Inhaltsverzeichnis

Vorlesungen WS 97/98

Vergegenwärtigendes Vergessen, Identität und Mimesis

1. Vorlesung: Physiognomik des Psychischen: Zur Theorie der Mimesis

1.0 INNEN UND AUSSEN

Es geht um so etwas wie „Innen und Außen.“ Inwiefern ist Innen und Außen ein Problem? Wenn man „Innen und Außen“ als eine Metapher für das seelische Innere im Vergleich zum physischen Außen versteht, dann wird klar, dass wir uns das „Innen“ im Grunde nicht wirklich vorstellen können. Franz Kafka sagt an einer Stelle seines Werkes über die Gleichnisse im Text VON DEN GLEICHNISSEN [1], dass wenn jemand sagt „geh hinüber“, dass dies als Gleichnis bedeutet ein Gehen in ein „sagenhaftes Hinüber“, das aber eben nicht konkretisierbar ist; nicht ohne weiteres in vorzeigbarer Weise eingelöst werden kann. So ist es auch mit dem „INNEN“. Descartes unterschiedet zwischen cogitatio und extensio, Denken und Ausdehnung; wo bleibt da das seelische Eigene, Eigenständige, nicht Übersetzbare, die Eigenheit und Eigentlichkeit von Subjekten? Ich komme gerade von der KMH Köln, wo ein Student der Medienkunst eine Installation zeigte AUS DER NEUEN WELT. Welche Funktion hat hier die Musik Dvoraks?, war meine Frage. Steht sie nicht für jenes sagenhafte „Hinüber“, das „Drüben“ das wir das Innere nennen. Dies Innen aber geht nicht bruchlos in unsere Welt ein. Ingeborg Bachmann sagt an einer Stelle ihres unvollendeten Romans DER FALL FRANZA [2]: „Aber die Tatsachen, die unsere Welt ausmachen, sie bedürfen des Nichttatsächlichen, um von ihm aus erkannt zu werden“. Dieses Nichttatsächliche ist eine Instanz, eine Wirklichkeit in uns, um deren Existenz diese Vorlesung, dieses Seminar, ringt: Wie gehen wir mit dem Nichttatsächlichen in uns, dem Innen, dem Psychischen in und an uns selbst um?

Die Regisseurin und Schauspielerin Blanche Kommerell, die hier Vorlesungen und Kurse abhält, sagt in ihrem Einführungstext: „Der Körper soll lernen, seelische Vorgänge auszudrücken“… „die Stimme ist der Spiegel des Seele“.

Das Problem, das sich hier verbirgt, des seelischen Ausdrucks, ist ein solches der Physiognomik, des Erkennens von etwas psychischem Inneren im Physischen, der Gestalt, dem Antlitz, dem Äußeren. Im frühen 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der romantischen Naturphilosophen, war es eine beliebte Spekulation, im Ausdruck des Physischen das psychische Innere ablesen zu wollen. Der Physiker, Philosoph und Literat Lichtenberg hat dem eine sartirisch-witzige Studie gewidmet mit dem Titel ÜBER SCHWÄNZE, wo er Tierschwänze gezeichnet und deren psychisches Ausdrucksverhalten, das von ihnen ausgehende Anmutungserlebnis festgehalten hat.

Über diese Problematik fand vor zwei Jahren eine sehr schöne Tagung statt, an der ich auch mitwirkte, deren Ertrag, die publizierten Vorträge in einem Sammelband DER EXZENTRISCHE BLICK - GESPRÄCHE ÜBER PHYSIOGNOMIK [3] veröffentlicht ist. Mein Vortrag hatte den Titel „Physiognomik des Psychischen“ - eine Theorie der „Mimesis“ [4] und ich werde auf diesen Vortrag zurückkommen.

Ein ähnliches Problem wie das von „Innen und Außen“ gibt es bei Karl Jaspers in seiner ALLGEMEINEN PSYCHOPATHOLOGIE [5]. Jaspers unterscheidet hier das einfühlende Verstehen vom kausalen Erklären, d.h. er unterscheidet das Innen, das Einfühlen und die Problematik des Zuganges von dem Erklären, von Mechanismen des Physischen, die reduziert, auf einen mechanistischen Prozess zurückgeführt werden können.

Als ich vor einiger Zeit über diese Thematik einen Aufsatz schrieb, formulierte ich, dass es die Aufgabe des einfühlenden Verstehens sei, das Innen des Anderen aus ihm heraus zu verstehen. Der Lektor der Veröffentlichung machte daran ein Fragezeichen und verbesserte „… aus sich heraus zu verstehen“. Beides ist in besonderer Weise zutreffend. Und dies ist das Thema der heutigen Stunde: die mimetische Kopplung: wie wird aus Ausdruck Eindruck?

Die Briefe von Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo

In Vincent van Goghs Briefen an seinen Bruder Theo [6] gibt es im Juli 1880 folgende Passage: "Mancher trägt ein großes Feuer in seiner Seele, und nie kommt jemand, um sich daran zu wärmen; die Vorübergehenden bemerken nichts weiter davon, als ein kleines bißchen Rauch, der oben aus dem Schornstein quillt, und dann gehen sie ihres Weges. Was soll man da tun?" Es gibt vielleicht kein bedeutenderes Dokument über die Mimesis des Psychischen in der Malerei als die Briefe Vincent van Goghs. Unaufhörlich ringt er, quält er sich mit den Fragen nach der Einpassung seiner seelischen Wirklichkeit in die "Tatsachen seines Lebens": "Da nun die Dinge einmal so liegen, was ist da zu tun? Soll man sich für einen gefährlichen Menschen halten, der zu nichts taugt? Ich glaube nicht. Vielmehr geht es darum, mit allen Mitteln zu versuchen, gerade aus diesen Leidenschaften Nutzen zu ziehen. Um nur eine von vielen Leidenschaften zu nennen: ich habe eine beinahe unwiderstehliche Leidenschaft für Bücher, ich habe das Bedürfnis, mich ständig weiterzubilden, zu studieren, wenn du es so nennen willst, genau so wie ich das Bedürfnis habe, Brot zu essen. Gerade du wirst das verstehen können. Als ich in einer anderen Umgebung war, in einer Umgebung von Bildern und Kunstwerken, hat mich, das weißt du sehr wohl, für diese Umgebung eine heftige Leidenschaft erfaßt, die bis zum Überschwang ging. Und ich bereue das nicht, und jetzt, fern der Heimat, habe ich oft Heimweh nach der Heimat der Bilder." Diese Sehnsucht hat dazu geführt, dass van Gogh in tiefster menschlicher und seelischer Einsamkeit sich selbst zu einem der bedeutendsten Maler heranbildete, von praktisch niemandem anerkannt. Den Vorgang dieses Malens beschreibt er so (Brief vom Herbst 1883):

"Du mußt in der Zukunft dich und mich als Maler sehen, mag es uns jämmerlich gehen, mögen Schwierigkeiten kommen, aber sehen mußt du es -deine eigene Arbeit schon sehen. Ein Stück Natur angucken, denken: das will ich malen. Dich ganz und gar der fixen Idee hingeben: Maler werden… man muß die Hände ausstrecken und es nehmen - dieses Nehmen ist etwas Schwieriges - man darf nicht warten, bis es sich von selbst offenbart… durch das Arbeiten lernt man, durch das Malen wird man Maler." Bei diesem "es nehmen" nimmt Vincent van Gogh wie er es immer wieder in seinen Briefen beschreibt, gleichzeitig aus dem "großen Feuer in seiner Seele" und von der von ihm immer wieder eindringlichst angesprochenen "Natur", weswegen er fast ausschließlich nach "Modell" arbeitet: "Pflicht des Malers ist es, sich ganz in die Natur zu vertiefen und seine ganze Intelligenz einzusetzen, sein Gefühl in seine Arbeit zu legen, so daß es anderen verständlich wird." Und an anderer Stelle: "Nun, die Natur ist jedenfalls ein Etwas, über das man viel rauskriegen kann." Dieser Weg zur Natur ist für Vincent allerdings gleichzeitig schicksalhaft persönliches Erfordernis: "Papa, Tersteeg und andere, was weiß ich, alle die Einflüsse von früher haben mich immer mehr von der Natur entfernt. Was es nun auch mit Millet auf sich haben mag - er wenigstens hat mich mehr zur Natur zurückgeführt, als es bei meinem verzweifelten Seelenzustand irgendein anderer vermocht hätte.“ In diesem Sinne spricht Vincent in späteren Briefen auch von "trostreichen Bildern". Im Januar 1885 schreibt er: "Man muß die Natur genau und lange betrachten, ehe man zu der Überzeugung kommt, daß das Ergreifendste, was die großen Meister gemalt haben, seinen Grund im Leben und in der Wirklichkeit selbst hat, einen Urgrund echter Poesie, der ewig als Tatsache besteht und gefunden werden kann, wenn man tief genug gräbt und sucht… In jedem Fall, ob die Leute gut oder nicht gut finden, was und wie ich es mache, ich für meinen Teil weiß keinen anderen Weg, als so lange mit der Natur zu ringen, bis sie ihr Geheimnis offenbart."

Dass van Gogh trotz fast vollständig fehlender Anerkennung auf diesem Wege des Ringens mit der Natur bis zur Offenbarung ihres Geheimnisses erfolgreich war, blieb ihm keineswegs verborgen. So schreibt er in einem Brief im Frühjahr 1885 über sein Gemälde "Die Kartoffelesser" dass er hier etwas wirklich "Neues" geschaffen hat. Seine Vorgehensweise beschreibt er folgendermaßen: "Es geht mir darum, etwas anderes zu finden als meine alten Zeichnungen hatten, die Wesensart der Bauern - gerade der hiesigen - herauszukriegen." Und so schreibt er an anderer Stelle, hierfür sei es nötig, "selber zum Bauern zu werden". Zum Malvorgang selbst: "Was hab ich da gemacht? Alle Köpfe waren fertig und zwar sehr sorgfältig durchgearbeitet, aber ich habe sie kurz entschlossen erbarmungslos übermalt, und die Farbe, in der sie jetzt gemalt sind, ist ungefähr die Farbe einer guten, staubigen Kartoffel, ungeschält natürlich." Worum es ihm dabei geht, ist die menschliche Seele. So sagt er im Dezember 1886: "Aber ich male lieber Menschenaugen als Kathedralen, denn in den Augen steckt etwas, was in der Kathedrale nicht steckt, wenn sie auch feierlich und eindrucksvoll ist; die Seele eines Menschen - mag es auch nur die Seele eines armen Teufels oder eines Straßenmädels sein - ist in meinen Augen interessanter.". Und kurz danach: "Die Frage ist nur, ob man die Seele oder die Kleider zum Ausgangspunkt nimmt, ob man die Form als Kleiderständer für Schleifen und Bänder benutzt, oder ob man in der Form ein Mittel sieht, einen Eindruck, ein Empfinden wiederzugeben, oder ob man abbildet um abzubilden, weil das an sich so unendlich schön ist." Da darf die Malerei sogar "lügen" und so heißt es im Frühjahr 1885: "… daß es meine große Sehnsucht ist, solche Unrichtigkeiten machen zu lernen, solche Abweichungen, Umarbeitungen, Veränderungen der Wirklichkeit, damit es - nun ja, Lügen werden, wenn man will, aber - wertvoller als die buchstäbliche Wahrheit…": "Das heißt wahrhaftig malen, und dabei kommt etwas schöneres heraus als bei genauer Nachbildung der Dinge selbst. Eines im Auge haben und die Umgebung dazugehören lassen, daraus hervorgehen lassen." In diesem Sinne scheint mir ein zentraler Satz van Goghs - gewissermaßen als Quintessenz seines Malerschicksals - zu sein: "Als Maler fühlt man sich als Mensch unter anderen Menschen, in höherem Grade, scheint mir, als in einem Leben, das mehr auf Spekulation beruht, in dem man auf Konventionen achten muß…"

Das Besondere an van Goghs Schicksal liegt wohl darin, dass es ihm in ganz ungewöhnlicher Weise gelang, Zugang zu seinem psychischen Leben als ihm selbst zu gewinnen und ein Leben, das "mehr auf Spekulation beruht" durch die Direktheit seines Lebens und seiner Kunst zu vermeiden. Hierdurch stellte sich ihm im stärkeren Maße als anderen Menschen und Künstlern das Problem der Mimesis oder wenn man so will der Physiognomik des Psychischen als eines schöpferischen Transformationsprozesses, dessen wesentliche Geheimnisse er alle in seinen Briefen an- und ausgesprochen hat, deren Tiefen aber in aporetischer Weise unlösbar sein dürften.

Als Abschluss dieses van Gogh Kapitels möchte ich nicht verfehlen, eine eher humorvolle Passage aus einem Brief vom August 1882 zu zitieren, die zu dem etwas aberwitzigen Programm der Physiognomiker einen Beitrag leistet. Da heißt es: "In letzter Zeit gebe ich mich viel damit ab, auf der Straße Pferde zu zeichnen, ich würde bei Gelegenheit auch gern mal ein Pferd als Modell haben. Da habe ich gestern einen hinter mir sagen hören: "Das ist mir'n schöner Maler, der zeichnet den Hintern vom Pferd, statt es von vorn zu machen." Diese Bemerkung fand ich sehr drollig."

2.0 Irreduzibilität des Psychischen

Wissenschaftlichen Psychologien sicher sehr angenehm wäre es, wenn sich das Programm der Physiognomiker, in qualitativ und quantitativ ablesbarer Weise das Gestaltwerden des psychischen Inneren zu verfolgen, reliabel und nachvollziehbar realisieren ließe. Die Geschichte der Physiognomik zeigt dagegen, wie Claudia Schmölders (1995) deutlich macht, dass dies nicht der Fall ist. Als gesichert kann gelten, dass keineswegs die fixierte Gesichtsgestalt der Physiognomie von Menschen, wohl aber zum Teil der mimische Ausdruck geeignet ist, uns gewisse Hinweise auf die innere seelische Verfasstheit von Menschen zu geben. Und wenn Dichter, wie dies extrem häufig vorkommt, in ihren Werken zur Illustration psychischer Innenwelten Gesichterbeschreibungen vornehmen, so handelt es sich in der Regel um Beschreibungen von Kombinationen physiognomischer und mimischer Elemente, deren Gesamtzusammenhang genutzt wird, um uns einen Eindruck von dem Seelenleben des Betroffenen zu geben. So hat beispielsweise Dostojewskij in seinem Roman ERNIEDRIGTE UND BELEIDIGTE [7] den Fürsten Walkowski als Inbegriff des Bösen in folgender Weise beschrieben: "Die Tür tat sich auf, und an der Schwelle erschien in eigener Person der Fürst Walkowski. Er überflog uns mit einem schnellen, aufmerksamen Blick. Aus diesem Blick ließ sich noch nicht erkennen, ob er als Feind oder als Freund gekommen war. Doch ich will sein Äußeres genau beschreiben. An diesem Abend fiel er mir besonders auf. Ich hatte ihn auch früher schon gesehen. Er war ein Mann von höchstens fünfundvierzig Jahren, mit regelmäßigen und sehr hübschen Gesichtszügen. Sein Gesichtsausdruck wechselte je nach den Umständen; er wechselte schroff, vollkommen und mit ungewöhnlicher Schnelligkeit, indem er von dem angenehmsten Ausdruck in den verdrießlichsten oder unzufriedensten übersprang, als habe jemand plötzlich auf eine unsichtbare Feder gedrückt. Das regelmäßige Oval des ein wenig gebräunten Gesichts, die vorzüglichen Zähne, die kleinen, ziemlich dünnen, aber hübsch gezeichneten Lippen, die etwas längliche Nase, die hohe, noch gänzlich faltenlose Stirn, die grauen, ziemlich großen Augen - das alles ließ ihn fast als schönen Mann erscheinen, und doch machte sein Gesicht keinen angenehmen Eindruck. Dieses Gesicht stieß einen recht eigentlich darum ab, weil sein Ausdruck kein natürlicher war, sondern stets ein gemachter, absichtlich zurechtgelegter, angeeigneter, so daß man die unumstößliche Überzeugung gewinnen mußte, man werde nie hinter seinen eigentlichen Ausdruck kommen. Schaute man schärfer hin, mußte man auf den Verdacht kommen, hinter dieser beständigen Maske lauere etwas Böses, Listiges und im höchsten Maße Egoistisches. Insbesondere seine schön erscheinenden, grauen, offenen Augen zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Sie allein schienen sich nicht immer seinem Willen völlig unterzuordnen. Er wollte weich und freundlich blicken, doch die Strahlen seiner Blicke schienen sich gleichsam zu teilen, und zwischen den weichen und freundlichen Strahlen flimmerten harte, mißtrauische, forschende und böse Strahlen." Diese geniale Skizze, die vom Fürsten als Eintretendem und als Beobachter ausgeht, verwendet dann die Perspektivumkehr, um schließlich wieder bei dem Fürsten als dem misstrauisch forschenden Beobachter und dessen Strahlen-Blicken zu enden. Physiognomische und mimische Elemente werden abwechselnd eingesetzt, wobei die Widersprüchlichkeiten und die schnellen Änderungen des mimischen Ausdrucks verwandt werden, um den inneren Zustand des Fürsten zu charakterisieren. Das Entscheidende und wirklich Überzeugende daran ist aber gerade die wenn man so will "Beschreibung des Unbeschreibbaren", der deutliche Hinweis auf die Undurchdringlichkeit des Ausdruckes, der hermetische Charakter einer "Maskenhaftigkeit", wie es an anderer Stelle heißt*, so dass das Geheimnis des Bösen bei Walkowski z.T. gerade in der Tatsache liegt, dass es maskenhafte Rätselhaftigkeit und "zurechtgelegte, angeeignete" Undurchdringlichkeit des "eigentlichen Ausdrucks" bedeutet. Diese Undurchdringlichkeit des "hinter dem eigentlichen Ausdruck" Stehenden ist aber bei Dostojewski, wie man in seinen AUFZEICHNUNGEN AUS EINEM KELLERLOCH [8] sehen kann, nicht nur Inbegriff des psychisch Bösen sondern Inbegriff des Psychischen überhaupt. Denn wie Gunter Gebauer und Christoph Wulf in ihrem Buch MIMESIS [9] zeigen, ist der Bewohner des Kellerlochs "auf der Suche nach seinem Ich; er hat aber nicht die mindeste Vorstellung davon, wie dieses aussehen könnte. Er hat nur eine ungeheure innere Leere und den Wunsch, geliebt zu werden, egal als was." Das Psychische, in widersprüchlicher Weise zugleich an der Gesichtsdynamik beschrieben und verrätselt, entzieht sich der Deskription und Kategorialisierung weitestgehend. So schreibt Dostojewskij im "Kellerloch": "Ich möchte Ihnen jetzt erzählen, meine Herrschaften, gleichviel, ob Sie es hören wollen oder nicht, warum ich es nicht einmal vermocht habe, ein Insekt zu werden. Ich sage es Ihnen feierlich, daß ich viele Male ein Insekt werden wollte. Aber sogar dessen wurde ich nicht für würdig erachtet. Ich schwöre Ihnen, meine Herrschaften, Übermaß an Bewußtsein ist eine Krankheit, eine echte, schwere Krankheit. Für den alltäglichen Bedarf würde das gewöhnliche menschliche Bewußtsein vollauf genügen, das heißt um die Hälfte, um ein Viertel weniger als jene Portion, die auf einen entwickelten Menschen unseres unglücklichen neunzehnten Jahrhunderts entfällt, der zu alledem noch das doppelte Unglück hat, in Petersburg zu leben, dieser absichtlichsten und abstraktesten Stadt auf der ganzen Erdkugel. (Es gibt nämlich absichtliche und unabsichtliche Städte.) Es würde zum Beispiel das Maß von Bewußtsein genügen, mit dem alle sogenannten unmittelbaren und tätigen Menschen leben." Das Kellerloch, als Metapher für ein höheres Bewusstsein, ein Bewusstsein außerhalb der Unmittelbarkeit eines "abstrakt" tätigen Lebens scheint hier paradoxerweise als zugleich überwertiges und sehnsuchtsverhangendes Bild für die Undurchdringlichkeit des Psychischen: "Es lebe das Kellerloch! Ich habe zwar gesagt, daß ich den normalen Menschen galligst beneide, aber unter den Bedingungen, unter denen ich ihn sehe, möchte ich mit ihm nicht tauschen (obwohl ich nicht aufhören werden, ihn zu beneiden). Nein, nein, das Kellerloch ist unter allen Umständen vorteilhafter! Dort kann man wenigstens… Ach! Sogar jetzt lüge ich! Ich lüge, weil ich selbst weiß, wie zwei mal zwei, daß das Beste keineswegs das Kellerloch ist, sondern etwas anderes, wonach ich mich sehne, das ich aber auf keine Weise finden kann!" Dieses, wie van Gogh sagt, "auf Spekulation" Beruhende des Lebens im Verhältnis zum Psychischen, von dem der Mann im Kellerloch sich zurückzieht, ist in Fernando Pessoas BUCH DER UNRUHE [10] das Denken selbst: "Denken heißt zerstören. Der Vorgang des Denkens selbst zeigt es dem Gedanken an, weil denken zerlegen ist. Wenn die Menschen über das Geheimnis des Lebens nachzudenken vermöchten, wenn sie die tausend Verwicklungen fühlen könnten, welche die Seele in jeder Einzelheit des Handelns bespitzeln, würden sie niemals handeln, ja sie würden sogar nicht leben. Sie würden sich vor lauter Schreck umbringen wie diejenigen, die Selbstmord begehen, um nicht am nächsten Tage guillotiniert zu werden." Und in ähnlicher Weise wie für van Gogh ist deshalb Pessoas Aufgabe, in einer spezifischen Weise den Weg zum "Leben" zu finden. So notiert er am 18.05.1930 "Leben heißt ein anderer sein. Es ist nicht einmal möglich zu fühlen, wenn man heute fühlt, wie man gestern gefühlt hat: Heute dasselbe fühlen wie gestern heißt nicht fühlen - heißt sich heute an das erinnern, was man gestern gefühlt hat, heute der lebendige Leichnam dessen sein, was gestern das verlorenen Leben war…. Dieses Morgengrauen ist das erste der Welt. Niemals hat dieses von gelb in ein warmes Weiß hinüberspielende Rosa auf diese Weise auf dem Gesicht gelegen, mit welchem der Häuserblock im Westen glasigen Auges das Schweigen anschaut, das mit dem wachsenden Licht aufkommt. Niemals hat es diese Stunde gegeben, dieses Licht oder auch dieses mein Sein. Was morgen sein wird, ist etwas anderes, und was ich dann sehen werde, sehen erneuerte Augen, erfüllt von einer neuen Vision."

Fragen, wie sie sich hier stellen, sind für wissenschaftliche Psychologie - und jenseits dieser auch für Philosophie - unauflösbare Herausforderungen: wer kann über Psychisches als es selbst - unmetaphorisch - reden? Und wie? Und wie können wir als Menschen und als Wissenschaftler mit der Realität des Fremdpsychischen umgehen? Psychisches Leben hat eine besondere (in sich selbst schwingende) irreduzible Eigentlichkeit, von der aus jede Form der Darstellung in einem anderen Medium -im Physischen als Physio-gnomik - ein schwerwiegendes Hindernis darstellt. Insofern ist jede Theorie des Psychischen "Übersetzung"; aber nicht nur jede Theorie, jede Form der "Darstellung des psychischen Geschehens", sei es in der Sprache, sei es im menschlichen Gesicht, sei es in der Musik ist nicht Psyche als sie selbst sondern in einem Medium, das Psychisches "an sich hat", ohne es selbst zu sein. Georg Franck drückt dies in seinem Aufsatz DIE TEMPORALE WIRKLICHKEIT DER GEFÜHLE [11] folgendermaßen aus: "Der szientistische Wahn, die Wirklichkeit unseres Seelenlebens auf das reduzieren zu sollen, was technisch reproduzierbar ist, überzieht nicht nur die Kräfte rationaler Begründung. Er ist auch dumm im Spiegel der wissenschaftlich unverbildeten Psychologie. Obwohl wir direkten Zugang nur zum eigenen Bewußtsein haben, brauchen wir Mitmenschen, die genauso wirklich empfinden und fühlen wie wir selber. Die Lehre vom illusionären Charakter phänomenalen Bewußtseins ist nicht nur gedanklich nicht haltbar, sie ist auch gefühlsmäßig absurd. Wir können nicht leben ohne das Gefühl, daß sich das Dasein auch unserer Mitmenschen von innen anders anfühlt, als wir es von außen beobachten können. Wir müssen die Unterstellung machen können, daß die anderen für uns Gefühle hegen wie wir für sie. Uns reicht nicht der äußere Anschein. Wir wollen die andere Seele."

Dieses "Wollen der anderen Seele", dieses "es nehmen" wie van Gogh es ausdrückt: Wie kann es geschehen angesichts der gleichzeitig bestehenden Hermetik, der Unübersetzbarkeit des Psychischen in Medien und deren Zustände jenseits seiner selbst?

Diese Frage nach der Selbsttransparenz psychischen Geschehens, die Frage nach dem "Selbsterfassen des Inneren durch Subjekte" wird von Georges-Arthur Goldschmidt anhand des Romans von Karl Phillip Moritz ANTON REISER in einem Aufsatz "Die überflügelte Wahrnehmung des Leidens" [12] deutlich gemacht: "Wohl kein anderes Buch geht so weit hinein ins Innere des Selbsterfassens wie "Anton Reiser"…." Goldschmidt zeigt, dass die fiktive Moritz-Autobiographie nicht "anekdotische Begebenheiten chronologisch aneinanderreiht", sondern dass "der den mitgeteilten Ereignissen zugrunde liegende seelische Prozeß" wiedergegeben wird. In wissenschaftlich ähnlich inspirierter Absicht wie Moritz im ANTON REISER [13] sich selbst hat später Jean-Paul Sartre in seinem Roman LE IDIOTE DE FAMILLE [14] die Seele seines Protagonisten Flaubert zu erhellen versucht und gerade an diesem das "Scheitern der Wörter" an seelischer Realität demonstriert. So kommt auch Goldschmidt in seinem Reiser-Aufsatz zum Ergebnis der Erkenntnis über das Scheitern der Sprache angesichts der elementarsten Wahrheit. "… Eine an sich unbedeutende Zurücksetzung oder Abweisung, wobei derjenige, der sie erteilte, sich vielleicht nicht einmal Böses dachte, bedeutet das urplötzliche Wiederzusammenschrumpfen der sich gerade öffnenden Bewußtseinswelt. Deshalb ist der Schmerz unerträglich und zugleich seinsbestimmend - er zeigt e contrario das Ausmaß der dadurch eingeschränkten Seinsausbreitung, übrig bleibt nur die "Seelenlähmung"". Goldschmidt kommt dann zu einer für das vorliegende Thema wesentlichen Sicht der Dinge im "Reiser", indem er feststellt: "Die besondere Lehre, sofern es überhaupt um Lehren geht, die man aus der Lektüre des "Anton Reiser" gewinnen kann, ist die Einsicht in die allgemeinverbindliche Anonymität der Selbsterkenntnis. Trotz oder gerade wegen der erschütternden Zustände seines jungen Lebens ist seine Selbstheit, also das Individuelle an ihm, eben auch das überaus Allgemeine. Das Selbsterfassen Antons ist so genau, daß es beim Leser das Erleben des eigenen Ichgefühls bewirkt. Anton Reiser gehört nicht sich selber, sondern (deshalb der Gebrauch der 3. Person in dieser eigentlichen Autobiographie) er ist ein beliebiger Mensch; es wird kein Charakter mit diesen oder jenen Eigenschaften beschrieben, sondern umgekehrt wird ein Selbstgefühl fast topographisch, als an sich neutrales Feststellungszentrum, gesetzt: als Mittelpunkt jeglichen Empfindens. Daher auch sein erstaunliches Wissen um die Gleichheit der Andersartigen: Da Anton das anonyme, inhaltslose Selbst darstellt, ist es nicht erstaunlich, daß sein Verfasser der Begründer des "Magazins zur Erfahrungsseelenkunde" war und daß er auch der Herausgeber der Lebensgeschichte des Salomon Maimon gewesen ist: Er wollte zeigen, "wie die Denkkraft, auch unter den drückendsten Umständen, sich in einem menschlichen Geist entwickeln kann". Was Moritz berührte, war das allgemein Menschliche innerhalb der Verschiedenheit der Erscheinungen." Moritz war wohl nicht zufällig Theaterenthusiast und begeisterter - wenn auch erfolgloser -Schauspieler. Die Schauspielkunst als die, wenn man so will, Möglichkeit par excellence mit der "Mimesis des Psychischen" gestalterisch und geradezu experimentell umzugehen, hat bereits vor Strassberg in Konstantin Stanislawski, auf den jener sich bezieht, ihren großen Theoretiker und Entwickler der sogenannten "Psychotechnik" gefunden. Stanislawski hat einen, übrigens unvollendeten, "pädagogischen" Roman geschrieben mit dem Titel: GESCHICHTE EINER INSZENIERUNG [15]. Im Zentrum dieses Romans steht eine schwere Identitätskrise eines Schauspielers, in deren Ablauf es zu schwersten Angst- und Versagenszuständen kommt. Bei dieser Krise geht es vordergründig um den "Schulenstreit" zwischen der klassischen, mehr technisch orientierten Methode und der psychologisch-imaginativ funktionierenden Schule, der an einer Stelle folgendermaßen charakterisiert wird: "Wenn die "Wahrheit der Leidenschaften" das volle, aufrichtige und unmittelbare Gefühl und Erleben der Rolle definiert, dann ist die "Wahrscheinlichkeit des Gefühls" nicht das echte Gefühl und Erleben selbst, sondern ein diesem nahekommendes ähnliches Gefühl oder richtiger, die lebendige Erinnerung daran." Nach Durchlaufen der oben angedeuteten Krise mit Versagen auf offener Szene wird dem Schauspieler nun deutlich gemacht: "Die Kunst hat Ihnen eine bittere Lehre erteilt. Sie ist rachsüchtig und verzeiht nicht. Nun haben Sie begriffen, daß man sich mit der Kunst nicht nur vergnügen und daß man sie auch nicht ausbeuten darf. Man muß sie sehr hoch achten und ihr sogar Opfer bringen. Diese Kunst werden Sie jetzt zu studieren beginnen. Es bricht eine neue Periode Ihres Schauspielerlebens an. Sie verwandeln sich in einen echten Künstler mit ernsten und nicht mit laienhaften Ansprüchen an sich selbst. Sie werden nicht mehr sich in der Kunst, sondern umgekehrt bei sich die Kunst lieben. Es wird Ihnen schwer fallen, sich selbst zufrieden zu stellen, dafür aber werden Sie dem seriösen Teil des Publikums besser gefallen als früher. Solch eine Verwandlung kann sich nicht schmerzlos vollziehen. Es stehen Ihnen Qualen bevor. Doch werden sie es lernen, diese Schaffensqualen sogar zu lieben, da sie ihnen süße Früchte bringen." Dieses Verhältnis zu einem psychischen Allgemeinen im Subjektiven, diese Perspektive des "Vernehmens" der Vernunft im Sinne Friedrich Heinrich Jakobis soll uns nun im Folgenden anhand der "mimetischen Triangulierung" beschäftigen.

3.0 Mimetische Triangulierung als Erfordernis

Einer der großen modernen Theoretiker der Theorie der Mimesis ist René Girard, der in verschiedenen seiner Werke, insbesondere aber in DAS HEILIGE UND DIE GEWALT [16] eine Theorie des mimetischen Geschehens entwickelt hat. Folgt man Girard, so ist die Pointe des im Sinne des Freudianismus in der frühen Kindheit prägenden ödipalen Geschehens nicht das Ödipale als solches, das Begehren der Mutter im Freudschen Sinne, sondern die mimetische Rivalität mit dem Vater. Was ist hierunter zu verstehen? In einem sehr schönen Text aus BEGEGNUNGEN, GESTEN zeigt Peter Handke [17], wie sehr insbesondere Kinder bis hin zu einer geradezu schematisierenden Selbststilisierung nach Vorbildern leben, deren Nachvollzug auf Angleichung und Nachahmung beruht. :"… Schon seit Stunden bewegen sich zwei ganz junge Paare (14, 15 Jahre) im Sand auf einer Stelle, und all ihre Bewegungen (Sich-Umarmen, Sich Schlagen, Sich-dem-andern-an-den-Hals-Hängen) werden immer nur als Finten vorgeführt, als schnelle Andeutungen, ohne Momente von Dauer; sie verbringen ihren ganzen Tag, auch in ihren Schreien, Reden, Blicken, nur mit solch kleinen andeutenden Ritualen, in einer fremdartigen Montage aus Karatefilmen, Pornos, Abenteuerfilmen: Piraten, die Frauen auf die Arme nehmen; eine Frau, die den Fuß auf den Nacken des Mannes setzt; ein Mann geht auf dem Bauch des andern; einer, der tot spielt, wird mit Ohrfeigen wieder zum Leben erweckt; - während die Mädchen meist dabeistehen (aber auch das Dabeistehen spielen), höchstens mit den Fingerspitzen eingreifen oder sich vor den Brüllauten der Burschen "lasziv" zurückbiegen (oder kurz spielerisch an den Körpern der Burschen hinuntergleiten). Wenn dieser immer schnell wechselnde Ablauf (schnell wie bei einer Akrobatentruppe) einmal kindlich-zärtlich, normal zu werden droht, zieht sofort einer der Jungen ein gräßliches Gesicht, stößt einen Karate-Schrei aus (eher ein Fauchen) und verwandelt die "drohende Zärtlichkeit" sogleich in eine Finte der Gewalt oder der Versklavung (oder er spielt selber den Sklaven, mit den Gesten von äußerster Ergebenheit). Eine seltsame Stille in diesen wechselnden Bildern tritt nur ein, wenn einer sich den Sand aus den Augen reiben muß - auch eine seltsame Schönheit -, aber dann fällt er schon wieder auf die Knie, legt den Kopf zurück und brüllt mit gebleckten Zähnen; oder beutelt ein Mädchen am Nacken hin und her oder schleift das Mädchen am Oberarm durch den Sand; oder die Frauen kommen gelaufen, die kämpfenden Männer zu trennen, worauf schließlich einer der Burschen sich von einem Mädchen einen "Dorn ziehen" läßt."

Wenn auch Handke in diesem Text mehr die Anonymisierung und Selbstentfremdung der Jugendlichen im Auge hat, so wird hier dennoch ein Aspekt des mimetischen Geschehens verdeutlicht, der in den verschiedensten Facetten die Kulturgeschichte der gesamten Menschheit durchzieht. So zeigen Gunter Gebauer und Christoph Wulf in ihrem Buch MIMESIS), ein wie breites Spektrum es in der Geschichte des Mimesisbegriffs gibt, von Ursprüngen in der Psychomotorik des Tänzerischen über den "konstruktiven Beitrag zur Erziehung junger Menschen": "Mimesis wird als Nachahmung von vorbildlichen Menschen bestimmt; Ziel ist es, selbst wie diese zu werden" bis hin zur Mimesis als Repräsentation politischer Macht über die Mimesis als Medium des Theaters bis hin zum Selbstformungsgeschehen und der "mimetischen Konstitution der sozialen Wirklichkeit". In seinem Frühwerk von 1961 MENSONGE ROMANTIQUE ET VÉRITÉ ROMANESQUE hat Girard [18] eine, für seine gesamte Theorieentwicklung wesentliche Entdeckung ausgeführt, nämlich den Befund, in der Romanliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts gebe es ein Phänomen des "mimetischen Begehrens", das sich in Romanen von Stendhal über Flaubert bis Dostojewskij und Proust (letztlich bis Camus) nachweisen lasse, wobei die betrachteten Romane eine eigentümliche Grundstruktur gemeinsam haben: Wie Gebauer und Wulf referieren, begehren nach Girard die Hauptpersonen einen anderen, wobei ihre Gefühle auf eine dritte Person, einen Vermittler, einen "Mediateur" gerichtet sind. Dabei analysiert Girard Stendhal in folgender Weise: "In den meisten Fällen des Stendhalschen Begehrens begehrt der Vermittler selbst das Objekt oder könnte es begehren: genau dieses Begehren, ob wirklich oder angenommen, macht das Objekt in den Augen des Subjekts unendlich begehrenswert." Bevorzugtes Opfer dieses Mechanismus ist derjenige, der von Eitelkeit (Vanité) besessen ist: "Denn damit ein Eitler (Vaniteux) ein Objekt begehrt, reicht es aus, ihn davon zu überzeugen, daß dieses Objekt schon von einem Dritten begehrt wird, dem ein gewisses Prestige zugeschrieben wird. Der Vermittler ist hier ein Rivale." Wünsche, Bedürfnisse, Vorlieben, Sehnsüchte werden also dargestellt als nicht etwas genuin Gegebenes, etwas intern durch Triebe oder Konstitution hervorgebrachtes, sondern sie werden vielmehr "abgelesen", sie werden durch mimetische Abhängigkeit von einem Dritten übernommen. So ist, wie Gebauer und Wulf resümieren, bei Stendhal der Vermittler eine im Roman als wirklich behauptete, vom Romanhelden unterschiedene Person. "Letztlich weiß dieser Romanheld mehr oder weniger deutlich, daß er von einem anderen abhängig ist." Für Girard sind diese mimetischen Begehrens-Verflechtungen Produkte von dynamischen Sozialbeziehungen. So zeigen Gebauer und Wulf: "Die Konkurrenz von Anderen, die für den Handelnden als Vorbilder gelten, erteilt dem Objekt den Charakter des Einzigartigen… ebensowenig wie das begehrte Objekt braucht der Vermittler einen besonderen Wert zu besitzen. Es reicht aus, daß er über Prestige verfügt…. Aus den Erfolgen über den Rivalen kann Befriedigung entstehen; die Erreichung des Ziels kann hingegen kein andauerndes Glück verschaffen, es bleibt dem Helden, wenn er es tatsächlich einmal erreicht hat, langfristig nur Enttäuschung, das Gefühl der Leere." Girard nennt die von ihm analysierten Romane "antiromantisch" und zwar deshalb, weil sie die von Girard als "romantisch" gekennzeichnete Überzeugung desillusionieren, "daß die Personen ihre Ziele autonom und selbstbestimmt wählen und daß diese einen inhärenten Wert besäßen." Nach Girard werden beide Grundüberzeugungen, die Subjektautonomie und der Werteessentialismus in den untersuchten Romanen überwunden. Eine Vertiefung und Erweiterung dieser Analyse findet sich in folgender Weise bei Gebauer und Wulf, die die Girardschen Gedanken in einer anderen, eher analytischen Sprache auszudrücken. Es geht daher darum, das überpersönliche "interne Medium" zu charakterisieren: "Das interne Medium ist nicht leicht zu entdecken, weil die von ihm transportierten Botschaften im allgemeinen für intersubjektive, von Personen unabhängige Wirklichkeit gehalten werden. Girard findet es bei der genauen Untersuchung der Rolle des Vermittlers. Dieser zeigt dem Romanhelden eine besondere Welt, symbolisch konstituiert aus inneren Bildern, Affekten, zugeschriebenen Werten, Benennungen, die anders als die gewöhnlichen sind. Es ist eine innere Welt; der Vermittler läßt sie in der Perspektive desjenigen sehen, der ihr angehört und emotional an ihr beteiligt ist. Sie wird im Reden konstituiert, in Geschichten, mit Hilfe von Hinweisen, Beschreibungen, Namen. Vom Helden wird die ihm vermittelte innere Welt für die soziale Wirklichkeit gehalten. Tatsächlich wird sie in der subjektiven Sicht des Vermittlers hergestellt und ist nur in dessen Perspektive wahrnehmbar. Es ist die Modellwelt, nach deren Vorbild der Held seine eigene Welt organisiert: So wie sie soll auch seine Wirklichkeit sein. Philosophisch gesprochen, geben die Modellwelten Interpretationen der Welt des Subjekts. Jedes Individuum nimmt üblicherweise Interpretationen der Welt vor; hier geht es um solche einer besonderen Art, die unter Einfluß eines Mediums mimetisch erzeugt werden und handlungsbestimmend wirken. Das Medium ist das Vorrangige; es ist einem Film vergleichbar mit Wunschbildern und Traumgeschichten des Helden, mit Situationen, Konstellationen, Projektionen, von denen das Individuum angezogen ist." Diese Mimesistheorie des "antiromantischen Romans" spielt in Girards Theorie des religiösen Opfers insofern eine zentrale Rolle, als es ihm hier darum geht, die von Freud in TOTEM UND TABU [19] entwickelte Opfertheorie gleichzeitig zu retten und zu überwinden.

Mit Girard's eigenen Worten lässt sich sein auf Rettung und Überwindung des bei Freud beschriebenen ödipalen Geschehens abzielendes Programm folgendermaßen zusammenfassen: "Wir haben gesehen, daß die mimetische Rivalität dem Freudschen Komplex in jeder Beziehung überlegen ist; sie eliminiert zusammen mit dem bewußten Wunsch nach Vatermord und Inzest auch die lästige Notwendigkeit von Verdrängung und Unbewußtem." Nach Girard kommt Freud nicht zur wirklichen Pointe seines Systems, weil er an entscheidender Stelle die "Vateridentifizierung… vollständig vergessen" hat und sich ganz auf die auf die Mutter gerichteten Triebwünsche konzentrierte.

Als exemplarisches Beispiel für ein voranalytisches Kunstwerk, in dem mimetische Rivalität im Sinne Girards das zentrale Geschehen modelliert, sei hier noch einmal an Karl Philipp Moritz und zwar bei ihm an sein Theaterstück BLUNT - ODER DER GAST [20] erinnert. Blunt-Vater ist - in ähnlicher Weise wie in Girards Analyse Hiob von einem hohen sozialen Status in ärmlichste soziale Verhältnisse abgesunken und hat während dieses sozialen Abstieges seinen Sohn Wilhelm, der "in seinem Husarenhabit… blühte wie eine Rose" - ein Imitationsbild bzw. "mimetisches" Bild des Vaters - verstoßen. In Zeiten äußerster Armut und aus Stolz unfähig, von seinem Bruder, dem Bürgermeister, Hilfe anzunehmen, ersticht der Vater den unerkannt sich noch nicht offenbart habenden schlafenden Sohn nachts im Bett, in Folge der Traumeingebung, durch die "Opferung des Fremden" werde er "unermeßliche Schätze" erhalten. Dieses, auch im Sinne Freuds, dem ödipalen Geschehen zuvorliegende archaische Geschehen der Tötung des Erstgeborenen erzwingt wegen seiner Grausamkeit bei Moritz eine durch "holde Phantasie" mögliche imaginative Alternative, bei der durch das Dazwischentreten der Mutter ein "Erwachen" sowohl des Vaters als auch des Sohnes erfolgt, mit der Folge einer "humanisierten Variante", in der das nunmehr mimetische Geschehen über die archaische Sohnestötung siegt, allerdings mit der Folge der sowohl moralischen als auch sozialen völligen Entmachtung des Vaters. Mit Girard lässt sich dann das Moritzsche Konzept dahingehend interpretieren, dass der im Stück beschriebene Identitätsbildungsprozess des Sohnes Wilhelm nur durch mehrere komplizierte und gefährliche Stadien der Rivalität und kämpferischen Auseinandersetzung mit dem Vater erreicht werden kann. Diese Konzeption lässt sich mit der von mir an anderer Stelle ausgeführten These in Übereinstimmung bringen, wonach die wesentliche Pointe der bei Girard angelegten Konzeption des "Heiligen" als "Gründungsgewalt" gerade darin liegt, dass sie ein Sinnbild für Identitätsbildungsprozesse und die damit verbundenen äußeren und inneren "Opferungen" repräsentiert. Das Bild des Doppelgängers, das bei Blunt in nuce ebenfalls angelegt ist und für eine Theorie der Selbst-Mimesis von entscheidender Bedeutung sein dürfte, lässt sich dann somit auch dahingehend interpretieren, dass gesagt werden kann: das Eigene kommt als das Fremde (im Sinne von Moritz als "Gast") unvermittelt wieder auf mich zu.

Mimetische Rivalität und Triangulierung erscheinen somit deshalb als Erfordernis, weil unter ihrer Vermittlung letztlich psychisches Geschehen als "Selbstmimesis" überhaupt erst entsteht - ganz in Analogie zu Freuds Vorstellung von der Ödipalität des Psychischen als conditio sine qua non. Bevor ich eine allgemeinere Theorie der "mimetischen Simulacra" entwickle, möchte ich allerdings noch kurz zwei Beispiele ex negativo geben, als Belegstücke für mimetische Triangulierung als Erfordernis. Im einen Fall handelt es sich um ein Patientenbeispiel, einen bedeutenden, etwa 50 jährigen Filmschauspieler, mit folgender Symptomatik: er berichtet, dass er seit Beginn seiner künstlerischen Entwicklung in zunehmendem Maße bemerkt, dass über sein ganzes Leben eine Art von "Schleier" gelegt ist; die Realität sei ihm irgendwie entfremdet, distanziert, entrückt, er habe das Gefühl, zu anderen Menschen und zu den Dingen keinen wirklichen Zugang zu haben und auch er selbst habe das Gefühl, nicht wirklich zu leben, nicht wirklich vorhanden zu sein. Während der Dreharbeiten, wenn die Kamera sich öffne, sei dies dagegen ganz anders: dann habe er das Gefühl, wirklich zu leben, wirklich vorhanden zu sein, die Dinge und die Menschen belebten sich, der Schleier werde gehoben und wirkliche Realität, wirkliches Lebensgefühl, Gefühl von Existenz entstehe dann. Diese Art von "Krankheit" sei für ihn bedrückend und unheimlich, jedoch, vor die Alternative gestellt ein "realeres Leben" zu leben, was durch einen psychotherapeutischen Prozess vielleicht möglich sei, wobei dann allerdings die durch die Dreharbeiten erzeugten "Erweckungserlebnisse" wegfallen könnten, entscheidet er sich ganz zielstrebig gegen eine Psychotherapie und möchte den derzeitigen Zustand beibehalten.

Im zweiten Fall handelt es sich um das Syndrom des frühkindlichen Autismus, bei dem es sich ja um extrem vereinsamte, um - in der eben verwendeten Metapher ausgedrückt - extrem "verschleierte" Subjekte handelt. Durch die technische Hilfe der "facilitated communication" hat sich in einigen Fällen in den letzten Jahren dieser Schleier ein kleines bisschen gelüftet. Ein besonders eindrucksvoller Fall ist in den Texten des 20jährigen frühkindlichen Autisten Birger Sellin beschrieben. Hier einige Sätze, die in eindrucksvoller Weise die Unmöglichkeit schildern, aus dem psychischen Geschehen selbst in die interpersonale Wirklichkeit zu treten.

"Eine alte einfache sichtweise

ein auspersonengehen

eine kiste aus der ich auferstehe

das wäre ein traum wie alle ihn träumen

aber ich sehe keinen ausweg aus dieser personenkiste

auch dies wichtige schreiben reicht nicht aus

ein ausweg zerstört meine alte sicherheit

ich habe Angst davor…

angst einfach ausreißen würde die rettung sein wie ein wirksames sicheres unaussprechliches wunder." [21]

Die bisherigen Ausführungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass die anhand von Stanislawskis Roman deutlich gewordene Konzeption des "Vernehmens" des überpersonalen Bereichs der Kunst im Subjektiven (des Schauspielers) zu einer allgemeineren Deutung psychischen Geschehens in dem Sinne verdichtet werden kann: Psychisches als das Individuelle, als das Besondere im Allgemeinen als Raum der Freiheit. Wie aber werden diese Freiheitsräume konstituiert und wie werden sie genutzt?

Das Grundproblem, um das es bei der ödipalen oder auch "mimetischen" Triangulierung letztlich geht, ist das Fremde im Eigenen, das als "der Fremde", als "Gast" im Sinne von Moritz aus der Ungeborgenheit auf die Eigenwelt zukommt, ganz im Sinne von Norbert Bischofs "Rätsel Ödipus", welches als Dichotomie von Autonomie und Geborgenheit dechiffriert und enträtselt wird. Mimetische Rivalität zweiter Ordnung: die rivalisierenden Fremden im Eigenen erzeugen eine Anzahl verschiedener Wirklichkeitsoptionen, die einen (seelischen) Raum von Freiheit im Selbst bedeuten. Oder anders formuliert: die Möglichkeit der "perspektivischen Mimesis", d.h. die Fähigkeit, Weltwirklichkeit aus der Perspektive des Anderen zu erleben, erzeugt Freiheit, macht Menschen erst zu Menschen. Insofern steht perspektivische Mimesis, steht mimetische Rivalität an der Wiege der Menschheit. Sie ist unter bestimmten Entwicklungsbedingungen, z.B. beim frühkindlichen Autismus, sehr stark eingeschränkt. Man lernt vom Antlitz des anderen nicht, wer er ist, sondern was er will, was er für Sehnsüchte, Wünsche, Begierden und Hoffnungen hat. Das Nachvollziehen dessen bedeutet im Sinne van Goghs "es nehmen" und damit in diesem seinem Sinne "ein Bauer werden", ein "Kartoffelesser" werden, sich aus "einem Leben, das mehr auf Spekulation beruht", entfernen.

4.0 Mimetische Simulacra des Psychischen - zur Apriorizität des "Bildes"

Das "Bild" hat eine apriorische, eine für das psychische Geschehen konstitutive Bedeutung in der Tiefenpsychologie von C.G. Jung; und dies in einer Weise, die den Stellenwert innerer "Bilder", innerer "Wirklichkeit" zu einem derart existentiellen Bereich psychischen Geschehens macht, dass hierdurch insbesondere die therapeutische Arbeit ganz wesentlich gestaltet wird. C.G. Jung hat in seinem Hauptwerk PSYCHOLOGISCHE TYPEN [22] die These vertreten, dass "Bild" nicht als "psychisches Abbild des äußeren Objekts" zu verstehen ist, sondern viel stärker an den "poetischen Sprachgebrauch" angelehnt ist, in dem Sinne, dass nur indirekt eine Beziehung auf "Wahrnehmung des äußeren Objektes" gegeben ist im Sinne des "Phantasiebildes". So heißt es in §688: "Dieses Bild beruht vielmehr auf unbewußter Phantasietätigkeit, als deren Produkt es dem Bewußtsein mehr oder weniger abrupt erscheint, etwa in der Art einer Vision oder Halluzination, ohne aber den pathologischen Charakter einer solchen, d.h. die Zugehörigkeit zu einem klinischen Krankheitsbilde zu besitzen. Das Bild hat den psychologischen Charakter einer Phantasievorstellung und niemals den Quasi-Realcharakter der Halluzination, d.h. es steht nie anstelle der Wirklichkeit und wird von sinnlicher Wirklichkeit als "inneres Bild" stets unterschieden." Dabei versucht Jung zu zeigen, in welcher Weise diese "innere Wirklichkeit" sich weder einseitig auf das unbewusste noch auf das bewusste psychische Leben beziehen lässt. Vielmehr interpretiert Jung das "Bild" als einen "konzentrierten Ausdruck der psychischen Gesamtsituation", nicht etwa bloß oder vorwiegend der unbewussten Inhalte schlechthin. Für Jung ist das Bild "zwar ein Ausdruck unbewußter Inhalte, aber nicht aller Inhalte überhaupt, sondern bloß der momentan konstellierten. Diese Konstellation erfolgt einerseits durch die Eigentätigkeit des Unbewußten, andererseits durch die momentane Bewußtseinslage, welche immer zugleich auch die Aktivität zugehöriger subliminaler Materialien anregt und die nichtzugehörigen hemmt."

Eine hierüber hinausgehende, noch radikalere Sichtweise der Apriorizität des "Bildes" für psychisches Geschehen und Wahrnehmung schlechthin findet man bei Max Scheler in seinem Werk DIE WISSENSFORMEN UND DIE GESELLSCHAFT [23]. Er zeigt nicht nur anhand des Begriffs der "Gefühlsphantasie" im Kapitel "Wahrnehmung und Phantasie" die "Triebbedingtheit alles Vorstellens" auf und sieht sie als "Urperzeptionen im Sinne einer ursprünglichen Triebphantasie" - im diesem Sinne gibt es für ihn keine "reine Reproduktion" - sondern in seinem Kapitel über "Wahrnehmung und Empfindung" führt er aus, dass "Bilder", nicht mit "Wahrnehmungsinhalten" bzw. möglichen Wahrnehmungsinhalten zu verwechseln sind: vielmehr sind für Scheler die "Bestimmtheiten der Bilder" "alle objektiv, d.h. bewußtseins- und seelentranszendent" (vgl. auch die ausgezeichnete Übersicht bei Plessner).

Die Weise, in der wir zu diesen seelen- und bewusstseinstranszendenten Bildern Zugang erhalten, ist in den Kategorien der Mimesis beschreibbar. Hiernach könnte man formulieren: wir nachvollziehen seelische Gehalte anderer nicht in erster Linie durch den empathischen Vollzug dessen was er ist, sondern in dem was er will; d.h. wir kopieren ihn nicht als ihn selbst, sondern in seinem Begehren. Wir erfahren ihn als dasselbe Objekt Begehrenden, wir erfahren ihn in der mimetischen Triangulierung.

Jack London hat in seinem Roman SEEWOLF [24] beschrieben, wie ein Hirntumorkranker, Wolf Larsen, sich nach und nach in eine der Kommunikation entzogenen Eigenwirklichkeit zurückzieht, in eine Welt mimetischer Unerreichbarkeit: "Eingemauert in lebendigem Lehm brannte das Feuer des ungestümen Geistes, den wir gekannt hatten, in Stille und Dunkelheit weiter. Er war körperlos; dieser Intellekt konnte seinen Körper nicht mehr wahrnehmen. Er war ihm unbegreiflich geworden. Unsere Welt existierte nicht mehr. Er kannte nur noch sich selbst und eine unermeßliche, abgrundtiefe Stille und Dunkelheit."