© 2014 Wolfgang Krüger
Das Leben ist in seiner innersten Beschaffenheit
nach ein Drama…
Ortega y Gassett
sicher gehen Sie gelegentlich gern ins Kino und kennen nicht nur die Filmklassiker ‚Vom Winde verweht’ und ‚Doktor Schiwago’, sondern auch viele andere Liebesfilme, bei denen Sie angerührt und bewegt sind und nach den Taschentüchern greifen. Doch das Vergnügen, die Liebesromane selbst zu lesen, ist ungleich größer. Lesen ist Kino im Kopf, über Wochen können wir in einer fremden Welt leben, diese verstehen und durchdringen. Und wir lernen viel dabei. Denn die Verfasser der klassischen Liebesromane waren Experten der Seele. Das wurde mir bewusst, als ich in den siebziger Jahren Psychologie studierte. Damals mussten wir wenig Statistik pauken, konnten stattdessen Shakespeare lesen, wenn wir das Wesen der Eifersucht begreifen wollten. Wir lasen die Weltliteratur, um menschliche Probleme zu verstehen und so wurden Dostojewski, Tolstoi und vor allem Balzac für mich wichtige Lehrmeister der Psychologie.
Nach meinem Studium absolvierte ich eine Therapeutenausbildung, wurde selbst Ausbilder und führte vor dreißig Jahren einen Kurs über die Liebesromane der Weltliteratur durch. Es war erstaunlich, wie die Teilnehmer die Romane mit dem eigenen Leben in Verbindung bringen konnten, wie sich ihr persönlicher Horizont erweiterte. Meine Begeisterung für Liebesromane verstärkte sich, denn ich spürte, dass Schriftsteller viel besser als die akademische Psychologie das rätselhafte Phänomen der Liebe darstellen können. Die Aufregung eines Kusses, das Herzklopfen der Liebe, die Spannung der Sexualität konnten Dichter und Schriftsteller schon immer besser beschreiben als Wissenschaftler mit ihren Statistiken, graphischen Kurven und ihrem distanzierten Herangehen. Das betonte auch Reich-Ranicki. Nach seiner Überzeugung „schlägt die Stunde der Literatur stets, wenn es um Phänomene geht, die sich der wissenschaftlichen Erkundung wenigstens teilweise entziehen … Ein solches Phänomen ist die Liebe.“1
Gute Liebesromane zeichnen sich dadurch aus, dass die Personen so lebendig sind, dass wir sie als real empfinden, mit ihnen mitfühlen, mitleiden. Effi Briest lebt wirklich, Scarlett ist nie gestorben, in allen wichtigen Figuren können wir uns und unsere Liebesbeziehungen wiederfinden. Und dabei lernen wir uns kennen und verändern uns. Gute Schriftsteller sind immer auch Weltdeuter, beschäftigen sich mit den zentralen Fragen des Menschseins, zeigen uns Probleme und Lösungen auf. Deshalb meint Hans-Dieter Gelfert, durch gute Literatur würde man „in der Tat klüger, doch nicht in dem Sinn, dass sie uns belehrt, sondern dadurch, dass sie uns Erfahrungen machen lässt, aus denen wir lernen können.“ 2 Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Liebesbeziehungen positiv verlaufen. Fast immer scheitert die Liebe in den klassischen Romanen: die weibliche Hauptfigur nimmt Gift, stirbt einen frühen Tod oder wirft sich vor den Zug. Das liegt nicht nur daran, dass die Wirklichkeit der Liebe so öde ist. Das beständige Glück, die ruhige Liebe lassen sich nur schwer darstellen, ohne langweilig zu sein. Das Drama – das Wort kommt aus dem griechischen und bedeutet Handlung – ist aufregender als das Ehepaar, das händchenhaltend auf der Bank sitzt. Dramen haben uns immer mehr gefesselt als das ruhige Liebesglück. Zudem können wir aus dem Scheitern der Liebe oft sehr viel lernen. Aber es gibt auch Liebesromane, in denen die Liebe glückt. Immerhin wird in `Die große Liebe‘ eine relativ gute Ehe und in ‚Stolz und Vorurteil‘ die gelungene Annäherung von zwei Liebenden geschildert. Auch ‚Anna Karenina‘ (Lewin und Kitty) enthält eine gute Ehe und vor allem der Schluss von ‚Die Liebe in den Zeiten der Cholera‘ zeigt das große Glück der Liebe.
Nun mag man sich fragen, ob diese alten Romane überhaupt noch zeitgemäß sind. Ich denke: sie sind zeitlos, denn sie behandeln die Urprobleme der Menschheit. Aber vielleicht sollte man trotzdem einige Liebesromane umschreiben. Meine Partnerin monierte beispielsweise, es kämen zu viele Frauen um. Sie bezog sich auf eine Bemerkung des Männerforschers Theweleit, jeder Autor sei für das Schicksal seiner Figuren verantwortlich. Ich begann also nachzuzählen: in den vorgestellten Liebesromanen sterben sechs Frauen und vier Männer. Und sie sterben, weil sie mit ihrem Liebesverlangen scheitern und innerlich zerstört sind. Aber vielleicht finden wir heute bessere Lösungen, finden eher Auswege aus Liebeskrisen. Und so sind auch Sie - liebe Leserin - aufgefordert darüber nachzudenken: wie könnte man das Ende der Romane umschreiben? Dann würde sich Anna Karina nicht vor den Zug werfen, Madame Bovary wäre berufstätig und Effi wäre nach der Scheidung mit einem lebendigen Mann verheiratet, der sie wirklich liebt.
Nun werden Sie vielleicht noch einen zweiten Einwand einbringen. Manche werden sagen, dass die berühmten Schriftsteller oft sehr schlechte Ehen führten und als Lehrer der Liebe wenig taugen. Tatsächlich sind auch unter Künstlern gute Ehen selten. Aber in den Liebesromanen wuchsen die Schriftsteller über sich hinaus. Das gilt vor allem für Leo Tolstoi, der selbst eine furchtbare Ehe führte. Seine Frau Sophia war sehr eifersüchtig und Tolstoi brachte sie regelrecht zur Weißglut, wenn er immer wieder vom keuschen Leben redete und sie beschuldigte, ihn zur sündigen Sexualität getrieben zu haben. Doch auch wenn dieser Leo Tolstoi im Alter von 82 Jahren nach einem Ehekrach in einem einsamen Bahnhof starb – war er doch ein Experte für die Schwierigkeiten, aber auch Lösungswege von Ehekrisen. In seinem großartigen Roman ‚Anna Karenina‘ hat er uns gezeigt, wie und warum ein Paar in eine ausweglos erscheinende Ehekrise gerät. Und er beschreibt die vielen kleinen Stationen und Bemühungen, die zu einer guten Ehe gehören.
Früher wurden die meisten Liebesromane von Männern geschrieben und von Frauen gelesen. Bei meiner Auswahl war es mir daher wichtig, dass zu den Autoren auch vier Frauen gehören. Ansonsten legte ich darauf wert, dass die Romane zur klassischen Weltliteratur gehören. Sie mussten vor allem eine länder- und zeitübergreifende (deshalb sind sie meist mindestens 50 Jahre alt) Bedeutung haben.
Ich wollte beim Schreiben keine wissenschaftliche Abhandlung verfassen, sondern Sie auf zwölf Liebesromane neugierig machen und zum Lesen verführen. Wahrscheinlich hatten Sie bisher keine Zeit, alle aufgeführten Romane zu lesen. Teilweise haben diese über tausend Seiten und nicht jeder hat das Glück – wie ich – sich monatelang darin vertiefen zu dürfen. Meine Kurzfassungen sollen daher dazu dienen, einen ersten Eindruck zu gewinnen. Und ich will zeigen, dass in den Romanen der gesamte heutige Wissensstand über das Liebesglück enthalten ist. Alle modernen Erkenntnisse über die Liebe sind bereits in den Romanen von Goethe, Fontane und Tolstoi enthalten. Als praktizierender Psychotherapeut habe ich gewissermaßen die Romanfiguren wie Patienten meiner Praxis behandelt, lasse sie erzählen und erkläre deutend, welche Probleme und Konflikte vorliegen, warum die Liebe scheitert oder wie sie gelingen kann.
Die Auswahl der Liebesromane ist natürlich sehr subjektiv. Im Freundes- und Kollegenkreis führte ich zwar eine Umfrage durch. Doch letztendlich war es für mich wichtig, dass mich die Romane beim Lesen faszinierten. Denn Lesen muss Spaß machen. Dann geht es uns so wie Emilie Gebauer, die man zum 105. Geburtstag nach dem Geheimnis ihres Alters fragte. Sie berichtete, sie habe viel Milch und Kartoffeln gegessen, maßvoll gelebt und was ihr besonders gut getan habe, sei das Lesen vieler Liebesromane gewesen.
Das Buch beschreibt sehr tiefgründig sowohl eine glückliche Ehe als auch eine unglückliche Liebe und eine resignative Beziehung.
Anna Karenina gehört zu den Romanen, die ich mir lange nicht zugetraut habe. Das Buch war mir zu dick und aufgrund der Vielzahl der Personen war es mir zu unübersichtlich. Deshalb langweilte ich mich schnell beim Lesen der ersten Kapitel und ahnte nicht, dass das Buch als Revolution empfunden wurde, als es 1878 erschien. Man regte sich damals über die Beschreibung der Doppelmoral des Adels auf. Tolstoi zeigte, dass es vor allem darauf ankam, den Schein zu wahren. Denn es war durchaus üblich fremdzugehen, man musste es nur vertuschen. Dass Tolstoi dies so offen schilderte, war ein Skandal. Man empfand den Roman als schlüpfrig und selbst Jahrzehnte später bewunderte Thomas Mann den animalischen Naturalismus des Dichters und bezeichnete Anna als ‚edle Stute’ und ihren Liebhaber als schönen starken Hengst. Doch heute ist ein Seitensprung – zumindest in Großstädten – so normal, dass sich ein Unbeteiligter kaum darüber aufregt. Ich fand also zu den Büchern von Tolstoi keinen rechten Zugang, klappte sie immer wieder zu. Als ich jedoch ein Buch über Eifersucht schrieb, beschäftigte ich mich intensiver mit der schwierigen Ehe von Leo Tolstoi und las auch die Tagebücher von Sofia Tolstoi. Und ich lernte den russischen Arzt Wladimir Lindenberg kennen, der Tolstoi noch persönlich erlebt hatte. Mein Interesse an dem großen Schriftsteller wuchs und ich las nun auch seine Werke. Mit vierzig Jahren hatte ich langsam die Geduld, vielleicht auch die notwendige Lebenserfahrung, um Tolstoi gewachsen zu sein. Und ich war begeistert von ‚Anna Karenina’. Vor allem der schüchterne, aber bodenständige, aufrichtige Lewin, der wirklich zu arbeiten und lieben versteht, rührte mich an. Tolstoi zeigt hier, dass die schillernden, aufregenden Männer nicht immer die liebesfähigsten sind. Wer im Leben verwurzelt ist, mit den Aufgaben des Lebens ringt, gelegentlich unsicher ist, errötet, stammelt, sich zurückzieht – ist ungleich besser für die Liebe gerüstet als die eitlen Stars der Männerwelt. Mit dieser Figur des Lewin, seinem Rückzug aus der Moskauer Gesellschaft und seinem Ideal der Bescheidenheit hat sich Tolstoi selbst geschildert. Die Person von Lewin ist aber auch ein Trost für alle, die manchmal eher etwas schüchtern, verlegen und nicht immer selbstsicher sind.
***
Man kann nicht für sich allein leben.
Das ist der Tod.
Tolstoi
In dem Roman wird das Schicksal von drei Paaren geschildert, die miteinander verwandt sind. Er beginnt mit der Darstellung einer alltäglichen Liebesbeziehung, in der sich die Ehefrau – Dolly Oblonskij - nicht trennen kann, obgleich sie feststellt, dass ihr Mann nicht treu ist. Nach neunjähriger Ehe ist ihr Haar dünn geworden, aus ihrem hageren, spitzen Gesicht treten große Augen hervor. Sie hat von der Liebschaft ihres Mannes Stepan Arkadjewitsch mit der früheren Gouvernante erfahren und will mit ihm nicht weiter unter einem Dach leben. Er ist 34 Jahre alt, ein gut aussehender, nach Liebe dürstender Mann, der nicht mehr in seine etwas jüngere Frau verliebt ist, die inzwischen sieben Kinder zur Welt gebracht hat, von denen fünf überlebten. Er bedauert, dass sein Seitensprung aufgedeckt wurde und ärgert sich, dass er ihn nicht besser verheimlichte. Er hatte angenommen, seine bereits verblühte Ehefrau würde großzügig sein. Doch als er sich mit ihr versöhnen will, ist sie völlig außer sich, lenkt dann aber wieder ein. Sie beschließt, nicht mehr eifersüchtig zu sein, will sich lieber betrügen lassen und verachtet sich selbst für diese Schwäche.
Stepan Arkadjewitsch hat einen gut dotierten Vertrag als Chef einer der Moskauer Dienststellen inne, den er durch eine Vermittlung erhalten hat. Er ist mit halb Moskau und halb Petersburg verwandt und wegen seines treuherzigen und fröhlichen Temperaments beliebt. Da er seine eigenen Fehler kennt, ist er allen gegenüber entgegenkommend. Von Kindheit an ist er mit Lewin befreundet, sie mögen sich trotz der Verschiedenheit ihrer Charaktere.
Der auf dem Lande lebende Lewin ist in der Stadt immer etwas aufgeregt, schüchtern und verlegen. Stepan weiß, dass Lewin in seine Schwägerin Kitty Schtscherbazkiy verliebt ist und ihr einen Heiratsantrag machen will. Lewin hatte im Hause ihrer Eltern - der Fürsten Schtscherbazkiy - die Familienatmosphäre kennen gelernt, die er als Kind vermisste. Und als er Kitty jetzt wieder sieht, begreift er, dass es sein Schicksal ist, sich in sie zu verlieben. Doch er fürchtet, ihrer nicht würdig zu sein. Er ist in seinen Augen nur ein Gutsbesitzer, der sich mit Viehzucht und Schnepfenjagd befasst, also ein unbegabter 32jähriger Mensch, der es zu nichts gebracht hat. Er glaubt, er müsse schon ein Adonis sein und vor allem ein bedeutender Mann, damit Kitty ihn lieben könne. Schließlich trifft er sie auf der Eisbahn, sie läuft auf den Schlittschuhen nicht ganz sicher und hält ihre Hände wie schützend vor sich her. Als sie Lewin erkennt, lächelt sie ihm heiter zu. Sie ist noch viel hübscher als er sie in Erinnerung hat.
Kitty gibt ihm die Hand und sie laufen auf dem Eis nebeneinander her. Je schneller sie werden, umso fester drückt sie seine Hand. „…ich fühle mich so geborgen an Ihrer Seite “, sagt sie und er erwidert, auch er habe mehr Selbstvertrauen, wenn sie sich auf ihn stützen würde. In diesem Augenblick wird er verlegen und errötet. Kitty ist davon durchaus angerührt, sie hat den Eindruck, dass er ein vortrefflicher Mensch ist, aber sie denkt: „Ich weiß ja, er ist nicht meine Liebe, und doch ist es lustig, mit ihm zusammen zu sein, er ist ein so braver Mensch.“ Kitty ist durcheinander, denn sie wird noch von einem anderen Mann geliebt. Es handelt sich um den Sohn des Grafen Wronskij, einem der Repräsentanten der Petersburger Gesellschaft. Er ist Flügeladjutant. also ein Verbindungsoffizier, sehr gebildet und allgemein beliebt.
Die 18jährige Kitty nimmt erst in diesem Winter an dem gesellschaftlichen Leben teil. Ihr Vater ist für Lewin, aber ihre Mutter erklärt, Kitty sei noch zu jung und Lewin habe noch keine ernst zu nehmenden Absichten zu erkennen gegeben, außerdem zeige Kitty keine Sympathien für ihn. Sie strebt für ihre Tochter eine bessere Partie an und freut sich, als Wronskij aufgetaucht. Doch Kitty denkt gern an Lewin, seine Liebe schmeichelt ihr - wenn sie an Wronskij denkt, empfindet sie einen unechten Ton. Demgegenüber fühlt sie sich bei Lewin völlig unbefangen und sicher. Allerdings sind ihre Gedanken an ein zukünftiges Leben mit Lewin in Nebel gehüllt, während sie sich an Wronskijs Seite eine glänzende Zukunft ausmalt. Sie ist daher unentschieden und als ihr Lewin einen Heiratsantrag macht, empfindet sie zwar zunächst Triumph und Glück. Aber dann fällt ihr Wronskij ein und sie erwidert atemlos: „Das kann nicht sein ... verzeihen Sie mir.“
Wronskij ist ein schillernder Typ, der eine nicht ganz einfache Kindheit erlebt hatte. Ein Familienleben lernte er nie kennen, seine Mutter ist in ihrer Jugend eine glänzende Dame der großen Welt gewesen und hat in ihrer Ehe eine Menge Liebesabenteuer erlebt. Aus dem Internat wurde er als ein viel versprechender Offizier entlassen und geriet in die Kreise des reichen Petersburger Militärs. Er denkt nicht daran zu heiraten, für ihn hat das etwas Lächerliches an sich. So reagiert er verhalten als er erfährt, dass Kitty einen Heiratsantrag von Lewin zurückgewiesen hat. Er fühlt sich zwar als Sieger, aber dies Gefühl schwindet, als er wenige Momente später auf dem Bahnhof die vornehme, faszinierende Anna Karenina sieht, die ihren Bruder Stepan Arkadjewitsch besucht. „Der Blick ihrer blitzenden grauen Augen, die unter den dichten Wimpern dunkel schienen, ruhte warm und aufmerksam auf ihm, als sähe sie in ihm einen Bekannten… Es schien, als ob ihr ganzes Wesen von irgendeinem Zuviel erfüllt war, das bald in ihrem strahlenden Blick, bald im Lächeln zum Ausdruck kam. Sie suchte zwar den Glanz ihrer Augen gleichsam zu dämpfen, aber sie leuchteten auch gegen ihren Willen.“ 3 Als sie hört, dass ein Mann tödlich verunglückt ist, reagiert sie erschüttert, Wronskij spendet viel Geld für die Witwe. Bald darauf findet ein Ball statt, bei dem Kitty bemerkt, wie verliebt Wronskij und Anna ineinander sind. Wenn er Anna anspricht, strahlt sie. Wronskij wirkt wie verwirrt und Kitty ist verzweifelt.
Als Lewin wieder auf seinem Gut ankommt, nimmt er sich vor, nicht mehr auf das Eheglück zu hoffen. Das Gutshaus ist seine Welt, dort haben sein Vater und seine Mutter gelebt und sind gestorben. Sie haben ein Leben geführt, das ihm als vollkommen erscheint. Eine Liebe zu einer Frau kann er sich ohne Ehe überhaupt nicht vorstellen, für ihn bedeutet die Heirat das Wichtigste im Leben, von dem sein ganzes Glück abhängt. Und darauf soll er jetzt verzichten? Er lenkt sich ab, will die Landwirtschaft verändern und damit beginnen, ein besseres Leben führen.
Während dessen geht der Winter zu Ende und Kitty wird krank. Die Ärzte untersuchen sie, aber ihr Vater begreift, dass es sich hier um einen seelischen Kummer handelt, weil sie den Antrag von Lewin abgewiesen hat. Doch nachdem sie von Wronskij betrogen wurde, ist sie entschlossen, Lewin zu lieben. Schließlich treffen sich beide und Kitty richtet das Wort an ihn. Sie fragt ihn, ob es noch Bären in seinem Gebiet gäbe. Eine einfache, keine besondere Frage. Aber in ihren Worten liegt die Bitte um Vergebung, Vertrauen, zaghafte Zärtlichkeit, Hoffnung und Liebe. Er fasst daraufhin den Mut, sie etwas zu fragen, indem er mit Kreide auf den Tisch schreibt: A.S.m.a.,d.k.n.s. – s.d.h.: n.o.n.d.? Diese Buchstaben bedeuten: Als Sie mir antworteten, das kann nicht sein – sollte das heißen: niemals oder nur damals? Sie blickt ihn ernsthaft an, beginnt über den Sinn der Buchstaben nachzudenken, sagt schließlich „Ich habe es begriffen“ und wird rot. Und sie entgegnet, sie würde sich etwas von Herzen wünschen und schreibt: D.S.v.u.v.k.,w.g.i. Das bedeutet: Dass Sie vergessen und verzeihen können, was geschehen ist. Mit zitternden Händen schreibt er mit Anfangsbuchstaben den Satz: Ich habe nichts zu vergessen und zu verzeihen, ich habe nicht aufgehört, Sie zu lieben. „Ich habe verstanden“, flüstert sie und teilt ihm mit, dass sie ihre Eltern über ihre Liebe unterrichten werde, die dann auch in die Heirat einwilligen.
In der Anfangszeit seiner Ehe fühlt sich Lewin zwar glücklich, aber seine Träume werden auch enttäuscht. „Seit er verheiratet war, widerfuhr ihm immer wieder, was einem Menschen widerfährt, der vom Seeufer aus seine helle Freude an dem ruhig und gleichmäßig dahingleitenden Boot gehabt hatte und es nun selbst besteigt. Dann sieht er nämlich, dass es nicht genügt, still dazusitzen, damit der Kahn nicht ins Schaukeln gerät, sondern dass man fortwährend achtgeben muss, um die Richtung einzuhalten … und rudern muss, auch wenn die dieser Betätigung ungewohnten Arme weh tun.“ 4 In den ersten Monaten gibt es auch in der Ehe Lewins jene Streitigkeiten, die in allen Liebesbeziehungen üblich sind. Sie wissen noch nicht, wie sie miteinander umgehen müssen, kennen ihren Platz in der Ehe nicht und erst nach drei Monaten gehen sie ruhiger miteinander um. Doch es gibt auch dann immer wieder Konflikte. Als sich ein junger Mann außerordentlich werbend mit Kitty unterhält, leidet Lewin unter den Qualen der Eifersucht. Er wird schroff Kitty gegenüber, aber in seinen Augen liegt ein Kummer, der sie rührt. Dennoch versichert er, nicht eifersüchtig zu sein, dies sei ein hässliches Wort. Er könne aber nicht sagen, was er fühle, es sei fürchterlich. Im ersten Augenblick fühlt sich Kitty zwar durch seine Eifersucht gekränkt, aber dann erklärt sie ihm, worüber sie mit dem jungen Mann gesprochen hat. Beide verstehen einander, gehen wieder auf den anderen zu, versöhnen sich.
Während Lewin an der Landwirtschaft, an Natur und Menschen interessiert ist, hat Anna kein festes Lebensfundament. Sie hat nur ein Interesse: zu leben, denn sie ist von einem ungestillten Lebenshunger erfüllt. Als sie mit der Bahn zurückfährt, trifft sie Wronskij und es überfällt sie ein Gefühl freudigen Stolzes. Wronskij bekennt, er müsse immer dort sein, wo sie sei und empfindet die Erhabenheit eines Königs, weil Annas Reaktion sein Selbstbewusstsein hebt. Sie begreift, dass sie sich bedrohlich einander genähert haben. Als der Zug in Petersburg hält, sieht sie ihren Ehemann, seine gewohnte Steifheit, das ironische Lächeln auf den Lippen. "Ja, wie du siehst, der zärtliche Gatte, zärtlich wie im ersten Jahr nach der Hochzeit, verging vor Sehnsucht, dich wieder in seine Arme zu schließen", sagt er mit seiner sarkastischen Stimme, als würde er sich über alle Menschen lustig machen, die so reden. 5
Sie ist enttäuscht, als sie ihren Sohn sieht, denn sie hat sich ihn schöner vorgestellt und entfremdet sich völlig von ihrem distanzierten Mann, sucht immer mehr die Begegnung mit Wronskij. Das fällt natürlich auch ihrem Mann auf. Zwar ist er davon überzeugt, nicht eifersüchtig zu sein. Für ihn ist Eifersucht eine Kränkung der Frau, zu der man Vertrauen haben müsse. Er hat sich nie gefragt, ob die Liebe seiner Frau enden könne und fühlt sich wie jemand, der über eine Brücke gehen will und feststellt, dass dort nur eine Schlucht ist. Und diese Schlucht ist das Leben selbst. Zwar nimmt er sich vor, mit ihr zu reden, doch sie weicht ihm im Gespräch aus. Schließlich schläft Anna mit Wronskij und ist verzweifelt. Sie weiß, dass sie von der Gesellschaft ausgestoßen wird und in eine vollständige Abhängigkeit von Wronskij gerät. Aber auch für ihn ist die Beziehung zu Anna keine vorübergehende Leidenschaft, sondern eine tiefe Liebe. Da sie schwanger ist, schlägt er ihr vor zu fliehen und das Leben mit ihm zu bewältigen. Und er entschuldigt sich bei ihr, dass er sie unglücklich gemacht habe. Doch sie entgegnet, sie sei nicht unglücklich, sondern wie ein hungriger Mensch, dem man zu essen gegeben habe.
Alles ist im Umbruch als Wronskij bei einem Pferderennen stürzt. Anna ist völlig erschrocken und verzweifelt. Ihr Mann – der neben ihr sitzt - findet dies unpassend. Als er ihr Vorhaltungen macht, erklärt sie ihm, Wronskij zu lieben. Und sie sagt ihrem Mann: „Ich liebe ihn und bin seine Geliebte. Sie sind mir unerträglich, ich fürchte Sie und hasse Sie … Machen Sie mit mir, was Sie wollen.“ Karenin blickt daraufhin wie ein Toter und verlangt von Anna, sie solle die äußeren Regeln des Anstandes wahren, er werde Maßnahmen zur Wahrung seiner Ehre treffen und sich entscheiden. Seine Eifersucht ist vergangen. Er fühlt sich, als habe man ihm einen Zahn gezogen, der lange Zeit geschmerzt hat. Doch was soll er nun tun? Ein Duell mit Wronskij schließt er aus, aber er will Anna doch nicht die Möglichkeit geben, sich mit ihrem Geliebten so einfach zu verheiraten. Er fühlt sich unglücklich und seine Frau soll es auch sein. Sie soll die gerechte Strafe für ihr Verhalten bekommen. An die Stelle der Eifersucht ist nun sein Bedürfnis nach Rache getreten.
Wronskij nimmt wie gewohnt am gesellschaftlichen Leben teil, trifft andere Frauen, doch Anna wird ausgeschlossen, fühlt sich eingesperrt. Sie ist eifersüchtig und diese Eifersuchtsanfälle erschrecken Wronskij. Sie liebt ihn zwar wie eine Frau nur lieben kann, doch in der Werbungsphase ihrer Liebe war er glücklicher gewesen. „Damals hatte er sich für unglücklich gehalten, aber sein Glück hatte ihm noch bevorgestanden. Jetzt schien es ihm, als läge der Höhepunkt seines Glückes schon hinter ihm. Sie war ganz anders, als er sie in der ersten Zeit gesehen hatte. Sowohl seelisch wie körperlich hatte sie sich zum Schlechteren verändert.… Er sah sie an wie ein Mensch, der eine welke Blüte betrachtet, die er gepflückt hat und an der er nur noch mit Mühe die Schönheit wieder erkennen kann, um deretwillen er sie abgerissen und – zugrundegerichtet hat. „ 6
Nach der Geburt ihres Kindes erkrankt Anna so schwer, dass man um ihr Leben fürchtet. In diesem Moment ist Karenin bereit, ihr zu vergeben. Und er spricht auch versöhnlich mit Wronskij, der ans Krankenlager geeilt ist. Nun wird Wronskij klar, dass dieser Karenin auch in seinem Schmerz eine verehrungswürdige Größe an den Tag legt. Diese Demütigung und die Sinnlosigkeit seines zukünftigen Lebens führt dazu, dass Wronskij einen Selbstmordversuch unternimmt. Er überlebt.
Und auch Anna gesundet und fährt mit Wronskij auf eine Weltreise. Je mehr sie Wronskij kennen lernt, umso mehr liebt sie ihn. Nichts fürchtet sie so sehr, als dass sie seine Liebe verlieren könnte. Ganz anders empfindet Wronskij. Er spürt, dass die Liebe zu Anna nur ein kleiner Teil jenes Liebesglücks sein kann, das er früher erhofft hat. Schließlich widmet sich Wronskij vor allem der Bewirtschaftung des Familienguts, er bringt das heruntergekommene Gut wieder in Ordnung, wird ein begeisterter Landwirt. Er baut für seine Arbeiter sogar ein neues Krankenhaus. Doch bei allem Glück gibt es einen Konflikt: Wronskij kann sich nicht damit abfinden, dass Anna nicht geschieden ist, so dass er sie nicht heiraten kann. Dadurch können seine Kinder nicht seinen Namen tragen, er drängt daher Anna, ihrem Mann zu schreiben, damit dieser in die Scheidung einwilligt. Sie zögert, denn sie weiß, dass sie ihren Sohn dann trotzdem nicht bekommen wird. Diesen Zustand findet sie unerträglich und nimmt regelmäßig Morphium, um sich zu beruhigen. Zwar nähert sie sich ihrem Geliebten, will ihn stärker an sich fesseln, sich nützlich machen, hilft ihm bei der Ausgestaltung des Krankenhauses. Doch Wronskij versucht diese Netze abzuschütteln. Er hat ein starkes Verlangen nach Freiheit, hasst ihre Szenen, wenn er in die Stadt fährt. Er betont sein Recht auf Bewegungsfreiheit und das demütigt sie. Sie denkt dann, dass er nicht nur das Recht hat wegzufahren, sondern auch sie zu verlassen. Sie ist überzeugt, dass sich seine Gefühle bereits abgekühlt haben, will ihn stärker binden und festhalten. Als er wieder einmal von einer Reise nach Hause kommt, nur einen Tag bleiben will, um wieder fortzufahren, will sie mitkommen und droht: „Ich bleibe nicht allein. Entweder wir leben zusammen, oder wir trennen uns eben.“
Wronskij fühlt sich verfolgt, will seine Ruhe und Anna empfindet dies als Katastrophe. Sie beginnt damit ein Kinderbuch zu schreiben, aber das erfüllt sie nicht wirklich. Sie leidet unter dem Eindruck, dass Wronskij jede sich ihm bietende Gelegenheit nutzt ihr zu zeigen, dass er noch andere Verpflichtungen hat. „Du willst Dich nur durchsetzen’, sagt sie, wobei sie ihn unverwandt anblickt. Endlich hat sie die richtige Bezeichnung für seinen Gesichtsausdruck, der sie so erbittert, gefunden. ‚Nichts als der Wille, sich durchzusetzen! … Wenn du nur wüsstest, worum es bei mir in Wirklichkeit geht! Wenn ich wie jetzt fühle, dass du gegen mich bist, dass du dich mir gegenüber richtig feindselig verhältst, wenn du wüsstest, wie nah ich in diesem Augenblick einem Unglück bin, wie ich mich vor mir selber fürchte…“ 7 Wronskij ist über diesen Verzweiflungsausbruch erschrocken, nimmt ihre Hand und küsst sie. Er verspricht ihr, er würde alles tun, um sie vor Kummer zu bewahren. Daraufhin erklärt sie ihm, es sei das einsame Leben, das ihr zu schaffen mache. Nach dem Gespräch wird ihr klar, eine Drohung ausgesprochen zu haben, die sie nie wieder benützen dürfte. Sie empfindet deutlich, wie sehr sich in ihrer Liebe ein böser Geist der Konfrontation eingenistet hat.
Nachdem er von seiner Frau verlassen wurde, fand die Karriere Karenins ein Ende. Sein Stern verblasst, seine Toleranz sinkt, er ist jetzt weit davon entfernt, sich scheiden zu lassen. Vergeblich warten deshalb Anna und Wronskij monatelang auf eine Einwilligung zur Scheidung. Beide finden das Moskauer Leben im Sommer unerträglich. Ihre gegenseitige Gereiztheit nimmt zu und Anna ist erbittert, weil ihre gegenseitige Liebe abflaut. Sie will, dass sich Wronskij nur ihr widmet. Da seine Liebe zu ihr an Intensität verliert, kann dies für sie nur eines bedeuten: er liebt eine andere. Dabei ist sie durchaus nicht auf eine konkrete Frau eifersüchtig. Sie ist eifersüchtig, weil Wronskijs Liebe abkühlt.
Für ihre gesamte Lage macht sie Wronskij verantwortlich. Wenn er sie wirklich liebte, würde er ihre Lage verstehen und ändern. Sie fühlt sich in Moskau nicht wohl. Doch er kann sich nicht mit ihr auf dem Land vergraben, wie sie es sich wünscht. Für ihn ist das gesellschaftliche Leben ein tiefes Bedürfnis. Die Streitigkeiten zwischen beiden häufen sich daher, sie verletzen sich, kränken sich. Manchmal leidet sie so sehr unter diesen Auseinandersetzungen, ist so einsam, dass sie sich wieder mit ihm versöhnen will. Doch bei jeder Kleinigkeit erwacht in ihr erneut die Kampfbereitschaft. Sie ist überzeugt, von ihm nicht mehr geliebt zu werden und schleudert ihm entgegen: „Ich will nur Ihre Liebe, und die ist eben nicht mehr da. Also ist alles aus.“
Sie steigert sich dermaßen in diesen Gedanken hinein, dass sie nur noch sterben will, um erlöst zu werden. Wronskij lenkt zwar ein, ist auch bereit, mit ihr aufs Land zu fahren, sie versöhnt sich daraufhin mit ihm, aber die gegenseitige Entfremdung bleibt. Sie ist überzeugt, dass er eine andere Frau liebt. Alles was er ausgesprochen hat, ruft sie sich ins Gedächtnis zurück und phantasiert alle Brutalitäten, zu denen ein roher Mensch fähig sein könnte.
Der Tod bleibt also das letzte Mittel, um seine Liebe wieder wachzurufen. Noch schreckt sie zwar vor dem Tod zurück. Als sie sich das Sterben vorstellt, fühlt sie den Wunsch zu leben und sie spürt Wronskijs Liebe. Trotzdem hat sie weiterhin das Gefühl, dass ihre Liebeswünsche unbefriedigt bleiben. Deshalb lässt sie ihre Reisetasche fallen, als sie auf dem Bahnhof steht und wirft sich unter einen fahrenden Wagen. „Sie fiel auf die Hände und ließ sich mit einer leichten Bewegung, als wollte sie sich gleich wieder aufrichten, auf die Knie nieder. Aber im selben Augenblick erschrak sie aufs tiefste über das, was sie getan hatte. Wo bin ich? Was tue ich? Warum? Sie wollte sich erheben, sich zur Seite wälzen, aber etwas Gewaltiges, Erbarmungsloses versetzte ihr einen Schlag auf den Kopf und zerrte sie am Rücken mit sich fort. Herr, vergib mir alles! flüsterte sie, da sie spürte, dass sie sich nicht mehr wehren konnte.“ 8 Wronskij ist zutiefst erschüttert. Sechs Wochen lang spricht er mit keinem Menschen, man darf ihn keinen Augenblick allein lassen, man hat Angst, dass auch er sich umbringen könnte.
Leo N. Tolstoi, Anna Karenina, Düsseldorf 2002
Eine Ehe muss nicht unglücklich sein – das ist die Botschaft dieses großartigen Buches. Es zeigt uns, wie eine Ehe wirklich gelingen kann und fordert uns auf, uns nicht mit einer völlig unbefriedigenden Liebesbeziehung abzufinden. Doch sowohl in dem Roman ‚Anna Karenina‘ als auch in der Wirklichkeit des Alltags überwiegen die schlechten Ehen. Was also können wir tun, um in einer Liebesbeziehung glücklich zu werden? Zunächst ist eine halbwegs geschickte Partnerschaftswahl wichtig. Wir glauben zwar oft, dass wir unseren Partner ändern können, aber schon Tolstoi wusste: „Der Mensch geht lieber zugrunde, bevor er seine Gewohnheiten ändert.“ Nun meint Eva Maria Zurhorst, man könne mit jedem Partner glücklich werden. 9 Wichtig wäre nur, sich selbst zu lieben und sich zu entwickeln. Dem kann man insofern zustimmen, als sich viele Menschen heutzutage zu früh trennen. Sie sind nicht mit dem falschen Partner zusammen, sondern befinden sich selbst in einer Krise. Unsere Partnerschaftswahl hat immer einen Sinn und es lohnt sich oft, an sich selbst und der Beziehung zu arbeiten. Aber es gibt auch Menschen, mit denen eine gute Partnerschaft nie gelingt. Sie sind zu sehr auf sich selbst bezogen, zu kämpferisch, zu empfindlich. Deshalb gilt: von der geschickten Partnerschaftswahl hängt viel ab. Wie einmal ein Freund von mir sagte: im Sumpf kann man kein Haus bauen.
Alle Ergebnisse der heutigen Partnerschaftsforschung zeigen, dass für eine gute Beziehung vor allem emotionale und soziale Fähigkeiten wichtig sind. Damit bestätigen sich die Erkenntnisse der Individualpsychologie von Alfred Adler, der immer wieder betonte, wie wichtig das Gemeinschaftsgefühl für die Bewältigung der Lebensaufgabe ‚Liebe’ ist. Alfred Adler hat es einmal so ausgedrückt: man müsse mit dem Herzen des anderen fühlen, mit seinen Ohren hören, seinen Augen sehen. Und genau über dies Einfühlungsvermögen verfügen Kitty und Lewin. In einer unglaublich beeindruckenden, anrührenden Szene verstehen deshalb beide, was der andere ihm mitteilt, obgleich sie nur die Anfangsbuchstaben der Mitteilung kennen. Allerdings kann man das Gemeinschaftsgefühl von Menschen nicht leicht erkennen. Wronskij ist durchaus hilfsbereit, hat einmal eine Frau vor dem Ertrinken gerettet, spendet Geld für eine Witwe, deren Mann von der Bahn überfahren wurde. Es ist daher wichtig, exaktere Kriterien anzuwenden, um das Partnerschaftsverhalten eines Menschen vorauszusagen. Diese können wir in der Bindungstheorie finden, die in den letzten fünfzig Jahren durch den britischen Analytiker Bowbly entwickelt wurde. Er vertrat die Meinung, unser Bindungsverhalten würde sich in früher Kindheit herausbilden. Dann entsteht eine Bindungsstrategie, die später weitgehend konstant bleibt. Positive und negative Bindungserfahrungen werden verallgemeinert, sie verfestigen sich und werden auf andere Menschen übertragen. Man unterscheidet vor allem zwischen den
Um das Bindungsverhalten des zukünftigen Partners zu erahnen, müssen Sie nur seine Familie kennen lernen. Nehmen Sie einmal an einem Kaffeetrinken der zukünftigen Schwiegereltern teil und achten Sie auf den Gesprächsstil, die Familienatmosphäre – dann ahnen Sie, wie später die Liebesbeziehung mit dem ‚Test-Mann’ sein wird. Natürlich sind wir alle nicht nur das Produkt der Familienbeziehung, sondern auch der eigenen Entwicklung. Doch wie verlässlich das Kriterium Bindungsverhalten ist, sehen wir an den verschiedenen Männern des Romans:
Nun pflegen wir den Partner eher mit dem Herzen, weniger auf der Grundlage von Familienforschungen auszuwählen. Vor allem in jungen Jahren wählen wir deshalb zunächst den falschen Traummann oder die falsche Traumfrau, lassen uns dabei oft zu sehr von Äußerlichkeiten beeindrucken. Häufig lassen wir uns vom Aussehen, auch von der Ausstrahlung eines Menschen blenden. So ging es auch Kitty. Ihr Traummann war Wronskij, denn sie suchte einen Partner, der ihr imponierte. Und sie geriet dabei in den Bann Wronskijs, der eine sehr narzisstische Problematik aufwies. Er hatte eine tiefe Selbstwertproblematik, die eine Folge der unsicheren Bindung in der Kindheit war.
Narzisstische Menschen sind immer auf Anerkennung angewiesen, aber ihre Bindung an andere Menschen bleibt oft gering. Sie sind selbstbezogen und dies ist auch das Kernproblem im Leben von Wronskij. Deshalb ist Annas Eifersucht durchaus verständlich. Sie bekommt in der Beziehung zu Wronskij immer zu wenig Liebe, ist quasi ‚unterzuckert’. Doch solche narzisstischen Männer sind oft sehr beeindruckend und deshalb ist Kitty erst nach ihrer großen Enttäuschung fähig, die Vorzüge Lewins zu sehen. Dieser ist nicht so imponierend, er stottert, ist oft verlegen und wird rot. Aber dies zeigt, wie sehr ihn Ereignisse und Gefühle anrühren. Er ist eine ‚ehrliche Haut’, ruhig und verlässlich. Wronskij ist ein Mann zum Träumen, Lewin einer zum Zusammenleben. Vielleicht geben Sie zu bedenken, dass dieser schüchterne Lewin nicht Ihr Typ ist. Nicht jeder wird der lebhaften Patientin zustimmen, die mir sagte: „Ich suche einen lieben Mann, aufregend bin ich selbst.“ Doch er ist der einzige Mann in diesem Roman, der wirklich partnerschaftsfähig ist. Oblonskij denkt nur an sich, Karenin ist ein Zwangscharakter, Wronskij ist zu eitel, aber Lewin versteht, wie es Kitty geht.
Die Wahl des Partners erleben wir oft als Zufall oder Schicksal. In Wirklichkeit ist die Partnerschaftswahl immer das Ergebnis unseres inneren Drehbuchs. In diesem Drehbuch gibt es zwei Hauptrollen („Ich und Sie bzw. Er“) und die Ausgestaltung der Rollen hängt sehr davon ab, wie wir uns eine Partnerschaft vorstellen. Anna ist völlig lebenshungrig, sie ist seelisch ‚außer sich’, hat ihre Mitte verloren und verliebt sich in Wronskij, der auf der Suche nach Anerkennung ist. Man ahnt, dass beide zwar geliebt werden wollen, aber wenig geben können und dass es bei beiden irgendwann zu Empfindlichkeiten und Streitigkeiten kommen muss. Lewins inneres Drehbuch ist vollkommen anders. Er liebt Kitty sehr und verzeiht ihr sogar ihre frühere Ablehnung. Diese ‚Kränkungsfähigkeit’, die bei allen Konflikten und Enttäuschungen so wichtig ist, weist auf eine gute innere Struktur Lewins hin. Anders ausgedrückt: er hat die Fähigkeit, auch in den Krisen des Lebens seine Stimmung aufrecht zu erhalten. Dies ist entscheidend für die tagtäglichen Belastungen in der Liebe. Ist die innere Struktur eines Menschen brüchig, wird er ständig gereizt reagieren. Auch Lewin ist zwar gelegentlich eifersüchtig und empfindlich. Aber er kann mit solchen Stimmungen umgehen, kann sie steuern. Wichtig ist ihm dabei vor allem jegliche Aktivität. So spricht er von der ‚Arbeitskur’, wenn er sich von seinen dummen Gedanken ablenken will. Und er sucht die körperliche Bewegung, weil er sonst Angst hat, an seiner Seele Schaden zu nehmen. Er nimmt das Gedankengut der Psychosomatik vorweg, die heute auf die Bedeutung der Bewegung für das seelische Wohlergehen hinweist. Und im Sinne einer ganzheitlichen Stabilisierung versucht Lewin sogar, seine Gedanken zu mäßigen. Beispielsweise kommt er zu der Erkenntnis: „Vielleicht bin ich deshalb glücklich, weil ich mich über das freue, was ich habe und mich nicht über das gräme, was mir unerreichbar ist.“ Er erreicht so eine gewisse Gelassenheit und das war auch ein wichtiges Lebensziel Tolstois, der immer unter der Wucht seiner Triebe und dem Chaos der Liebe litt.
Nun wissen wir, wie wichtig die richtige Wahl des Partners ist - doch wie gestaltet man nun die Beziehung? Bei einer Liebesbeziehung ist es wie bei einem guten Musikstück oder einem Roman: der Anfang ist entscheidend für die gesamte Entwicklung. Aber wie geht man dann mit dem Alltag der Liebe um? Wir wissen, dass die erste große Ernüchterung in der Liebe nach etwa 1 ½ Jahren einsetzt. Dann fragen sich vor allem Frauen, ob sie nicht falsch gewählt haben, weil sie vom Partner dermaßen enttäuscht sind, dass sie mit dem Gedanken der Trennung spielen. Wie also muss man eine Liebesbeziehung gestalten, um trotz aller Schwierigkeiten mit dem anderen zufrieden zu sein? Tolstoi zeigt uns, dass das Kernthema jeder Partnerschaft in der Bewältigung der Nähe-Distanz-Relation liegt. Er macht deutlich, wie wichtig die Nähe in der Liebesbeziehung ist, plädiert aber auch für eine gewisse Eigenständigkeit beider Partner. Offenbar müssen wir – wie so oft im Leben – scheinbar gegensätzliche Aufgaben bewältigen: wir müssen nähefähig, aber auch eigenständig sein. Neben der Drehung um den Partner muss eine Eigendrehung gewährleistet sein – schrieb der Psychoanalytiker Fritz Riemann.10 Jede Liebe scheitert, wenn wir vom anderen zu sehr abhängig sind, wie ein Seismograph auf seine Gefühlsäußerungen reagieren. Wenn diese eigenen Interessen nicht vorhanden sind, fehlen die seelischen Stoßdämpfer. Jede kleine Kränkung wird dann in der Partnerschaft sofort zu einer Katastrophe. Die Liebe zwischen Kitty und Lewin gelingt daher auch deshalb, weil beide nicht zu sehr voneinander abhängig sind. Lewin geht in der Landwirtschaft auf, hat Ziele, er ‚glüht für seine Ideen’. Und auch Kitty hat eigene Aufgaben im Haushalt und der Kindererziehung und ist ihrem aktiven Mann ebenbürtig. Anna hat solche Interessen nicht, sie kümmert sich kaum um ihre Tochter und selbst ihren Sohn betrachtet sie mitunter mit einer kritischen Distanz. Sie ist sehr selbstbezogen, zu wenig im Leben verankert und überschätzt daher die Liebe.
Doch die Eigenständigkeit der Partner ist nur ein Faktor. Es kommt auch darauf an, immer wieder gut miteinander reden zu können. Und auch hier sind Kitty und Lewin unser Vorbild, sie führen intensive Gespräche und haben die Fähigkeit, nachgeben zu können. Sie ziehen sich nicht zu sehr zurück, wenn sie gekränkt sind. Denn zu leicht kann dieser Rückzug zu einer Verhärtung, Vereisung der Liebe führen, man schaut dann nur noch durch Schießscharten, schützt sich und bekämpft den Partner. Es ist natürlich wesentlich mutiger, manchmal auch risikovoller, sich immer wieder dem Partner zu nähern, wenn man sich enttäuscht fühlt. Wenn man traurig, auch wütend dem Partner einen Einblick in die eigene Seele gewährt, ihm damit Vertrauen erweist. Doch dies setzt – wie in der Ehe zwischen Kitty und Lewin – voraus, dass beide Partner eine gewisse Gutmütigkeit aufweisen, respektvoll miteinander umgehen. Nur so spüren beide, dass sie einander vertrauen können. Und so kann jeder nachgeben, jeder sich immer wieder öffnen und auf diese Weise bewältigen sie auch den Dämon Eifersucht. Demgegenüber sind die Gespräche zwischen Wronskij und Anna davon geprägt, dass jeder vor allem seinen eigenen Standpunkt vertritt. Der Brückenschlag des Gesprächs gelingt nicht, jeder fühlt sich vom anderen missverstanden und wird daher immer kämpferischer.
Was Kitty und Lewin erreichen, ist das alltägliche, beständige Glück der Ehe. Das klingt nicht besonders aufregend, ist manchmal anstrengend, aber immer wesentlich stabiler und letztlich glücklicher als die rauschhafte Liebe. Dabei ist es durchaus verständlich, wenn wir uns gelegentlich nach der rauschhaften Liebe sehnen. Vor allem einsame Frauen (und Männer) kennen den Traum von der großen Liebe. Sie verstehen Anna Karenina, die sich dem leidenschaftlichen Wronskij hingibt. Ihr zwanghafter Ehemann ist dermaßen langweilig und distanziert, dass sie es nicht länger mit ihm aushält. Und nun will diese leidenschaftliche Frau endlich einmal die rauschhafte Liebe erleben. Wie groß dieser Liebeswunsch von Anna ist, wird auch daran deutlich, dass sie auf ihr Kind verzichtet. Sie weiß, dass der Sohn vom Vater als Instrument der Rache missbraucht wird, wenn sie sich trennt. Sie entscheidet sich trotzdem für Wronskij und leidet unendlich darunter, ihren geliebten Sohn nicht mehr sehen zu dürfen. Jede Mutter wird nachvollziehen können, in welche Krise Anna daraufhin gerät.