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Andreas Schmid

Codename
Jonathan

Erlebnisse eines
Schweizer Spions

NZZ Libro

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG

Coverfoto: Melchior Roth im Einsatz in Sri Lanka (1989). Privatbesitz Melchior Roth.

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ISBN E-Book 978-3-03810-489-6

www.nzz-libro.ch

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Bahrein

Bärau

DDR

Nordkorea

Russland

Belp

Togo

Angola

Südafrika

Chile

Brasilien

Sri Lanka

Bützberg

Gstaad

Zaire

Dominikanische Republik

Kenia

London

Vietnam

Rumänien

Ex-Jugoslawien

Bern

Zürich

Kirgistan

Rohrbach

Basel

Kuba

Schlusswort

Bildnachweis

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Vorwort

Das Leben von Melchior Roth gleicht einer langen Reise zu den Brennpunkten der jüngeren Zeitgeschichte. Doch er war nicht als Tourist, sondern als Geheimagent, Katastrophenhelfer und Funktionär unterwegs. Der Schweizer mit Jahrgang 1950 sammelte Informationen in Nordkorea, half in Afrika, hantierte in Diktator Mobutus Privatvilla im ehemaligen Zaire, spionierte in der ehemaligen DDR und in Russland, nahm während des Zweiten Golfkriegs in Bahrain Bodenproben und ging als Monteur auf dem Stützpunkt der geheimen Schweizer Kaderorganisation P-26 ein und aus. Nicht nur für die Schweiz war er undercover auf Achse, auch militärische Dienste der USA, die von Deutschland aus agierten, belieferte er mit Informationen. So gab er etwa US-amerikanischen Stellen in Heidelberg zu Protokoll, was er auf seinen Fahrten durch die DDR – meist in einem Citroën mit Berner Nummer – herausgefunden hatte.

Seit unserer ersten Begegnung im Jahr 2003 – damals gab Roth als Informant für einen journalistischen Artikel Auskunft über Rüstungsgeschäfte von Schweizer Händlern mit dem angolanischen Militär – erwies sich Roth wiederholt als zuverlässige Quelle für Auslandsaktivitäten der Schweiz. Seine fragmentarischen Schilderungen tönten häufig abenteuerlich, die zentralen Angaben stellten sich aber jeweils als faktentreu heraus. Dokumente belegen Roths Erlebnisse im Zweiten Golfkrieg, seine Reisen und Festnahmen in der ehemaligen DDR sowie seine Einsätze mit Sonderpass; Fotos zeigen ihn auf dem Roten Platz in Moskau, in Militäranlagen auf Kuba oder in Gesellschaft mit hohen ausländischen Militärs.

Erst mit den Jahren ergab sich aus den Puzzleteilen ein Gesamtbild. Auch deshalb, weil Roth erst 2017 offener zu erzählen begann. Doch Dokumente und Fotos, die seine Erlebnisse belegen würden, waren teilweise verschwunden. Der Sammler warf nie etwas weg; nicht ohne Grund bezeichnet er sich selbst als Messie. In Dutzenden von Treffen und Telefongesprächen liessen sich Einsätze rekonstruieren und vermisste Unterlagen wiederfinden. Zudem konnten Weggefährten Roths sowie Experten Informationslücken füllen.

Roth war in den letzten 30 Jahren zumindest in Statistenrollen Teil der Geschichte, seine «oral history» erlaubt faszinierende Einblicke in verborgene Welten. Gewisse Fragen bleiben dennoch unbeantwortet und einige weit zurückliegende Begebenheiten verschwommen. Das liegt auch daran, dass in der Geheimwelt der Nachrichtendienste nicht gerne Namen und Auftraggeber preisgegeben werden.

Von wie weit oben kamen die Aufträge jeweils? Waren es Anordnungen von hoher Stelle oder verselbständigten sich einzelne Amtsträger? Wer hat die gesammelten Informationen verwertet? Was wurde damit gemacht? Mit welchen ausländischen Diensten arbeitete die Schweiz zusammen, und was wurde an Daten ausgetauscht? Wer erteilte Katastrophenhelfern Spionageaufträge, obwohl das verpönt ist und offiziell nie praktiziert wurde? Solche Fragen stellen sich. Roths Tun und Wirken gibt einige Antworten, seine Verbindungen ins Aussen- und ins Militärdepartement sowie in zahlreiche Botschaften decken Zusammenhänge auf. Weil aber vieles, was war, nicht sein durfte, lassen sich nicht alle dunklen Stellen erhellen. Erwiesene Vorgänge sowie vorhandene Dokumente und Fotos zeichnen jedoch deutliche Konturen ins Bild dieser Geheimwelt.

Roth ist ein Sonderling mit grenzenloser Leidenschaft für alles, was mit Militär und Polizei zu tun hat. Dies nutzten seine Auftraggeber aus, und sie zählten darauf, dass man ihn unterschätzte. Manchmal betraute sich der dienstuntaugliche Roth aber auch selbst mit heiklen Aufgaben. Unglaublich, aber wahr sind jene Geschichten, in denen er als falscher Offizier in ausländischen Uniformen die Schweizer Armee düpierte. Erfinden könnte man diese zu fantastischen Anekdoten nicht.

Andreas Schmid, Mai 2020

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Bahrain

Auftritt Melchior Roth. Mittendrin im Golfkrieg. Der damals 41-jährige Schweizer hielt sich Anfang 1991 auf dem Luftwaffenstützpunkt der US-amerikanischen Truppen in Bahrain auf. Er zeigte sich in der Fremde in US-Uniform, wie wenn er seine gewöhnliche Arbeitskleidung tragen würde.

Rund drei Wochen lang war Roth laut eigenen Angaben bei der Operation Desert Storm mit dabei. Wie es dazu kommen konnte? Das in Frankfurt stationierte 5. US-Korps, das in den Zweiten Golfkrieg delegiert worden war und zu dessen Führungskräften Roth seit Jahren gute Kontakte pflegte, bot ihn als Zivilperson auf. Vom Vertreter eines neutralen Landes versprachen sich die Amerikaner Vermittlungsdienste und Zugang zu gegnerischen Truppen. Dass der Uniformennarr dann in einem US-Kampfanzug erschien, war allerdings nicht im Sinn der Auftraggeber.

Umso mehr, als Roth in Bahrain anfangs das Camp der Franzosen aufsuchte, weil dieses zuerst fertiggestellt war. Erst recht erbost waren die Amerikaner dann, als sich Roth auch noch mit einem hohen französischen Offizier im Helikopter herumfliegen liess. «Es hat ein ‹Gstürm› gegeben», sagt der umtriebige Söldner. Doch die Ausflüge blieben für ihn, der von den Amerikanern mit dem Decknamen Jonathan Pride versehen worden war, folgenlos.

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten erhielt auf unbekanntem Weg Kenntnis von Roths Reise zur Operation Desert Storm nach Bahrain. Er sei, sagt der Abenteurer selbst, über einen Mittelsmann damit betraut worden, Bodenproben für das AC-Labor in Spiez zu entnehmen. Diese Einrichtung des Bundes soll die Schweiz vor nuklearen, chemischen und biologischen Bedrohungen schützen. Mit der Untersuchung von Bodenproben erforscht das Labor, ob und welche Giftstoffe in Kriegen eingesetzt werden.

«Der Auftrag für das Labor Spiez war geheim, offiziell gab es diesen nie», hält Roth fest. Er wisse denn auch nicht, ob je Ergebnisse von den Bodenproben publik geworden seien. Klar wurde jedenfalls, dass im Zweiten Golfkrieg Geschosse benutzt wurden, die Uran enthielten. Die Folge waren gravierende Umweltschäden.

Der als Zweiter Golfkrieg bezeichnete bewaffnete Konflikt war ausgebrochen, nachdem Irak Anfang August 1990 die Eroberung Kuwaits eingeleitet und das Land knapp vier Wochen später annektiert hatte. Die Verhandlungen mit Saddam Hussein scheiterten, US-Präsident George Bush und eine breite Koalition Verbündeter zogen ab Mitte Januar 1991 in den Krieg, um Kuwait zu befreien. Eine Resolution der UNO hatte die Legitimation zum Angriff erteilt. In der Operation Desert Storm wurden modernste Rüstungsgüter eingesetzt, von der Dimension der beteiligten Truppen und deren Bewaffnung her waren es die schwersten militärischen Auseinandersetzungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie forderten auf irakischer Seite mehrere Zehntausend Opfer.

Roth erzählt, er habe nach seiner Rückkehr aus Bahrain nicht nur die Bodenproben für das Spiezer Labor abgeliefert, sondern sei von den Amerikanern auch für ein Debriefing nach Frankfurt beordert worden. «Sie haben mich zu meinen Erfahrungen befragt und Informationen gesammelt.» Auskünfte zur Operation Desert Storm erteilte Roth zudem der NATO-Zentrale in Brüssel. Er sagt, dort habe man sich ebenfalls stark für die Sicht des neutralen Schweizers interessiert.

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Roths Doppelrolle in Bahrain verblüfft. Dokumente sowie seine Souvenirs vom Zweiten Golfkrieg beseitigen jedoch Zweifel an den erstaunlichen Begebenheiten. Roth legt Bilder vor, die ihn sowohl auf dem Stützpunkt der Amerikaner als auch im Camp der Franzosen zeigen, jeweils umgeben von Offizieren und Soldaten. Uniformsticker der USA von der Operation Desert Storm hat Roth aufbewahrt, und er hat die Gefässe behalten, in denen er einst die Bodenproben transportiert hatte. Vor allem aber wurde sein Einsatz im Zweiten Golfkrieg aktenkundig, als später – in einem anderen Zusammenhang – sowohl die Bundesanwaltschaft als auch die Militärjustiz gegen Roth ermittelten.

Bärau

So gerne Melchior Roth von seinen Abenteuern erzählt, so ungern spricht er über seine Familiengeschichte. Seine Kindheit und seine späteren Liebesbeziehungen klammert er lieber aus. Das liegt wohl daran, dass er seinen Vater nicht kannte und seine beiden Ehen zerbrachen.

Geboren am 31. März 1950, wuchs Melk – so nennen ihn noch heute alle Bekannten – bei seinen Grosseltern in Bärau im Emmental auf. Als Melchior Pfäffli, mit dem Familiennamen seiner Mutter. Sie arbeitete als Serviertochter. Von seinem leiblichen Vater, den er nie kennenlernte, weiss der Sohn nicht einmal den Namen. Nach einer Liebesnacht mit der Mutter war Melchiors Erzeuger entschwunden.

Weil Roth nicht über private Angelegenheiten berichten mag, erzählt sein Jugendfreund Heinz Junker. Junker wuchs im nahen Schwarzhäusern auf und lebt nach wie vor dort. Die ersten zehn Lebensjahre habe Melk bei den Grosseltern verbracht, dann habe ihn ein Fritz Roth, der Lebenspartner seiner Mutter, adoptiert. Der Knabe gehörte nun zu einer Familie und wurde mit zwei Halbschwestern sowie einem Halbbruder gross. In ihrer Jugend schon schlossen der wenig ältere Junker und Roth Bekanntschaft, denn sie besuchten beide die Gesamtschule in Schwarzhäusern. In der Freizeit sei Kollege Melk häufig zu seinem Vater gekommen, um diesem bei der Entsorgung und Verschrottung von Metall zur Hand zu gehen, sagt Junker. Roth habe als «Plätzlibueb» gearbeitet; so habe man damals die jugendlichen Aushilfen bezeichnet. Schon damals sei Melk ein «Eigener» und Einzelgänger gewesen.

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Genüsslich erzählt Junker von gemeinsamen Abenteuern mit Melk. Etwa, wie sie zu Schulzeiten an freien Nachmittagen mit einem alten Auto von Junkers Vaters auf dem Vorplatz des Elternhauses herumgefahren seien. Obwohl die Nachbarn aus Angst vor einem Unfall und wegen des Staubs reklamiert hätten, habe sie sein Vater gewähren lassen, erinnert sich Junker. Der Vater habe sich auf den Standpunkt gestellt, dass er die Jugendlichen am besten unter Kontrolle habe, solange sie auf dem Platz umherkurvten.

Aus seiner Primarschulzeit immerhin lässt sich Roth selbst eine Anekdote entlocken. Als er die dritte oder vierte Klasse besucht habe, hätten sie im Winter einmal Schneemänner gebaut. Er habe seinen nicht wie die anderen Kinder mit Hut und Besen, sondern mit Gewehr und Helm geschmückt. Zudem habe er der Schneefigur eine Patronentasche umgehängt, erzählt Roth. Diese Gegenstände hatte er aus der Militärpackung seines Grossvaters genommen. Die Lehrerin habe daraufhin bei ihm zu Hause gemeldet, das Kind sei verhaltensauffällig und müsse abgeklärt werden. «Es gab ein ‹Riesengstürm›», erzählt Roth.

Seine frühe Faszination für alles, was mit der Armee zu tun hatte, sei durch Bücher vom Zweiten Weltkrieg entflammt, die er daheim vorgefunden habe. «Es lagen sechs Bände mit Fotos herum – es waren bebilderte Zeitungsartikel, die gebunden worden waren.»

Später, im Alter von etwa 14 Jahren, habe er sich für die Sowjetunion und China zu interessieren begonnen. «Das war damals für mein Umfeld das Schlimmste und trug mir in der Klasse den Spitznamen ‹Kommunist› ein.» Sein Lehrer habe stets gegen die Russen gewettert; das habe seine Neugier, wie das Feindesland funktionierte, noch verstärkt.

Beim Waffenhändler Füglistaler in Langenthal begann Roth nach der Schule eine Lehre als Metallbauschlosser und Büchsenmacher. Er hatte sich schon immer durch handwerkliches Geschick ausgezeichnet, und diese Gabe wurde weiter geschliffen. «Niemand konnte löten wie er», schwärmt Heinz Junker.

Nach abgeschlossener Lehre tingelte Allrounder Roth in der Region herum und eignete sich zusätzlich Kenntnisse in Elektronik, Mechanik und Hydraulik an. Im Alter von 20 Jahren habe er sich für sämtliche Tätigkeiten des Militärs, der Polizei und der Grenzwacht zu interessieren begonnen, sagt Roth. So heuerte er unter anderem bei den Rüstungsbetrieben Oerlikon-Bührle und Contraves an. Zudem arbeitete er als Aushilfsmechaniker im Maschinenbau und lernte in einer Baufirma, mit Raupenfahrzeugen sowie mit Kranen umzugehen.

In seiner Freizeit fuhr der junge Mann Wochenende für Wochenende mit seinem Motorrad oder dem 250er-BMW nach Deutschland. Roth knüpfte in Kaiserslautern Kontakte zu Angehörigen sowohl der US-Truppen als auch des kanadischen Militärs, die dort stationiert waren. Er sei in den Anlagen ein- und ausgegangen wie einer der ihren, wundert sich Heinz Junker noch heute. Über einen Onkel, der in Deutschland bei der US-Armee gedient habe, so erzählt es Roth, sei er später zu einer Anstellung gekommen. Er habe in einem Fahrzeugpark vor allem im Unterhaltsdienst gearbeitet. Auslandserfahrung hatte der knorrige Handwerker bereits früher gesammelt. In den 1970er-Jahren war Roth längere Zeit als Monteur für eine Maschinen- und Zubehörfirma in mehreren europäischen Ländern unterwegs gewesen.

Danach machte sich der gewiefte Handwerker – aber wenig begnadete Geschäftsmann – selbstständig und eröffnete einen Betrieb für Altbausanierungen. Vier Angestellte beschäftigte Roth, nach rund zehn Jahren liquidierte er die Firma, der wegen Konkurrenz und sinkender Preise der Konkurs drohte.

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Die nächste Station Roths war das Berner Unternehmen Schaller, das sich im Kühlanlagenbau betätigte. Etwa fünf Jahre lang diente er als Servicemonteur, installierte Lüftungen, Heizungen und Kältegeräte, bevor er wieder selbstständig zu arbeiten begann. In allen möglichen und unmöglichen Sparten, hauptsächlich in der Demontage und Entsorgung nicht mehr benötigter technischer Anlagen und Bauten.

Jugendfreund Junker bezeichnet Roth als schrägen Vogel. «Es gibt keinen Zweiten wie Melk.» Verschroben, aber dienstfertig und gutmütig sei er. «En todliebe Siech.» Besonders gesellschaftstauglich ist der rastlose Senior heute aber nicht. Schon allein deshalb, weil sich in seiner Umgebung alles ohne Ordnung stapelt. 50 Sammlerjahre eines Messies könnten nicht besser illustriert werden als mit Bildern von Roths inzwischen verkauftem Haus und Geschäft. Mit ihm zusammenzuleben sei unvorstellbar, sagt Junker. Zwei Frauen hatten das gewagt; in den 1970er-Jahren war er ein erstes Mal verheiratet. Seine Partnerin, eine Schweizerin, hatte auf dem Statthalteramt in Langenthal gearbeitet. Dort hatte Roth die Scheine für seine vielen Waffen lösen müssen – und seine erste Ehefrau Edith kennengelernt. Später führte diese in der Region einen Gemischtwarenladen. 13 Jahre lang hielt die Ehe mit ihr.