Dass stets überhaupt nichts los ist, was auch immer passiert, ist der natürliche Zustand. Irre bedeutet, diesen natürlichen Zustand zu verlieren. Gewöhnlich erkennen wir den natürlichen Zustand nicht. Gewöhnlich stülpen wir noch etwas über ihn drüber, deshalb ist er nicht mehr natürlich.
Kodo Sawaki, Zen-Meister (1880-1965)
Um die Bedeutung von Zen auf konservative Weise kennenzulernen, könnte man den Begriff googeln oder Wikipedia bemühen. Ich verwende das Wort Zen vor allem deshalb, weil es sich mit begrifflich-rationalem Denken niemals erfassen lässt. Ich könnte es eigentlich umdrehen und NEZ dazu sagen. Doch täte ich dies, machte der Untertitel keinen Sinn mehr. Denn Zen bedeutet, insbesondere wenn man ihm ein ZA voranstellt, soviel wie in Versenkung zu sitZen.
Nun mag man sich fragen, ob ich das Wort Zen nur wegen des provokanten Untertitels ohne wie ein Huhn auf der Stange zu sitZen wählte. Weil dieser eben nur provokant wirkt, wenn ihm das Wort Zen vorangestellt wird. Hieße der Titel NEZ, würde der Untertitel nicht als provokant wahrgenommen.
Worum geht es mir also?
Im Grunde genommen wirklich um NICHTS. Das ist freilich nur die halbe Wahrheit. Denn wäre es die ganze Wahrheit, würde ich überhaupt kein Buch schreiben und bräuchte somit weder einen Titel noch einen Untertitel.
Nachdem Sie die ersten Sätze lasen, fragen Sie sich verständlicherweise, ob der Autor eigentlich ganz bei Trost ist, und sehen Sie, so sind wir schon mitten im Zen. Denn dort gibt’s keinen Trost, bemerkenswerte Klarheit jedoch, aber nicht für den Mind. Und ich mache Sie gleich zu Beginn darauf aufmerksam, dass Sie, während Sie dieses Buch lesen, höchstwahrscheinlich öfter als einmal ins Stocken geraten und Aussagen, wenn nicht unverständlich, so doch zumindest rätselhaft finden.
Das ist zwar nicht gewollt, jedoch unvermeidlich.
Seit einiger Zeit bezeichne ich meine Seminare als luxury Mind-Crash-Seminare. Der Grund ist schlicht der, dass ein MindCrash notwendig erscheint, um das Leben verstehen zu können, freilich ohne es stets verständlich finden zu müssen. Zen und LEBEN sind übrigens Synonyme. Wobei ich hinzufügen muss: Leben im natürlichen Zustand.
Wenn Leben im natürlichen Zustand erlebt werden würde, erübrigte sich Zen. Wir bräuchten kein einziges Wort darüber zu verlieren. Zen erlangt nur Bedeutung, wenn Leben sich nicht von selbst lebt, sondern vom Mind vergewaltigt wird und sich darüber hinaus nicht aus seinem Würgegriff zu befreien vermag. Wo das der Fall ist, gibt’s einen künstlich kreierten Bezugspunkt oder Mittelpunkt bzw. eine Ich-Instanz, auf die sich jedes Ereignis bezieht. Und so wird Leben artifiziell, noch besser: verkünstelt. Mit dem Bezugspunkt sind wir nämlich keine Animals der Rasse Mensch mehr, sondern eigenartig verkrampfte, vor allem aber auf Begriffe, Normen und Prädikate geeichte Wesen, die sich nicht nur als Krone der Schöpfung bezeichnen, sondern absurderweise tatsächlich glauben die Krone der Schöpfung zu sein.
Das ist unsere Misere. Und deshalb gibt’s Zen. Um das denaturalisierte Leben zu naturalisieren. Sozusagen. Das ist jedoch ein Prozess, welcher der Häutung einer Schlange ähnelt.
Zen kann daher unmöglich angenehm sein. Wer sich jedoch darauf einlassen kann, fällt in den natürlichen Zustand. Und dann ist Leben nicht allein leicht, sondern lebt sich sozusagen von selbst. Und allein darum geht es in diesem Buch. Übrigens: auch und gerade weil es um NICHTS geht.
Einer Reihe von Kapiteln ist ein Leserbrief bzw. eine Leserfrage vorangestellt, auf die sich das Kapitel bezieht.
Ein Schüler informierte jeden Monat seinem Meister über seinen spirituellen Fortschritt. Diesmal schrieb er: Ich bin durch eine Bewusstseinserweiterung mit dem Universum eins geworden.
Der Meister überflog den Brief und warf ihn weg.
Einen Monat später schrieb der Schüler: Ich habe endlich erkannt, dass das Göttliche in allen Dingern gegenwärtig ist.
Der Meister wirkte enttäuscht.
In seinem dritten Brief erklärte der Schüler begeistert: Mit wurde in der Kontemplation das Geheimnis des Einen und des Vielen offenbar.
Der Meister gähnte.
Der nächste Brief lautete: Geburt, Leben und Tod existieren nicht, denn es gibt kein Ich!
Der Meister schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Darauf verging ein Monat, dann wurden es zwei, fünf und schließlich ein ganzes Jahr. Der Meister fand es an der Zeit, seinen Schüler an dessen Berichterstattungspflicht zu erinnern.
Der Schüler schrieb zurück: Ich lebe einfach mein Leben. Wozu noch die spirituelle Praxis?
Als der Meister das las, rief er aus: Gott sei Dank – endlich hat er es begriffen!
Aber das machen doch alle Menschen, mag der spirituell Suchende jammern. Um das zu erkennen, muss ich mich doch nicht jahrelang mit allen möglichen spirituellen Praktiken herumquälen, x Seminare besuchen, Hunderte Bücher, Tausende Texte lesen. Um so wie der Meier oder die Hübner von nebenan zu leben hätte ich mir doch die spirituelle Hühnerleiter ersparen können, sie war doch beschissen genug!
Oh Nein mein Freund, denn das was der Meier oder die Hübner unbewusst tut, ist in deiner Wahrnehmung nun die höchste Erkenntnis! Es ist das letztendliche Ergebnis deiner spirituellen Suche und daher erhält nun das Leben an sich bzw. als solches höchste Wertschätzung. Und das wiederum unterscheidet dich drastisch von der Wahrnehmung des Herrn Meier und der Frau Hübner.
Manche Meister sagten, ihr Leben sei nun eine einzige Meditation. Nun, da dies missverständlich verstanden werden kann, würde ich mich zu einer solchen Aussage nicht hinreißen lassen, kann jedoch in diesem Kontext nicht umhin, sie zu bestätigen. Es ist nicht mehr nötig dir eine halbe, eine oder gar zwei Stunden pro Tag fürs ZAZen1 abzuzweigen, weil dich das Zen2 bis in die Knochen, die Nerven, die Zellen beherrscht. Du kriegst es nicht raus, selbst wenn du es wolltest. Es hat dich sozusagen unter Kontrolle.
Aber was macht es mir dir? Es fokussiert dich aufs Leben. Das was ist. Jeweils ist. Also beispielsweise den Schreibtisch aufzuräumen. Oder einen Anruf zu machen. Oder den Müll rauszubringen. Oder die anderen tausend Kleinigkeiten zu erledigen, die den Alltag ausmachen. Einfach so. Nicht immer freudig. Nicht immer ohne Ärger währenddessen. Nicht immer ohne Widerstand, bevor du mit einer Tätigkeit beginnst.
Du kümmerst dich nicht mehr um spirituelle Praktiken, weil dein gesamtes Leben eine ist. Von Geburt an war sie es, und sie wird es sein, bis dein Körper seine Funktionen aufgibt. Ob dir das bewusst ist oder nicht steht auf einem anderen Blatt. Ist dir aber bewusst, dass Leben die größtmögliche Transformation ist, dass Leben das äußerste Opfer ist, dessen die Quelle fähig ist, tiefste Hingabe und totale Aufgabe bedeutet, wird es dir natürlich zur Meditation. Denn was ist denn unverfälschte Meditation? Im eigentlichen Achtsamkeit oder Gewahrsein. Der Meditierende lernt wahrzunehmen was sich abspielt in seinem Körper, seinen Gedanken, seinen Gefühlen, etc.
Dazu braucht es jedoch kein ZAZen mehr, wenn das Leben selbst, das Leben als solches als das erkannt wird, was es in Wahrheit ist: Erscheinung. Egal was passiert und wie es passiert.
Da kann’s keine Ablenkung mehr geben. Von was sollte ich denn abgelenkt werden können, wenn ich weiß, dass ich nichts anderes als bereits abgelenkt (oder umgelenkt) bin? Einfach weil all die Dinge erscheinen, die ich nicht bin und niemals sein kann!
Leben ist eine einzige Ablenkung von dem, was ich bin, nämlich nichts. Totale Leere. Un(an)fassbarkeit. Das, was sich selbst nicht zu fassen vermag, kreiert auf ihm selbst unfassbare Weise Objekte, die es von sich selbst als Subjekt ablenken, bis es dieselben als leer erkennt.
Ist doch in nahezu jedem Leben dasselbe. Du kaufst dir einen zitronenfaltergelben Ferrari und stehst für ca. 1 Monat täglich frühmorgens in der Garage, um ihn… zu streicheln! Dann wird er zum Nutzfahrzeug und schließlich, ein Jahr später, kaufst du dir einen knallroten Maserati. Doch auch der wird in deiner Wahrnehmung leer. Schlicht deshalb weil er leer ist. Er besteht aus lauter Leere, die sich zauberhaft in-Form gebracht hat. Um sich selbst zu entzücken. Das ist der Zauber der Formwelt. Bis sie dir „nichts“ mehr bedeutet.
Natürlich ist das nicht in allen Menschen so. Manche hängen sich lebenslang an Objekte. Selbst wenn sie aus Erfahrung wissen, dass sie sie enttäuschen werden. Man kauft ein bis zur Vergasung. Ach schau mal wie schön das Paar Schuhe! Auch wenn es das Hundertste Paar ist.
Andere suchen in anderen Objekten und halten sich deshalb für besser als der Rest der Menschheit. Ich gehörte zu diesen Hochnasen. In Wahrheit waren es lediglich andere Objekte. Erleuchtung hießen sie oder Transformation oder spirituelle Meisterschaft. Am Ende erwiesen auch sie sich als vollkommen leer.
Ach Freunde, es geht eben nicht ohne diese Enttäuschung! Und deshalb sind sie nicht umsonst, jene Wege, die auf die höchste Höhe zu führen scheinen und in Wahrheit immer in der totalen Leere enden. Doch wenn das geschieht, wenn du in keinem Objekt mehr Befriedigung findest und bereit bist für die überaus enttäuschende Erkenntnis deiner absoluten Leerheit, dann beginnst du schließlich zu lachen. Nicht wie in Lachseminaren: UM glücklich zu sein. Nein, sondern weil dir das Leben als das erscheint, was es ist: ein einziger Witz! Eine Aufblähung dessen, was im Grunde nichts ist. Manche Wissenschaftler sprechen von einem inflationären (meint: aufgeblähtem) Universum. Recht haben sie. Das Geld, das wir für all die Objekte ausgeben, die uns wünschenswert erscheinen, ist in Wahrheit gar nicht vorhanden. Es sind nur bedruckte Scheine mit Zahlen, die die Notenbank 24 Stunden am Tag wie ein wild gewordener Handfeger druckt. Wir kaufen somit mit nichts nichts! Und da soll man nicht in Lachen ausbrechen???
Ups, Leer(e) ist alles was ist! Und das bin ich wirklich. Und drin in der Leere erscheint … eine (Spiel)Welt! Leben so wie es ist. Ohne das ich es jemals initiiert hätte! Ohne das ich jemals eine Hand gerührt hätte! Natürlich sehe ich Milliarden von Händen, die alles Mögliche tun. Sie wachsen und wirken jedoch aus dem Nichts und verschwinden wieder darin.
Und so bleibt am Ende… natürlich, was sonst, nur das wirklich unwirkliche Leben. Und das heißt: Ich hab jetzt Hunger nach einer Schnitte Brot und freu mich auf einen heißen Cappuccino. Seh es mir bitte nach…
Sela3!
1 Sitzmeditation
2 Zustand meditativer Versenkung (Wikipedia)
3 Sela (hebr. ) ist ein oft wiederkehrendes Tonzeichen in den Psalmen. Es wird interpretiert als Angabe eines Ruhepunktes im Gesang, bzw. als Schlusszeichen einer Strophe. Der Ursprung dieses hebräischen Wortes mit der Schreibung Samech-Lamed-Heh liegt im Dunkeln. Eventuell kommt es von dem ähnlich lautenden Wort Sel`a mit der Schreibung Samech-Lamed-´Ajin, welches „steil aufragender Felsen“, „Echofelsen“ bedeutet. Dann könnte dieses Tonzeichen der Psalmen als Echo oder auch Refrain gedeutet werden. Dazu würde passen, dass dieses Tonzeichen häufig an wichtigen und bedeutenden Passagen in den Psalmen vorkommt, die dann wiederholt wurden. (Wikipedia)
Danke für den herrlichen Text heute! Genau so geht es mir schon seit einer Weile! Das einzige "Spirituelle" was ich noch lese, sind deine Inspirationen. Letzte Woche habe ich in meiner Wohnung Hunderte von spirituellen Büchern ausgeräumt und einer Freundin zum Verkauf überlassen und ich lese Spiegel Bestseller und freue mich daran, laut lachen zu können! Herzlich, Gabi.
Dein letzter Text hat mich tief berührt. Er beinhaltet einfach alles. Tränen liefen, als ich ihn las. Einfach so sein zu dürfen mit dem, was gerade ist, in einer wunderbaren Einzigartigkeit und Sinnlosigkeit. Was kann man mehr wollen? Grüße dich herzlich, Bea.
Da sind zwei, die verstehen durften. Ist ein riesiges Vorrecht. Und nicht selbstverständlich. Überhaupt nicht. Bei einem Text, der das simple menschliche Leben fokussiert, weinen zu können? WOW. Da muss die Wahrheit sich Raum verschafft haben. Da muss zuvor die GSG94 aufgeräumt haben. Denn wenn sich die spirituellen Terroristen erst einmal häuslich eingerichtet haben, sind sie ohne Gewaltanwendung nicht mehr rauszukriegen. Das ist der Grund, weshalb Ablass-Texte manchmal etwas kriegerisch klingen. Da wird zum Angriff geblasen! Da wird die Bude gestürmt, die dem Gesindel als Unterschlupf dient.
Wobei – das muss ich betonen – wobei es freilich um Gedankengut geht. Nicht um die Menschen, die es vertreten. Die Menschen sind Marionetten, und sie anzugreifen würde bedeuten, nicht verstanden zu haben, dass niemand etwas tut. Selbst wenn ich ab und zu den Papst aufs Korn nehme – sozusagen als Repräsentanten für alle anderen Stellvertreter Gottes auf Erden – tue ich das wie ein Kabarettist. Der darf alles sagen, weil „Satire alles darf“, wie es einst Kurt Tucholsky5 übers Kabarett sagte. Es ist womöglich wahr, aber derart überhöht und mit Wortwitz ausgestattet, dass es wie Clownerie wirkt. Ich kann heute nicht anders, als viele, wenn nicht gar alle jener Gestalten, die Spiritualität repräsentieren, lächerlich zu finden. Den Papst vornean, aber mir fallen auch viele andere ein, auch manche in der Satsang-SZene, bei deren Auftritten ich in schallendes Gelächter ausbreche. Im Grunde genommen ist das nix anderes als Kabarett, ungewolltes freilich, denn diese Clowns möchten ja, dass man sie ernst nimmt.
Viel wichtiger aber, als über diese Figuren herzhaft zu lachen, ist die Einsicht, aufgrund derer es geschieht. Und noch viel wichtiger ist, was die Einsicht ausrichtet. Sie lässt die Einfachheit des Lebens in den Vordergrund treten. Sie macht eine Tasse Cappuccino und einen Croissant zum Festakt.
Spiritualität ist brutalster Terror! Freilich nicht jene harmlose Blümchenspiritualität, die lediglich von dir verlangt, dass du möglichst zweimal täglich 10 Minuten lang dein Mantra runter reißt.
Ich befand mich 10 Jahre lang in einer Gruppe, deren Führer sich wähnte, Gott auszuteilen. The dispensing of god hieß das wörtlich. Gott vermengte sich dabei mit dem menschlichen Geist, durchdrang dann die Seele und schließlich den Körper. Und das war das Endziel, die sogenannte Transfiguration6 unseres Bodys. Und das wären dann die im Neuen Testament verheißene Wiederkunft Christi und der Beginn des 1000-jährigen Reiches auf Erden gewesen. Dafür lebten wir. Täglich. Stündlich. Jede Minute. Denk nicht, das wäre nur Scheiße gewesen. Wenn du für etwas brennst, bist du immer verliebt und es gibt nichts anderes für dich. Das menschliche Leben jedoch, das, was Leben eigentlich ausmacht, geriet fast vollständig in den Hintergrund. Fast täglich fanden Versammlungen und Dienste statt. Wir lebten in sogenannten Hausgemeinschaften. Privatleben? Fehlanzeige! Es gab für uns nichts anderes als die sogenannte Ökonomie oder Austeilung Gottes.
Extremes Bespiel magst du zu Recht sagen. So krass lief das bei mir nie. Nun, wie in allem war auch diese Erfahrung dual: Es gab Vor- und Nachteile. Aus diesem Prinzip kommst du nie raus.
Als spiritueller Terror wird Spiritualität erst dann empfunden, wenn das Leben an irgendeiner Stelle mit den Prinzipien, die du praktizierst, kollidiert. Oder wenn du nicht erreichst, was dabei rauskommen soll. Nach 10 Jahren Austeilung der göttlichen Substanz wurde unser Zusammenleben nicht göttlicher, sondern ganz im Gegenteil immer hässlicher. Ausgrenzung derer, die ein wenig vom Gedankengut unseres erlauchten Gurus abwichen. Konflikte mit denen, die deren Anhänger waren. Die Konsequenz: Erbitterte Diskussionen, Ausschlussverfahren, die Exkommunizierten wurden fallen gelassen wie heiße Kartoffeln, ihr soziales Umfeld ging gänzlich verloren. Das Leben schien zerstört, es machte keinen Sinn mehr. Es gab Selbstentleibungen, Einweisungen in die Psychiatrie, Alkohol wurde zum Ersatz für die Droge der sogenannten göttlichen Substanz.
In gemäßigter Form hast du das vielleicht auch erlebt: Jene Kollision deiner spirituellen Praktiken mit der rauen Wirklichkeit des alltäglichen Lebens. Und anstatt sie dann zu hinterfragen, stürzt du dich noch tiefer rein. Glaubst den Alltag besser bewältigen zu können, indem du noch intensiver und länger meditierst oder dich beim Yoga verrenkst. Glaubst, dass du erwachen musst, endlich, endlich erwachen musst und besuchst die verschiedensten Gurus, weil du es bei keinem so richtig erlebst. Und gerätst dabei immer mehr in die Hände des spirituellen Terrors. Liest Bücher, bis die Regale überquellen. Und bitte, denk nicht, ich würde dies alles kritisieren! Ich hab den ganZen Scheiß hinter mir. Heute stehen (einige) spirituelle Bücher nur noch als Dekoration da. So eine Bücherwand hat ja auch was…
Die Sache mit Gott ist klar. Er wurde erfunden. Erwachen ist klar. Erleuchtung ist klar: Indische Mystik! Die Welt als Illusion zu durchschauen, das könntest du mit LSD schneller haben. Das Warten auf den göttlichen Gnadenakt führt lediglich zu weiterem Warten. Und alles, was da ist, was anfassbar ist, schmeckbar, riechbar, fühlbar, erlebbar, wahrnehmbar, wird konsequent übersehen. Ich habe es Jahrzehnte lang übersehen. Denn mein Kopf steckte in spirituellen Konzepten und Praktiken fest.
Was du verstehen musst ist nur eins: Kein Täter, nur Taten! Nicht durch Satsang. Auch nicht durch luxury MindCrash-Seminare. Die helfen dir nur bei der Überprüfung. Ob es ihn gibt, jenen Täter oder ob er eine Schimäre ist. Ob du die Dinge geschehen lässt oder ob sie geschehen. Ohne dich.
Ist das geklärt, wirst du das Leben schätZen. Das stinknormale menschliche Leben. Den Kaffee und den Croissant, den du ansonsten achtlos runterschluckst. Dein Kind und sein atemberaubend bezauberndes Lachen, das du absurderweise wegen deines krampfhaft zu befolgenden Vorsatzes im Hier und Jetzt zu sein, überhörst. Das gemütliche Glas Rotwein am Abend, das du dir nicht mehr gönnst, um deinen Astralkörper vor Verunreinigungen zu schütZen. Ein Film wie Django Unchained von dem Kultregisseur Quentin Tarantino, den du verachtest, weil du meinst, er behindere und blockiere deine spirituelle Entwicklung.
Deine gesamten ehrgeizigen Veränderungsprojekte und Transformationsprozesse landen da, wo sie hingehören: Auf dem Müll! Zugunsten der einzig wahren Transformation. Der aus der Formlosigkeit in die Form mit dem Ergebnis des total sinnlosen und doch so überaus wertvollen menschlichen Lebens!
4 Antiterrortruppe der deutschen Bundespolizei
5 Kurt Tucholsky (* 9. Januar 1890 in Berlin; † 21. Dezember, war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. (Wikipedia)
6 Im Sinn einer Metamorphose. Nach dem Verständnis jenes (bereits verstorbenen) Gurus wird dabei der Körper unsterblich.
Du hast kürzlich geschrieben, dass das Gehirn ein Gewohnheitstier ist und mit den Gedanken ist es ja wohl auch so. Wenn mir das bewusst wird, kann ich dann allfällige negative Gedanken in positive verwandeln oder ist das eine Illusion mehr??
Zunächst: Illusion ist alles. Positives und Negatives. Zweitens: Illusion ist nichts Schlimmes. Ohne Illusion wären wir beide nicht einmal sichtbar. Ach, was sag ich, wir wären nicht einmal unsichtbar, weil Unsichtbarkeit schließlich bedingt, dass etwas sichtbar ist oder zumindest sichtbar werden kann. Drittens: Positiv zu denken kann auch negativ sein. Fünftens: Negativ denken kann auch positiv sein. Sechstens: Es gibt Milliardäre, die negativ denken und Milliardäre die positiv denken und die, die positiv denken, zumindest jene, die durch Dr. rel., Dr. phil., Dr. jur. Joseph Murphy reich wurden, führen dies aufs positive Denken zurück. Siebtens: Ob eine Illusion mehr oder minder spielt nicht die geringste Rolle. Hauptsache du fühlst dich dabei nicht wie eine Prostituierte, die in einer Nacht jede Stunde einen Freier mit dem Mund befriedigen muss, obwohl keiner von ihnen auch nur halbwegs geduscht ist. Darum geht’s zwar auch nicht im Leben, ich meine, dass man immer frisch geduscht ist und dementsprechend veilchenhaft oder rosenhaft duftet, aber ein frisch geduschter Körper duftet schließlich nicht nur für eine Hure erfrischend.
Du wirst lachen, aber es geht um überhaupt nichts im Leben. Und das ist der Lacher schlechthin! Und daher ist’s egal ob du frisch geduscht riechst oder stinkst wie ein Elch. Es geht nicht einmal darum ob du lebst oder stirbst. Es ist egal ob du lachst oder weinst. Es ist sogar egal ob du so bekannt wirst wie Humphrey Bogart durch den atemberaubend schönen Schwarz-weiß-Film Casablanca, für den er ungerechterweise nicht einmal den Oscar erhielt oder unbekannt wie ein Müllmann in Müllheim an der Ruhr bleibst, den außer dessen Eltern, Großeltern, sein einziger Bruder, seine Frau, seine beiden Buben, der Lehrer, der Metzger, der Bäcker, seine Kollegen bei der Müllabfuhr und seine Kegelbrüder, mit denen er sich einmal pro Woche besäuft, kaum jemand kennt, so dass natürlich auch nur die hier genannten Personen auf dem Friedhof erscheinen, nachdem er 42jährig vom Dach fällt und dabei ins Gras beißt. Er wollte, um Geld zu sparen, einige der Schindeln, die der letzte Herbststurm aus dem Dach herausgerissen hatte, selbst ersetZen, rutschte aus Mangel an Erfahrung auf einem nassen Ziegel ab und fiel über 5 Meter mit dem Kopf voran in die Tiefe. Man hörte nur den Schreckensschrei und am Boden ein Wuff. Es klang nicht so wie ein Hund bellt, nein, das Wuff kennzeichnet in diesem Fall keinen Laut, sondern den Inbegriff des Verstummens. Und die Moral von der Geschichte: Schuster bleib bei deinen Leisten, respektive: Müllmann, steig' nie aufs Dach!
Irgendwie hab ich jetzt aber den Eindruck wir seien vom Thema abgekommen… Oder doch nicht? Haben wir etwa nicht gelacht, als wir den Müllmann vom Dach stürZen hörten? Mit diesem Wuff, das nicht der Dobermann von nebenan ausstieß, sondern das Leben unseres unbekannten und sparsamen Müllmanns besiegelte? Ja und haben wir damit nicht, wenn auch unbewusst, Negatives durch Positives ersetzt? Den tragischen Tod eines Müllmanns, der sich am Wochenende beim Kegeln betrinkt und vom Dach fällt, der hat uns doch tatsächlich zum Schmunzeln gebracht. Donnerwetter! Da ist uns doch wahrhaftig und wahrlich ein Transformatönchen von beachtlicher Gemeinheit gelungen! Mundwinkel nach oben gezogen und schon, ei der Daus, schütten sich sturzflutartig Endorphine im Gehirn aus. Da sollten doch verdammt noch einmal vielmehr schwabensparsame Müllmänner vom Dach runter fallen! Damit wir was zum Lachen haben! Natürlich nicht aus Schadenfreude. Nein, natürlich nicht, sondern weil wir uns darauf verstehen, Negatives in Positives zu transformieren. Weil wir Experten mentaler Umwandlung wurden.
Ein Auto fährt uns übers Bein, es wird mangels realer Wiederherstellungsoptionen amputiert und nachdem wir aus der Narkose erwachen und es weder mit der linken noch mit der linken Hand zu fassen bekommen, rufen wir zum größten Erstaunen der mit uns im Krankenzimmer liegenden Leidensgenossen aus: Das ist das Beste, was mir passieren konnte! Halleluja, Gottes Plan ist grandios! Schon wieder produziert das Gehirn Endorphine und mit ihnen erleben wir selbst beinamputiert die Welt als Paradies. Bein dran, Bein weg, schert mich doch einen Dreck! Doch dann, ach Herrjemine, in der Nacht, als alles schläft und nur einer noch wacht, überkommt den Beinamputierten plötzlich das große Jammern. Weil die positiven Gedanken des Herrn Dr. Dr. Dr. Joseph Murphy plötzlich auch amputiert sind und mit grässlicher, grausamer Fratze vor seinem geistigen Auge jenes Holzbein erscheint, das ihm der Oberarzt anlässlich seiner Visite stolz präsentierte, ein Wunderwerk der Technik zwar und dennoch grauenhaft steif und hölzern, welches ihm jedoch fortan als Ersatz dienen muss und doch nie ein Ersatz sein kann für jenes aus Fleisch und Blut. Und der Spruch, den er von dem dreifachen Doktor und Minister der Religious Science gelernt hat „Das ist das Beste, das mir passieren konnte“ und natürlich aus reiner Gewohnheit in ihm aufgesagt wird wie ein tausend Mal rezitiertes Gedicht, klingt nun dermaßen absurd, dass er – der Leser wird es kaum glauben – wiederum gellend zu lachen beginnt. Bis im wahrsten Sinne des Wortes der Arzt kommt, allerdings mit einem Formular in der Hand, weil der vermutet, die Einweisung in die Psychiatrische unterschreiben zu müssen.
Lachen und Weinen sind in einem Sack, pflegte meine Mama zu sagen, wenn ich in Kindertagen allzu übermütig wurde. Und wie recht hatte sie. Auf dem Höhepunkt der Euphorie kippte die gute Stimmung zumeist und ich weinte heiße Tränen.
Bipolar ist das Leben.
Sela!
Du bist halt ein 68er, Werner. Kommst nie raus aus dem RevoluzZen. Erinnerst mich manchmal so ein bisschen an Daniel Cohn-Bendit. Nur das du nicht so schrill und aufdringlich wie der wirkst. Aber irgendwie sind die Leute aus dieser Zeit anders als wir heutzutage. Ich bin Baujahr 76, das war schon eine ganz andere Zeit, in die ich da reinwuchs. Da war ja im Grunde die APO7 und Sponti8 Zeit schon wieder vorbei. Ich habe das Gefühl wir sind weichgespült, kein Gramm Revoluzzer Gen. Wenn ich dann so einen Text wie „Spiritueller Terrorismus“ oder „Der Lacher schlechthin“ lese, stehen mir erst mal die Haare zu Berge. Wenn ich dich nicht persönlich kennen würde, würde ich sagen, der ist sicher noch nicht erwacht, so wie der schreibt. Weil ich dich aber kenne, weiß ich doch, dass deine geschriebenen Worte oft radikaler wie du als Person wirken. Dich muss man ja nicht mit einem „Weiter so“ ermutigen, weil du dich sowieso nicht aufhalten lässt. Ich schreibe es aber trotzdem und danke dir dafür, dass du kein Blatt vor den Mund nimmst.
Ich stehe neben mir, lieber Paul, und schau dem Revoluzzer bei der Arbeit zu, sozusagen. Und ob du es glaubst oder nicht: Ich schreibe diese Texte nicht. Sie fließen, während ich schreibe und selbst auf die Formulierung und die Entwicklung des Texts habe ich keinerlei Einfluss. Ich lese ihn anschließend und bin zwar oftmals begeistert, aber nicht etwa stolz. Ich bin tatsächlich nur der „erste Leser“.
Rein äußerlich bin ich ein „Spießer“ geworden. Hättest du mir vor 40 Jahren gesagt, welch ein „langweiliges“ Leben ich 40 Jahre später leben würde, hätte ich dich kopfschüttelnd ausgelacht. Damals stand ich in den damals überall neuentstehenden Fußgängerzonen auf einer umgestürzten Obstkiste und predigte mir den Hals wund. Jesus-People nannte man uns. Die Lehre war hart am Gedankengut des amerikanisch gefärbten christlichen Fundamentalismus orientiert, unser Verhalten jedoch, unsere Lebensart und unsere Sprache waren nicht viel anders als die der 68er. Ja, auch wir wollten die Welt aus den Angeln heben, nur eben nicht durch Gewalt, Steinewerfen, Molotow-Cocktails, Auseinandersetzungen mit der Polizei, Demos und politische Einflussnahme wie unser früherer Außenminister Joschka (der Menschen)Fischer, sondern durch die Hinwendung zu Christus, den wir für den größten Revolutionär aller Zeiten hielten.
Revolution ist jedoch längst nicht mehr mein Ziel. Nicht einmal die sanfte des Jesus von Nazareth. Die Welt wird sich nicht grundlegend ändern. Nur was die Mode betrifft. Die Technik. Die Sprache. Die Arbeitswelt. Die Art der Fortbewegung. Gut und Böse jedoch wird zu gleichen Teilen verteilt sein, so wie es immer schon war. Sonst funktioniert sie nicht, diese Welt. Sie ist nur lebensfähig auf der Grundlage der Dualität, respektive Polarität.
Das interne Programm der meisten Menschen auf diesem Globus ist Veränderung. Daher kam das Wahlmotto von Barack Obama so überaus gut an: Change! Und das ist nicht etwa falsch. Denn selbst das Falsche ist richtig. Nichts läuft aus dem Ruder. Es kann nicht. Und zwar gerade wegen dem Prinzip der Dualität. Mehr als jeweils 50 ProZent an Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist einfach nicht drin. Diesen ProZentsatz kann niemand überschreiten. Selbst ein Tyrann wie Stalin oder Hitler konnte das nicht, wenn man die beiden Teufel im globalen Kontext betrachtet.
Karl Heinz Böhm, einer der Guten, leidet nun unter Demenz. Wie kann das Schicksal nur einen, der seine Karriere hinwarf für das Engagement für die Ärmsten der Armen, derart ungerecht behandeln? Wie ist es möglich, dass ein Weiser wie Ramana Maharshi verhältnismäßig früh an einem Tumor starb? Und weshalb ist Rolf Eden, der Nachtclubbesitzer und „bekannteste Playboy Deutschlands“, wie er sich selbst nennt, am 6.2. 2013 bei guter Gesundheit 83 Jahre alt geworden? Was will uns das Leben denn damit sagen, würde ein Eso fragen. „Werde Playboy anstatt Gutmensch“ vielleicht?
Alles Pille-Palle! Nein, ich stehe nicht für Erleuchtung oder Erwachen. Ebensolcher Kinderkram ist das wie der gesamte Esomarkt mit den SpiegelgesetZen, der Chakrenreinigung, dem Pendeln, den magischen Karten und Steinen, den Bestellungen beim Universum!
Ich bin ernüchtert worden, nicht etwa erleuchtet! Ich hab mir den Lauf der Welt angeschaut und dabei ging mir der Glaube an all den Schwachsinn verloren, den ich früher vertrat.
Und ich überprüfte ob tatsächlich ein Ich existiert, das in eigener Regie denkt, entscheidet und handelt und kam zu der ernüchternden (nicht erleuchtenden) Erkenntnis, dass ich einer Illusion aufgesessen war. Denn ich fand keinen. Und du wirst auch keinen finden, wenn du dich auf die Suche nach dem Ich machst, anstatt diesen Clowns zuzuhören, die über Stille, permanente Glückseligkeit, transformatorische Prozesse, spirituelle Evolution, 7 Schritte zum Erwachen, Reinigung des feinstofflichen Körpers, eine neue Erde oder den neuen Menschen schwadronieren.
Du solltest nicht denken, dass ich deren Schäflein abwerben will. Oh nein, weit gefehlt! Es ist mir im Gegenteil völlig egal, ob du mir zustimmst oder mich ablehnst. Und der Grund hierfür ist sehr einfach: Du kannst nie anders handeln als du handelst! Du hast gar keine andere Wahl!
Ich jedoch ebenso wenig.
Sela!
7 Außerparlamentarische Opposition (APO) beschreibt eine Opposition (lat. oppositio „Entgegensetzung“), die außerhalb des Parlamentes stattfindet, weil sie entweder in den im Parlament vertretenen oder sonstigen Parteien (noch) kein Sprachrohr hat oder auch gar nicht haben will. (Wikipedia)
8 Spontis hielten die „Spontaneität der Massen“ für das revolutionäre Element der Geschichte und grenzten sich damit von den K-Gruppen ab, die dem leninistisch-kommunistischen Gedanken anhingen, für die Revolution sei eine Avantgarde-Partei vonnöten, die die Führung in eine bessere Zukunft übernehmen müsse. (Wikipedia)
Wäre ich nicht zufällig Zen-Mönch geworden, dann würde ich wahrscheinlich nicht über den Dharma sprechen. Wahrscheinlich wäre ich dann ein Ganovenboss, der nicht mehr zu sagen hätte als „Ich nehme dir noch die Eingeweide raus, du Schweinehund!
Kodo Sawaki9
Bei dieser Klarheit stört es mich nicht, dass dieser Mann Mönch war, sich täglich wie ein Huhn auf der Stange stundenlang die Haxen verrenkte und es anderen beibrachte. Nur diese beiden Sätze brauch ich von ihm zu hören oder zu lesen und ich weiß, mit wem ich zu tun habe.
Nämlich mit niemand.
Wenn ich nicht jene 33jährige Christin gekannt hätte, als ich etwa 16 Jahre alt war, hätte auch ich womöglich eine kriminelle Karriere gemacht. So wie 95 ProZent der Zöglinge jenes Erziehungsheims, in das ich damals wegen „unbotmäßigen Verhaltens“ verbracht worden war. Sie war es, die mich zunächst mit den Werken von Bergengrün, Tolstoi, Dostojewski, Kafka und auch Sigmund Freud bekannt machte und dann, nach ihrer eigenen Bekehrung, auch mit der Bibel. Das war damals meine Rettung. Das brachte eine vollkommen andere Richtung in meinen Lebenslauf. Das war eine Wegkreuzung von entscheidender Bedeutung.
Etwa ein Jahr zuvor allerdings hatte sich die Dame selbst erst zu Christus bekehrt, was womöglich gar nicht geschehen wäre, hätte sie nicht (wiederum zuvor) eine Vorliebe für den ziemlich frühreifen Bengel Werner gehegt, die sich vor seinem Heimaufenthalt darin ausdrückte, dass sie ihn eines (wunder)schönen Abends im Wonnemonat Mai erst im Auto und dann auf der Wiese verführte. Wer kennt nicht jenen Song von Peter Maffay, in dem er seine erste sexuelle Begegnung besingt:
Ich war 16 und sie 31
und über Liebe wusste ich nicht viel.
Sie wusste alles, und sie ließ mich spüren,
ich war kein Kind mehr.
Und es war Sommer…
Nun, ich war drei Jahre jünger als der bekannte Rocksänger, ein Kind war ich anschließend jedoch auch keines mehr. Die Dame war jedoch, wie man vermuten könnte, keine liederliche Asoziale, nein, ganz im Gegenteil, sie war eine konservative Intellektuelle, hatte Germanistik studiert, war schon einige Jahre mit einem stadtbekannten Architekt verheiratet, hatte zwei kleine Kinder und lebte in durchaus gutbürgerlichen Kleinstadtverhältnissen.
Aber wer weiß, vielleicht hatte sie sich bittere Vorwürfe gemacht und sich mitschuldig gefühlt, als Werner anschließend außer Rand und Band geriert, so dass seine Mutter sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als dessen Vormund beim Jugendamt zu konsultieren, der nichts Besseres zu tun wusste, als ihn ins Erziehungsheim zu stecken. Und diese Selbstvorwürfe haben sie womöglich in die Hände des virtuellen Sündenheilands getrieben, der schließlich dafür zuständig ist, „Missetaten“ zu vergeben.
Selbstanklagen wären allerdings gar nicht nötig gewesen, weil sie nicht nur eine überaus liebenswerte Dame war, sondern auch über die nötige Sensibilität verfügte, so dass der Junge, dem man früher als es von Staatswegen legitimiert ist, die Unschuld nahm, mitnichten einen seelischen Schaden davon trug. Oder womöglich doch? Wer vermag das schon so genau zu sagen…
Es ist müßig darüber zu grübeln. Weit effizienter als den Therapeut zu besuchen, um Session für Session darüber zu quatschen, welche Ursachen zu welchen Ergebnissen führten, wäre die Überprüfung, inwieweit die mitwirkenden Personen überhaupt irgendwas taten.
Der Hass gegen die Mama oder den Papa, den Bruder oder die Schwester, den wie ein brünstiger Kater entlaufenen Partner, egal was dir Personen auch angetan haben, er verschwindet wie eine Gewitterwolke, wenn dir klar wird, wie die Dinge in Wahrheit laufen. Da musst du keine internen Programme verändern. Da musst du den Personen nicht mal vergeben.
Wenn du völlig durchnässt vom Regen nachhause kommst und nach einer heißen Dusche wieder in trockene Kleider gehüllt bist, kamst du da jemals auf die Idee, den Wolken vergeben zu müssen, die schließlich schuld daran hatten, dass dir jetzt die Nase läuft und du mit ner dicken Erkältung im Bett liegst? Jeder, der dies de facto täte, sollte auf seinen Geisteszustand untersucht werden! Handelt es sich jedoch um Personen, meinen wir, sie in Schuldige und Unschuldige einteilen zu können, ja sogar zu müssen. In Böse und Gute – da mach ich noch mit. In Täter und Opfer – wegen mir auch. Aber in Handelnde und Nichthandelnde, bei diesem Spiel bin ich raus. Denn es beruht auf der Täuschung schlechthin. Und sie führt zu den Symptomen, die das Leben zur Hölle machen können: Selbstzerfleischende Selbstanklagen und Schuldzuweisungen, sowie hypothetische Angst, die sich bis zur Phobie steigern kann und oftmals im Burnout endet. Daher weiß ich von keiner das alltägliche Leben tiefgreifender und weitreichender verwandelnden Einsicht als der, dass es zwar Taten gibt, jedoch keinen Täter.