sheng sah, scheinbar desinteressiert, weiter auf die Displays, während sich seine Ohren auf Reya Orlun ausrichteten.
»Siebenundachtzig Mal sind wir jetzt zusammen geflogen. Ist also kein Wunder, dass du dich langweilst.« Und die Spitze in Reyas Worten war nicht zu überhören.
Sie sorgte dafür, dass Sheng es bereute, gefragt zu haben. Und auch seine Antwort bereute, noch bevor er sie gab.
»Irgendwann ist auch die beste Wiederholung nichts anderes, als eine Wiederholung.«
»Ich bin eine Wiederholung!?!«
Sheng seufzte und fragte sich, wie er den schrillen Ton wieder aus seinem Ohr herauskriegen konnte. Quälend langsam hob er die Hand, streckte den Finger aus und deutete auf den Hauptschirm. »Ich meine das da. Wir legen ab, fliegen rüber, docken an, warten, docken ab, fliegen rüber, docken an, steigen aus.«
Abrupt ließ er den Arm fallen.
»Irgendwann wird selbst die beste, die schönste aller Routinen zu nichts anderem als Routine. Und ab da wird es dann langweilig.«
»Aber du musst das doch nicht machen. Du kannst jederzeit was anderes machen. Oder gar nichts machen. Niemand zwingt dich dazu, etwas zu machen.«
»Und warum machen wir dann das hier?« Sheng breitete die Arme aus, als wollte er das Cockpit von sich wegschieben.
»Wir müssten hier nicht sitzen. Die Dinger können allein fliegen. Und wenn wir ehrlich sind, können sie es besser, als wir es je könnten. Also, warum machen wir es? Warum sitzen wir im Cockpit und tun so, als ob wir Piloten wären?«
»Wegen den Menschen.« Lässig deutete Reya hinter sich.
»Damit die Menschen das Gefühl haben können, dass es Menschen sind, die die Kontrolle haben. Es geht um das Gefühl der Kontrolle. Das Gefühl, eine Situation nicht nur zu erleben, sie nicht nur zu beurteilen, sondern auch Einfluss nehmen zu können. Dass der Mensch derjenige ist, der entscheiden kann, wie es weitergeht. Dass man nicht etwas anderem ausgeliefert ist.« Reya betonte die letzten Worte und sah ihn direkt an.
»Bist du lieber derjenige, der sein Leben entscheidet? Oder hist du jemand, der lieber zusieht, wie sein Leben entschieden wird?« Fragend hob sie die rechte Hand.
»Kannst du dir vorstellen, dass eine Maschine dir befiehlt, was du zu tun hast? Dass sie dein Lehen bestimmen kann?« Abrupt ließ sie die Hand sinken und sah wieder zur Konsole.
»Es ist einfach, die Computer, eine Serviceeinheit oder Dave als quasi lebendig anzusehen, solange man ihnen Befehle geben kann. Und das Gefühl, sie beherrschen zu können, macht sie irgendwie sympathischer. Aber was, wenn sie es wären, die uns Befehle geben? Was wäre dann? Wie sympathisch wären sie uns dann noch?«
»Du meinst, wir sitzen hier, damit wir das Gefühl haben, dass wir es sind, die, wie sagt man, Herr der Lage, sind?«
»Ja, Sheng, so ist es. Denn, wie du ja eben selbst so schön sagtest, diese Dinger können auch sehr gut alleine fliegen. Die brauchen uns Menschen nicht.«
»Startfreigabe erteilt. Bereit zum Abdocken.« Die melodische Stimme des Computers unterbrach Shengs Antwort noch vor der ersten Silbe. Bedeutsam sah Reya ihn an.
»Die Computer, sie brauchen uns nicht. Keinen von uns. Für gar nichts. Wir Menschen sind absolut entbehrlich. Diese Shuttles brauchen uns nicht. Und die Schiffe brauchen uns auch nicht. Sie werden Pavonis erreichen. Ob mit oder ohne Menschen, die Schiffe werden die neue Welt erreichen. Aber wir, wir werden sie niemals sehen. Und was, was wären wir ohne die Computer?«
*
»Es geht los!«
Es waren ganz und gar nicht die Worte, die Lyra hören wollte. Den Impuls, sich mit den Händen am Sitz festzukrallen, konnte sie gerade noch unterdrücken. Nicht aber die Anspannung in ihrem Rücken, wodurch sie wie kerzengerade in den Sitz gepresst wirkte.
»Achtung..., gleich...«
Mit einem spürbaren Ruck löste sich das Shuttle vom Andockstutzen des ersten Wohnmoduls der Humanity.
Irgendetwas schien nach Lyras Magen zu greifen. Doch bevor sie es so recht spürte, erhielt sie einen Schlag in den Rücken.
Die Triebwerke des Shuttles hatten gezündet und trieben es aus dem Bereich des Rotationsmoduls.
»Immer wieder lustig, wenn die Schwerkraft wechselt.« Lyra nickte nur und starrte weiter geradeaus.
Der Druck im Rücken wurde stärker. Einziges Zeichen dafür, dass das Shuttle beschleunigte. Dann kamen einige kurze Stöße von unten hinzu. Es wirkte, als ob etwas gegen den Boden des Shuttles schlug. Lyra wurde bleich, obwohl sie wusste, dass es von den Kurskorrekturen kam.
»Nur die Ruhe.« Yans Hand berührte kurz die ihre.
»Alles ganz normal.« »Wie oft?«
»Weiß nicht. Aber wenn du meinst, wie oft ich mit einem Shuttle geflogen bin, so gut hundert Mal wird es gewesen sein. Paar mehr oder weniger.« Eine Zahl erschien in Yans Kopf. Eingespielt von seinem neuronalen Interface.
»Einhundertdreimal. Mit diesem hier.«
»Wie sagt man so schön. Erfahrung macht Mut.«
»Oder Angst.«
»Ja, Angst. Und auch Angst vor der Angst. Was meinst du, wie oft muss man ein angstmachendes Erlebnis mitmachen, bis man den Mut hat, keine Angst mehr zu haben?«
»Wie sehr hängt man am Leben?«
»Ja, toll! Wenn man keine Angst vor dem Tod hat, hat man vor gar nichts mehr Angst? Oder was?« Lyra unterlegte es mit einem strengen Blick, der Yan aber nur ansatzweise traf.
»Huuuuhhhh.« Der Ton kam wie von selbst aus ihrem Mund.
»Tja, das ist das Weltall.«
Wäre Lyra nicht durch die Haltepolster, an Oberschenkeln, Hüfte und Schultern, in ihrem Sitz fixiert worden, dann wäre sie nun durch den Raum getrieben. Denn ihr Zucken, als die Triebwerke erloschen und die Schwerelosigkeit eintrat, hätte genügt, sie aus dem Sitz zu treiben.
»Wir sind mitten im Nichts. Keine Luft, keine Gravitation.
Einfach nur nichts.«
»Das stimmt nicht. Protonen! Hier gibt es jede Menge Protonen.« Immer noch war Lyras Atem kurz und schnell. Und nur allmählich hörte das schnelle Umherblicken ihrer Augen auf.
»Ja, gibt es. Nicht zu vergessen die Millionen von Photonen, die als Welle durch das Nichts gleiten. Oder das allumfassende Higgsfeld, das dafür sorgt, dass deine Waage nicht Nichts anzeigt. Virtuelle Teilchen, die in einem einzigen Augenblick entstehen und sofort wieder vergehen. Und da wäre auch noch das Shuttle zu nennen, das uns gerade entgegenkommt.«
Ruckartig richteten sich Lyras Augen auf den Hauptschirm. Ein hell leuchtender Punkt war dort zu sehen, der genau auf sie zuzukommen schien.
»Übrigens hätten wir die Möglichkeit einer weit besseren Aussicht.«
»Ich weiß.«
»Also, wenn du möchtest...«
»Ich weiß nicht.« Fast hastig stieß Lyra die Worte hervor.
»Du weißt, dass es rein visuell ist?«
»Ja, weiß ich.«
»Ist Geologie nicht eine primär visuelle Wissenschaft?«
»Ja, nein.« Lyra seufzte vernehmlich. »Also gut.«
Yan lächelte und gab über sein Interface eine Anweisung.
Direkt vor ihnen flimmerte die Luft. Und übergangslos wurde aus dem Flimmern ein Weltraum voller Sterne.
Verschwunden war der Hauptschirm. Ebenso der Innenraum des Shuttles. Genauso wie alle Passagiere.
Lediglich zwei Sitze waren übriggeblieben. Und die Körper von Yan und Lyra.
»Immer wieder schön.« Yan Sterren streckte die Arme nach oben. Gerade so weit, wie es die Haltepolster an den Schultern zuließen. »Ich würde nur halb so oft fliegen, wenn ich diesen Ausblick nicht hätte.«
»Ja.« Lyra hauchte es nur. »Das kann ich verstehen.« »Und? Beginnst du es zu genießen?«
»Vielleicht.« Ein schelmisches Lächeln glitt über ihre Lippen. »Kannst du dir vorstellen, wenn man jetzt aus diesem Sitz raus könnte? Wenn man aufstehen könnte? Wenn man sich einfach so hinaustreiben lassen könnte?« Yans Stimme bekam einen träumerischen Glanz.
»Ja, kann ich.« Aber noch zum letzten Wort hin wurde ihre Stimme dumpf. »Und ich kann mir vorstellen, wie es wäre, wenn man den Rest seines Lebens nichts mehr anderes tun könnte, als durch das Weltall zu treiben.«