Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Situationen, lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© Carmen Mayer, überarbeitete Neuauflage 2020

Satz/Layout: Carmen Mayer

https://www.autorin-carmen-mayer.com

Covergestaltung und Foto: Carmen Mayer

Autorenportrait: Christine Olma

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-751944-91-5

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind unter www.dnb.de abrufbar.

Vielen Dank an

R. Mayer und H. Rindlbacher

für ihre Hilfe

Inhaltsverzeichnis

Prolog.

Sie rieb sich hektisch über die Stirn. Die Haut dort fühlte sich bereits wundgescheuert an. Aber das Bild dahinter blieb. Ließ sich nicht wegwischen.

Es war fünf Uhr morgens.

Anna wälzte sich auf die andere Seite, zwang sich, die Augen offenzuhalten, ihre reale Umgebung bewusst wahrzunehmen. Das Fenster, vor dem der Morgen dämmerte. Der Schrank, dessen rechte Tür sie nicht richtig zugemacht hatte. Der stumme Diener, über dem ihre Klamotten hingen. Stuhl, Kommode …

Die Schlafzimmertür.

Sie schloss erschrocken die Augen, schlug beide Hände vors Gesicht, nahm sie wieder weg, riss die Augen wieder auf.

Keine Chance.

Das Bild in ihrem Kopf blieb. Es würde sie noch zum Wahnsinn treiben.

Sie stand auf und wankte zur Tür, um sie zuzudrücken. Damit wollte sie nicht nur das aussperren, was davor auf sie lauerte. Sie wollte vor allem auch zwischen Realität und Wahn eine klare Linie ziehen, das Gefühl haben, genau zu wissen, in welchem der beiden Zustände sie sich gerade befand.

Anna spürte die Kühle der Türklinke in ihrer Hand, sah das Dämmerlicht, das vom Fenster bis dorthin fiel, wo sie gerade stand. Sie nahm das Holz unter ihren nackten Füßen wahr, zwang sich, sich als Teil ihrer Umgebung zu erkennen.

Unmöglich!

Warum ging diese verdammte Tür nicht zu?

Sie starrte auf ihre Hand, die sich um die Klinke schloss. Sie sollte den Metallgriff herunterdrücken.

Nichts.

Ihre Hand bewegte sich nicht.

Die Tür blieb halb geöffnet.

Anna konnte sich nicht aufraffen, diesen winzigen Schritt in die Wirklichkeit zu tun.

Aber warum denn nicht? Verdammt noch mal: Warum nicht?

Was hielt sie davon ab, sich aus ihren Bildern zu lösen, wieder in ein Leben zurückzukehren, das sich durch nichts vom Leben anderer Frauen unterschied?

Oder doch?

Würde sie denn nie dahinterkommen, was dieses grauenvolle Bild auslöste, das sie Nacht für Nacht begleitete und ihr den Schlaf raubte?

Es gab nichts, was in ihrer Erinnerung auch nur annähernd etwas damit zu tun haben konnte. Kein Erlebnis, kein Film, kein Buch.

Sie ließ den Türgriff los und schleppte sich in ihr Bett zurück.

Die Nacht würde in gut einer Stunde zu Ende sein, und danach wartete ein Alltag auf sie, der sie voll und ganz in Anspruch nahm. Sie war dankbar dafür, konnte sie sich doch in der Routine ihres Tagesablaufs von ihren Gedanken befreien. Andererseits wusste sie, dass das alles nur einen Plazebo-Effekt hatte. Ihre Albträume würden wiederkommen.

Nacht für Nacht.

Würzburg

Kommissar Norbert Schwarz stand wie erstarrt inmitten des weiträumigen Hofes. Er hatte ein Taschentuch vor Mund und Nase gelegt und atmete nur ganz flach. Im Lauf seines Berufslebens hatte er schon viel gesehen und verarbeiten müssen, aber das hier überschritt die Grenzen des für ihn Zumutbaren.

Man hatte den Hof zur Straße hin mit Trassierbändern abgesperrt, um eventuelle Neugierige zurückzuhalten. Seltsamerweise gab es aber so gut wie keine Neugierigen. Neugier fand hinter zugezogenen Vorhängen statt. Schwarz war es lieber so.

Auf der linken Seite, direkt neben dem Wohnhaus, stand das Fahrzeug des Notarztes, etwas verdeckt dahinter zwei Einsatzfahrzeuge des Roten Kreuzes.

Der Kommissar warf einen kurzen Blick hinüber. Noch mehr als das, was sich ihm in der Scheune bot – sie lag auf der rechten Seite des Hofes –, schlug ihm diese Szene auf den Magen. Aber damit wollte und konnte er sich jetzt nicht auseinandersetzen.

„Herr Kollege?“

Die Stimme seiner Chefin Annemarie Zeller riss ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich um und ging langsam über den sonnenbeschienenen Hof in ihre Richtung.

Das Tor stand sperrangelweit offen. Ein paar Meter dahinter erkannte er im Halbdunkel die Kollegen von der Spurensicherung und Annemarie Zeller, die ungeduldig auf ihn wartete.

Als er schließlich die Scheune betrat, schlug ihm erneut dieser widerliche Geruch entgegen, der ihn vor ein paar Minuten auf den Hof getrieben hatte. Er kämpfte seinen Ekel zurück und zwang sich, seine Emotionen in den Griff zu bekommen.

„Unglaublich“, hörte er Annemarie Zeller sagen.

Wie schaffte die es nur, so cool zu bleiben? Oder war das reine Verdrängung? Und wie schafften es diejenigen, mit dem Ganzen umzugehen, die sich gleich um die Überreste des Menschen kümmern mussten, der hier ein so unbeschreiblich brutales Ende gefunden hatte?

„Ja.“

Zu mehr war der Kommissar nicht in der Lage.

Er hielt sich etwas abseits, während die Männer der Spurensicherung ihre Arbeit beendeten und ohne ein Wort zu sagen die Scheune verließen.

Norbert schluckte, als für ihn erneut sichtbar wurde, worum sich die Kollegen bereits seit einer guten halben Stunde gekümmert hatten. Deren Aktivität verlieh der ganzen Szene bislang noch so etwas wie Lebendigkeit. Jetzt war es nur noch grauenvoll. Und tot.

Der Kommissar wischte sich mit einer Hand übers Gesicht. Es nützte alles nichts. Da musste er durch.

Ein paar Meter vor ihm und seiner Chefin befand sich ein ungefähr drei Meter langes, annähernd tischhoch verlaufendes Förderband, das in einem Häcksler endete. Zwei Strohballen lagen gebunden am anderen Ende, ein dritter, teilweise aufgelöster, lag auf dem Band. Das Stroh sollte vermutlich für den angrenzenden Kuhstall zerkleinert werden. Die Person, die das tun wollte, war der Grund für den ganzen Auflauf hier. Beziehungsweise das, was von ihr übrig geblieben war. Aus Norberts Perspektive bestand dies aus einem Rest Körper, der bis zu den Schultern in dem Häcksler steckte. Der Rest quoll dort aus der Maschine, wo eigentlich das klein geschnittene Stroh hätte herausfallen sollen.

War bereits dieser Umstand äußerst fatal, so fuhr es den Männern der vor einer guten Stunde herbeigerufenen Streife durch Mark und Bein, was sie in der Scheune noch vorfanden: zwei Mädchen, die völlig traumatisiert neben Förderband und Häcksler standen. Unfähig, sich zu rühren oder zu artikulieren. Die Kollegen hatten sie buchstäblich hinaustragen müssen. Die beiden Kinder saßen inzwischen draußen auf einer Bank in der Obhut einer Frau vom Roten Kreuz. Sie hielten die Schultern hochgezogen und schienen ihre Köpfe dazwischen verbergen zu wollen.

Diese beiden Kinder waren es, die Norbert noch vor ein paar Minuten völlig aus der Fassung gebracht hatten. Der Kommissar konnte nur ahnen, dass sie entweder Zeugen des dramatischen Unfalls geworden waren oder dazukamen, als der Kopf des Bauern die Maschine zum Halten gezwungen hatte. Vielleicht riefen seine Schreie sie herbei. Und er musste gebrüllt haben vor Schmerz, dessen war sich Norbert Schwarz absolut sicher. Egal, wie lange es gedauert hatte, bis die scharfen Messer der Maschine ihn zum Schweigen brachten. Die Mädchen mussten so oder so gesehen haben, was mit dem Mann geschehen war.

Es war schon unerträglich für die Polizisten, die einiges gewöhnt waren. Wie musste es in den Kindern aussehen?

„Der Häcksler hat sich automatisch abgeschaltet“, sagte einer der Kollegen von der Spurensicherung mitten in Norberts Gedanken hinein.

„Sicher.“

Gemeint war: Der Mann schien nicht in der Lage gewesen zu sein, die Maschine selber abzuschalten. Niemand war dem Bauern zu Hilfe gekommen.

„Seinen Kopf hat’s förmlich zerschnitten, der Hals, ein Arm … Er muss noch versucht haben, sich mit der anderen Hand zu befreien oder das Band aufzuhalten.“

Schwarz winkte ab.

Es wunderte den Kommissar sowieso, dass der Häcksler so viel von dem Mann eingezogen hatte, bevor er zum Stillstand gekommen war. Scheißgerät.

Norbert wandte sich um. Er musste wieder hinaus. Das war einfach zu viel. Denn da war ein Erlebnis aus seiner Kindheit, das sich zu allem Unglück gerade jetzt an die Oberfläche drängte. Damals hatten sie in der Nähe eines Stapels Baumstämme gespielt, bis einer der Jungs auf die Idee gekommen war, darauf herumzuklettern. Der Stapel kam ins Rutschen, der Junge fiel und geriet zwischen die Stämme. Norbert und die übrigen Kinder mussten hilflos mit ansehen, wie ihr Freund zerquetscht wurde. Auch wenn keiner von ihnen etwas damit zu tun gehabt hatte oder etwas dafür konnte, belastete das Unglück sie alle immer noch. Norbert wusste aus Gesprächen mit den ehemaligen Kameraden, dass niemand unter ihnen den Anblick je vergessen würde.

„Kommen Sie“, hörte er seine Chefin sagen, die neben ihm stand.

„Wir sind hier fertig. Ein Unfall.“

Norbert wandte sich zu ihr um. Sie hatte recht. Allerdings wusste er im Augenblick nicht, ob er wirklich mitkommen oder noch mit den Kindern sprechen sollte. Sein Blick hastete zu der Frau hinüber, die bei den Mädchen saß und leise mit ihnen sprach. Sie hatte die leuchtendorange Rotkreuz-Jacke neben sich auf die Bank gelegt, die Hände zwischen den Knien gefaltet und sich zu den Kindern hinüber gebeugt. Es war eigentlich ein friedliches Bild. Zwei Mädchen und die Frau auf einer Bank in der Sonne. Dahinter die weiß getünchte Wand des Bauernhauses, daneben ein Metallrost, auf dem drei Paar schwarze Gummistiefel darauf warteten, gesäubert zu werden, die offen stehende Haustür. Ein gepflegter Hof, auf dem nur ein Traktor und ein paar andere Utensilien herumstanden, die zum Leben der Bauern gehörten. Aus dem angrenzenden Stall drang leises Muhen.

Aber dieses Bild täuschte und löste sich auf, als der Leichenwagen vor dem Hof auftauchte. Einer der Kollegen löste das Trassierband in der Einfahrt und ließ den silbergrauen Wagen passieren.

Norbert wandte sich erneut den Kindern und der jungen Frau zu. Er konnte nicht verstehen, was sie zu den Mädchen sagte. Die saßen reglos nebeneinander, die Schultern immer noch hochgezogen, die Köpfe gesenkt.

Norbert schätzte sie auf zehn und zwölf.

Wo war denn die Mutter der beiden?

„Sie wird von einem Arzt betreut“, bemerkte seine Chefin. Sie deutete auf den Notarztwagen, der neben der Scheune geparkt stand. „Die Frau hat einen schweren Schock erlitten. Verständlich.“

Norbert musterte seine Chefin mit zusammengebissenen Zähnen. Manchmal gab sie ihm Rätsel auf. Konnte sie Gedanken lesen oder hatte er laut gedacht?

„Sind das Schwestern?“, fragte er halblaut und wies mit dem Kinn auf die Kinder.

„Ja. Es sind die Enkelinnen des Toten.“

„Die Enkelinnen?“

„Die Bäuerin ist vor drei Jahren verstorben, sagte eine der Nachbarinnen. Damals ist die Tochter mit ihrer Familie hergezogen, bewohnt die obere Etage. Sie ist im Haus, ihr Mann ist unterwegs nach hier. Er arbeitet in einer Konservenfabrik in Würzburg. Wird wohl noch ein wenig dauern, bis er da ist.“

Die Enkelinnen.

Die Frau, die bei den Mädchen saß, schaute zu ihnen herüber und schüttelte den Kopf.

„Es hat ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen“, mutmaßte die Zeller. „Das wird dauern.“

Schwarz erfror beinahe innerlich. Auch er hatte damals lange nicht über den Unfall mit den Baumstämmen und seinem Spielkameraden reden können. Es gab einfach keine Worte, mit denen ein Zehnjähriger so etwas erklären könnte. Den beiden da auf der Bank ging es bestimmt nicht anders.

„Wer kümmert sich um sie?“, wollte er wissen.

„Die vom Roten Kreuz haben mit dem Krisen-Interventions-Dienst telefoniert. Da ist schon jemand auf dem Weg hierher.“

Norbert nickte.

„Gut.“

Nein, nichts war gut. Das alles war eine einzige Katastrophe, und im Augenblick konnte niemand mehr für die Betroffenen tun, als bereits veranlasst worden war.

Er warf noch einen Blick zu den beiden Mädchen hinüber – ein Bild des Jammers. Sie würden das alles eines Tages verarbeiten.

Aber es würde immer Teil ihres Lebens bleiben, das wusste er, und eine abgrundtiefe Trauer überfiel ihn.

„Geht mir auch an die Nieren, Schwarz.“

Annemarie Zeller startete den Motor des BMW, mit dem sie hergekommen waren.

Norbert nickte mit zusammengekniffenen Lippen. Manchmal hatte seine Chefin Anflüge von Verständnis und Menschlichkeit, die man im Allgemeinen nicht bei ihr vermutete. Mochte sie auch sonst nicht auf seiner Wellenlänge sein, so wusste er doch, dass sich hinter ihrer eisig-bürokratischen Fassade ein weicher Kern befand.

Vielleicht war sie in Wahrheit so verletzlich, dass die harte Schale ein Schutz war, den sie aufrechterhalten musste, um unter Situationen wie der gerade erlebten nicht zusammenzubrechen.

Zurück im Büro in der Zellerau zwang Norbert Schwarz sich dazu, sämtliche notwendigen Arbeiten zu erledigen, die im Zusammenhang mit dem grauenvollen Unfall zu tun waren. Das lenkte ihn zunächst ein wenig ab.

Walter Braunagel fehlte ihm. Sein ehemaliger Kollege hatte sich beruflich und privat in Ingolstadt etabliert. Sie standen nach wie vor in engem Kontakt, aber das war etwas völlig anderes, als mit ihm zu arbeiten.

Egal. Er griff nach dem Telefon und wählte Braunagels Dienstnummer.

*

Braunagel saß an seinem Schreibtisch, eine Hand vor dem Mund, die andere mit verkrampften Fingern um den Hörer seines Telefons. Was sein ehemaliger Kollege ihm gerade erzählte, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren.

„Der Bauer wollte wohl Stroh häckseln und dürfte beim Nachschieben mit dem Arm da reingeraten sein. Irgendwie hat er es nicht geschafft, den Notknopf zu drücken.“

Braunagel hörte, wie Norbert angestrengt Luft holte. „Ich meine, es ist schon sehr fahrlässig gewesen, wie der das gemacht hat.

Hat irgendwann die Schutzvorrichtung abgebaut, die genau so was verhindern soll. Was weiß ich. Das Schlimme ist nur, dass seine beiden Enkelinnen entweder alles mit angesehen haben oder dazugekommen sind, als sich der Häcksler bereits abgeschaltet hatte. Sie sind nicht vernehmungsfähig. Ihre Mutter war im Haus, hat wohl nichts mitbekommen, aber einen schweren Schock erlitten.“

„Ein Strohhäcksler? Aber wie gerät man denn in so ein Ding rein?“, fragte Braunagel entsetzt. „Der müsste sich doch automatisch abgeschaltet haben!“

„Gute Frage. Es ist ein ziemlich altes Modell, an dem viel herumgeschraubt worden ist. Ein neues steht nicht weit davon weg, unbenützt. Der Senior scheint nach dem Motto ‚Mit dem Alten kann man das Neue erhalten‘ gelebt zu haben.“ Schwarz holte erneut tief Luft. „Und wie man da reingerät – du erinnerst dich an den anderen Fall, bei dem ein Mann durch den Baumschredder …“

„Heruntergekommen, der Hof?“, unterbrach Braunagel ihn. Er erinnerte sich sehr gut an den Fall. Der Mann war wie durch einen Fleischwolf gedreht worden. Zum Glück lag der Fall damals außerhalb ihres Dienstbereichs.

„Keinesfalls. Alles tipptopp. Auch die älteren Maschinen sind gut in Schuss, soweit ich das beurteilen kann. Hof, Stall und Tiere machen einen sauberen und gepflegten Eindruck. Die paar Leute aus dem Dorf, mit denen wir sprechen konnten, wussten nichts Nachteiliges über das Anwesen und seinen Besitzer zu sagen. Warum fragst du?“

„Ich wollte mir einfach ein Bild machen“, antwortete Braunagel.

„Das kannst du nicht“, hörte er Norbert Schwarz leise sagen. „Es ist viel zu grausig, das alles. Und dann die Kinder …“ Braunagel spürte, dass seine Hände eiskalt geworden waren. Er kannte Norberts Trauma mit dem Jungen, der zwischen die Baumstämme geraten war, und wusste, in welcher Stimmung sich der ehemalige Kollege und Freund gerade befand.

„Die Kinder wurden vor Ort noch vom Roten Kreuz betreut“, fuhr Norbert nach einer kleinen Pause fort. „Jetzt ist der Vater der beiden Mädchen auf dem Hof und kümmert sich um sie. Ihre Mutter musste ins Krankenhaus gebracht werden. Sie ist völlig zusammengebrochen.“

„Und so ein Häcksler kann Knochen knacken? Ich meine, wenn der mit dem Kopf da reingeraten ist …“ Braunagel konnte sich noch immer keinen Reim auf alles machen.

„Er ist zuerst mit dem Arm und der Schulter reingeraten. Hat wohl versucht, den Kopf zur Seite zu drehen und zu retten. Es gibt auch deutliche Spuren auf dem Förderband, die er mit den Schuhen beim Versuch hinterlassen hat, sich zu befreien. Dabei geriet er auch noch mit der freien Hand zwischen das Band und die Transportrollen darunter. Wahrscheinlich hat er versucht, das Band irgendwie aufzuhalten. Braunagel, glaub mir, da ist nichts heil geblieben.“

„Ein grauenvoller Tod“, murmelte Braunagel. „Welche Macht wohl beschlossen hat, ihn so sterben zu lassen?“

Es entstand eine kleine Pause, in der Braunagel Mühe hatte, seine Gedanken auf die Reihe zu kriegen.

„Norbert, wenn du mich brauchst: Ich bin in zwei, zweieinhalb Stunden da.“

„Ich weiß nicht, was ich brauche“, hörte er Norbert Schwarz leise sagen. „Sobald ich es weiß, hörst du von mir.“

Braunagel legte nachdenklich sein Telefon zurück auf die Ladeschale. Er kannte Norbert Schwarz und wusste, der würde jetzt erst einmal ein Stück am Main entlanggehen, um den Kopf wieder klar zu kriegen. Ihm war bewusst, dass seinen ehemaligen Kollegen die ganze Sache komplett überrollt hatte. Er hoffte auf einen Anruf, wenn es Norbert nicht allein schaffte.

Ingolstadt

1

„Liegt was Besonderes vor?“

Braunagel stand neben seinem Schreibtisch und tippte auf die Unterlagen, die Stiegler für ihn bereitgelegt hatte. Der Kommissar aus Würzburg hatte den Platz seines Freundes und Vorgängers Karlheinz Riedmüller in Ingolstadt übernommen. Da er nicht auf die mit Stieglers selbst geschossenen Landschaftsfotos dekorierte Wand gegenüber schauen wollte, hatte er sie abnehmen und hinter sich aufhängen lassen. Jetzt konnte Stiegler sie sehen, sobald er den Kopf hob, und er selber hatte die Gebietskarte der Polizei Oberbayerns vor Augen. Das war ihm deutlich lieber.

„Der Holzstadelbrand an der Hauptstraße zwischen Seehof und Zuchering gestern Nacht“, antwortete Stiegler auf Braunagels Frage und kniff die Lippen zusammen. Das machte er immer, wenn ihm etwas nicht passte.

„Was haben wir mit dem Brand eines Holzschuppens zu tun?“,

hakte Braunagel nach. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, seinem Kollegen ständig alles aus der Nase ziehen zu müssen.

„Es wurde eine verkohlte Leiche darin gefunden.“

Braunagel, der sich gerade auf seinen Stuhl hatte setzen wollen, hielt mitten in der Bewegung inne.

„Die Überreste sind bereits auf dem Weg nach München in die Rechtsmedizin“, fuhr Stiegler fort und tippte dann im Zwei-Finger-System konzentriert etwas in seine Tastatur. Eine neue Statistik, vermutete Braunagel. Neben dem Abfassen von Berichten eine von Stieglers Lieblingsbeschäftigungen. Vor dem Außendienst drückte sich sein Kollege, so oft er konnte. Wie auch immer Braunagel es anstellte: Er konnte seinen Kollegen nicht zu etwas motivieren, das auch nur annähernd dem Begriff ‚Lebendigkeit‘ entsprochen hätte. Stiegler war in eine Art Vorruhestands-Lethargie verfallen, aus der ihn nichts und niemand herauszuholen imstande war.

Ein bisschen wehmütig dachte Braunagel in diesem Augenblick an Norbert Schwarz. Sie waren keinesfalls immer einer Meinung gewesen. Aber sie hatten auf eine Weise zusammengearbeitet, die in jedem Fall zum Erfolg führte, den sie sich ohne Abstriche teilen konnten.

Die Arbeit mit Stiegler dagegen war mühsam. Kein Vergleich mit dem, was er von Würzburg her kannte. Das Einzige, was diese beiden Männer miteinander verband, war ihre offensichtliche Liebe zu Pullovern und Pullundern. Während die Strickteile bei Norbert wie ein Markenzeichen wirkten, vervollständigten sie bei Stiegler eher das Bild eines etwas lustlosen Beamten. Jetzt stand der Sommer ins Haus, und die Rauten auf Stieglers Pullunder gaben ein müdes Farbspiel zwischen Grau und Gelb ab, das von feinen weißen und schwarzen Streifen in Rauten aufgeteilt wurde. Im Herbst würden verwaschene Erdtöne das farbliche Trauerspiel ergänzen, vermutete Braunagel.

Da Stiegler im Gegensatz zu ihm nur noch ein knappes Jahr bis zu seiner Pensionierung abzuarbeiten hatte, wie jener es nannte, würde sich an dessen Grundeinstellung vermutlich nichts mehr ändern.

Braunagel selber kleidete sich eher salopp mit bequemen Stoffhosen und Hemden, die er mit einem Sakko aufpeppen konnte, sollte das notwendig sein. Seit einem Jahr hatte er seine Brille gegen Kontaktlinsen eingetauscht. War anfangs in jeder Hinsicht gewöhnungsbedürftig, gab ihm inzwischen aber das Gefühl, besser zu sehen und irgendwie unabhängiger zu sein. Etwas, an dem ihm sehr viel gelegen war.

Braunagel ließ sich vollends auf seinen Stuhl fallen. Er war seit beinahe einem Jahr in Ingolstadt. Nach einem traumatischen Erlebnis hatte er beschlossen, seine alte Heimat gegen die Stadt an der Donau einzutauschen und den vakanten Arbeitsbereich seines alten Freundes und Kollegen Karlheinz Riedmüller zu übernehmen. Riedmüller war seit seiner Pensionierung stolzer Pächter eines ehemaligen Kellerlokals, das er erfolgreich zum In-Lokal für Jazzmusiker und ihre Fans umgemünzt hatte.

Es war Braunagel leichtgefallen, sich in der heimlichen Donaumetropole zurechtzufinden, zumal dem eingefleischten Franken die Oberbayern doch recht sympathisch waren. Verglichen mit den Niederbayern zumindest, der Volksstamm, zu dem seine ehemalige Chefin zählte. Dazu kam, dass Simone in absehbarer Zeit nachkommen würde. Sie ließ sich in einer Reha-Klinik am Chiemsee behandeln. Der Mordanschlag auf sie in Hongkong vor über anderthalb Jahren und dessen Folgen waren es letztendlich gewesen, die Kriminalhauptkommissar Walter Braunagel nach Ingolstadt geführt hatten.

Braunagel starrte auf den schwarzen Bildschirm vor sich. Er war am Abend zuvor zufällig an dem brennenden Holzschuppen vorbeigekommen, von dem Stiegler gerade berichtet hatte. Ein Löschfahrzeug der örtlichen Feuerwehr stand auf dem freien Feld daneben. Ein paar Gaffer hatten mit ihren Autos die Straße zwischen Seehof und Zuchering blockiert. Der Auflauf war ihm unangemessen für den Brand eines Holzschuppens erschienen, und Braunagel hatte sich über die Neugier der Leute geärgert.

Dass in dem Stadel ein Mensch verbrannt war, konnte zu dem Zeitpunkt niemand auch nur ahnen.

„Der Einsatzleiter der Brunnenreuther Feuerwehr hat die verkohlte Leiche auf der Suche nach Brandnestern entdeckt. Reine Routinesache“, hörte er Stiegler sagen. „Da war der Schuppen bereits bis auf ein paar Reste niedergebrannt. Die Kollegen vom KDD sind sofort nach Eingang der Meldung rausgefahren und haben sich um alles gekümmert. Ist nicht viel übrig geblieben.“

Stiegler verschwand wieder hinter seinem Bildschirm. „Ich meine, von dem Toten. Da war jemand gründlich“, fügte er leise an. „Wir werden noch damit zu tun bekommen.“

Die Klärung des Brandes würden die Leute von der Brandermittlung übernehmen, den Rest hatte der Dauerdienst im Griff.

Braunagels Abteilung hatte so gesehen nichts damit zu tun. Es sei denn, es stellte sich heraus, dass es sich um Tod durch Fremdverschulden handelte.

Der Kommissar ahnte, dass es genau darauf hinauslaufen würde, und stimmte Stiegler und seiner Schlussfolgerung zu. Unwahrscheinlich, dass sich jemand in einem Holzschuppen selber abfackelte. Möglich allerdings noch, dass dieser Jemand in dem Schuppen geschlafen hatte und vom Feuer überrascht worden war. Aber auch das schien ihm nicht schlüssig genug. Ein Schuppen geriet nicht von alleine in Brand.

Braunagel saß abwartend da.

Brandermittler oder Dauerdienst?

Wer würde sich zuerst melden?

2

Bei der verkohlten Leiche aus dem Holzschuppen handelte es sich laut Dr. Reinhardt von der Gerichtsmedizin in München um einen Mann, dessen Identität bislang nicht auszumachen war.

Man wartete auf weitere Ergebnisse. Proben für eine DNA-Analyse waren bereits im Labor, weitere Untersuchungen und der Abgleich mit dem Zahnschema liefen noch.

Was die Kleidung des Toten betraf, ging Dr. Reinhardt davon aus, dass es sich um Stücke der gehobenen Preisklasse handelte.

Das schloss er zum einen aus den Gewebeproben, deren Ergebnisse er vorliegen hatte, zum anderen aus den gerade noch erkennbaren Resten des eingenähten Etiketts im Hemd des Toten.

Es gab keinen Hinweis auf äußere Gewalteinwirkung, soweit das bislang nachvollziehbar war. Aus der Lage der Leiche konnte der Mediziner noch keine Rückschlüsse darauf ziehen, wie der Mann gestorben war, den er auf seinem Seziertisch liegen hatte. Dr. Reinhardt versprach Braunagel, so schnell es ging herauszufinden, ob sich Rauchspuren in den Atemwegen oder der Lunge des Toten befanden. Ein Ergebnis dieser Untersuchung würde erste Erkenntnisse darüber zulassen, ob er noch geatmet hatte und demnach bei lebendigem Leib verbrannte, oder ob er bereits tot war, als das Feuer ausbrach. Daraus würde sich letztendlich schließen lassen, ob es sich um einen Unfall, einen Mord oder – und das war die unwahrscheinlichste Version – Selbstmord handelte.

Das würde dauern.

Wie und warum es überhaupt zu diesem recht seltsamen Fall gekommen war, würde Braunagel herausfinden müssen, auf dessen Schreibtisch er nun inzwischen doch gelandet war.

Die weiter vorliegenden Informationen waren recht dürftig. Die Spurensicherung hatte im Umfeld der ausgebrannten Hütte nichts Verwertbares finden können. Die Männer der Feuerwehr konnten nicht ahnen, dass sie bei ihrem Einsatz wertvolle Spuren verwischen würden. Sie waren ja nur zu einem Holzschuppenbrand gerufen worden, da brauchte man nicht großartig aufzupassen. Da achtete niemand auf Spuren.

Ausweispapiere oder andere Möglichkeiten, den Toten zu identifizieren, waren nicht gefunden worden. Nicht einmal verkohlte Reste davon.

Von den Kollegen der Brandermittlung erfuhr Braunagel kurz nach dem Gespräch mit Dr. Reinhardt, dass zum Anzünden ein Brandbeschleuniger verwendet worden war. Vermutlich Feuerzeugbenzin. Eines war inzwischen sicher: Jemand hatte das Feuer vorsätzlich gelegt. Es wurden Wachsrückstände in der Nähe des Toten gefunden. Vermutlich von einer Kerze, um die herum jemand das schnell brennbare Benzin verteilt hatte. Als sie heruntergebrannt war, geriet das im wahrsten Sinne des Wortes strohtrockene Lagergut in Flammen. Da brauchte es keinen weiteren Brandbeschleuniger. Der Inhalt einer Nachfüllflasche Feuerzeugbenzin, strategisch gut verteilt, reichte völlig aus.

Fantasielos das Ganze, aber wirkungsvoll.

Braunagel schluckte. Abgesehen davon, dass damit sämtliche Überlegungen in Richtung ‚Unfall‘ oder ‚Selbstmord‘ ausgeschlossen waren, mochte er sich keine Vorstellung davon machen, was sich in diesem Holzschuppen abgespielt haben könnte. Eines war klar: Das Opfer war aus irgendeinem Grund nicht in der Lage gewesen, die Kerze zu löschen, bevor sie Stroh und Schuppen in Brand setzen konnte.

Eine Parallele sah Braunagel zu Norbert Schwarz’ Fall in Würzburg: Auch dieses Opfer konnte sich nicht selber retten. Auch da ging es letztendlich um Stroh.

Der Kommissar schüttelte sich. Was ging ihm da nur durch den Kopf?!

Er konzentrierte sich wieder auf seinen eigenen Fall und hoffte, dass wenigstens Dr. Reinhardts Suche nach Rauchspuren in Lunge und Atemwegen ergebnislos blieb. Dass das Opfer nicht bei lebendigem Leibe verbrannt war.

„Stiegler, fahren Sie schon mal das Auto vor“, brummte er in die Richtung seines Kollegen.

„Ich? Welches Auto denn?“

„Sollte ein Scherz sein.“

Eine halbe Stunde später stellte Braunagel sein Dienstfahrzeug an der Hauptstraße zwischen Zuchering und Seehof ab. Er war allein gefahren, da sein Kollege angeblich äußerst wichtige Dokumente für den Polizeipräsidenten erstellen musste. Das hatte natürlich Vorrang. Warum das nicht die Kollegen von der Pressestelle oder das Sekretariat erledigen konnten, wollte Braunagel gar nicht erst wissen.

Der Kommissar ging ein kurzes Stück den Fußweg an der Straße entlang, den Blick auf die verkohlten Überreste des Holzschuppens gerichtet. Das rot-weiße Trassierband, das die Kollegen um den Tatort herum angebracht hatten, flatterte im Wind.

Braunagel überquerte die Straße und blieb nachdenklich am Rand der Wiese vor dem ehemaligen Schuppen stehen. Aufmerksam beobachtete er die Umgebung.

Der Verkehr entsprach dem jeder x-beliebigen Verbindungsstraße, wenngleich er feststellen musste, dass die meisten auf der kurzen Strecke zwischen den beiden Ortschaften Seehof und Zuchering viel zu schnell unterwegs waren. Was allerdings wiederum bedeutete, dass niemand wirklich auf das Rechts und Links daneben achtete.

Auf den Grundstücken der Häuser gegenüber und neben der Wiese war niemand zu sehen. Vermutlich wohnten hier Leute, die tagsüber arbeiten gingen und abends eher ihre Ruhe haben, als sich mit dem beschäftigen wollten, was um sie herum geschah, überlegte er.

Wer hatte eigentlich den Brand gemeldet? Er musste Stiegler fragen.

Braunagel hob das Trassierband ein wenig an, schlüpfte darunter hindurch und ging auf den Rest des komplett abgebrannten Schuppens zu. Das Gras ringsherum war niedergetreten, der Boden noch schlammig vom Löschwasser. Braunagel konnte Reifenspuren ausmachen, die vermutlich von den Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr, der Polizei und dem dazu gerufenen Arzt stammten.

Als er das gesamte Umfeld abgesucht hatte, war er nicht viel weiter gekommen als die Kollegen von der Spurensicherung.

Der Kommissar ging ein Stück über die Wiese, um zu überprüfen, ob es eine Möglichkeit gab, von der anderen Seite aus mit dem Auto in die Nähe des Schuppens zu fahren.

Fehlanzeige.

Es war zwar deutlich eine Fahrspur von der Straße zum Schuppen zu erkennen, die wohl von den Traktorreifen des Besitzers stammten. Aber hinter dem ehemaligen Stadel war nicht einmal zertretenes Gras oder sonst ein Hinweis darauf zu finden, dass hier in letzter Zeit jemand entlanggekommen war. Also wurde das spätere Opfer vermutlich mit dem Auto hergebracht, das kurzfristig irgendwo am Straßenrand abgestellt worden war. Und das war niemand aufgefallen?

Braunagel stand unschlüssig wieder vor den verkohlten Resten des Schuppens und ließ den Film vor seinem inneren Auge ablaufen, den er am Abend zuvor dort abgespeichert hatte.

Er war gegen halb zehn auf der Weicheringer Straße in Richtung Zuchering vorbeigekommen, hatte links von sich den nur noch rußenden und vom Löschwasser dampfenden Schuppen gesehen, ein Feuerwehrfahrzeug, das Löschkommando. Und die Gaffer, die ihn daran gehindert hatten, einfach durchzufahren. Wenn er geahnt hätte, was der Feuerwehrkommandant in diesen Augenblicken im Inneren des Schuppens fand, hätte er anders reagiert und sich nicht nur über die Leute geärgert, die sogar einen brennenden Haufen Stroh noch für sehenswert hielten. Aber so hatte er sich verärgert zwischen den links und rechts anhaltenden Fahrzeugen durchgeschlängelt. Er wollte endlich Feierabend machen und von zu Hause aus mit Simone telefonieren.

Zeugen würden sie unter den Gaffern wohl kaum finden. Stiegler musste sich vor Ort mal umhören. Der würde begeistert sein. Seufzend ging Braunagel wieder zu seinem auf der gegenüberliegenden Seite geparkten Wagen zurück. Er lehnte sich gegen die Fahrerseite und versuchte sich vorzustellen, wie sich alles abgespielt haben könnte.

Schwierig.

Der Kommissar schaute sich suchend um, war jedoch sicher: Es würden auch keine Spuren zu finden sein, die einen Hinweis darauf gaben, wo das Fahrzeug abgestellt wurde, in dem das Opfer möglicherweise hierher gebracht worden war.

Aber irgendjemand musste doch etwas beobachtet haben! So finster war es um diese Zeit nicht. Laut Brandermittlern wurde das Feuer kurz nach halb neun Uhr gemeldet. Da war es noch relativ hell. Stiegler musste unbedingt herausfinden, was derjenige gesehen hatte, der das Feuer meldete.

Er drehte sich um. Hinter ihm befand sich eine Baumreihe, dahinter eine Wiese, auf der Kühe grasten. Für sie war wohl das Stroh gedacht gewesen, das sich in der Hütte befunden hatte. Denn am Ende der Weide sah er einen Unterstand für die Tiere, der mit Stroh ausgelegt war.

Stiegler hatte sich bereits – wenn auch deutlich widerwillig - mit dem Bauern in Verbindung gesetzt und würde ihn über die Besitzverhältnisse und alles, was damit zusammenhing, aufklären, sobald er zurück im Büro war.

Hoffentlich.

Es gab noch mehr für ihn zu tun.

Seufzend setzte sich Braunagel in sein Fahrzeug und ließ den Motor an. Er musste sich wohl oder übel auf das verlassen, was er am wenigsten mochte: Indizien. Jetzt stand allerdings zuerst einmal ein Besuch in der Gerichtsmedizin München an.

Braunagel wendete den Wagen und fuhr nachdenklich über die Weicheringer Straße zurück auf die Bundesstraße und über die Autobahnauffahrt Manching weiter Richtung Landeshauptstadt.

3

Als Braunagel die Rechtsmedizin in München betrat, kam ihm Dr. Reinhardt bereits eilig entgegengelaufen.

„Wir sind ein ganzes Stück weitergekommen“, begrüßte er den Kommissar und führte ihn in sein Büro. „Oder wollten Sie sich die sterblichen Überreste des Toten aus Zuchering genauer ansehen?“

Braunagel schüttelte den Kopf.

„Reicht, wenn Sie sich die Überreste genauer angeschaut haben.“

Dr. Reinhardt nickte verständnisvoll.

„Was die Identität des Toten angeht, warten wir noch das Ergebnis der DNA-Analyse ab. Außerdem arbeiten wir bereits daran, über sein Zahnschema mehr über ihn herauszufinden.“

Es entstand eine kleine Pause.

„Was uns beiden gar nicht schmecken dürfte, ist die Tatsache, dass ich in den Atemwegen und der Lunge des Toten Rauchspuren nachweisen konnte.“

„Er hat also noch gelebt, als das Feuer im Schuppen ausbrach?“, fragte Braunagel fassungslos.

„So ist es. Allerdings hab ich nicht die geringste Spur einer Fessel oder etwas Ähnlichem an ihm entdecken können. Er wurde dort also nicht gewaltsam festgehalten.“