Gewidmet meinem Urgroßvater Peter, den ich gerne kennengelernt hätte, Karl Gemmer, Braurods Gode, Gringels Anna und Rahns Muddi, Ernst A. Bloemers, Emilie und Karl Kirchner, Lina und Karl Löb.

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© 2014 Monika Felsing

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Gestaltung: Wolfgang Rulfs

www.wolfgang-rulfs.de

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7357-1608-8

Dè Inhalt

Alles eine Frage der Perspektive. Luftbild von Ober-Gleen von Walter Ruppenthal.

Mie wie Ärwed

Woas mächsde dèrr fier è Ärwed!“ Keinen Satz habe ich bei den Recherchen für den ersten Band der Reihe Ober-Gleen, „Gliesbeurel inner sich“ (Kloßbeutel, der Spitzname der Ober-Gleener, unter sich), häufiger gehört. Schon das zeigt, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Fast jede Arbeit war früher auf dem Land mit körperlicher Anstrengung verbunden, mit Schwielen an den Händen, mit Bächen von Schweiß. Und mit ständiger Bewegung. Wer rassd, der rossd! Das galt sogar schon für die Jugend. Wenn ich in den Schulferien am helllichten Tag mit einem Buch auf dem Sofa lag und vor mich hin rostete, dann dauerte es nicht lange, und meine Oma Lina schaute ins Wohnzimmer: „Fehldèr woas? Säisde kraank?“ Ich habe es auf den Versuch ankommen lassen: Ging ich mit einem Buch in der Hand im Haus herum, von Zimmer zu Zimmer, treppauf, treppab, dann hatte ich meine Ruhe. Das Buckdugou (Book to go) war erfunden. Heute heißt das mobile Buch Ibuck (E-Book), und eins davon „Gliesbeurel inner sich“. Im ersten Band haben wir Ober-Gleen kurz vorgestellt, das Dorf gestern und heute, einige Familien und die Mundart, die in den Folgebänden eine kleinere, aber keine unwichtige Rolle spielt. Im dritten Band, „Himmel un Höll“, wird es ums Zusammenleben, Auseinanderleben und Überleben im 19., 20. und 21. Jahrhundert auf dem Dorf gehen, im vierten ums „Schbille gieh un Feiern“. Arbeit, das zentrale Thema dieses Bandes, ist so ziemlich das Gegenteil davon. Seinen Schaff zu haben, sollte keine Freude machen, sondern stolz. Anerkannte Faulenzer gab es in Ober-Gleen natürlich auch zu manchen Zeiten und glücklicherweise ein paar Lebenskünstler, die zwar fleißig waren, aber entspannter als die Wuhler. Es kam vor, dass sie ihre Arbeit unterbrachen, weil ihnen die Menschen, denen sie begegneten, wichtiger waren als die Dinge, die sie erledigen wollten. Bernd Schneider, Bilsegässersch Bernd, erinnert sich an einen von ihnen, Otto Kirchner, genannt Suse Oddo, der ihn beeindruckt hat (O-Ton auf CD, vorwiegendHochdeutsch, vermischt mit Platt): „Der Oddo woar’en Mensch, der einfach immer Zeit hatte. Wenn der einem im Feld begegnet ist, memm Schlebber, es konnt’ eam deggsde Heumache sei, es war egal, dè Oddo hat dè Schlebber abgeschdellt on hat è paar Woadde mèd einem geredet. Das woar subber. Gaanz toll!“

Anderen zuzuhören, etwas zu lesen, etwas aufzuschreiben, das galt früher nicht als Arbeit, weder hauptberuflich noch ehrenamtlich, und so etwas wirkt sich auf die Quellenlage aus. Nur wenige private Aufzeichnungen sind veröffentlicht, einige sind sicher auch nur den Familien bekannt. Frauen schrieben Kochbücher für den Hausgebrauch. Männer führten Protokoll im Verein, wie mein Vater bei der Feuerwehr. Aufs Land geschickte Kinder warfen in der Nachkriegszeit heimlich Postkarten in den Briefkasten, an denen das Heimweh ähnlich fest klebte wie die Heuss-Briefmarke. „Lieber Papi, liebe Mutti“, schrieb der kleine Rolf in den Taunus, „wie geht es Euch? Mir geht es bis jetzt ganz gut. Das Wetter ist einiger Maßen gut. Wie geht es den Vögeln? Ihr könnt mich ruhig am Samstag-Sonntag holen, wenn ihr kommt, braucht ihr Kirchners nichts zu sagen das ich Euch geschrieben habe.“ Was ich in sechs Wochen Kinderkur im Allgäu in den Siebzigern an Post aus Ober-Gleen hatte, habe ich aufgehoben, Briefe, in denen es um die Familie ging, um die Gesundheit, die Arbeit, das Wetter, die Tiere – und ums Vermisstwerden. Meine Briefe aus der Zeit sind ähnlich, als Quellen aber nicht sehr authentisch, denn die Heimleitung zensierte die Post, selbst die Briefe von Neunjährigen. Als Verlobte haben sich meine Eltern eines Briefmarkencodes bedient und Liebesbriefe postlagernd geschrieben. Das Postmariechen war damals noch nicht im Einsatz. Marie Engel war eine, die für die Kunden möglich machte, was sie möglich machen konnte. Wenn ich in der Filiale bei mir um die Ecke, in der das Personal ständig wechselt, wieder einmal in ein muffliges Gesicht blicke, dann wünsche ich mir die alten Postzeiten zurück.

Kleine Pause in der Schmiede: Rudolf Scheld (von links), Otto Kirchner (Suse Oddo), der Schmied Gerhard Lesch und Horst Scheld.

In Schachteln und Schubladen liegen in vielen Häusern noch alte Briefe, Karten und andere Schriftlichkeiten, Ernstes, Sachliches, aber auch Humor- und Gefühlvolles, denn wenn die Muse die Gliesbeurel küsst, machen sie sich einen Reim auf ihr Leben oder das ihrer Nachbarn, dann schreiben sie lange, humorvolle Festtagsreden, herzige Liebesbriefe, Spottlieder, romantische Hymnen und Büttenreden. Gereimte Lebensläufe bringen wir in diesem Band, außerdem auch wieder Back- und Kochrezepte, eingereicht von Ober-Gleenerinnen, und zahlreiche Fotos aus privaten Sammlungen. Auch Familiennamen geben Hinweise auf die Familiengeschichte. Während der Adel seit alter Zeit Familiennamen und Wappen führte, haben sich Familiennamen auf dem Land in nichtadeligen christlichen Familien im 17./18. Jahrhundert durchgesetzt. Nichtadelige jüdische Familien waren seit Beginn des 19. Jahrhunderts verpflichtet, einen Familiennamen zu tragen. In Ober-Gleen wohnten damals unter anderem die Familien Sondheim, Lamm und Rothschild. Wie die Dorfnamen sind Familiennamen in Deutschland immer noch häufig vom Vornamen des Vaters (selten dem der Mutter) abgeleitet, wie bei Peter, Engel, Wolf oder Jakobi/Jacobi, aber auch von einer Eigenschaft (Dick, Jung, Kurz, Klein, Schön) oder von dem Ort, aus dem ein Vorfahr stammte, oder von dem Fleck im Dorf, auf dem das Haus der Familie stand. Wesentlich prägender aber war die Arbeit. Auf Berufe gehen Familiennamen wie Wagner,Schulz/e (von Schultheiß), Meier (von Hausvorsteher), Müller, Becker, Fleischhauer, Fischer, Hofmann, Bauer, Weber, Zimmermann, Schuster, Schumacher, Jäger, Schreiner, Schreiber, Pfeifer (Musiker), Schmidt, Euler (wie man die Töpfer nannte), Schneider oder Schäfer zurück. König, Hahn, Fuchs, Lenz, Sommer, Herbst und Winter zählen zu den Übernamen, die sich unter anderem auf Ereignisse, charakterliche Besonderheiten und spezielle Abhängigkeiten beziehen. Die Vorfahren der Familie König etwa waren nicht von Beruf Könige, sondern haben mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Abgaben an den König gezahlt.

Pfarrer Otto Christ hat von 1926 bis zu seinem Wechsel nach Stockstadt 1934 im Gemeindeblatt vieles über Arbeit in alter Zeit geschrieben, aber auch den Alltag der Gemeinde dokumentiert. Alle vier Bände der Reihe über Ober-Gleen können von dieser Vorarbeit profitieren. In dieser Ausgabe wird der Theologe, der auch als Heimathistoriker und Journalist tätig war, selbst kurz porträtiert. Seine Familiennachrichten im Gemeindeblatt „Kirtorf – Ober-Gleen – Deine Heimat“ geben Aufschluss über die Berufe der Männer, die geheiratet haben oder Pate geworden sind. In Nachrufen würdigte Otto Christ unter anderem auch, wie schwer Frauen auf dem Land gearbeitet haben. Nicht wenige sind seinerzeit noch vor ihren Männern gestorben.

Was Arbeit ist, bestimmten früher in Ober-Gleen wie überall die, die sie großzügig verteilten oder die am Ende dafür zahlen sollten. Wenn ich als Kind wieder einmal keine Lust zum Abtrocknen hatte und die Welt generell ungerecht fand („Immer ich! Der Kalleins nie!“), bekam ich automatisch zu hören: „Das ist doch keine Arbeit!“ Das empörte mich natürlich noch mehr. Wie viel Aufwand etwas ist, wird gerne heruntergespielt, nicht nur in der Erziehung und beim Bezahlen. Häufig wehren Menschen, die besonders hilfsbereit sind und niemanden beschämen wollen, jeden Dank ab: „Doas woar doch käi Ärwed nit!“ Obdreggen blieb, wie so vieles andere, das keinen Spaß macht und täglich erledigt werden muss, noch langeFrauenarbeit. Bei meiner Konfirmation 1979 wickelte ich Berge von Obdreggelsdichern aus dem Geschenkpapier.

Auch in schlechten Zeiten hat es auf dem Dorf, anders als in der Stadt, noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genug Beschäftigung gegeben. Das Wort arbeitslos (uhne Ärwed, käi Ärwed huh) existierte in der Mundart nicht, denn sogar die ärmeren Familien hatten ein Haus, einen Garten, vielleicht ein Stück Land, viele beherrschten ein einfaches Handwerk, und wer kräftig genug war, half bei anderen in der Landwirtschaft oder ging in den Wald. Arbeitsteilung bestimmte den Alltag und häufig auch die Beziehungen der Menschen zueinander, aber auch die Einstellung zu Behinderten, Alten und chronisch Kranken. Nicht zu vergessen die Zwangsarbeiter, unter anderem Franzosen, die während des Zweiten Weltkrieges in einem Barackenlager am Rand des Dorfes untergebracht waren und unter anderem beim Holzmachen im Wald eingesetzt wurden, und die polnischen „Fremdarbeiterinnen“ und „Fremdarbeiter“ auf den Bauernhöfen.

Zu tun ist auch heute auf dem Land genug, aber wie früher fehlt Erwerbsarbeit, die gerecht entlohnt wird, reicht das Einkommen von Berufstätigen nicht immer, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Und dabei haben die Menschen einen verfassungsmäßigen Anspruch auf eine angemessene Arbeit. In der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 steht, was sich auf Ober-Gleener Platt sinngemäß so lesen würde: „Alle Leud huh è Recht off Ärwed. Jeder voo ins deaff sich sein Beruf frei gewehn. Oo dè Ärwed soll sech kenner sei Gesondhäd ruiniern. On de Schdaad muss mèd defier sorje, desses genunk Schdenn gedd, domed kenner off dè Schdroos schdidd.“ Auf Hochdeutsch: „Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit.“ Manche Gliesbeurel fahren durch halb Hessen, um erwerbstätig zu bleiben, viele Jüngere sind früher oder später weggezogen, weil sie in der Region keine Arbeitsoder Ausbildungsstelle bekommen haben, andere sindstudieren gegangen, haben sich fern der Heimat selbstständig gemacht oder sind in den Staatsdienst eingetreten.

Die Generation meiner Großeltern war es so sehr gewohnt zu schuften, dass einige sich kein Leben neben oder nach der Arbeit vorstellen konnten. „Woas schaffsdèdè?“ war gleichbedeutend mit „Wie geht es dir?“ und „Hosdè naut zè duh? Hast du nichts zu tun?“ konnte man ohne weiteres als Verwarnung verstehen. „Wann ech nit mie ärwenn kann, will ech duud sei“, hat Oma Lina in den Siebzigern häufig gesagt und es auch so gemeint. Der Satz hat mich als Kind erschreckt und tut es noch heute. „Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, will ich tot sein.“ So war es meiner Großmutter beigebracht worden: Dè Mensch ärwelt bes zèm Imfann. Der Mensch arbeitet bis zum Umfallen. Arbeit war der Sinn des Lebens, die einzige Daseinsberechtigung. Zum Glück überlegte es sich Oma Lina anders und starb nicht im Winter 1990 unmittelbar nach ihrem ersten Schlaganfall, der ihr das Strümpfestricken, Zeitunglesen und Kartoffelschälen zeitweise unmöglich machte, ihr Gedächtnis beeinträchtigte und ihr vieles andere erschwerte, sondern schloss die Augen neun Jahre später, im Alter von 88 Jahren.

Auf dem Dienstweg an der Gleen.

Das Arbeitsethos konnte biblische Ausmaße annehmen, egal, wie gläubig die Menschen waren. Nur wenn das Leben „naut wie Ärwed“, nichts als Mühe gewesen war, dann war es köstlich gewesen, so hatten sie es gelernt. Mein Großvater ging darin auf. Als Maler, Maurer, Heimwerker, Gemeinde- und Kirchenrechner kannte er kaum einen anderen Zeitvertreib als seine Arbeit. Das Wort „Ich“ kam in seinen Tagebüchern so gut wie gar nicht vor, als gäbe es dieses Ich nicht oder nur als Bestandteil des Wortes Pflicht. „Wenn ich zum Bezahlen zu deinem Obba gekommen bin, hatte ich immer ein bisschen Angst“, hat mir eine Ober-Gleenerin erzählt und sich gleich verbessert. „Nein, Angst nicht. Respekt.“ Mein Großvater, Karl Felsing senior, war ein korrekter, penibler Mensch, etwas steif im Umgang mit anderen. Er hatte als Jugendlicher erstaunlich akkurate Bauzeichnungen zustande gebracht und zeitlebens ein Händchen für Zahlen. „Geld regiert die Welt“, pflegte er zu sagen, aber damit kam er bei seiner Enkelin eines Tages nicht mehr durch. Ich war ein antimaterialistisches Kind, lange bevor ich „Pippi Langstrumpf“ gelesen hatte. Irgendwo muss ich eine andere Redensart aufgeschnappt haben, die ich ihm entgegenhielt: „Geld ist nicht die Welt!“ Ich sehe uns noch am Haus entlang durch den Garten gehen, er schon etwas schleppenden Schrittes, ich hüpfe fröhlich plappernd nebenher. Und bedaure noch im Nachhinein, dass meine Worte ihn nicht erreicht haben und dass er nicht auch ein bisschen gehüpft ist.

„Vor allem eins, mein Kind. Sei immer treu und wahr. Lass nie die Lüge deinen Mund entweihen“, schrieb mir mein Großvater Mitte der Siebzigerjahre in mein Poesiealbum. Es ist mir bis heute ein Rätsel, was ihn dazu bewogen hat, mir den „Deutschen Rat“ von Robert Reinick (1805-1852) mit auf den Weg zu geben. In der Nazizeit mussten Schulkinder die Verse des Biedermeierdichters auswendig lernen und ahnten nicht, dass Reinick auch Liedertexte und humorvolle Gedichte geschrieben hat: über Gesellen, die froh sind, dass kein Meister vom Himmel fällt, über verliebte Maikäfer, eitle Gockel undüber einen faulen Knaben, der keine Lust hat, zur Schule zu gehen, und stattdessen seinen begriffsstutzigen Spitz dressiert. Alte Poesiealben sind ergiebige Quellen, weil sich zwischen all den bunten Glanzbildchen auch ein paar Botschaften verstecken. Manche sagen sehr viel über die Beziehungen der Menschen aus, über die Moral und die Ideale einer Zeit, mehr vielleicht als ihre Nachfolger, die Freundschaftsbücher und Facebook-Seiten. Wie sich Einstellungen, auch zu Arbeit, Fleiß und Freundschaft, im 20. Jahrhundert verändert haben, soll ein Vergleich des Poesiealbums von Lina und Emmi Kirchner mit meinen aus den Siebzigerjahren zeigen.

„Lass nie die Lüge deinen Mund entweihen…“ Mein Großvater verkörperte das, was man rechtschaffen nannte. Er tat, was seiner Ansicht nach getan werden musste, ging schlafen, wenn er seine letzte Kontrollrunde im Hof gedreht hatte, und stand mit den Hühnern auf. Er hatte schwere Zeiten durchgemacht, in seiner Kindheit, im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft (siehe Band 3), aber er sprach nicht darüber. Nie lernte er, das Leben zu genießen, über sich selbst zu lachen, anderen vollkommen zu vertrauen. Auf dem Kirtorfer Jakobimarkt trat er nach dem ersten Bier und der ersten Brezel den Heimweg an, und er war meiner Großmutter dankbar, dass sie widerspruchslos mit ihm kam. So lange es ihm ohne Gesichtsverlust möglich war, stemmte sich mein Großvater gegen Veränderungen, gegen den technischen Fortschritt, gegen neumodische Ideen, fest überzeugt davon, dass das Wohl der Firma vor allem von ihm abhing. Als er 1979 mit 72 Jahren starb, war sein Leben vor allem Mühe gewesen.

Schon sein Vater Peter Felsing, mein Urgroßvater, der auf Fotos so herzerwärmend lächelt, hatte als Maler und Weißbinder gearbeitet. Er hat uns zahlreiche Schablonen und Walzen hinterlassen. Unsere Familie hat die meisten davon an das Alsfelder Heimatmuseum gegeben, darunter auch das Stück Packpapier, aus dem der 13-Jährige Ende des 19. Jahrhunderts in der Schule in Alsfeld ein Muster für eine Wandbemalung geschnitten hat. Es weist auf einen anderen Beruf hin, der in

Ober-Gleen ausgeübt worden ist: Das Paket war aus Frankfurt am Main an Kaufmann Lamm in Ober-Gleen geschickt worden. Mein Vater Karl-Heinrich Felsing (1937-2009), genannt Kall, war der erste Malermeister in der Familie, soweit wir wissen. Er hat seinen Beruf geliebt und ihn auch noch im Rentenalter ausgeübt. An einigen Fachwerkhäusern in Ober-Gleen, aber auch beispielsweise in Zell, stammt der letzte Anstrich noch von unserer Firma, zu der außer meinem Vater auch meine Mutter gehörte. Jahrzehntelang ist sie auf Gerüsten herumgeklettert, als einzige Frau weit und breit, hat sie Draht genagelt und Balken gestrichen. Der Geruch nach Farbe und frischem Kitt hat mich und meinen Bruder unsere ganze Kindheit über begleitet, aber nur Karlheinz hat regelmäßig auf den Baustellen mitgeholfen, und er ist Beamter geworden, was meinem Vater deutlich lieber war, als ihm eine unsichere Existenz als Selbstständigem zuzumuten. Trotz aller existenziellen Sorgen, die ein kleiner Betrieb mit sich brachte, liebte er seine Arbeit. „Irgendwann bringen wir dir noch den Schlafanzug aufs Gerüst“, hat meine Mutter mehr als einmal gesagt, wenn mein Vater im Sommer spät von der Baustelle kam. Anders als unsere Vorfahren hat er aber auch das übrige Leben genossen, das Zusammensein mit seiner Familie, das Feiern und Reisen, das Tanzen und die Wanderungen mit dem Wanderverein. Nach seiner Krebserkrankung erlosch die Firma, die er gegründet hatte. Am 3. Juni 2009 starb er im Alsfelder Krankenhaus. Meiner Mutter fiel die schwere Aufgabe zu, den Foabkeller, eine große Werkstatthalle, mit der Hilfe meines Bruders auszuräumen und alles ordnungsgemäß abzuwickeln. Wir haben immer noch das Schild: Karl Felsing, Maler und Weißbinder.

Peter Felsing mit seinen Enkeln Karl (rechts) und Hans.

Fünf alte schokoladenbraune Krüge, die mein Vater aufgehoben hatte, zeugen davon, dass ein weiteres Handwerk an der Gleen einst Familien ernährte: Ober-Gleen war noch im 18. und 19. Jahrhundert ein Töpferdorf. Als weitere Berufe waren in Kirtorf und dem Eußergericht damals Bauern, Tagelöhner, Bäcker, Schneider, Schuhmacher, Metzger, Schreiner, Schlosser, Nagel- und Hufschmiede, Küfer, Leinweber, Müller, Maurer, Zimmerleute, Glaser, Gerber, Färber, Häfner, Sattler, Krämer, Förster, Lehrer, Pfarrer, Wagner, Dreher, Glaser, Töpfer, Wirte, Brauer, Korbmacher, Händler, Hebammen, Musikanten, Schweine-, Kuh-, Ziegen- und Schafhirten vertreten. Viele Gliesbeurel waren noch bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts Nebenerwerbslandwirte, manche übten ein Feierabendhandwerk wie Korbflechten oderBesenbinden aus und gingen mit ihren Waren hausieren. Die Zunftregeln der Handwerker waren im 18. und 19. Jahrhundert noch streng. Wer Meister werden wollte, durfte beispielsweise kein uneheliches Kind gewesen sein. Auch den Juden war es lange Zeit nicht gestattet, zunftgemäße Berufe zu erlernen oder Land zu besitzen. Sie arbeiteten auf dem Dorf unter anderem als Schneider, koschere Metzger, als Vieh- oder Getreidehändler, als Viehtreiber, als Kaufleute, als Rabbis und als Lehrer in jüdischen Gemeinden.

Die Berufswahl war den meisten Männern noch im 19. Jahrhundert in die Wiege gelegt. Vom Sohn, zumindest aber vom Ältesten, wurde erwartet, dass er in die Fußstapfen seines Vaters oder eines anderen männlichen Verwandten trat, den Hof oder den Handwerksbetrieb übernahm, falls die Familie einen hatte. Die Töchter waren in der Regel dazu bestimmt, Mütter und Landfrauen zu werden. Die Landfrau wiederum war und ist eine Frau mit zwei Berufen, dem der Hausfrau und der Landwirtin. Moderne Landfrauen bringen es sogar auf drei, die beiden traditionellen und einen neuzeitlichen Ausbildungsberuf. Gabriele Rieß, die Tochter des Schmieds Gerhard Lesch, ist eine der wenigen Frauen in einer Männerdomäne, sie ist Landmaschinenschlosserrin.

Im Haushalt, in der Landwirtschaft, auch in manchen Handwerksbetrieben haben Kinder noch im 20. Jahrhundert vor oder nach der Schule mitgearbeitet. Ihre Arbeitskraft wurde gebraucht, und nicht wenige berichten davon, dass es ihnen Spaß gemacht hat, an der Seite der Erwachsenen Kartoffeln oder Heu zu ernten, Beeren zu pflücken, den Stall auszumisten oder Marmelade zu kochen. In der Generation meiner Großmutter aber hat es Kinder gegeben, die schon früh zum Lebensunterhalt ihrer Familie beitragen mussten, weil die Eltern arm waren oder weil der Vater im Ersten Weltkrieg umgekommen war. Die Mutter meiner Großmutter musste als sogenannte Kriegerwitwe zwei Söhne und zwei Töchter ernähren, und wie hätte sie das alleine schaffen sollen? Also mussten auch die Kinder auf Bauernhöfen arbeiten. „Da war man kein Mensch“, hat Oma Lina einmal gesagt und warzeitlebens nicht gut auf Großbauern zu sprechen. Namen hat sie nicht genannt, denn meine Großmutter empörte sich nicht so sehr über die Familie, bei der sie gewesen war, sondern über das Prinzip, und sie übertrug ihre Gefühle nicht auf die Nachfahren. Es war ihre schmerzliche Erfahrung, wie sich Armut anfühlt und dass manche Leute ihr Vieh besser behandelt haben als ihre Knechte, ihre Mägde, ihre Tagelöhner und die Kinder ihrer Tagelöhner.

Was Arbeit wert war, darüber bestimmten selten diejenigen, die ihre Arbeitskraft anboten. Gewerkschaften spielten auf dem Land keine große Rolle, tarifgebundene Erwerbstätigkeit kam erst allmählich dazu. Interessant ist vor allem die Entwicklung des Reallohns, der Kaufkraft. Von der Gründung des Kaiserreichs 1871 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 waren die Einkommen deutlich stärker gestiegen als die Lebensmittelpreise, doch mit dem Krieg änderte sich die Situation. Die Inflation zerstörte den Geldwert. 1921/22 waren viele Deutsche, auch Ober-Gleener, im Besitz von Tausendmarkscheinen, die gültiges Zahlungsmittel und trotzdem so gut wie nichts wert waren. Mit diesem Geld haben wir als Kinder gespielt. In der Zeit des Nationalsozialismus waren die Löhne stabil, aber die Lebenshaltungskosten stiegen, bis Nahrungsmittel und andere Waren nur noch auf Bezugsschein zu haben waren. Im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit entwickelte sich ein Schwarzmarkt mit eigener Währung, bis in Westdeutschland die Deutsche Mark (D-Mark/DM) kam. Nach der Währungsreform füllten sich die Schaufenster in den Städten wieder, die Lebensmittelkarten hatten ausgedient, Lohnarbeit wurde wieder attraktiv, und Arbeit war in der Aufbauzeit im Überfluss da (siehe unter anderem das Kapitel über Straßenbau). In den Siebzigern und Achtzigern stiegen die Einkommen stärker als die Lebenshaltungspreise, seither aber haben wir in Deutschland eine schleichende Inflation. Ein Vergleich macht es deutlich: „Gemessen am Index der Lebenshaltungskosten war die D-Mark des Jahres 1950 im Jahre 1995 nur noch 26 Pfennigwert“, schreibt Elke Pies auf Seite 87 ihres Buches „Löhne und Preise von 1300 bis 2000“.

Mein Vater verdiente im ersten Lehrjahr als Maler und Weißbinder in etwa sechs Mark die Woche, 24 Mark im Monat, meine Mutter in Alsfeld in einer Fabrik für Babybekleidung 25 Mark monatlich, als Haushaltshilfe in einem Homberger Geschäftshaushalt kurz vor ihrer Hochzeit 1962 rund 280 Mark brutto. In den Neunzigern kam ich wiederum auf einer journalistischen Fachtagung in Bremen, über die ich für den Weser-Kurier berichten sollte, mit einem der Referenten ins Gespräch. „Mädchen“, raunte mir der gute Mann zu, „das können Sie sich wahrscheinlich nicht vorstellen: Als ich 1948 meine ersten Zeilen geschrieben habe, gab es noch zehn Pfennig die Zeile!“ Ich lächelte den in Ehren ergrauten Kollegen an. „Das können Sie sich wahrscheinlich nicht vorstellen. Aber als ich 1983 meine ersten Zeilen geschrieben habe, gab es immer noch zehn Pfennig die Zeile!“ Nur dass die zehn Pfennig inzwischen wesentlich weniger wert waren.

Wie hoch das erste Einkommen war, was sie sich davon gekauft haben, wie viel etwas Süßes in der Kindheit kostete, daran erinnern sich viele Menschen noch nach Jahrzehnten. Geld und Lohn sind eben auch mit Gefühlen behaftet. Seit 2002 zahlen wir in Euro und Cent, und noch immer rechnen wir bei großen Summen zurück, was dieses oder jenes in alter Währung gekostet oder eingebracht hätte. Und wenn Gliesbeurel etwas auf keinen Fall tun wollen, dann tun sie es wie früher „fier käi finnef Fennich“ und nicht etwa „fier käi zwä Send“.

Unabhängig vom Einkommen war eine Arbeit etwas, das seinen ideellen Wert hatte. Warum sonst hätten sich arbeitende Menschen so gerne fotografieren lassen, ob nun von dem Kirtorfer Profi Georg Wigand Fauldrath oder von Hobbyfotografen wie Rudolf Baumgärtl, Georg Eurich, Egon Brückner und heute von Elayne Dracocardos? Im Laufe der Recherchen für den zweiten Band haben wir Fotografien aus über acht Jahrzehnten gesammelt, Bilder vom Schlachten, vom Dreschen, von der Kartoffel- und der Heuernte, der Gartenarbeit, vom Brotbacken, vom Kartoffeldämpfen, vom Kochen und vom Strümpfestricken. Ich glaube, einige Ober-Gleenerinnen habe ich in den Siebzigern und Achtzigern nie ohne Nadeln und Wolle irgendwo sitzen sehen, und wenn, dann hätte ich sie wahrscheinlich nicht erkannt. Das Strickzeug war ihr Markenzeichen. Ihre Hände bewegten sich immer, und das war wichtig, denn es zeigte: Auch Frauen, die still saßen, waren nicht untätig. Frauen taten immer etwas Sinnvolles, sie hatten immer eine Beschäftigung und verplemperten keine Zeit mit einem Hobby. Männer hätten vielleicht in der Wirtschaft Karten gespielt, ein Bier getrunken oder wie schon zu Pfarrer Weidigs Leidwesen um Geld gewürfelt. Frauen strickten, häkelten oder stickten komplizierte Muster weiß auf Weiß. Das war ziemlich gut fürs Gehirn und vermutlich ziemlich schlecht für die Augen. Erstaunlicherweise gehört das Wort Feierowend zum Owenglieer Platt. Im Hochdeutschen war der Feierabend ursprünglich der Abend vor einem Feiertag, bis er zum Ende eines Arbeitstages wurde oder besser: zur freien Zeit nach Arbeitsende. Für Schdress aber hatte Oma Lina noch keine Worte. Die Arbeit war hart, aber nicht so verdichtet wie heute, sie war auf viele Schultern verteilt, statt auf immer weniger Köpfe. Trotzdem haben die Landwirte und Landwirtinnen heute wie früher in der Erntezeit Schdress, wenn das Wetter nicht mitspielt, sie haben Schdress, wenn den Tieren im Stall etwas fehlt, wenn alles gleichzeitig erledigt werden muss, das früher mehr Zeit hatte. Trotz oder wegen der Maschinen, die im Einsatz sind. Wettersatelliten wissen, ob der Bauernkalender wieder einmal recht gehabt hätte. „Chips ernten Kartoffeln“, hat Justus Randt im Weser-Kurier über den Trend zur „Präzisionslandwirtschaft“ und über Ernteroboter geschrieben. Hochmoderne Technik bestimmt auf manchen Höfen heute, wo es langgeht. „Woas Wärge, woas Wärge!“ (Was für Werke, was für Werke!), hätte Oma Lina gesagt. Meine Großmutter verließ sich lieber auf ihr Gefühl und nahm sich Zeit, getreu dem Motto: Ean dè Ruh läit die Kraft. Aber wenn sie Brotteig für ein halbes Jahr ansetzte in dem großen hölzernen Trog, dann wurde auch sie nervös. Gab es Durchzug im Haus? Ging der Teig, wie er sollte? Waralles in Ordnung mit dem Backhaus? Kurzzeitig war sie dann ungenießbar. Keine Frage, auch Oma Lina kannte Schdress, genau wie die Frauen und Männer aus dem Dorf, die damals schon im Akkord in der Fabrik arbeiteten. Aber sie hat es nicht so genannt. Und es war im schlimmsten Fall das Brot, das den Bèrrn-aut bekam.

Freiwilliges Engagement im Kleinen heißt Nachbarschaftshilfe. Äi Haand wäscht die anner. Hilfsde mir, helfich dir. Wer mehr Menschen auf einmal hilft, ohne Lohn dafür zu verlangen, hat ein Ehrenamt übernommen, ob nun bei der Feuerwehr, im Obst- und Gartenbauverein oder im Singkreis. In der Gemeinde oder im Verein ist das freiwillige Engagement heute eine der tragenden Säulen einer Gemeinschaft. Wo das Geld fehlt, um Arbeit zu bezahlen, ist der Idealismus gefordert. Das gilt auch für dieses, vom Bremer Geschichtsverein Lastoria getragene Benefizprojekt. Die Mitwirkenden erhalten kein Honorar, alle Gewinne werden für soziale Zwecke gespendet. In Ober-Gleen will der Verein mit dem Geld eine Gedenktafel zur Erinnerung an eine Frau finanzieren, die ihre Kraft für andere eingesetzt hat: Wenn ältere Ober-Gleener über Maria Jakobi, Braurods Gode, die einstige Gemeindeschwester, sprechen, wissen sie wieder, wie gut es sich angefühlt hat, jederzeit zu ihr kommen zu können, verarztet und getröstet zu werden. Sie kannte keinen Feierabend.

Die Überlieferung weiß auch von zwei außerordentlich starken Männern, die vor über hundert Jahren in Ober-Gleen unabhängig voneinander an einem Arbeitsplatz zu Lebensrettern geworden sind. Die beiden abenteuerlich klingenden Geschichten lassen sich nicht in allen Einzelheiten überprüfen, aber es wäre nicht das erste und nicht das zweite Mal gewesen, dass der Mut der Verzweiflung jemandem zusätzliche Kraft verlieh: Eine der Töchter des Globergsmüllers war mit ihrem Zopf in den Transmissionsriemen geraten. „Ihr Vater hat die Mühle angehalten“, so ist es Karl Korell, dem Enkel des Müllers, erzählt worden. Nicht weniger erstaunlich ist die Geschichte von dem Zimmermann, der 1898 beim Bau des Handsteinschen Hauses (Dorfname: Lanse) vom Dach gestürzt war.

„Mein Großvater soll ihn aufgefangen haben“, sagt Mechthild Boß. In dem Nachruf, den Pfarrer Christ sehr viel später nach dem Tod von Karl Becker verfasste, erwähnte er ausdrücklich dessen ungewöhnliche Kraft. Andere erinnern sich noch heute voller Zuneigung an gastfreundliche Landfrauen wie Anna Gringel, Emilie Kirchner und Marie Rahn. Diese und die anderen in diesem Buch gekennzeichneten Originalaufnahmen wollen wir 2013/14 zu einer CD zusammenstellen.

Lebensretter, Menschen, die auch an andere denken, und ehrenamtlich Engagierte sind die Heldinnen und Helden des Alltags. Im Idealfall bekommen sie etwas zurück, wenn auch oft mit Verspätung und eben nichts Materielles. „Geld eas nit die Welt“, wenigstens nicht unter Nachbarn. Und auch dass das Leben mehr ist als Arbeit, mie wie Ärwed, hat sich herumgesprochen. Die Sinnsuche bleibt jedem Gliesbeurel selbst überlassen. Aber ganz egal, was die ältere Generation von früher erzählt: Die meisten Ober-Gleener haben gerne und oft gefeiert (siehe Band 4). Auch das machte schon damals Arbeit, entweder den Hausfrauen oder den Wirten. Alles hat zwei Seiten. Nur das Nichtstun hat ein paar mehr.

Festumzug in den Achtzigern: Erna Christ, halb verdeckt vermutlich Annemarie Dörr und rechts Erika Becker.

Ean on aus dè Schul

Mein allererster Schultag. Unser aller erster Schultag. Nach über vier Jahrzehnten ist so etwas schon gar nicht mehr wahr. Was war wohl in der Schultüte: Bondschdefde, Zoggerschdäi, Schbielsache? Wie hat sich mein neues Kleid angefühlt? Hat mein Ranzen nach Leder gerochen? Die Erinnerung daran ist weggewischt wie die Kreide von der Tafel, aber etwas scheint durch. Und weil inzwischen der Farbfilm erfunden war, lässt sich beweisen, dass ich dieselbe Tüte im Arm gehalten habe wie mein Bruder zwei Jahre zuvor, ein rosasilbernes Prachtexemplar mit einem Schneewittchen darauf. Nichts gegen Schneewittchen! Der Zeichentrickfilm von Walt Disney war das Erste, das wir Ober-Gleener Zwerge im Alsfelder Kino gesehen haben, also auch eine Premiere. Hätten wir gewusst, was Disney für ein Mensch war, wir hätten ihn mehr gefürchtet als alle bösen Stiefmütter zusammen, aber damals hatten wir sogar Mitleid mit Karius und Baktus. Der pädagogische Film, einer von vielen, die in unserer Schulzeit den regulären Unterricht ersetzten, sollte uns Grundschulkinder zur Zahnpflege bewegen. Das ging schon mal nach hinten los. Wir fanden Karius und Baktus lustig und dachten gar nicht daran, sie nach jedem Essen mit der Zahnbürste wegzuschrubben, nicht einmal aus Angst vor dem Kirtorfer Zahnarzt.

Geschnuggelt haben wir Kinder damals alle gern, also werden auch ein paar Süßigkeiten in die Schultüte gekommen sein. Anders als heute war die Einschulung im Sommer 1971 kein großes Kino, kein Familienfest mit allen Schikanen, und trotzdem ein wichtiger Tag. „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens“, hatten uns die Erwachsenen wissen lassen, und so gucken wir auch. 42 Sechsjährige aus Kirtorf und den umliegenden Dörfern, aus Lehrbach, Ober-Gleen, Arnshain, Wahlen und Gleimenhain, starren den Fotografen an wie Rotkäppchen den bösen Wolf oder das tapfere Schneiderlein das Einhorn oder die Königstochter das Rumpelstilzchen. Das halbe Eußergericht war in dieser Klasse versammelt. Und neben uns Nachkommender Bauern, Handwerker und Tagelöhner stand, hold lächelnd, im Minikleid, die Nachfahrin der einstigen Gerichtsherren: Ingrid Ebke, eine gebürtige Freifrau von Schenck zu Schweinsberg. Unsere Lehrerin.

Ihretwegen wollte ich, „wenn ich groß bin“, irgendwann selbst Kinder unterrichten, und ihretwegen habe ich gar nicht erst reiten gelernt. Denn unsere wunderbare Klassenlehrerin hatte einen einzigen Fehler: Sie fiel zu oft vom Pferd. Wenn sie wieder einmal für längere Zeit krankgeschrieben war, schickten sie uns einen Vertretungslehrer, einen, der uns die Hausaufgaben noch einmal schreiben ließ, wenn er sie nicht schön genug fand. Wir sehnten die Rückkehr von Frau Ebke herbei und waren sauer auf ihren Gaul.

Am Telefon klingt sie beinahe wie früher, auch wenn sie anders heißt und seit Langem in Bayern wohnt. „Becher“, sagt sie, und im Gespräch kehren Erinnerungen wieder: an den öden Schulhof, an die spannenden Rechenwettkämpfe, die heute bestimmt verboten wären, an Handarbeitsstunden, in denen wir Nadelbücher bestickt, Frotteedackel genäht und Topflappen gehäkelt haben. Meine ersten Paare sahen aus, als sei der eine Lappen für einen großen und der andere Lappen für einen kleinen Topf gedacht. Der Frotteedackel war knallorange wie vieles andere in den Siebzigern, und das Nadelbuch mit seinen Stoffseiten liegt unbenutzt im Schrank. Wenn ich es betrachte, kommen mir leise Zweifel an meiner Urheberschaft. Kann es sein, dass auch Nadelbücher Ghostwriter haben? Falls es nicht die Weiße Frau von Pauls Schloss gewesen sein sollte, dann habe ich meine Mutter in Verdacht.

Wenigstens einen magischen Moment hat es in meiner Schulzeit gegeben, in der dritten oder vierten Klasse. Meine Eltern hatten mir zum Geburtstag einen Zauberkasten geschenkt, den ich den anderen vorführen durfte. Im ersten Teil der Show ging alles nach Handbuch, aber dann taten Astrid und ich so, als wollten wir eine Spielkarte durch einen Tisch hauen. Wumms machte es, und drei Meter weiter klappte der Deckel einer Neonlampe auf. Wie in Zeitlupe tropfte eine eklige braune Flüssigkeit von der Decke herunter, und genauauf Silkes Pausenbrot! Das Publikum war baff. Mit solchen Spezialeffekten hatte niemand gerechnet, am allerwenigsten ich.

Zauberkästen haben im Unterricht danach keine große Rolle mehr gespielt. Wir alle hatten aber eine geheimnisvolle Plastikschachtel in unserem Ranzen. Das Ding war eindeutig zu flach für eine Brotdose und ungefähr so nützlich wie ein Frotteedackel. Mit dem Inhalt, unterschiedlich farbigen und unterschiedlich langen Holzklötzchen, sollten wir zusammenzählen, abziehen, teilen und malnehmen lernen. Das konnten wir, mit oder ohne Hölzchen, dank oder trotz der Rechenwettkämpfe, bald schon so gut wie den dreisprachigen Kanon über Bruder Jakob. „Frääre Schacke, Frääre Schacke, dorrmee wuu, dorrmee wuu?“ höre ich uns singen. „Brasser Dschonnn, Brasser Dschonn, hörst du nicht die Glocken, hörst du nicht die Glocken, ding, däng, dong, ding, däng, dong?“

In Ober-Gleen läutete noch die Schulglocke morgens für Toni Dick, geborene Wagner, und ihre Schulkameraden. Die Kirchenglocken riefen die Kinder zum Unterricht und mahnten sie, nicht zu trödeln. Wir gingen Jahrzehnte ein Stück desselben Weges, denn der alte Schulhof war unsere Bushaltestelle. Morgens wurden wir Ober-Gleener Kinder dort abgeholt und nach Kirtorf oder Homberg/Ohm zur Schule gebracht, heute hält der Schulbus am Dorfplatz in der Nähe des Komb, des Dorfbrunnens. Eins hat sich nicht geändert: Wer ab dem fünften Schuljahr nach Alsfeld aufs Gymnasium wechselt, muss mit dem Linienbus fahren und lernt die anderen Dörfer kennen. Über eine halbe Stunde waren wir damals bis zum Alsfelder Bahnhof unterwegs, fast drei Mal so lange wie mit dem Auto. Eine Schulfreundin, Astrid aus Appenrod, dürfte vom fünften Schuljahr bis zum Führerschein jeden Tag über zwei Stunden in Bussen verbracht haben, über 400 Stunden im Jahr. Das reicht anderen fürs halbe Leben.

In den Siebzigern ist aber auch das Mama-Taxi erfunden worden. Unsere Mütter gehörten zu den ersten Frauen mit Führerschein auf dem Dorf und durften gelegentlich das Familienauto fahren. Sehr gelegentlich. Zu Hause angerufenhaben wir deshalb nur, wenn gleich mehrere Stunden Unterricht ausfielen, der Bus nicht kam oder die Schule brannte. Reihum, von der Telefonzelle aus, probierten wir unser Glück. Mehr Kontakt nach Hause hatten wir den Schultag über nicht, denn ein Handy war damals Science Fiction pur. Captain Kirk von Raumschiff Enterprise testete gerade das Vorläufermodell und hatte immer, wenn es heikel wurde, schlechten Empfang.

Für uns Ober-Gleener Erstklässler des Jahres 1971 war die Schule ein fremder Planet. Für uns war alles neu. Wir hatten keinen Kindergarten von innen gesehen, denn der in Kirtorf war uns erspart geblieben und Tante Paulinchen längst in Pension gegangen. Die Kindergärtnerin war etwa 1941 ins Dorf gekommen, zwei Jahre, nachdem in Kirtorf ein Kindergarten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt gegründet worden war. Pfarrer Otto Christ hatte schon in der Weimarer Zeit, 1928, über eine Kirtorfer Kinderschule berichtet. Der Ober-Gleener Kindergarten wurde damals in der Schulgasse, der heutigen Dr.-Weidig-Straße, eingerichtet, oberhalb der alten Schule. Das ehemalige Wohnhaus einer jüdischen Familie war in Gemeindeeigentum übergegangen. Mein Vater, Jahrgang 1937, ging zu Tante Paulinchen, und auch in der Nachkriegszeit lernten die Kinder noch bei ihr Ringelreihen. Nur wenige Jahre später hat ein Zeitungsfotograf in einem Lauterbacher Kindergarten Aufnahmen gemacht, auch von einer Jugendlichen aus Alsfeld, die noch nichts ahnte von einem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) und wahrscheinlich ungefähr so entlohnt wurde. Helga Kröll arbeitete gern mit den Kindern, und doch hatte sie, wie Gliesbeurel wissen, noch nicht den Beruf fürs Leben gefunden.

Ober-Gleens Kindergärtnerin Tante Paulinchen 1951.

Helga Kröll arbeitet in den im Lauterbacher Fünfzigern Kindergarten.

Ihre eigenen Kinder, mein Bruder und ich, sind in keinen Kindergarten gegangen und waren nicht böse darüber. Aber anders als ihre frühen Vorfahren gingen wir in die Schule. Die Schulpflicht kam im 17. Jahrhundert in Hessen auf. Da hatte Ober-Gleen schon eine Schule, fast ein halbes Jahrhundert früher als die meisten anderen Dörfer des Eußergerichts, in denen sich die Schenken zu Schweinsberg mit dem Landgrafen die Gerichtsbarkeit teilten. Besonders anspruchsvoll dürfte der Lehrplan in der Anfangszeit nicht gewesen sein, wenn es überhaupt einen gab. Aber was nützt der beste Unterricht, wenn keiner ihn besucht? Annette Weber-Möckl zitiert aus einem sorgenvollen Bericht einer kirchlichen Inspektion aus dem Jahre 1628, dass „viel Eltern ihr Kind nicht zur Schul schicken, sondern wie ein Viech aufwachsen lassen und, wann sie in etwas erwachsen, zur Arbeit und andern weltlichen Handel antreiben, welches aber keineswegs zu gedulden“ (Kirtorf, S. 152).

Lehrer war damals nicht gerade ein Traumberuf. Man musste nicht Adam Riese heißen, um sich auszurechnen, dass der Lohn vorne und hinten nicht reichte, obwohl Stadt und Kirchengemeinde zusammenlegten und die Familien Schulgeld zahlten. Die meisten Lehrer hatten deshalb gleich mehrere Nebenbeschäftigungen. Sie bewirtschafteten das Stück Land, das sie zu treuen Händen erhalten hatten. Das Geld von der Stadt und von der Kirche verpflichtete sie zu besonderen Diensten. Sie waren Vorsänger und Kantoren, spielten ab 1736 auch die Orgel in der Kirche, unabhängig von ihrem Talent. Ihr Ansehen im Dorf schwankte stark. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts hat ein Ober-Gleener Landwirt seiner Tochter die Hochzeit mit einem Lehrer verboten, weil ein Schullehrer als Schwiegersohn „eine Hypothek auf den Hof“ sei. „Das war der Bauernstolz“, sagt eine Nachfahrin.

Die schlechte Bezahlung der Lehrer hing aber auch damit zusammen, dass es lange Zeit keine geregelte Ausbildung gegeben hatte. Junge Männer gingen bei einem Lehrer, manchmal sogar ihrem Vater, quasi in die Lehre, arbeiteten als Vikar oder Adjunkt und übernahmen nach Jahrzehnten dann die ganze Schule. Erst im 19. Jahrhundert wurde ein hessisches Lehrerseminar in Friedberg eingerichtet, und im 20. Jahrhundert haben mehrere junge Frauen und Männer aus Ober-Gleen an Universitäten in der Bundesrepublik auf Lehramt studiert oder tun es noch. Ob sie ihre Berufung gefunden haben, wissen sie selbst – und ihre Schülerinnen und Schüler.

Über die Berufseinstellung und die Qualifikation der Ober-Gleener Lehrer früherer Zeiten ist wenig überliefert. Aber die Namen aus drei Jahrhunderten sind bekannt. Wilhelm Diehl hat sie 1921 in seinem Hessischen Lehrer- und Pfarrerbuch dokumentiert (Seite 474 ff.), und bis dahin hatten ausschließlich Männer in Ober-Gleen regulär unterrichtet. Die Listebeginnt bei Johannes Fröhlich, der 1648 bis 1678 Schulmeister in Ober-Gleen war und sogar noch seinen drei Jahrzehnte jüngeren Nachfolger Dietrich Liehr um zwei Jahre überlebte. Vier Jahre lang war die Stelle vakant. Johannes Meß übernahm 1690 die Schule, blieb 30 Jahre im Amt und arbeitete auch gleich seinen Sohn ein. Über vier Jahrzehnte, bis zu seinem Tod im Jahre 1752, lehrte Weigand Meß in Ober-Gleen.

Die nächsten drei Lehrer waren Ober-Gleener und stammten aus der Globergsmühle. Johann Valentin Schaaf, der 1730 geborene Sohn des Globergsmüllers Johann Daniel Schaaf, hat es auf fast 50 Dienstjahre gebracht. Mit einer großzügigen Spende, der Hälfte eines Jahresgehaltes, sponserte er im Alter von 23 Jahren den Kauf der Orgel und wird das Barockinstrument auch selbst gespielt haben (Band 1, Seite 44). Er vererbte den Posten 1799 an seinen 44-jährigen Sohn Johann Konrad Schaaf, der selbst zwei Söhne hatte, die ihm assistieren konnten: Johann Heinrich Schaaf, Jahrgang 1786, arbeitete ab 1815 in der Schule mit. 1819 kehrte Peter Schaaf vom Militär zurück und übernahm die Stelle. Vermutlich war er als Nachfolger seines Vaters vorgesehen, doch er starb 1833 im Alter von 45 Jahren. Der Alte hielt noch ein weiteres Jahr die Stellung. Erst als ein Nachfolger gefunden war, ging Johann Konrad Schaaf mit 78 Jahren in Pension. Seine letzten Schüler hatten einen Lehrer gehabt, der ihr Urgroßvater hätte sein können.

Der Kirtorfer Vikar Jakob Hock gab ein kurzes Gastspiel in Ober-Gleen: Nur ein Jahr lang, von 1834 bis 1835, unterrichtete er an der Schule. Seine Nachfolger kamen aus Kaichen: Friedrich Karl Morter (1836 bis 1861) und Heinrich Jakob Weitzel. Der 28-Jährige war offenbar nicht für den Lehrerberuf geschaffen. Nach einem Jahr wurde Weitzel für zwei Jahre beurlaubt. Er endete als Direktor der Darmstädter Aktienziegelei. Der nächste Lehrer, Landwirtssohn Reinhard Dietz, Jahrgang 1838, arbeitete bis 1870 in Ober-Gleen, wechselte noch mehrfach die Stelle und starb 1890 in Gießen. Als weitere Vikare im Ober-Gleener Schuldienst werden Karl Korell aus Alsfeld (Dienstzeit: 1870 bis 1873) und Heinrich Döll (1873 bis 1875) genannt.

Klassenfoto mit Klassenlehrerin Ingrid Ebke und dem Rektor 1971 in Kirtorf.

Im Jahre 1842 unterrichtete in Kirtorf zum ersten Mal eine Frau und damit über 100 Jahre früher als in Ober-Gleen. Eine Lehrerin im heutigen Sinne war die Witwe des Gemeinderechners Andreas Stritter nicht. Sie hatte sich vorgenommen, Mädchen in „weiblichen Fertigkeiten“ zu unterrichten und mit ihnen Strickgarn zu Waren zu verarbeiten, die dann an Gewerbebetriebe verkauft werden sollten (Weber-Möckl, Seite 147 f.). Die Zeitung berichtete mehrfach wohlwollend darüber, aber dem Unternehmen war kein großer Erfolg beschieden. Die Schule hielt sich nur wenige Jahre.

Auf den Dörfern wurden Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichtet. Eine weiterführende Schule zu besuchen, war nur wenigen möglich, und dann auch nur den Söhnen der Bauernoder Handwerkerfamilien, aber nicht den Töchtern. Meist hatte dann der Pfarrer oder der Lehrer das junge Talent gefördert, den Eltern gut zugeredet und für einen Platz in einer entsprechenden Schule gesorgt. Die Mädchen liefen mit. Ihre Bildung zu verbessern, jungen Frauen eine reguläre Berufsausbildung oder ein Studium zu ermöglichen, das waren Ziele der frühen bürgerlichen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts.