Für alle, die kleine Tiere lieb haben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Es war in Hänschens Schicksalsjahr 1950 in Schlesien. Ein letztes Mal saß das Kind auf dem Hügel, dort wo in guter Deckung unterhalb seines Geburtshauses seit jeher sein Lieblingsplatz war. Der Junge schaute in Richtung des benachbarten Strehlen. Noch vor wenigen Jahren konnte man die hohen Türme zählen und wurde so an das pulsierende Leben der einzigen Stadt erinnert, die Hänschen bisher kennen lernte.

Immerhin, diese Kleinstadt mit ihren Landkreisdörfern schaut auf eine für ganz Europa bedeutsame und Jahrhunderte lange Geschichte zurück, was dem Kind damals natürlich nicht bewusst war.

Na ja, genau genommen war es auch einmal in der niederschlesischen Landeshauptstadt Breslau gewesen, und zwar im Zoo. Dort beeindruckten die Faultiere derart, dass von der Großstadt freilich nichts sonst in der Erinnerung haften blieb. In Strehlen taten es ihm die Rathausgewölbe an, in denen man - hinter Gittern - bunte Vögel beobachten konnte. Mama hatte stets große Mühe, den Jungen von dort weg zu bekommen.

Heute wusste Hänschen: Jetzt lagen das Rathaus mit einem der einst höchsten Türme Schlesiens sowie weite Teile der Innenstadt in Trümmern.

Was Hänschen damals wiederum nicht wusste, war die Tatsache, dass der Rathausturm und weitere markante Bauwerke von den deutschen Soldaten gesprengt worden sind, um sie nicht als hohe Beobachtungsstellen in die Hände der Roten Armee fallen zu lassen.

Doch der tagelange Feuersturm und die wochenlangen Explosionsdämpfe infolge der russischen Eroberung der Stadt verwehten ja letztlich sogar alle ehemaligen Einwohner von Stadt und Landkreis Strehlen in alle Welt. Viele deutsche Dorfbewohner mussten ihr Schlesien schon daher längst verlassen. Schuld an allem Elend war eine mörderische Idee, die sich in deutschen Köpfen einst breit gemacht hatte, doch auch davon im kindlichen Kopf: Keine Ahnung!

Aber nun war Hänschen selber dran.

Es dachte daher vielmehr an Schadensbegrenzung und sinnierte: „Nehme ich die Kogge oder die Briefmarken mit?“ Das stolze Segelschiff hatte einst der Papa gebaut, den der nun schon neunjährige Bube freilich noch nicht einmal bewusst kennen gelernt hatte. Mama meinte aber immer: „Der Papa kommt wieder!“ Gestern sagte sie jedoch auch, dass man nichts Sperriges mitnehmen sollte und sich nur für Eines zu entscheiden habe. „Also werde ich wohl mein Briefmarken-Album einpacken, wenn wir Schlesien jetzt verlassen müssen.“, dachte das neunjährige Kind und legte sich auf den Rücken.

Da entdeckte es die flauschige Wolkengruppe am Himmel und begann, Schäfchenwolken zu zählen: „Jeden, dva, tři, čtyři,…“. Ach ja, das war doch tschechisch, also noch einmal: „Jeden, dwa, trzy, cztery“, nein, nein, nein, polnisch gleich gar nicht!

Nun aber zu deutsch: „Eins,… z…wei,…… d…rei,……… v…ier,…“ Hänschen irrte und stockte auch in Gedanken, und das ausgerechnet in seiner Muttersprache, im neunten Lebensjahr!

Hänschen besann sich schließlich, dass es doch nun wieder Deutsch lernen musste, denn morgen ging es in der Frühe mit dem Pferdewagen zum Bahnhof nach Strehlen und von dort mit dem Zug nach Breslau. Der alte Tscherny erzählte zudem, dass man später über die Oder nach Deutschland käme und dann nie wieder zurück nach Schlesien. Deshalb hatte sich dieser Familienvater mit den

Seinen entschlossen, daheim in Schlesien zu bleiben und dafür Pole zu werden. Die polnische Devise für die wenigen, bis dahin in Hussinetz/Gesiniec verbliebenen Deutschen lautete ja seit Juni 1950, nachdem die DDR gegenüber der Volksrepublik Polen die Oder-Neiße-Grenze anerkannt hatte: „Entweder Ihr nehmt jetzt die polnische Staatsbürgerschaft an, oder… raus!

Mama, die immer noch im Haus die Stellung hielt und auf Papa wartete, bat ihre beiden Jungen um Rat: „Bleiben wir hier und werden Polen oder lassen wir uns vertreiben?“ Es ist erstaunlich, selbst Hänschen wollte unbedingt als Deutscher nach Deutschland und, klar, wie es sich später heraus stellte,… zu Papa.

Damit waren die Würfel gefallen, und der Abend schob die wenige, verbliebene Zeit schnell vor sich her. Inzwischen verbarg sich die Sonne furios hinter dem Zobten-Vulkan, der jenseits von Strehlen schon immer und immer aufs Neue die Phantasie des Kleinen anregte.

Da waren sie wieder, die Geister der kleinen Tiere, die sich so erbarmungslos in die Erinnerung zurück brachten!

Wie ist das doch, damals gewesen?

Tja, eines Tages trat das kleine Kätzchen Minka in das Leben von Hänschen. Ach, war die doch so possierlich und anhänglich! Man konnte mit ihr jederzeit schmusen oder auf dem Sofa endlos Katze und Maus mit ihr spielen. Ihr Schnurren wurde zu einem steten Begleiter, wenn sich beide in der warmen Stube aufhielten.

Den Jungen schon immer und das Kätzchen Minka gar bald zog es jedoch hinaus in die weite Welt. Dort gab es dann kaum noch Gemeinsamkeiten. Während Hänschen Abenteuer suchte, fand die Katze den angeborenen Gefallen am Mäusefangen. Die Mäuse gab es im Dorf immer und überall, doch konnten sie sich nach den Kriegswirren stark vermehren, zumal im Minenfeld, das die deutsche Wehrmacht quer durch das Dorf errichtet hatte. Das Steinarbeiter-Haus, in dem Hänschen geboren worden ist, wurde so seinerzeit zur vorgeschobenen Bastion… übrigens auf russischer Seite der Hauptkampflinie, während sich also in südlicher Richtung und unmittelbar davor eine minenverseuchte Felder- und Wiesenlandschaft ausbreitete.

Die Dorfbewohner - Kinder, Frauen und Alte - hatten daher nach dem Krieg erst einmal viel zu tun, um die vergrabenen Todesfallen zu beseitigen. Und so manches der Kinder - aber auch der großen Tiere wie Kühe und Pferde, die vereinzelt später wieder vorkamen - bezahlten diese jahrelange Unfreiheit noch mit ihrem Leben oder mit ihrer Gesundheit.

Umso mehr genossen somit die Mäuse ihre grenzenlose Freiheit, und Minka schwärmte täglich aus, denn sie hatte alle Pfoten voll zu tun. Insbesondere tilgte sie fleißig beim benachbarten Bauer die Schädlinge, allerdings nur so lange, bis der sie unabsichtlich vergiftete. Hänschens liebstes Tier war nämlich trotz allem der klassischen Landwirtschaftsplage nicht Herr geworden, so dass der Bauer eines Tages zum Mäusegift greifen musste. Leider lernte Minka nicht schnell genug, gesunde von noch lebenden, vergifteten Mäusen zu unterscheiden. Sie verendete mitten in ihrem Jagdrevier.

Dabei hatten Hänschen und die Seinen - noch kein kommendes Unheil ahnend - kurz zuvor die Chance vertan, Minkas eines Tages auf dem Dachboden präsentierten Nachwuchs aufzupäppeln und damit ihre liebenswerte Art wenigstens in genetischer Kopie zu erhalten. Allein der Gedanke an den Winter und die zu dieser Zeit allgemeine Nahrungsnot bedeutete dem gegenüber sofort für den gesamten Katzenwurf das Todesurteil. Ausgerechnet Hänschen übernahm die Rolle des Henkers: Ein Sack, ein Stein und der Rest hinein, so geschehen in einem ehrenwerten Granitsteinbruch zu Hussinetz.

Diese frühe Missetat zog sich wie ein Fluch durch das Verhältnis zu den kleinen Tieren während des kurzen Aufenthalts von Hänschen in seiner schlesischen Heimat. Es entfaltete sich im Grunde eine völlig verdorbene Beziehung zu den anderen kleinen Wesen in seinem und in deren Lebensraum. Über allem steht freilich die Schuld des unsäglichen Krieges, denn Hänschen war ein Kind.

Bei anderen Vorzeichen hätte der Junge gewiss in der direkten Konfrontation auch jene geheimnisvolle Liebe zur tierischen Kreatur entwickelt, die nun einmal in den kindlichen Zellen steckt.

Es musste aber an erster Stelle der Hunger besiegt werden. Einige andere hoffnungsvolle Ansätze scheiterten zudem wie Minka. Weitere Ereignisse kamen zufällig daher, aber immer ging es um die kleinen Tiere. Ihnen und ihren Geistern soll daher an dieser Stelle ein Denkmal errichtet werden.

Hänschen versank

in einen tiefen Traum

… und der handelte…

von den kleinen Tieren.

Im Zeichen der Fische