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1. Auflage, November 2019
ISBN 978-3-7504-7705-6
© 2019 Dr. Thomas Schutz
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Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Satz, Layout und Umschlaggestaltung: Petra Wechsel
Viele Leser des Buches „Lern Dich glücklich! - Lernen mit Lernfreude ein Leben lang“ (Schutz, 2016a) und Teilnehmer meiner Vorträge und Vorlesungen (siehe www.mathetica.de bzw. www.LernDichGluecklich.de) haben sich ein zweites Buch gewünscht ‚mit vielen knackigen LernTipps’: Hier ist es.
Kurz vorab: Selbstorganisiert lernen zu können und zu wollen, ist heute wichtiger denn je. Damit kann auch das Lernen in der Schule, in der Universität oder im Beruf gemeint sein. Aber unabhängig von äußeren Bildungs- und Arbeitswunderwelten sollte es Dein bzw. Ihr lernen beschreiben: Freiwillig, selbstorganisiert und voller Freude. Geht nicht? Geht doch!
Warum ist dies wichtig? Drei kuriose, ja mitunter recht paradoxe gesellschaftliche Phänome im Zeitalter der Megatrends Individualisierung und Digitalisierung halte ich für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, des Landes der Dichter und Denker, Forscher und Erfinder, für sehr bedenklich – bitte nicht gleich wie ein HB-Männchen in die Luft gehen oder in den nächsten Tisch beißen; bitte durchatmen und weiterlesen.
Erstens scheinen viele Lehrende in Schule und Hochschule, viele Führungskräfte und Mitarbeiter in Unternehmen, Organisationen und Gesellschaft selber nicht mehr hinreichend lernen zu wollen, zu dürfen oder auch zu können. Hierbei bezieht sich das Lernen sowohl auf das Individuum (individuelles Lernen), auf eine Gruppe oder ein Team (kollektives Lernen) als auch auf eine Organisation (organisationales Lernen). Die deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer ist hierfür ein Paradebeispiel: Bei der Fußball-WM 2014 sind ‚wir‘ Weltmeister geworden, aber vier Jahre später als amtierender Weltmeister in der Vorrunde gegen Schweden, Mexiko und Südkorea als Gruppenletzter ausgeschieden. Welch eine Schmach! Wie konnte das geschehen?
Ein in Trainings- und Bildungswelten ja fast schon penetrant auftretendes Argument für das Nicht-Können, vielmehr das Nicht-Sehen-Können in der heutigen VUCA-Welt (zur Übersicht: Ciesielski & Schutz, 2016, S. 4-8) ist folgendes: „Wir haben ja in der Zeit studiert, da gab es hauptsächlich die Printmedien und da ging das ja erst los, wir sind in die Bücherei gegangen und in die Bibliothek und dann hat man irgendwelche Quellen herangezogen. Aber so jetzt, auch wenn ich so im Internet gucke, mich überfordert das Ganze oft“ (Deker & Fromm, 2019). So formulierte es eine Lehrerin in der Panorama-Sendung „Fake-News erkennen: Panorama macht den Schul-Test“. Keine der befragten Lehrerinnen und Lehrer konnte die Falschmeldung – „Israelischer Verteidigungsminister: „Sollte Pakistan Bodentruppen nach Syrien schicken, werden wir das Land mit einem Atomangriff zerstören“ (AWD News)“ – als solche erkennen. Und nur ein einziger Abiturient hatte eine treffliche Idee. Als Grund wurde immer wieder angeführt, daß die Web-Seite von AWD News ja professionell aussehe und daß es vor 20 oder 30 Jahren im Studium diese Problematik ja noch nicht gab.
Ja, es ist richtig, daß es dies damals so noch nicht gab. Aber die ‚Richtigkeit‘ einer Quelle überprüfen zu können – damals wie heute, analog wie digital – ist die absolute Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens. Jede Person mit Staatsexamen oder Diplom, Bachelor oder Master egal in welchem Fach sollte dies eigentlich können. Damals wie heute. Und dies vor allem heute – im Zeitalter von ‚fake-news‘ und ‚fake-science‘ – den Lernenden nahebringen können.
Selbst wenn dies im Studium oder danach möglicherweise wieder verloren gegangen ist, gibt es ja heute das liebe Internet, so daß jeder, Lehrender wie Lernender, die Frage jetzt selber recherchieren kann: Was ist eine (wissenschaftliche) Quelle? Und anhand welcher Kriterien erkenne ich diese? Doch oft wird die Dringlichkeit und Notwendigkeit, sich dies in heutigen Zeiten anzueignen, nicht erkannt und dann einfach die obige Aussage wiederholt: „Das hatten wir damals nicht“ oder „Hierzu wurde noch keine Fortbildung angeboten“. Die Möglichkeit, selber, selbstreguliert, selbstorganisiert lernen wollen zu können, wird mitunter eher nicht gesehen.
Auch in anderen Berufsgruppen ist dieses Phänomen unabhängig vom Bildungshintergrund und der Karierestufe weit verbreitet. Der aktuelle Kurzbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit titelt: „Beschäftigte, deren Tätigkeiten durch Technologien ersetzbar sind, bilden sich seltener weiter“ (Heß et al., 2019, S. 1). Auch Firmenchefs argumentieren ähnlich. Frau Christina Kestel (Harvard Business manager) befragte hierzu Herrn Prof. Dr. Wolfgang Jenewein (Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen und Direktor am Institut für Customer Insight): „[Kestel:] Für viele Führungskräfte ist die agile Arbeitsweise völlig neu. Statt um Command & Control geht es nun ums Experimentieren, Beobachten und Lernen. Inwieweit verlangt das nach einem neuen Führungstypus? Jenewein: Es braucht eine andere Art von Führung und Haltung. Es ist auch nicht jeder dafür geeignet. Wer 30 oder mehr Jahre lang die Hierarchien nach oben geklettert ist, tut sich mit flexiblen Umgangsformen schwer. In vielen Unternehmen herrscht immer noch das Statusdenken vor, und viele Chefs führen weiter über Kontrolle und Macht. Sie werden nicht von heute auf morgen auf agil umschwenken können“ (Kestel, 2019, S. 44).
Hier ist also die Ausrede für das Nicht-Lernen-Wollen, daß sich zwar möglicherweise irgendetwas geändert hat, was ein Neu-Lernen eigentlich alternativlos macht, aber „ich habe ja nur noch 10 Jahre bis zum Ruhestand, da werde ich weitermachen wir bisher“. Auch die ehemaligen deutschen Volksparteien denken und handeln so und machen sich dadurch selbst überflüssig – in einigen Bundesländern sind ihre Wahlergebnisse bereits einstellig.
Doch wir alle leben heute in einer VUCA-Welt und die englischen Begriffe dieses Akronyms haben es in sich: ‚volatility‘ (dt. ‚Volatilität‘, ‚Unbeständigkeit‘), ‚uncertainty‘ (dt. ‚Unsicherheit‘), ‚complexity‘ (dt. ‚Komplexität‘) und ‚ambiguity‘ (dt. ‚Mehrdeutigkeit‘). Bei der IT-Sicherheit trifft es heute einen jeden: Großunternehmen, KMUs, Vereine, Familien und jeden einzelnen Nutzer digitaler Endgeräte: „USB-Stick, Spam, Passwort: Dieses Verhalten macht Sie zum Risiko […]. Das größte Sicherheitsrisiko für ein Unternehmen sind entsprechend die eigenen Mitarbeiter mit ihrem sorglosen Verhalten am Arbeitsplatz […]. Das zeigen die Ergebnisse einer Befragung von 2038 deutschen Arbeitnehmern durch die Meinungsforscher von Yougov im Auftrag des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) […]. IT-Sicherheitsschulungen gibt es selten: „Unternehmen müssen ihre Mitarbeiter besser auf die wachsenden Gefahren aus dem Netz vorbereiten“, sagt Peter Graß, Cyberversicherungsexperte des Versicherungsverbands. Cyberangriffe seien selten ausgefeilte Angriffe von Hackern, die sich von außen Netzwerklücken zunutze machten. Die Schwachstelle seien oft die Mitarbeiter“ (Seibel, 2019). Auch hier empfiehlt es sich für einen jeden zu lernen: Für die Chefin/den Chef, die Führungskräfte und die Mitarbeiter; für die Mutter, den Vater und die Kinder.
Darüberhinaus, aber nicht so sichtbar, sind viele Erwachsene mit ihren mentalen Mustern und Grundannahmen noch im letzten Jahrtausend, noch in der Industrialisierung verhaftet (vgl. Hofert, 2018, S. 111). Hier musste die einzelne Arbeitskraft Leistung erbringen und damit die Existenz sichern: Produktion und Verwaltung schafften die Wertschöpfung. Es galt, die Leistung (= Aufgaben- und Zielerfüllung) des Einzelnen zu optimieren und viele Einzelne mit gleichem Wissen auszustatten, denn Wissen ist Macht. Also Kopf auf, Wissen rein, fertig ist der Fließbandarbeiter oder die Standardführungskraft. Ergo erschien ein industriell geprägtes Bildungssystem ideal (vgl. Robinson, 2014; Jacob & Schutz, 2011, S. 74ff; Robinson, 2008).
Doch heute in unbeständigen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Zeiten kann ein Einzelner die Unmengen an Anforderungen, die zu Recht bestehen, nicht mehr alleine erfüllen: Das innovative, agile, sich selbstorganisierende Team schafft heute mit der Heterogenität des Denkens, der variantenreichen Lösungsoptionen, der unterschiedliche Kompetenzen die zukunftssichernde Wertschöpfung. Können, Innovation und Kommunikation ist heute die Macht (vgl. Hofert, 2018, S. 111; Ciesielski & Schutz, 2016, S. 113-137). Also bei der WM 2018 wohl eher nicht. Erinnern wir uns an die ‚Özil-Affäre‘, die vom DFB in alter Überheblichkeit für uns für beendet erklärt worden ist – was aber so nicht gelang, sondern dadurch diese erst richtig befeuerte – und dann das bockige Abschalten des WLANs in der Mannschaftsunterkunft: „Und wenn Du nicht hörst, nehme ich Dir Deinen Lolli wieder weg!“ PPP: PillePalle-Pädagogik für Weltmeister: Herrlich. Alles leider ein Ausdruck maximaler Hilflosigkeit. Schade eigentlich. An der heutigen VUCA-Welt kann man verzweifeln und (sich selbst) verlieren – selbst wenn wir vorher Weltmeister waren – oder alle beginnen zu lernen.
Ein Experiment: Lassen Sie einmal Abiturienten oder Studierende Zusammenfassungen schreiben von vorher noch nicht gelesen Texten. Herrlich: Allein das Lesen ist schon schwierig und ergibt recht kryptische Ergebnisse (siehe unten). Doch das Verfassen einer eigenen Zusammenfassung – theoretisch meist noch irgendwie bekannt – ergibt dann in der Praxis einen unstrukturierten Blocksatz ohne Überschriften, Absätze, Hervorhebungen etc. Das Fatale hieran ist, daß ein Gehirn, gleich ob es das des Lesers oder das des Verfassers ist, diesen Text nicht lesen möchte, geschweige denn Aspekte davon behalten oder zur Anwendung bringen möchte – gleiches gilt ‚BTW’ auch für die meisten E-Mails. Ergo schalten die Gehirne in Sekunden flächendeckend und nachhaltig auf Vergessen um und auf andere, meist digitale Nebentätigkeiten (vgl. Spitzer, 2013, S. 806). Und folglich haben wir schon seit Jahren Abiturienten, die trotz Vollabiturs nicht studierfähig sind (vgl. FAZ, 2019; Schutz, 2018b, S. 3ff; Fokken, 2016), aber mitunter künstlich, per staatlichem Verwaltungsakt besser ge’fake’t werden (bspw. Hollenstein & Trotier, 2017), und seit 2019 Abiturienten, die sogar die Abituraufgaben in Mathematik nicht mehr richtig lesen können: „Offenbar hätten aber die Textlängen einige Schüler verunsichert“ (Dambeck, 2019). Welch ein Erfolg für unser Bildungssystem Schule: Der „Pisa-Koordinator [gibt ein vernichtendes Urteil]: „Das deutsche Abitur-System ist nicht effizient“ (Gillmann, 2019).
Bevor Sie jetzt wieder wie ein HB-Männchen in die Luft gehen oder in den nächsten Tisch beißen: Es gibt auch viele Schüler, Studierende und Lehrer die stetig, freiwillig und beherzt lernen. Ja, es ist sogar soweit in unserem Bildungsland gekommen, daß einige Quereinsteiger in den Lehrerberuf nach fünf Jahren gegen das Land klagen, da ihnen jede pädagogische Weiterbildung bis hin zum zweiten Staatsexamen von der Bildungsverwaltung untersagt worden sind – siehe Frontal21 vom 27. August 2019 „Krise im Klassenzimmer – Der Frust der Quereinsteiger“ (Doyé et al., 2019). Auch diejenigen Quereinsteiger, die sich seit Jahrzehnten selber und privat finanziert erfolgreich weiterbilden, erhalten dafür keine staatliche Anerkennung und verharren auf ihrer Endgeldstufe E9: „Die Opfer einer solchen Entwicklung seien vorhersehbar, so Schulentwicklungsforscher Ramseger: „Es sind natürlich die Kinder, die die professionellste Hilfe eigentlich brauchen würden für ihren Bildungsprozess – und die schon bislang große Schwierigkeiten haben, werden noch größere Schwierigkeiten bekommen“ (Doyé et al., 2019). Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Doch nun genug gelitten und genörgelt.
Anhand dieser Ausführungen möchte ich dreierlei deutlich machen: Erstens verlangt unsere heutige VUCA-Welt, daß ein jeder kontinuierlich, freiwillig und mehr oder weniger selbstorganisiert lernt: Vor, während und nach der Schule; vor, während und nach der Ausbildung; vor, während und nach der Hochschule bzw. Universität; vor, während und nach dem Berufsleben. Das Lernen hört nach der Schule, nach dem Studium und nach einer gewonnen Weltmeisterschaft nicht auf. Aber jetzt nicht wieder in den Tisch beißen: Unser Gehirn möchte nichts anderes lieber als lernen (vgl. Spitzer, 2002, S. 14). Und deshalb betrachtet bitte das Lernen als Euer Lernen. Wartet bitte nicht darauf, daß sich in der Schule oder an der Universität etwas ändert. Klar, es ändert sich … einiges, aber sehr laaaaaangsaaaam. Wir sprechen in der Regel von Jahrzehnten (und Jahrhunderten). So wie der BER. Eigentlich irgendwie fertig, es können nur kein Flugzeuge dort landen oder in die weite Welt fliegen. Und irgendwie ist auch keiner Schuld: Alle haben alles richtig gemacht. Nur können halt dort keine Flugzeuge … .
Ein kleiner Exkurs: „In der englischen Erstausgabe „Der Herr der Ringe“ (Tolkien, 1954) führt [Prof. Dr. J.R.R.] Tolkien den Begriff „Wraith“ ein. Übersetzt: Der Ring-Geist. Die Ring-Geister, weder tot noch lebendig, waren einst Könige der Menschen, bis sie dem Ring verfielen. Dem einen Ring, sie alle zu knechten. Nun sind sie von Sauron und dem Ring abhängig und haben kein eigenes Leben. Im Herzen der Ring-Geister ist nur Leere und eine innere Hohlheit, quasi ein moralisches Vakuum. Zu Beginn waren sie noch voller guter Absichten. Doch etwas lief schief. Keiner kann sagen was, als wenn niemand es war und keiner diese Rolle übernehmen wollte. Alle haben die besten Absichten und wollen die Macht, diese guten Absichten umzusetzen, so sehr, dass sie die Macht nicht wieder hergeben oder teilen wollen. Es ist meine Macht. Meine Position. Mein Budget. Meine Mitarbeiter. Meine. Aus guten Absichten werden böse: Der ‚Wraithing‘-Prozess hat längst begonnen“ (Ciesielski & Schutz, 2016, S. 118). Deshalb der LernTipp: Lerne Dein eigenes Gehirn so kennen, daß es Dich freudig und illust durch Dein Leben führt. Das Drumherum wird Dich hoffentlich unterstützen, wenn es nicht in den vielen (VUCA-)‚Wraithing‘-Prozessen gefangen ist und Dir nicht beistehen kann, Dich sogar mit hinabziehen will.
Zweitens und folglich beinhaltet dieses Buch LernTipps für das individuelle Lernen (für das Leben, die Schule und die Hochschule), für das kollektive Lernen (für das Leben, die Familie, die Teams, die Gruppen in Beruf und Vereinen etc.) und für das organisationale Lernen (für das Leben, die Unternehmen, die Organisationen, die Vereine, die Verwaltungen und Ministerien, die politischen Parteien etc.). Je nachdem, wer beim LernTipp im Fokus steht, wechselt das „Du“ in das „Sie“ und umgekehrt. Die LernTipps selber sind mal Hinweise auf eine Lernstrategie, -technik oder -methode, mal eine Erkenntnis, ein Hinweis aus der aktuellen Forschung oder mal ein Verweis auf einen komplexeren Zusammenhang, über den bereits viele und längere fachwissenschaftliche Veröffentlichungen geschrieben worden sind. Hier hebe ich dann auf den wesentlichen Aspekt ab, der sich nach meiner über 30-jährigen Erfahrung als ‚Achillesferse‘ für das eigentliche Lernen herauskristallisiert hat.
Im Zeitalter von ‚fake news‘ und ‚fake sciences‘ sind drittens in diesem Buch alle 101 LernTipps wissenschaftlich fundiert: Jeder LernTipp wird durch eine kurze Hintergrundgeschichte eingeleitet (jeweils linke Seite), dann methodisch erklärt und abschließend wissenschaftlich mit aktuellen Quellenangaben belegt (rechte Seite). So werden auch die drei beliebtesten Neuromythen wissenschaftlich überprüft: Wahrheit oder Mythos? LernTipp oder ‚nicht hilfreich‘?
BTW „Die Suche nach Wahrheit, der kritische Diskurs – sie gehören zu den Grundlagen guter Wissenschaft. Die allerdings sind offenbar gefährdet. Denn immer mehr auch deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler publizieren in scheinwissenschaftlichen Zeitschriften. Das ergaben Recherchen von NDR, WDR und dem „SZ Magazin“ zusammen mit weiteren nationalen und internationalen Medien“ (Eckert & Hornung, 2018b). Hier kann ich folgende Reportage eines unglaublichen Experimentes sehr empfehlen: „Exclusiv im Ersten: Fake Science - Die Lügenmacher“ (Eckert & Hornung, 2018a). Unglaublich, aber wahr. Eigentlich und uneigentlich sehr traurig.
Doch im April 2019: „Es ist ein schwerer Schlag gegen die Branche der sogenannten Raubverleger, in deren pseudowissenschaftlichen Zeitschriften Hundertausende Wissenschaftler weltweit ihre Forschung veröffentlichen. Ein Bundesgericht im US-Staat Nevada hat einen Branchenriesen, den indischen OMICS-Konzern, zu einer Strafe von gut 50 Millionen US-Dollar verurteilt und ihm die Tätigkeit in den USA weitgehend untersagt“ (Eckert & Hornung, 2019). Ich hoffe, daß auch deutsche Gerichte hier handeln.
Die fachwissenschaftliche Fundierung macht in diesem Buch natürlich das Literaturverzeichnis etwas länger. Das Eine nicht ohne das Andere. Viele Fachbuchverlage wollten hier aus Druckkostengründen kürzen: „Der Leser interessiere sich in der heutigen Zeit doch eh nicht für gute Recherche“. Lieber schnell und mitunter falsch, als länger und gut recherchiert. Welch eine Zeit, in der wir leben. Und ein Hoch auf die Bildung: Hurra.
Auch alle Kapitel in diesem zweiten Buch haben wieder gemein, unsere lieb-gewonnen Lehr-/Lernmuster unserer Lern- und Arbeitswelten kritisch und illust zu hinterfragen, ,a little bit different‘ zu denken und (wieder) mit unbändiger Freude lernen zu wollen. Mehrere mögliche, mitunter glücklich-machende Handlungsmöglichkeiten werden so für ein jedes Gehirn und für seinen Träger aufgezeigt, so dass sich abschließend die Frage stellt:
„Why join the navy, if you can be a pirate? – Steve Jobs“
(Elliot & Simon, 2011, S. 55).
Ich wünsche Dir und Ihnen viel Freude beim Lesen des zweiten Buches als auch
beim Ausprobieren der LernTipps und freue mich wieder auf einen regen Austausch
@LernDichGlueckl!
Berlin und Meran, im September 2019
Dr. Thomas Schutz
41 Grundlegende Lerntipps, die die Basis eines jeden Lernens bilden, ist Teil der Grundlage jeden individuellen, kollektiven und organisationalen Lernens. Sprich, wer sich anschickt, ein Team oder gar ein Unternehmen zu leiten, darf nicht nur das individuelle Lernen seiner Mitarbeiter und Führungskräfte, seiner Schüler oder Studierenden in den Fokus seiner Überlegungen stellen, sondern auch sein eigenes, individuelles Lernen als Lehrer oder Unternehmenschef.
Dies wird gerade heute in Zeiten der Megatrends Digitalisierung und Individualisierung in Unternehmen gerne vergessen: So wird beispielsweise bei der Digitalen Transformation meist über die umwälzenden Veränderungen vieler, wenn nicht aller Geschäftsprozesse und sogar ganzer Volkswirtschaften gesprochen. Die Mitarbeiter, die Führungskräfte und auch die eigene Person mit einem veränderten Lernverhalten werden eher nicht so in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt.
In Zeiten des demographischen Wandels ist diese ‚organisationale Lernhaltung‘ der Unternehmensstrategen fatal. Beispiel IBM: „Während IBM seit nunmehr fast sieben Jahren mit Umsatzeinbußen zu kämpfen hat, wird dem Unternehmen jetzt von einem ehemaligen Mitarbeiter vorgeworfen, ältere Angestellte entlassen zu haben – um „cooler“ für jüngere zu werden“ (Pietras, 2019). – Anmerkung: Dies dürfte sehr ‚spannend‘ werden, da „in einer aktuellen Zivilklage […] der ehemalige Vizepräsident für HR bei IBM, Alan Wild, unter Eid ausgesagt [hat], dass „Big Blue“ in den letzten Jahren zwischen 50.000 und 100.000 Mitarbeiter aus Altersgründen entlassen haben soll“ (Pietras, 2019).
Es ist nicht zielführend, sogar mitunter kontraproduktiv, alte durch neue Gehirne zu ersetzen in der Hoffnung, daß diese neuen Gehirne dann ein neues, innovatives, problemlösendes Lernen aus der Schul- bzw. Hochschulwelt mitbringen, um damit neue, innovative, problemlösende Produkte und Dienstleistungen zu gestalten.
Überlebenswichtig ist ein Lernverhalten, das ein Leben lang zukunftsorientierte Kompetenzen entwickelt, die sich in konkretes Handeln niederschlagen: „Das Bewusstsein für die Rückkopplungseffekte wird nicht stärker, wenn alle nur auf Bildschirme starren“ (Maja Göpel in Caracciolo, 2019).
Deshalb zuerst 41 grundlegende Lerntipps, die die Basis eines jeden Lernens bilden.
Seit Jahrhunderten versuchen die Menschen zu verstehen, wie das Organ in unserem Kopf funktioniert und was es so einzigartig macht. Dank des technologischen Fortschritts der letzten Jahrzehnte können wir nun mit nicht-invasiven Methoden dem Gehirn beim Denken und Lernen zu sehen und uns dabei an wunderschönen Bildern erfreuen (Abbildung 1): „Eine bebilderte Reise in die Welt der Nervenzellen“ (Beck et al., 2016).
Wie diese faszinierenden ‚Aufnahmen‘ entstehen, zeigt in beeindruckender Klarheit das Video der Max-Planck-Gesellschaft „Das Konnektom - Ein Netzwerk im Gehirn“ (2014). Doch gehen wir in der Zeit ein wenig zurück: „Im Laufe der Geschichte der Neurowissenschaften hat eine große Menagerie von Invertebraten [Wirbellose] als Versuchstier gedient. Der Tintenfisch [...], Schaben, Fliegen, Bienen, Egel und Fadenwürmer (Nematoden) [...]. Zugegebenermaßen ist das Verhaltensrepertoire eines durchschnittlichen Invertebraten eher begrenzt. Dennoch lassen sich bei vielen Invertebratenarten die [...] einfachen Formen des Lernens beobachten: Habituation, Sensitisierung und klassische Konditionierung. Die Neurobiologie des Lernens wurde vor allem an einer Art erforscht, an der Meeresschnecke Aplysia californica (Kalifornischer Seehase)“ (Bear et al., 2009, S. 870).
An ihr konnte Eric R. Kandel (* 07.11.1929), Nobelpreisträger des Jahres 2000 für Physiologie und Medizin, erstmals das Lernen unter dem Mikroskop sichtbar machen. Er konnte nachweisen, daß Formen der post-synaptischen Potenzierung mit einfachen Lernformen zu korrespondieren scheinen (Kandel & Tauc, 1965). Die weiteren bahnbrechenden Entdeckungen und Erkenntnisse von Eric Kandel haben gezeigt, daß die Funktion der Synapsen – Synapse heißt „der Kontaktbereich, in dem ein Neuron Informationen auf eine andere Zelle überträgt“ (Bear et al., 2009, S. 927) – und deren Veränderung grundlegende Bedeutung für unser Lern- und Erinnerungsvermögen haben (zur Übersicht: Kandel, 2012): Das Gedächtnis ist in den Synapsen verortet oder auch „I am my connectome“ (Seung, 2013, 2010; Das ,connectome‘ ist die Gesamtheit aller Verbindungen zwischen den Neuronen eines Gehirns).
Und diese Verbindungen und Netzwerke können sich ein Leben lang auf-, ab- und umbauen; diese sog. Neuroplastizität ist sogar trainerbar (zur Übersicht: Klingberg, 2010), so daß einem jeden Gehirnträger ein hochkomplexes und sich selbstorganisierendes Organ gegeben ist, das in sich immer lernen will.
Erkenntnis
Diese faszinierende Einzigartigkeit gilt es in der Erziehung und Bildung, in Beruf und Freizeit zu bewahren und als Ressource zu nutzen. Menschengruppen sind lern- und arbeitstechnisch eher unterschiedlich als konform. Diese Heterogenität in der ‚neuronalen Hardware‘ gilt es für Eltern und für Lehrende zu verstehen und sollte für einen breiten und tiefen Methodenkoffer sorgen.
Und auch für lernende Gehirne gilt, daß jedes Gehirn anders lernt. Ich kann also nicht ganz genauso lernen, wie ein anderes Gehirn lernt, sondern muß selber herausfinden, wie mein eigenes Gehirn lernt:
Quellen
Bear, M.F., Connors, B.W. & Paradiso, M.A. (2009): Neurowissenschaften – Ein grundlegendes Lehrbuch für Biologie, Medizin und Psychologie. 3.Aufl., Heidelberg: Spektrum.
Beck, H., Anastasiadou, S. & Meyer zu Reckendorf, C. (2016): Faszinierendes Gehirn – Eine bebilderte Reise in die Welt der Nervenzellen. Heidelberg: SpringerSpektrum.
Kandel, E.R. (2012): The molecular biology of memory: cAMP, PKA, CRE, CREB-1, CREB-2, and CPEB. Molecular Brain, 5: 14, S. 1-12.
Kandel, E.R. & Tauc L. (1965): Heterosynaptic Facilitation in Neurones of the Abdominal Ganglion of Aplysia Depilans. The Journal of Physiology, 181, S. 1-27.
Klingberg, T. (2010): Training and plasticity of working memory. Trends in Cognitive Sciences, 14(7), S. 317-324.
Max-Planck-Gesellschaft (2014): Das Konnektom - Ein Netzwerk im Gehirn. Online verfügbar: YouTube. URL: https://www.youtube.com/watch?v=FEJvcDYLSGQ [Abfrage: 05.07.2019].
Medina, J. (2017): Brain Rules für Ihr Baby: Wie neurowissenschaftliche Erkenntnisse helfen, dass Ihre Kinder schlau und glücklich werden. 2., unv. Aufl., Göttingen: hogrefe.
Medina, J. (2008): Brain Rules: 12 Principles for Surviving and Thriving at Work, Home, and School. Seattle: Pear Press.
Schultz, T. (2006): File:DTI-sagittal-fibers.jpg . Online verfügbar: Wikimedia Foundation. URL: https://en.wikipedia.org/wiki/File:DTI-sagittal-fibers.jpg [Abfrage: 14.10.2019].
Seung, S. (2013): Das Konnektom – Erklärt der Schaltplan des Gehirns unser Ich? Heidelberg: SpringerSpektrum.
Seung, S. (2010): I am my connectome. Online verfügbar: TED. URL: http://www.ted.com/talks/sebastian_seung.html [Abfrage: 16.04.2011].
Wann wird was gelernt? „Die Frage erscheint zunächst banal, ist sie aber nicht, und lautet ganz einfach: Wann wird überhaupt was gelernt? Lernt man im Englischunterricht Vokabeln oder im Mathematikunterricht das Einmaleins, dann ist klar, wann gelernt wird (im Unterricht) und was gelernt wird („table – Tisch“, „3 x 4 = 12“). Das liegt daran, dass „Unterricht“ von außen strukturiert wird, kurz: Weil ein Lehrer festlegt, wann was gelernt wird“ (Spitzer, 2015, S. 851).
Aber wie wird vor der Schule, vor dem Kindergarten gelernt? Wie entscheidet da das Gehirn der Kleinkinder, der Babies, was wann gelernt wird? Mir ist kein Fall bekannt, dass Eltern ihren Kleinkindern beispielsweise das Krabbeln durch Vorkrabbeln, Krabbel-Gebrauchsanleitungen noch durch lautstarke Krabbel-Anordnungen beigebracht hätten. Die von Stahl & Feigenson (2015, S. 91) in Science, einer der weltweit renommiertesten Wissenschaftsfachzeitschriften, publizierten Studie zeigt an 110 Kleinkindern im Alter von elf Monaten auf, daß Kleinkinder quasi wie Wissenschaftler sich die Welt ‚erforschen‘. Kleine Forscher in Windeln: Sie beobachten etwas und bilden Erwartungen. Bestätigen sich dann diese Erwartungen, ist alles klar und es gibt nichts Neues zu lernen. Treten aber Abweichungen oder Fehler in den Erwartungen auf, dann stimmt etwas nicht, dass dann umgehend erforscht werden muss: „Wenn die auf Vorerfahrungen beruhenden Erwartungen jedoch nicht erfüllt werden, dann schlägt das geballte Erkenntnisinteresse eines jungen Gehirns gnadenlos zu und findet durch aktives Experimentieren heraus, wie die Dinge wirklich sind!“ (Spitzer, 2015, S. 852).
Fassen wir kurz zusammen: Lernen kann jeder.
Und zwar ein Leben lang: „Some parts of our adult brain stay as malleable as a baby’s, so we can create neurons and learn new things throughout our lives“ (Medina, 2008, S. 280). Eine klasse Sache unser Gehirn. Es will einfach immer lernen und hört gar nicht mehr auf damit. Bis, ja bis … irgendwann das „learning by wraithing“ beginnt – wie ich es auch nenne – oder besser das „non-learning by wraithing“. Wraith? Fluchs in’s Vorwort geschaut oder in das erste ‚Lern Dich glücklich‘-Buch (Schutz, 2016a, S. 25), dort ist alles erklärt.
Erkenntnis
Unser Gehirn will einfach immer lernen. Ein Leben lang. Ja sogar schon vor der Geburt. Und es hört einfach nie auf zu lernen. Mein LernTipp: Lasst Euch Euer Lernen nicht von anderen vermiesen! Von keinem! Wenn Ihr Euer Lernen nicht verlernen wollt, vermag niemand, es Euch zu nehmen. Niemand.
Und jeder trägt ja als Gehirnträger so ein faszinierendes Lern- und Denkorgan mit sich herum (siehe LernTipp 0). Also bleibt so neugierig wie in Kindertagen, wo Ihr als ‚Forscher in Windeln’ Eure Welt erobert habt. Gestaltet Euer Lernen wieder genauso forschend und freudig! Und wenn Ihr stolpert und hinfallt? Was habt Ihr als Kleinkindern gemacht? Ihr seid aufgestanden und habt weiter Eure Welt erobert! Und Ihr werdet wahrscheinlich bei einem anderen Lernprozess wieder hinfallen. Also wieder aufstehen und weiter! Die Kunst ist es, sich mit Freunden und Menschen zu umgeben, die einem beim Ausstehen helfen und sich nicht daran ergötzen, Dich fallen zu sehen (und dann womöglich noch nach zu treten).
Quellen
Medina, J. (2008): Brain Rules: 12 Principles for Surviving and Thriving at Work, Home, and School. Seattle: Pear Press.
Schutz, T. (2016a): Lern Dich glücklich! - Lernen mit Lernfreude ein Leben lang. Norderstedt: BoD.
Spitzer, M. (2015): Babys sind auch nur Wissenschaftler. Nervenheilkunde, 34(11), S. 851-853.
Stahl, A.E. & Feigenson, L. (2015): Observing the unexpected enhances infants‘ learning and exploration. Science, 348(6230), S. 91-94.
Wie im LernTipp 1 kurz angerissen, erforschen bereits Säuglinge aktiv und neugierig ihre Umwelt. Diese Vorstellung von Kindern als „kleinen Wissenschaftlern“ hat mit Piaget (1952) begonnen. Nach ihm haben unzählige Experimente gezeigt, daß Kinder mehr sind als passive Beobachter: Sie spielen vielmehr eine aktive Rolle beim Aufbau ihres eigenen Lernens. Kleinkinder sind neugierige Lernende, die ihre eigene kognitive Entwicklung vorantreiben, indem sie ihrer Lernumgebung eine Struktur auferlegen, wenn sie sie erkunden (vgl. Twomey & Westermann, 2018, S. 1).
Die kognitive Entwicklung in den ersten Lebensjahren erfolgt hierbei aber eher intuitiv und ist stärker von Brüchen und weniger von Kontinuität gekennzeichnet, als daß es der Begriff „Forscher“ mit geplanten, aufeinander aufbauenden Experimenten suggeriert. Doch 60 Jahre intensiven Forschens haben eine Rolle für aktive Veränderungen der neuronalen Konnektivität als Steuerung von Verhalten und Verhaltensänderungen gezeigt (zur Übersicht: Sweatt, 2016). Beispielsweise konnten Dehaene et al. (2010) in ihrem Science-Artikel „How learning to read changes the cortical networks for vision and language“ (330(6009), S. 1359-64) belegen, daß das Lesen-Lernen eine kulturelle Umnutzung biologischer Wahrnehmungsressourcen darstellt. So könnte es erklärbar sein, daß Kleinkinder, die sich in dieser Phase entwickeln, in manchen Wahrnehmungsaufgaben schlechter abschneiden als Kleinkinder vor dieser Phase. Dies sollte bei der Bewertung dieser ‚Brüche‘ für die Gehirnentwicklung berücksichtigt werden.
Weitere nicht-invasive Methoden zur Messung der Gehirnfunktion bei wachen, ‚behaving‘ Säuglingen eröffnen aktuell neue Räume für weitere Forschungen: fMRI wird für diesen Zweck immer praktikabler und bietet die einzigartige Möglichkeit, das gesamte Gehirn, einschließlich der kortikalen und subkortikalen Strukturen, präzise zu messen (vgl. Ellis & Turk-Browne,2018). Zudem haben Twomey & Westermann mit ihrem ‚neurocomputational‘-Modell die erste formale Darstellung des neugierbasierten Lernens bei Säuglingen entwickelt, in welchem subjektive Neuheiten und intrinsische Motivationsmechanismen in einem einzigen Modell integriert sind. Dieses Modell bietet eine neue mechanistische Theorie des frühen, intrinsisch motivierten, visuellen Lernens (vgl. Twomey & Westermann, 2018, S. 13). Durch u.a. diese Methoden und Simulationen werden wir immer besser lernen zu verstehen, wie die Gehirne von Säuglingen mitunter auch durch das neugierbasierte Lernen, durch ‚Forschergeist‘ die Welt entdecken.
Erkenntnis
Was sagt uns dies? Etwas gar wunderprächtiges: Als Erwachsene, als Eltern, Lehrer oder Führungskräfte müssen wir eigentlich wenig unternehmen, wenn die Gehirne der Kinder oder Mitarbeiter das Lernen noch nicht verlernt haben (LernTipp 1), sondern immer noch mit einer gehörigen Portion Neugier und Forschergeist die Welt entdecken. Damit dem so ist, empfiehlt John Medina in seinem Buch „Brain Rules für Ihr Baby: Wie neurowissenschaftliche Erkenntnisse helfen, dass Ihre Kinder schlau und glücklich werden“ (2017):
Dies gilt nach meiner über 30-jährigen Erfahrung für alle Kinder und alle Erwachsene in allen Altersklassen. Auch für Schüler und Lehrer, Studierende und Professoren, Mitarbeiter und Führungskräfte. Abschließend empfiehlt John Medina: „Die Elternschaft ist ihren Preis in jeder Hinsicht wert. Genießen Sie die Reise!“ (Medina, 2017, S. 291)
Quellen
Dehaene, S., Pegado, F., Braga, L.W., Ventura, P., Nunes Filho, G., Jobert, A., Dehaene-Lambertz, G., Kolinsky, R., Morais, J. & Cohen, L. (2010): How learning to read changes the cortical networks for vision and language. Science, 330(6009), S. 1359-1364.
Ellis, C.T. & Turk-Browne, N.B. (2018): Infant fMRI: A Model System for Cognitive Neuroscience. Trends in Cognitive Sciences, 22(5), S. 375–387.
Medina, J. (2017): Brain Rules für Ihr Baby: Wie neurowissenschaftliche Erkenntnisse helfen, dass Ihre Kinder schlau und glücklich werden. 2., unv. Aufl., Göttingen: hogrefe. Piaget, J. (1952): The origins of intelligence in children. New York: International University Press.
Sweatt, J.D. (2016): Neural plasticity and behavior - sixty years of conceptual advances. Journal of Neurochemistry, 139(Suppl 2), S. 179-199.
Twomey, K.E. & Westermann, G. (2018): Curiosity-based learning in infants: a neurocomputational approach. Developmental Science, 21(4): e12629, S. 1-13.
Lernen besteht, wie viele meinen, nicht nur aus Auswendiglernen und der auswendig gelernten Wiedergabe von Antworten. Lernen heißt vielmehr auch Suchen, nach Fragen suchen. Aber auch das Erlernen von sozialen Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Querschnittkompetenzen wie Führungskompetenz, das Lernen des Lernens in Gruppen oder in Teams oder auch das Lernen des organisationalen Lernens wird in der Arbeitsumgebung beiläufig – wenn überhaupt – und eher zufällig gelernt. „Wir lernen nicht spontan, dass wir nicht lernen, dass wir nicht lernen. Das Problem liegt in der Struktur unseres Verstandes: Wir lernen keine Regeln, sondern nur Fakten“ (Taleb, 2008, S. 6).
Ok, aber was heißt jetzt ‚Lernen‘ konkret? Schauen wir in den Originaltext der „Didaktischen Ährenlese“ von Johann Amos Comenius (1592-1670) „Spicilegium Didacticum Artium Discendi ac Docendi Summam brevibus Praeceptis exhibens“ (Comenius, 1680) oder in die deutsche Übersetzung „Mathetica, d.h. Lernkunst“ (Winkel, 1996), so finden wir 43 Ratschläge, wie wir das Lernen selbst erlernen können.
Beispielsweise heißt der zweite Ratschlag: „Lernen heißt suchen, etwas zu wissen, oder das Wissen (die Kenntnis) der Dinge suchen“ (Winkel, 1996, S. 130). Suchen geschieht nicht – was im übrigen auch bei der Benutzung von Suchmaschinen hilfreich ist – durch die Wiedergabe von auswendig gelernter Information, sondern durch Fragen. Um wiederum die richtigen Fragen stellen zu können, ist Fakten-Wissen natürlich auch nicht verkehrt. Aber auch nicht erschöpfend. Wie lernen und lehren wir also die richtigen Fragen selbständig zu stellen?
Wenn wir uns das Projekt „Hole in the Wall“ von Professor Mitra anschauen (Mitra et al., 2005), kann man erahnen, was damit gemeint sein könnte und was nicht. Lernen heißt Suchen. Jedes Lernorgan, jedes Gehirn sucht bzw. lernt hierbei für sich. Selbstorganisiertes Lernen erhält so eine völlig neue Bedeutung: Anders als selbst kann das Gehirn nicht lernen. Der Lehrende kann dem Lernenden (reichhaltige) Lernumgebungen ermöglichen, aber für den Lernenden lernen, kann er nicht.
Das ‚Suchen‘ im ‚Lernen heißt Suchen’ geht über das ‚Googeln‘, über eine Informationen-Suchen weit hinaus. Einzelinformationen können über Suchmaschinen gesucht werden. Brauche ich dazu Lust? Oder stört Unlust? Eigentlich spielt dies beim Googeln überhaupt keine Rolle. Beim eigentlichen Lernen aber schon (siehe LernTipp 11 und 27). Lernen ohne Lust heißt meist Pauken. Unser Gehirn kann dieses auch. Aber mitunter nur mit erheblichen Qualen, mit großem Aufwand und extrem großer Vergessenswahrscheinlichkeit.
Für alle Lernenden jeden Alters – ja, hier sind auch alle Chefs in der digitalen Ära angesprochen, wenn Sie die digitale Transformation relativ unbeschadet überstehen wollen (vgl. Indset, 2019) – ist mitunter der einzige Weg, um in der nicht allzu fernen Zukunft in Deutschland ein mittleres und höheres Einkommen erzielen zu können, freiwillig, freudvoll und selbstorganisiert lernen zu wollen, um im Team komplexe Probleme selbständig zu lösen und wirkliche Innovationen durch Führung und Disziplin zu realisieren (vgl. Pisano, 2019).
Erkenntnis und Methode
Für ein vertieftes Lernen ist Frage essentiell: Was suche ich eigentlich? (= LernTipp 3) Was will ich eigentlich herausfinden? Was interessiert mich? Und was hat eine mögliche Antwort mit mir als Persönlichkeit zu tun? Zugegeben, diese Fragen gehen ganz schön in die Tiefe. Aber darum heißt es ja auch so: Vertieftes Lernen. Zugegeben, im Kindergarten oder in der Grundschule sind diese Fragen zum Erlernen der Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen noch nicht so wichtig. Aber in der Oberstufe könnte schon die Frage erlaubt sein, warum habe ich eigentlich diesen Leistungskurs gewählt und nicht jenen?
Spätestens im Studium und im Beruf sind diese Fragen der Schlüssel zum Erfolg: „Eine […] nicht minder wichtige Herausforderung ist es, möglichst frühzeitig für jeden einzelnen Studierenden zu erkennen, ob er bzw. sie das individuell richtige Studienfach gewählt hat, das den jeweiligen persönlichen Neigungen, Interessen und Fähigkeiten entspricht und zur Verwirklichung der eigenen Lebensziele beiträgt Denn nur dann sind Studierende ausreichend stark und dauerhaft intrinsisch motiviert, um ein anspruchsvolles, komplexes Studium erfolgreich durchzuziehen“ (Schlierkamp & Thurner, 2014, S. 179).
Quellen
Comenius, J. A. (1680): Spicilegium Didacticum Artium Discendi ac Docendi Summam brevibus Praeceptis exhibens. è MSStis Cl. J.A. Comenii collectum & editum à C.[hristiano] V.[ladislao] N[igrino]. Amstelodami Typis Christophori Cunradi. [in der Übersetzung von C.Th. Lion in: „Joh. Amos Comenius‘ Pädagogische Schriften. Dritter Band: I. Der Mutter Schul, II. Didaktische Ährenlese“. Hrsg. von C.Th. Lion [1898], 2. Aufl. Langensalza 1907, S. 71-96].
Indset, A. (2019): Führungsstrategie: Wie die Digitalisierung die Chefrolle auf den Prüfstand stellt. Online verfügbar: Handelsblatt. URL: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/beruf-und-buero/buero-special/fuehrungsstrategie-wie-die-digitalisierung-die-chefrolle-auf-den-pruefstand-stellt/25000366.html?ticket=ST-6091368-fAtO2JubV-cpRzgvVBrG7-ap2 [Abfrage: 21.09.2019].
Mitra, S., Dangwal, R., Chatterjee, S., Jha, S., Bisht, R.S. & Kapur, P. (2005): Acquisition of computing literacy on shared public computers – Children and the “hole in the wall”. Australasian Journal of Educational Technology, 21(3), S. 407-426.
Pisano, G.P. (2019): Innovation erfordert Disziplin. Harvard Business manager 41(6), S. 16-27.
https://publishup.uni-potsdam.de/opus4-ubp/frontdoor/deliver/index/docId/8474/file/cid09_179-187.pdf